„Der Rückzug wird lehrreich sein“

Die bisherigen Bildungsproteste in Chile werden vielfach als Einschnitt betrachtet. Was ist dieses Mal anders als bei vorherigen Protesten?

Ab einem gewissen Moment haben die Proteste übertroffen, was bisher in Chile erreicht wurde. Deswegen denke ich, dass es ein vor und ein nach den Protesten geben wird. Am Anfang dachten viele, es wäre einfach eine Fortführung der bisherigen Bildungsproteste, die mit den Protesten 2006 (siehe LN 385/186) ihren Höhepunkt erreicht hatten. Deswegen richteten sich die Forderungen am Anfang nach den realen Möglichkeiten. Kostenlose Bildung wurde im April noch nicht gefordert. Aber als die Bewegung mit der größten Demonstration seit dem Ende der Diktatur Mitte Juni mit 200.000 Menschen in Santiago und später mit 400.000 in ganz Chile immer größer wurde, wurden auch die Forderungen entsprechend der Möglichkeiten ausgeweitet. Die Forderung nach einem Modellwechsel wurde artikuliert und das ist ein Meilenstein in der Geschichte der sozialen Bewegungen seit der Rückkehr zur Demokratie. Bisher waren diese immer auf einzelne Bereiche oder Verbände beschränkt, wie auch 2006, als die Proteste nur von der Forderung nach einem kostenlosen Schülerticket für den Nahverkehr ausgingen.

Wie verhält sich die Regierung zu den Protesten?

Es ist paradox, wie sich die Regierung verhalten hat und was sie mit diesem Verhalten erreicht hat. Sehr viel nämlich und das, obwohl ihr Verhalten komplett improvisiert war und sie eine politische Unerfahrenheit offenbart hat. Am Anfang versuchte sie, den Protestierenden keine Beachtung zu schenken und sie zu verharmlosen, da sie nichts Konkretes fordern würden und nur einen Teil der Studierenden repräsentiere. Zwischenzeitlich behauptete sie dann, dass die Bewegung von linken Kräften der kommunistischen Partei kooptiert sei. Die Rechte in Chile denkt eben immer noch in Kategorien aus dem Kalten Krieg. Danach wurde gesagt, die Proteste würden die öffentliche Ordnung stören. Damit rechtfertigte die Regierung heftige Repressionen. Gleichzeitig fing Piñera an, doppelte Standards zu verwenden und nach außen hin besorgt zu wirken. So bezeichnete er die Forderung nach kostenloser Bildung als gerecht und nobel. Im Folgenden wurden die ersten großen Vorschläge verabschiedet, die Piñera im Fernsehen ankündigte und denen er sensationalistische Namen gab, die aber im Vergleich zu den Forderungen nichts anderes als Brotkrumen waren. Die Regierung glaubte, wir würden nochmal so dämlich sein wie 2006, als wir mit der Mobilisierung aufhörten, nachdem Vorschläge kamen.
Die runden Tische wurden demnach abgebrochen. Laut der Rechten wegen der Unnachgiebigkeit der Studenten, aber eigentlich waren sie diejenigen, die nicht bereit waren in irgendeiner Form von ihrem neoliberalen Bildungsmodell abzurücken.

Warum ist die Regierung auch nach sechs Monaten des Protests nicht bereit, von diesem Modell abzurücken?

Die Regierung repräsentiert einen Teil der Kapitalisten aus dem Bildungs- und Finanzsektor, welcher über die Studienkredite auch seinen Teil aus der Bildung zieht. Sie ist viel eher bereit, ihre Popularität oder eine zukünftige Wahl zu verlieren, als ihre ökonomische Macht im Bildungs- und Finanzsektor. Deswegen haben sie sich den Forderungen der Studierenden gegenüber taub gestellt, obwohl das unglaublich unpopulär ist. Deswegen haben sie im August, als die Umfragen gezeigt haben, dass sie vollständig ohne Unterstützung sind, ihre Strategie geändert. Sie haben aufgehört, sich von der schönen Seite zu zeigen, um wieder Unterstützung zu gewinnen und verteidigen jetzt eindeutig den Sektor, der ihnen Gewinne bringt. Auf der anderen Seite haben diejenigen, die diese Bewegung ausmachen, die Studenten und Bürger, die an den Umfragen teilnehmen und auf die eine oder andere Demonstration gehen, keine andere Möglichkeit die Regierung unter Druck zu setzten. Ihnen die Stimme zu verweigern ist aber anscheinend nicht genug.

Die Unterstützung zeigt sich nicht nur in Umfragen, sondern auch in öffentlichen Bekanntmachungen von Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen, allerdings nicht auf den Demonstrationen. Warum?

Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wurde während der Militärdiktatur komplett zerschlagen und auch seit der Rückkehr zur Demokratie gab es keinerlei große Demonstration der Arbeiter. Sie wurden von der Concertación (Mitte-links-Bündnis, das von 1990 bis 2010 regierte, Anm. d. Red.) vereinnahmt und seitdem von ihr gezügelt. Des Resultat ist heute sichtbar: Es gibt keine organisatorische oder politisch Verbindung zwischen den Studierenden und den Arbeitern. Die Gewerkschaft CUT kann in Stellungnahmen ihre Unterstützung ausdrücken, aber um die Arbeiter zu mobilisieren, müsste es eine wirkliche Basisarbeit geben, um eine Verbindung mit uns herzustellen, die bisher nicht existiert. Ihr Aufruf war also abstrakt und die Studierendenvereinigung Confech konzentriert sich mehr darauf, die Bürger auf unsere Seite ziehen, nicht so sehr auf die Arbeiter. Es gibt keine gemeinsame Petition mit den Gewerkschaften und keine Versuche eine Verbindung zur Basis herzustellen, was jetzt dazu führt, dass die Bewegung ins Stocken gerät.

In letzter Zeit haben sich auch einige Oppositionspolitiker_innen mit der Bewegung solidarisiert. Wie ist die Einstellung dazu innerhalb der Bewegung?

Die Bekundungen der Politiker sind absolut opportunistisch. In Wirklichkeit war es doch die Concertación, die das von der Diktatur geschaffene Modell verstärkte. Auch sie haben ein Interesse daran, dass das so bleibt. Jetzt haben sie eine Möglichkeit gesehen, um sich zu positionieren. Allerdings haben sie so wenig Unterstützung, sogar noch weniger als die Regierung, dass sie nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Im Kongress gibt es einige Eingaben an die Regierung, aber die Opposition unterstützt nicht einmal die Petition der Studierenden, sondern verharrt in einem „ja, aber“ und im Endeffekt stellen sie keine wirkliche Unterstützung dar.
Und beispielsweise Jorge Schaulsohn, ein ehemaliger Politiker der Concertación, sagte in einem Interview, den Unternehmern werde klar, dass die Concertación die einzige politische Kraft ist, die einen Kapitalismus samt sozialem Frieden garantieren könne. Im Klartext heißt das, dass die Rechte die sozialen Bewegungen nicht im Zaum halten könne. Von keinem Standpunkt aus sind die Oppositionellen also irgendein Verbündeter.

Es gab Vorwürfe, dass die kommunistische Partei zu viel Einfluss auf die Bewegung habe. Gibt es deswegen Konflikte innerhalb der Bewegung?

Die Studierendenbewegung hat eine sehr heterogene Basis mit verschiedenen politischen Meinungen. Es ist richtig dass die kommunistische Partei, die kommunistische Jugend, die autonome Linke und andere Gruppen die Führungspositionen der traditionellen Studierendenorganisationen übernommen haben. Konflikte entstehen aber nicht, weil einige sich abspalten wollen, sondern weil sie bereits in der Basis vorhanden waren. Das ist normal und gesund. Es gibt viele historische Beispiele in denen soziale Bewegungen erst durch das Überwinden ihrer Führung weiterkamen. Diese mediale Kampagne, die sagt, die sogenannten „Ultras“ seien es, welche die Bewegung spalten, ist falsch. Das einzige was darunter leidet ist vielleicht das Bild in der Öffentlichkeit. Allerdings hat sich gezeigt, dass uns 90 Prozent der Bevölkerung unterstützen, weswegen einer kleiner Popularitätsverlust nicht schwerwiegend ist.

Der Protest der Studierenden dauert nun schon fast sechs Monate an und es gibt kein nennenswertes Entgegenkommen der Regierung. Lässt sich inzwischen eine Ermüdung der Bewegung feststellen?

Natürlich! Sechs Monate Protest sorgen für Ermüdung. Auf der einen Seite generiert er eine Skepsis in den Sektoren, die uns von Beginn an eher passiv unterstützt haben. Sie sind zwar mit unseren Forderungen einverstanden, wollen aber zurück zur Normalität. Auf der anderen Seite gibt es auch eine innere Ermüdung. Die ganze Zeit gab es politische Diskussionen, viel Arbeit, viel Spannung, Spaltungen und die Kreation von neuen Organisationen. Aber diese ganze Arbeit hat nicht angefangen, konkrete Ergebnisse zu liefern und ermüdet so die Motivation und die Verbindungen innerhalb der Organisationen. Wir haben eine gute Bewegung, aber die Menschen werden müde und es gibt sehr große Veränderungen.

Welche Pläne gibt es vor diesem Hintergrund für die nächste Zeit?

Zurzeit ist die Bewegung generell etwas zerstreut. Im Moment wird der Haushalt mit den Parlamentariern im Kongress diskutiert. Die Confech ist da ziemlich involviert, aber ich glaube, dass das wegen der Zusammenarbeit mit der Concertación zur Schwächung der Bewegung führen kann.
Es werden internationale Organisationen zur Durchsetzung der Menschenrechte gesucht, jedoch hat die Regierung bereits ihre Indifferenz demgegenüber ausgedrückt. Sie werden deswegen nicht einlenken. Vor allem sind wir gerade auf die Frage konzentriert, wie wir mit dem zweiten Semester umgehen. Zum Beispiel gab es in der Universidad de Chile ein Referendum darüber, ob das zweite Semester beginnen oder die Proteste ein Ende haben sollen und welche politischen Konsequenzen dies haben kann. Wenn wir alle in die Universitäten zurückkehren, wird sich die Bewegung schnell auflösen. Wenn wir aber nicht zurückkehren, geht die Ermüdung weiter, ohne dass wir etwas erreicht haben. In diesem Dilemma gibt es an jeder Ecke Gefahren. Die studentische Bewegung ist wohl leider in einer Phase des Rückzugs, aber dies kann auch lehrreich sein.

Inwiefern?

Die Bewegung hat noch nie die Erfahrung eines Rückzugs aufgrund der Unnachgiebigkeit der Regierung gemacht. 2006 war es ein taktischer Fehler zu denken, dass die Dialogrunde das Problem lösen würde. Jetzt wird uns die Unmöglichkeit eines strukturellen Wandels deutlich und dass die Bewegung ermattet. Deswegen wird der Rückzug lehrreich sein. Daraus können zwei Typen von politischen Personen entstehen: solche, die sich jetzt politisiert haben und mit Frustration gefüllt sind und Passivere, die zur politischen Indifferenz übergehen werden. Aber ich glaube, es wird mehr frustrierte und politisch aktivierte Personen geben, die aufgrund dieser Erfahrung geeint sind.

Infokasten:
Lucas Miranda Baños studiert Philosophie an der Universidad de Chile. 2010 war er für die studentische Koordination in der philosophischen Fakultät verantwortlich und hat auch schon als Sekundarschüler 2006 am sogenannten Pinguinaufstand teilgenommen. Er war in Berlin und Europa, um Kontakt mit Chilen_innen aufzunehmen und Verbindungen zu solidarischen Gruppen herzustellen.

Hasta siempre Presidente

„Ich war 1973 gerade auf Regierungsreise im Ostblock unterwegs. Als Leiter von Chiles staatlicher Kupferkooperative CODELCO sollte ich neue Handelsverträge in Ostberlin, Moskau und Peking abschließen. Am 10. September jedoch wurde meine Reise jäh unterbrochen, Präsident Salvador Allende bestellte mich mit sofortiger Wirkung nach Santiago zurück.“ Nein, optimistisch sei er nach dieser Botschaft nicht gerade gewesen, erinnert sich Jorge Arrate weiter, während er sich in Zeitlupe noch eine Tasse Tee einschenkt. „Aber irgendwie war es zu diesem Zeitpunkt längst Routine, auf eine permanente Krisensituation zu regieren.“
Doch als Arrates Maschine am 11. September die Landerlaubnis verwehrt wird, ahnt er Schlimmes. Im Luftraum Santiagos dröhnt es an diesem Tag vor Kampfflugzeugen, der Putsch des chilenischen Militärs gegen die linke Regierungskoalition Unidad Popular (UP) ist bereits in vollem Gange. Als Präsident Allende sich weigert, vor den Truppen Augusto Pinochets zu kapitulieren, lässt der General den Regierungssitz bombardieren. Allende überlebt, doch mit seinem Freitod erfüllt er wenig später die eigene Voraussage, sein Mandat entweder regulär oder vorzeitig in einem „Holzpyjama“ (also im Sarg) zu beenden.
Während für Arrate am 12. September 1973 ein 14-jähriges Exil beginnt, fängt der Tag nach dem Staatsstreich für Hugo Hurtado wie gewohnt mit dem Schlangestehen nach Brot an. Eine seltsame Stille habe an diesem Morgen über der Hafenstadt Viña del Mar gehangen, wie sie sonst nur auf dem Friedhof Santa Inés, seinem Arbeitsplatz, herrsche. Hurtado ist gerade dabei, Rosen zu verschneiden, als eine Polizeieinheit auf den Friedhof stürmt. „Sie befahlen mir, das Familiengrab der Allendes zu öffnen“, erinnert sich der heute 70-Jährige. „Ich war erstaunt, denn niemand hatte mich über eine Beerdigung informiert. Erst als Señora Tencha (Salvador Allendes Ehefrau) bat, den Sarg noch einmal zu öffnen, verstand ich, wen ich da gerade bestattete.“ „Ab jetzt haben wir hier das Sagen“, verabschieden sich die Uniformierten. Hurtado und seine Kollegen werden verpflichtet, mit niemandem über den Vorfall zu sprechen.
Als ich gerade nach den roten Nelken frage, die jahrelang heimlich auf dem Grab ohne Namen niedergelegt wurden, unterbricht mich Hurtado plötzlich ohne aufzuschauen. „Nur wenige Leute wissen, dass noch am Tag der Beerdigung einige Menschen versuchten, Allendes Sarg wieder auszugraben, um seine Leiche vor den Militärs zu verstecken. Der damalige Friedhofsdirektor rief die Polizei, noch bevor sie damit Erfolg hatten. Wer nicht fliehen konnte, wurde zusammengeschlagen und auf einen Lastwagen geworfen.“ Auch Hurtado, der gerade von der Mittagspause zurückkommt, erscheint verdächtig und wird mitgenommen.
Nach drei Tagen kommt Hurtado frei. Niemand habe gefragt, wo er gewesen sei, erinnert sich der immer noch regungslose Mann. Dann dreht er sich plötzlich um. „Aber du hast etwas ganz anderes gefragt, nach den Nelken, oder? Ja, es lagen fast immer frische Blumen auf dem Grab, fast 17 Jahre lang. Ich weiß nicht, wer diese Menschen waren, ich habe jedes Mal weggeschaut, wenn ich jemanden bemerkte.“
Jorge Arrate will im Exil indes nichts sehnlicher als endlich zurück nach Chile. Über ein Jahrzehnt organisiert er in Rom, später in Berlin und Rotterdam die internationale Solidarität mit der chilenischen Bevölkerung und die Geschicke der Sozialistischen Partei (PS). 1984 versucht er drei Mal, nach Chile einzureisen, „nur um jedes Mal wieder in Handschellen zurück in ein Flugzeug geführt zu werden“, sagt er. Erst drei Jahre später kann Arrate legal zurückkehren. Was ihm sofort auffällt: Während für die Exilant_innen Allende einen gemeinsamen Fixpunkt bildete, war sein Name in Chile tabu. Das Referendum, mit dem die Chilenen 1990 für die Rückkehr zu einer demokratischen Regierung votieren, ändert daran zunächst wenig.
Arrate ist zu diesem Zeitpunkt bereits Generalsekretär der PS. Die Sozialist_innen sind auch am ersten Regierungsbündnis der Concertación beteiligt, das von Allendes einstigem politischen Widersacher, dem Christdemokraten Patricio Aylwin, geführt wird. Arrate wird Minister und als eine seiner ersten Amtshandlungen wird ihm, ebenso wie Hurtado, eine Rolle bei Allendes verspätetem Staatsbegräbnis zuteil. Während dem Friedhofsgärtner die Aufgabe zukommt, in der Nacht vom 3. zum 4. September 1990 Allendes Sarg auszugraben, hält Arrate am folgenden Morgen auf dem überfüllten Friedhof Santa Inés eine Rede. „Wenn die Leidenschaft, die sein Werk erweckt hat, überwunden ist, wird die Zukunft ihn mit gelassener Distanz betrachten.“ Danach tragen Hurtado und seine Kollegen den Sarg bis zum Leichenwagen, der Allendes „Holzpyjama“ in die Kathedrale nach Santiago und dann ins Mausoleum auf dem dortigen Zentralfriedhof überführen soll.
Arrate fährt in einer Limousine direkt hinter dem Leichenwagen, Hurtado schaut dem Konvoi hinterher, der langsam die Straße herunterrollt, an der sich zu beiden Seiten Menschen drängen. „Ich wollte nicht mitfahren. Ich fühlte nicht wirklich etwas. Es war ein ganz normaler Arbeitstag“, sagt Hurtado. Für viele Chilen_innen ist es dagegen ein ganz besonderer Tag, der Fahrer des Leichenwagens lässt sich Zeit für die 120 Kilometer in die Hauptstadt. „Auch an der letzten Mautstation hatte sich wieder eine Menge Leute versammelt“, erinnert sich Arrate, „und daneben eine Gruppe Polizisten. Sie hatten Anweisung, den Sarg umzuladen. Von nun an ging es in einem anderen Tempo weiter, vom Straßenrand konnten viele nur einen flüchtigen Blick erhaschen. Nein, Pinochet, der zu diesem Zeitpunkt noch Oberbefehlshaber des Militärs war, passte diese ganze Prozession überhaupt nicht.“
Auch international löste die Beerdigung unterschiedliche Reaktionen aus. Schließlich hatte Francis Fukuyama in seinem berühmt gewordenen Essay gerade das Ende der Geschichte verkündet. In einer Fußnote erteilte er darin dem Putschisten Pinochet die Absolution, der sich fortan Liberaler nennen durfte. Allende hingegen, der erste bekennende Marxist, der in Lateinamerika in ein Präsidentenamt gewählt worden war, hatte in diesem neuen Common Sense keinen rechten Platz. Nur wenige Länder schickten wie Frankreich hohe Amtsträger. Willy Brandt, damals immerhin Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen, entschuldigte sich schriftlich. Die Riesenschritte in Richtung deutscher Wiedervereinigung würden es ihm nicht erlauben, an dem Staatsbegräbnis teilzunehmen. „Die SPD hatte nie einen besonderen Draht zur Regierung Allende“, erinnert sich Arrate und fügt amüsiert hinzu: „Aber das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Wir hielten die deutsche Sozialdemokratie immer für eine Art Deformation des Sozialismus.“
Doch angesprochen auf seinen Parteiaustritt vor drei Jahren aus der von Allende mitgegründeten chilenischen PS, vergeht Arrate das Lächeln. „Das anfängliche Zweckbündnis mit den Christdemokraten haben viele ehemalige Weggefährten irgendwann als bequemen Konsens lieben gelernt und sind so in den vergangenen zehn Jahren zu Komplizen des Neoliberalismus mutiert“, formuliert er bitter. Auch wenn man heute das Regierungsprogramm der UP von 1970 nicht einfach aus der Schublade holen könne, die gegenwärtigen Studierendenproteste und der Generalstreik zeigten doch, dass viele der damaligen sozialen Fragen nichts an Aktualität verloren hätten. „In absoluten Zahlen ist in Chile die Ungleichheit heute größer als vor 50 Jahren.“
Friedhofsgärtner Hurtado, der sich mit der Pflege von einem halben Dutzend Gräbern seine bescheidene Rente etwas aufbessert, sieht das ähnlich. „Logisch, dass ich damals Sympathisant der UP war. Allende kämpfte für uns Arbeiter, für eine gerechtere Gesellschaft.“ Dann sagt er etwas Unerwartetes. „Glaub nicht, ich würde dir das alles erzählen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, mein Land bewegte sich gerade von Neuem. Lange Zeit war die Erinnerung für mich einfach nur schmerzhaft, jetzt macht sie mir wieder Hoffnung.“
Wenn sich Arrate und Hurtado irgendwann ein zweites Mal über den Weg laufen sollten, sie würden sich sicher blendend verstehen. Jetzt, da Salvador Allende ein drittes Mal begraben wurde, hätten sie ursprünglich die Gelegenheit dazu gehabt, sofern es bei einem öffentlichen Begräbnis geblieben wäre. Beide sagen, sie hätten es richtig gefunden, dass das Grab noch einmal geöffnet wurde, um die These vom Freitod im Rahmen einer Obduktion zu prüfen. „Solange es Zweifel gibt, gibt es auch eine Verpflichtung, ihnen nachzugehen“, sagt Hurtado. Ein ballistisches Gutachten bestätigte im Juli nun erneut den vermuteten Suizid. Und damit stand die Familie Allende vor der Aufgabe, wieder ein Begräbnis zu organisieren. Anfangs stemmte sich die Senatorin und Allende-Tochter Isabel gegen eine öffentliche Zeremonie, fürchtete eine Instrumentalisierung. Schließlich schien sie sich damit abzufinden, nachdem allein auf Facebook bereits über 10.000 Menschen ihre Teilnahme angekündigt hatten. „Bei allem Respekt für die Familie, ich finde, auch der Bevölkerung sollte ein Recht zugestanden werden, dem Begräbnis die Bedeutung zu geben, die jeder einzelne Bürger für angemessen hält“, findet Arrate. Bürger Hurtado hatte sich vor der Absage bereits entschieden, nicht teilzunehmen. „Ich erinnere mich schon oft genug, wenn ich auf dem Familiengrab den Rasen und die Rosen pflege“, sagt er. Und Arrate? Der wollte sich eigentlich als stiller Beobachter unter die Menge mischen. Ob nun die Zeit gekommen sei, Allendes Werk mit gelassener Distanz zu betrachten, wie er es einst prophezeit hat? Nein, sagt er gelassen, „aber ich glaube immer noch, dass es eine Zukunft gibt, in der diese Zeilen zutreffen werden.“

Pyrrhussieg für den Präsidenten

Der Eindruck trog. Wenige Tage vor dem Referendum am siebten Mai schienen die UnterstützerInnen des Präsidenten in der Defensive. In der öffentlichen Debatte, die zunehmend Züge einer Schlammschlacht angenommen hatte, war etwa in der Hauptstadt Quito, eigentlich eine Hochburg der Regierungspartei „Alianza País“, kaum ein „Sí“ zu vernehmen. Dafür überwog in der Bevölkerung ein „Esta vez no“ (diesmal nein) – sowohl kategorisch als auch einschränkend gemeint.
Kategorisch war die Ankündigung, alle zehn Vorschläge des Präsidenten Rafael Correas im Paket abzulehnen, obwohl es sich dabei um völlig verschiedene Themen handelte. Diese reichten von einer Justizreform, einem härteren gesetzlichen Vorgehen gegen Straflosigkeit und Gewalt, medialen Regulierungsmaßnahmen bis hin zum Verbot von Glücksspielen sowie Hahnen- und Stierkämpfen (siehe Info-Kasten).
Einschränkend gemeint war das Nein im Hinblick auf die Position des Staatsoberhaupts selbst. Mit Correas Politik ist die Mehrheit immer noch weitgehend zufrieden: Wenn auch nicht gestärkt wollten viele WählerInnen ihn aber auch keineswegs in Frage gestellt sehen. Vielmehr wollten sie ihm im sechsten Urnen-Gang seit 2007 einen Denkzettel verpassen, aus dem schließlich ein Pyrrhussieg für den Präsidenten wurde.
Einerseits konnte er sich trotz einer breiten und ungewöhnlichen Ablehnungsfront auf eine passive Mehrheit verlassen. Dies entsprach bei diesem Sympathietest zur Restaurierung und Stärkung der präsidialen Macht nach dem vorangegangen Putschversuch am 30. September durchaus seinem Kalkül.
Zum anderen fiel der Erfolg gerade bei den besonders umkämpften Punkten sehr knapp aus. „Bei Berücksichtigung der Enthaltungen und ungültigen Stimmen hat die Hälfte der Bevölkerung mit Nein gestimmt“, rechnet Albert Acosta, Ex-Energieminister und heutiger Kritiker des Präsidenten vor. Hinzu kommt, dass dem Präsidenten auf dem Weg zur Volksbefragung sogar die Mehrheit im Kongress abhanden gekommen war, nachdem einige Abgeordnete der Regierungspartei Alianza País diese aus Protest gegen das umstrittene Verfahren verlassen hatten.
Damit scheinen zumindest die schlimmsten Befürchtungen der Linken – ein Rechtsruck des Präsidenten, die Etablierung eines klassischen Populismus und eine zunehmende Kriminalisierung der außerparlamentarischen Bewegung – vom Tisch zu sein. Correa ist trotz des engen Ergebnisses aber eben auch nicht gezwungen – wie noch im Anschluss an den Putschversuch gemutmaßt – wieder das Gespräch mit den entzweiten Massenorganisationen und sozialen Bewegungen des Landes zu suchen. Dafür präsentierten sich diese politisch einfach zu schwach.
Sie wurden wohl auch dafür bestraft, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen undifferenziert gegenüber dem umstrittenen Referendum positioniert hatten. Aus Sicht der Linken ist eine Verschärfung der Gesetze zur Eindämmung der Gewalt ohne Erforschung und Berücksichtigung ihrer Ursachen wie auch der von Correa angestrebte dreiköpfige „Rat der Gerichtsbarkeit“ abzulehnen. Letzterer wird dem Präsidenten nun eine laut ihrer Meinung unzulässige Kontrolle über die Justiz ermöglichen.
Die Kritik an einer staatlichen Medienkommission ist hingegen weniger nachvollziehbar. Denn was ist schlecht an dem Versuch, gewalttätige, jugendgefährdende, sexistische und rassistische Inhalte in der Presse zu unterbinden oder Medienunternehmen ökonomisch von Privatkonzernen oder Banken zu trennen? Das teilweise religiös anmutende Hohelied auf die ach so gefährdete Pressefreiheit im Vorfeld des Plebiszits war verlogen und peinlich, wozu die oppositionelle Linke weitgehend schwieg und sich damit zum Verbündeten einer völlig inhaltsleeren Rechten machte.
Die fehlende Abgrenzung führte zu ungewöhnlichen Allianzen. Und lenkte von den wahren politischen Gräben ab. Während dem neoliberalen Flügel des Landes selbst die kapitalistische Modernisierung Correas zu weit geht, sind MitgestalterInnen der Verfassung von 2008 enttäuscht über die sozialdemokratische und staatsfixierte Linie des Präsidenten.
Dieser hat insbesondere in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit mit seiner Sozial- und Bildungspolitik, einer Steuerreform, einer weitgehenden Wiederaneignung der Erdöleinnahmen sowie der Förderung der lateinamerikanischen Integration durch die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) Pluspunkte in der Bevölkerung gesammelt. Correa versäumte es indes, dem partizipativen Geist von Montecristi, wo die neue Magna Charta von einer zuvor gewählten Verfassunggebenden Versammlung ausgearbeitet wurde, aus der Flasche zu lassen.
Ökonomisch hält die Regierung am extraktivistischen Entwicklungsmodell und so auch der staatlichen Entscheidungsmacht über die Ausbeutung unterirdischer Naturressourcen fest, anstatt ein Vetorecht für die von der Ressourcengewinnung betroffenen Menschen zu etablieren. Dies ist nur einer von vielen Streitpunkten mit Umweltgruppen und insbesondere der CONAIE, dem einflussreichsten Dachverband der Indigenen.
Die Folge ist eine Spaltung der progressiven Kräfte, die sich durch die Volksbefragung und deren Ausgang noch verschärft hat. Als strahlender Sieger ging daraus keiner hervor, als Verlierer die Bürgerrevolution von 2006. Statt Aufbruch dominiert derzeit Streit, was allenfalls einen Aufschub verheißt, bis sich die arg geschwächte Rechte wieder formiert hat. Damit ist ein Projekt gefährdet, das verheißungsvoll begann, nun aber ins Stocken geraten ist. Leisten kann sich das die Bürgerrevolution eigentlich nicht.

Das Referendum
Insgesamt 24 Seiten inklusive Erläuterungen, Gesetzesanhängen und abschließenden Vorschlägen der Regierung, zu denen mit Ja oder Nein zu antworten war, umfasste die bisher umfangreichste und inhaltlich komplizierteste Volksbefragung in Ecuador. 11,2 Millionen BürgerInnen waren aufgerufen, über insgesamt zehn Fragen abzustimmen, die wiederum in zwei Bereiche aufgeteilt waren: Erstens ein Verfassungsreferendum über konkrete Änderungen an der Verfassung von 2008, zweitens ein Volksentscheid über verschiedene Politikvorschläge der Regierung.
Im ersten Komplex wurde über Verschärfungen im Strafrecht wie die Verlängerung der Untersuchungshaft abgestimmt, aber auch über die ökonomische Trennung von Banken und Massenmedien sowie eine Beschleunigung der Justizreform. Letzteres soll durch das Ersetzen eines bisher neunköpfigen Justizrates durch einen „Rat der Gerichtsbarkeit“ von nur noch drei Mitgliedern, ernannt durch die Regierung, das Parlament und den Bürgerrat, erreicht werden.
Zum zweiten Bereich gehörten die Abstimmung über die Etablierung der illegalen Bereicherung als Straftatbestand, die Einführung eines Medienrates zur Überwachung der Inhalte von Presse, Funk und Fernsehen im Hinblick auf bestimmte Inhalte, über das Verbot von Glücksspielen sowie Hahnen- und Stierkämpfen.
Die Regierung erreichte bei ihren Vorschlägen eine durchschnittliche Mehrheit von 6,8 Prozentpunkten, wobei der Vorsprung in den besonders umstrittenen Fragen deutlich kleiner war.

Häufig gestellte Fragen

Welche Änderungen der Verfassung sah Zelaya vor?

Manuel Zelaya hatte sich dazu nie konkret geäußert. Details sollte erst die Verfassunggebende Versammlung erarbeiten. Zelaya sagte aber, er wolle die Bevölkerung stärker an politischen Prozessen beteiligen. Dazu plante er, am 28. Juni 2009 die BürgerInnen in einer nicht bindenden Meinungsumfrage zu konsultieren. Sie sollten darüber entscheiden, ob bei den kommenden Wahlen gleichzeitig ein Referendum zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung stattfinden sollte.
Zelaya forderte einen „sozialistischen Liberalismus“, damit „alle Vorteile des Systems dorthin kommen, wo sie am meisten benötigt werden: zu den Frauen, den Männern, den Kinder, den Bauern, den Produzenten!“ Zelayas Gegner behaupteten, er wolle mit der Volksbefragung und dem darauf folgenden Referendum lediglich seine Wiederwahl erreichen und Honduras in eine Diktatur verwandeln.

Hätte sich Zeleya nach einem erfolgreichen Referendum wiederwählen lassen können?

Nein. Das Referendum, das im Falle der Zustimmung der Bevölkerung gemeinsam mit den Wahlen am 29. November 2009 hätte stattfinden sollen, hätte zunächst eine Verfassunggebende Versammlung einberufen. Diese hätte dann in den Monaten darauf die Aufgabe gehabt, eine neue Verfassung zu erarbeiten.
Brisant dabei ist, dass der honduranische Kongress Mitte Januar 2011 eine Änderung des Artikel 5 der Verfassung vorgenommen hat. Dadurch werden Referenden bezüglich der Wiederwahl des Präsidenten möglich gemacht.

Wer steckt hinter dem Putsch?

Die Verhaftung und Außerlandesbringung Zelayas wurde von Militärs unter Führung von General Romeo Vásquez Velásquez durchgeführt. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof die Verhaftung Zelayas angeordnet, da ihm aufgrund der geplanten Volksbefragung von der Opposition und der Oligarchie des Landes ein Verfassungsbruch vorgeworfen wurde. Schon in den Monaten zuvor hatten die von den Eliten kontrollierten Medien gegen Zelayas linksgerichteten politischen Kurs gewettert. Auch die USA müssen frühzeitig von dem Vorhaben eines Staatsstreiches gewusst haben, denn die PutschistInnen nutzten den US-Militärstützpunkt Palmerola bei Comayagua, um Zelaya auszufliegen.
Am Tag des Putsches wurde im Parlament die Fälschung eines Rücktrittsschreibens Zelayas verlesen sowie Telefonnetz und Rundfunk abgeschaltet. Kurz nach dem Putsch meldete sich auch der honduranische Kardinal und Vorsitzende von Caritas International, Óscar Andrés Rodríguez, zu Wort. Er rechtfertigte die Absetzung Zelayas und vertrat die Meinung, Venezuelas Präsident Hugo Chávez wolle durch Zelaya Kommunismus in Honduras einführen. Ähnlicher Meinung waren auch honduranische Unternehmerverbände, konservative US-Politiker und die FDP-nahe Friedrich-Naumann Stiftung, die in Tegucigalpa ein Regionalbüro unterhält.

Wurden die für den Putsch verantwortlichen Personen in irgendeiner Weise sanktioniert?

Nein. Zwar teilte der US-Botschafter Hugo Llorens einen Monat nach dem Putsch Washington mit, dass es „keinen Zweifel mehr daran (gibt), dass die Amtsübernahme durch Roberto Micheletti illegitim war.“ Er bezeichnete die Vorgänge als einen Putsch und widerlegte die Vorwürfe der PutschistInnen gegen Präsident Manuel Zelaya. Dennoch wurde Putschpräsident Roberto Micheletti der Status eines Abgeordneten auf Lebzeiten und damit ein lebenslanges Monatsgehalt, Immunität sowie Polizeischutz für sich und seine Familie zugesichert. Im März 2010 ernannte Porfirio Lobo den für den Putsch verantwortlichen General Romeo Vásquez Velásquez zum Präsidenten der nationalen Telefongesellschaft Hondutel. Die Putschregierung hatte noch vor der Amtseinführung von Porfirio Lobo damit begonnen, Amnestien für politische Straftaten zu erlassen.

Welche lateinamerikanischen Länder anerkennen die Putschregierung von Porfirio Lobo?

Anerkannt wird die Regierung von Porfirio Lobo bisher von Mexiko, Guatemala, Belize, El Salvador, Costa Rica, Panama, Kolumbien, Peru und Chile. Brasilien, Ecuador, Bolivien, Argentinien, Venezuela und Nicaragua haben die Regierung von Porfirio bisher nicht anerkannt. Weiterhin ist Honduras‘ Mitgliedschaft in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert.

Was macht Manuel Zelaya heute?

Manuel Zelaya lebt seit dem 27. Januar 2010 im Exil in der Dominikanischen Republik. Er ist Hauptkoordinator der Widerstandsbewegung und hofft auf eine baldige Rückkehr nach Honduras. Zelaya wurde von Hugo Chávez zudem die Leitung des „Politischen Rates“ von Petrocaribe übertragen.

Was fordert die Widerstandsbewegung?

Die Widerstandsbewegung fordert unter anderem die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. In der neuen Verfassung sollen die Prinzipien der partizipativen Demokratie etabliert werden. Weiter wird die Erneuerung des aktuellen Machtapparates, die Rückkehr Manuel Zelayas aus dem Exil und die Rücknahme neoliberaler Arbeitsgesetze gefordert.

„Vertraut mir“

Scheinbar ist in Ecuador der Alltag wieder eingekehrt. Fünf Monate, nachdem Staatspräsident Rafael Correa am 30. September 2010 von Eliteeinheiten unter Lebensgefahr aus dem Polizeihospital von Quito befreit wurde, wo ihn aufständische PolizistInnen festhielten, sitzt er wieder fest im Sattel. Bei genauerem Hinsehen ist jedoch vieles nicht mehr wie zuvor. Während die Gerichts- und Disziplinarverfahren gegen diejenigen PolizistInnen und PolitikerInnen, die der Aufwiegelung und des Putschversuchs beschuldigt werden, noch andauern, kann das politische Resultat auf folgende Formel gebracht werden: Die Polizei, die den Aufstand anzettelte, wurde institutionell geschwächt, das Militär, das am 30. September nach anfänglichem Zögern erst am Nachmittag seine Loyalität zur Regierung bekundete, hingegen gestärkt. Nach einer Gehaltserhöhung für etwa 5.000 Offiziere unmittelbar nach dem Putschversuch wurde im Dezember Admiral Homero Arellano zum Minister für die Koordination der inneren und äußeren Sicherheit ernannt. Zudem wird die Armee in den letzten Monaten zunehmend für Belange der inneren Sicherheit eingesetzt. Sie patrouilliert in der Altstadt von Quito, realisiert schwer bewaffnet Verkehrskontrollen und bewacht nach wie vor das Parlamentsgebäude. Anfang Januar räumten Militärs auf direkte Anweisung von Präsident Correa Landbesetzungen vor der Hafenstadt Guayaquil, nachdem die betreffende Gegend zur Sicherheitszone erklärt worden war.
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Polizei als „Hüter der öffentlichen Ordnung“ wurden Ende 2010 von der rechten Opposition genutzt, um eine Medienkampagne zum Thema öffentliche Sicherheit loszutreten. Die Regierung erlaube die Einreise kolumbianischer Krimineller und entlasse Verdächtige aus den Gefängnissen, nur weil sie nach einem Jahr noch nicht verurteilt seien – damit gefährde sie ehrbare BürgerInnen zugunsten der Menschenrechte von DelinquentInnen, so die Argumente der christdemokratischen Köpfe dieser Kampagne.
Beobachter wie der Historiker und Anthropologe Pablo Ospina weisen anhand von Zitaten nach, wie Präsident Rafael Correa in Sachen öffentliche Sicherheit seinen Diskurs nach und nach dem der politischen Rechten angenähert hat – wie also die Kampagne der Opposition gewissermaßen erfolgreich war. Ospina zeigt auch anhand von Statistiken auf, dass der faktische Anstieg der Gewaltkriminalität in den letzten Jahren eher verhalten war: Die Mordzahlen stiegen beispielsweise von 2.625 in 2009 nur geringfügig auf 2.638 in 2010. Dennoch hat die konstante Veröffentlichung von Gewalttaten, die in einigen Medien immer noch andauert, das subjektive Sicherheitsgefühl der EcuadorianerInnen stark beeinträchtigt.
Schließlich lancierte die Regierung, um wieder in die Offensive zu kommen, Anfang 2011 eine Volksbefragung, die eine Reaktion auf die wahrgenommene Unsicherheit der BürgerInnen darstellen und eine Justizreform auf den Weg bringen soll. Die Fristen für Untersuchungshaft sollen wieder ausgedehnt, und die ohnehin geplante Justizreform einer dreiköpfigen Komission übertragen werden, in der der Präsident über einen Vertreter der Exekutive direkten Einfluss auf die Neustrukturierung der Gerichte ausüben kann.
Auch wenn die Rechnung, mit dieser Initiative wieder aus dem politischen Hintertreffen zu kommen, aufgegangen ist – seit Mitte Januar dominiert die Volksbefragung die öffentliche Debatte in Ecuador – so hat sie gleichzeitig das schwerste politische Erdbeben innerhalb der Regierungspartei von Alianza País seit deren Gründung ausgelöst. In den letzten Wochen sagten sich eine Reihe von Parlamentsabgeordneten und ehemaligen Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung, ehemalige Minister der Regierung Correa wie Gustavo Larrea und Manuela Gallegos, sowie die linksliberale Strömung Ruptura de los 25 von Alianza País los. Die Folge ist, dass der Regierungspartei im Parlament künftig zwölf Stimmen zur absoluten Mehrheit fehlen. Bemängelt wurde vor allem das Fehlen einer internen politischen Debatte. „Auch wenn Ecuador tiefgreifende Veränderungen braucht, können diese nicht auf Kosten von Rechten und Freiheiten durchgesetzt werden”, heißt es in der Austrittserklärung von Ruptura de los 25.
Sowohl die politische Rechte als auch der Präsident selbst behandeln die consulta vor allem als eine Abstimmung für oder gegen die Person Rafael Correa. „Sie können diesem Genossen Präsident vertrauen, der niemals irgendetwas für sich selbst erstreben wird. Nichts für uns, alles für das Vaterland. Deshalb brauchen wir diesen erneuten Vertrauensbeweis“, so Correa, als er die Volksbefragung am 12. Januar lancierte.
Jene dritte Kraft, die sich nicht mit der Rechten gemein machen lässt, sondern eher eine Art linker Opposition darstellt, führt jedoch die Auseinandersetzung um die Volksbefragung auf der inhaltlichen Ebene als einen Kampf um demokratische Grundprinzipien. Nicht die Tatsache an sich, dass ein Instrument der direkten Demokratie angewandt werden soll, erregt die Gemüter – umstritten ist vielmehr der Inhalt, über den nun abgestimmt werden soll, sowie die Art und Weise, wie der Souverän über die anstehenden Entscheidungen informiert wird. Die Fragen zur Justizreform verweisen nämlich auf einen Anhang von mehreren Dutzend Seiten Paragraphen, die zu verstehen für diejenigen, die im anstehenden Referendum eine informierte Entscheidung treffen wollen, fast unmöglich ist. Hinzu kommt, dass die Kommission, welche die Justizreform innerhalb von 18 Monaten vorantreiben soll, prominenten VerfassungsrechtlerInnen zufolge die Gewaltenteilung aushebelt und die Judikative praktisch den Interessen der Exekutive ausliefert.
Rafael Correa selbst reagierte jedoch ungerührt auf die Abwanderung seiner ehemaligen ParteigängerInnen und die damit verbundene Kritik. Jede Revolution habe schließlich ihre VerräterInnen, meinte er lakonisch, und: “Den Illoyalen, den Opportunisten, den Verrätern schicken wir einen brüderlichen Gruß und das Angebot eines neuen Sieges an den Urnen.“ Für Doris Soliz, amtierende Ministerin für die Koordinierung der Politik, hat die Regierung mit der Volksbefragung „einen radikalen, transformatorischen, sicherlich umstrittenen Weg eingeschlagen, um auf die Sicherheitsproblematik zu reagieren.“ Die DissidentInnen hätten hingegen einen reformistischen, institutionalistischen Weg gewählt.
Der Termin für das Referendum wurde schließlich auf den 7. Mai festgelegt. Während praktisch alle politischen Kräfte sowohl rechts als auch links der Regierung – mit Ausnahme der sozialistischen Partei – sich gegen die Volksbefragung ausgesprochen haben, besagen Meinungsumfragen, dass die Regierung, die grundsätzlich immer noch über 60 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung genießt, bei diesem Referendum erstmals das Risiko eingeht, keinen eindeutigen Sieg einzufahren.
Dass Ecuador eine Justizreform benötigt, ist allgemein unumstritten. Dass sie jedoch von Rafael Correa persönlich gestaltet werden soll, anstatt wie geplant in einem transparenten und partizipativen Verfahren von der sogenannten 5. Gewalt, dem Rat für Bürgerbeteiligung, ist der Tropfen, der für einige das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nach vier Jahren Bürgerrevolution – einer Zeitspanne, die an sich in Ecuador bereits einen Rekord an politischer Stabilität darstellt – ist der mangelnde politische Wille, die BürgerInnen real und auf verschiedenen Wegen an politischen Prozessen zu beteiligen, eines der wichtigsten Merkmale der Regierung Correa. Einer Regierung, die sich in erster Linie die Stärkung und Effizienz des Staatsapparates zum Ziel gesetzt hat, und soziale Mobilisierung oder Protest nicht als legitime Formen politischer Beteiligung wertet, sondern als Anarchie und mangelnden Respekt vor der Obrigkeit.
Partizipation ist für Rafael Correa gleichbedeutend mit unnötiger Verzögerung, so Pablo Ospina. Wenn BürgerInnen etwa zu Mitteln des zivilen Ungehorsams greifen, müssen sie im heutigen Ecuador mit harscher Repression rechnen. Zwischen 2008 und 2010 wurden über 200 EcuadorianerInnen, die beispielsweise Straßenblockaden oder Demonstrationen organisiert hatten, des Terrorismus und der Sabotage angeklagt – auf der Grundlage eines extrem auslegbaren Strafrechtsparagraphen, der im Jahr 1964 von einer Militärdikatur eingeführt worden war. Der Bruch der Regierung Correa mit den Massenorganisationen, die eigentlich die Basis einer fortschrittlichen Regierung darstellen sollten, wie Gewerkschaften und Indigenen, scheint mittlerweile nicht mehr überwindbar.
Für Paco Moncayo, den ehemaligen Bürgermeister von Quito, gibt es nicht eine Bürgerrevolution, sondern zwei: Ein partizipatives, linkes Projekt, das sich in der Verfassung von 2008 materialisiert. Und ein autoritäres, personalistisches Projekt, das in Rafael Correa selbst seine Konkretisierung erfährt. Die Auseinandersetzung um die Volksbefragung muss vor diesem Hintergrund gelesen werden.
Die linken KritikerInnen sehen in der consulta selbst nicht direkte Demokratie, sondern eine Serie von Verfassungsbrüchen und eine weitere Unterhöhlung der Demokratie zugunsten zentralistischer Kontrolle und Effizienz. Manuela Gallegos, ehemalige Ministerin für Bürgerbeteiligung und soziale Organisierung, drückt das so aus: „Ich glaube nicht an vertikale Macht. Ich glaube nicht an Personen, die für mich entscheiden. Für mich war das grundlegende Konzept der Bürgerrevolution die Tatsache, dass man einem Volk die Möglichkeiten, Gelegenheiten und Stärke geben sollte, sich selbst zu regieren.“

Fünf Jahre „Regierung der sozialen Bewegungen“

Menschenmassen in ponchos und polleras, Jeans und Pullovern, füllten die Straßen von La Paz, als Evo Morales Ayma im Januar 2006 als erster indigener Präsident Boliviens vereidigt wurde. Fünf Jahre später fließen wieder Menschenströme durch das Zentrum von La Paz. Doch statt Jubelstimmung herrscht diesmal Empörung über die Entscheidung der Regierung, die Subventionen für Treibstoffe aufzuheben (siehe Artikel Seite 10). Der Konflikt zeigt, dass sich die Regierung in zentralen Fragen schon weit von den Bedürfnissen der Bevölkerung entfernt hat. So haben die sozialen Bewegungen Boliviens nach fünf Jahren Evo Morales ihre eigene Bilanz gezogen und den gasolinazo für eine grundlegende und notwendige Klarstellung genutzt: die präsidiale Macht reicht nur so weit, wie sie es zulassen.
Trotz gegenläufiger Wahrnehmungen in der internationalen Presse und der bolivianischen Opposition waren und sind Morales und seine Partei, die Bewegung zum Sozialismus (MAS), nicht die zentralen treibenden Kräfte hinter den politischen und sozialen Transformationen der letzten Jahre. Fünf Jahre Evo sind undenkbar ohne die Dekade anti-neoliberaler Politik von unten, die im Januar des Jahres 2000 mit dem „Wasserkrieg“ ihren Anfang fand. Damals konnte die Bevölkerung Cochabambas die Privatisierung der Wasserversorgung abwehren. In den darauf folgenden Jahren gelang es den sozialen Bewegungen Boliviens ein ums andere Mal, den neoliberalen Konsens auszuhebeln: die Kokabauern und -bäuerinnen besetzten Straßen, die indigenen Organisationen des bolivianischen Tieflandes marschierten gen La Paz, die Aymaras kesselten den Regierungssitz ein und die Bevölkerung El Altos nahm ihn mehrmals ein. Gemeinsam stürzten die Bewegungen so zwei Präsidenten und verhinderten den Export ihrer Bodenschätze zu Dumpingpreisen. In diesem Mosaik verschiedenster Organisationen war die „Oktober-Agenda“ der Rahmen politischer Artikulation: basierend auf den im „Gaskrieg“ vom Oktober 2003 gestellten Forderungen sah sie die Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen sowie die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) vor. Hinzu kam die von den indigenen und Bauernorganisationen geforderte radikale Landreform.
Dass dieser kollektive Wille nach tief greifenden Transformationen schließlich in dem historischen Wahlsieg von Evo Morales und der MAS seinen Ausdruck fand, war weniger effizienter Parteiarbeit oder dem Charisma von Morales geschuldet, sondern basierte vielmehr auf den nachbarschaftlichen, gewerkschaftlichen und indigenen Organisationen. Diese nutzten die Partei als Vehikel, als „politisches Instrument“ zur Eroberung der staatlichen Institutionen. Von der Wahl Evos Morales‘ und der MAS, die Ende 2005 mit 54 Prozent der Stimmen die Parlamentsmehrheit bildete, erhofften sich die UnterstützerInnen die Einleitung radikaler Reformen, die nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ möglich machen sollten.
Nur anderthalb Monate nach der Vereidigung des neuen Präsidenten verabschiedete die Regierung Morales das Gesetz zur Einberufung der VV. Dabei beging sie allerdings nicht nur schwerwiegende strategische Fehler, sondern blieb auch weit hinter den Erwartungen der sozialen Bewegungen zurück. So band das Gesetz die Wahlen der Abgeordneten der VV an ein Referendum über die Autonomierechte der Departamentos, eine Forderung, die sich die äußerste Rechte des bolivianischen Tieflandes auf die Fahnen geschrieben hatte. Nachdem im Tiefland ein Großteil der Bevölkerung für die Autonomie gestimmt hatte, war die VV gezwungen, sich mit einem von Unternehmern und Großgrundbesitzern entwickelten Autonomieprojekt auseinander zu setzen, welches den Interessen der Basisbewegungen diametral entgegen steht.
Die Kritik der sozialen und indigenen Bewegungen zielte jedoch vor allem darauf, dass entgegen ihrer seit Jahren verteidigten Forderung nach autonomer Repräsentation der verschiedenen Gruppen und Organisationen das Gesetz diese explizit ausschloss. Es sah stattdessen ausschließlich die Partizipation von Parteien und so genannten Bürgervereinigungen vor. Das hieß für die Delegierten der Basis, dass eine Teilnahme an der VV nur möglich war, wenn sie sich der MAS oder anderen Parteien anschlossen und sich deren Logik unterordneten. Bei den Wahlen zur VV erzielte die MAS dann mit 51 Prozent zwar mit Abstand die meisten Stimmen und kontrollierte fortan den Großteil der Basisdelegierten – doch sollte sie für diesen parteipolitischen Schachzug noch teuer bezahlen. Denn statt einer zentralen Instanz zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme war die VV von Anfang an Schauplatz permanenter Auseinandersetzungen.
Die Arbeit der Versammlung scheiterte über Monate hinweg an formalen Fragen, die Fronten verhärteten sich zusehends und die Opposition trug ihren Widerstand auf die Straße. Die Regierung sah schließlich keinen anderen Ausweg, als die letzte Sitzung der VV von Sucre nach Oruro zu verlegen, wo der Text ohne Präsenz der Opposition abgesegnet wurde. Nachdem der Kongress sich dann weigerte, das Gesetz zum Verfassungsreferendum zu verabschieden, ging die Regierung auf Verhandlungen mit der Opposition ein, in denen ein Viertel der insgesamt vierhundert Verfassungsartikel kurzerhand umgeschrieben wurden. Dabei erreichte die politische Rechte nicht nur die Schwächung indigener und die Stärkung departamentaler Autonomierechte, sondern verhinderte auch die Einführung einer Obergrenze für Landbesitz. Bestehender, zumeist illegal erworbener Großgrundbesitz wurde damit de facto legalisiert. Die als „Agrarrevolution“ im August 2006 in Angriff genommene Landpolitik der Regierung basiert somit weiterhin auf den traditionellen, in den vergangenen Jahren allerdings sukzessive gestärkten Instrumenten, die dem Staat zur Enteignung und Umverteilung unproduktiven Landbesitzes zur Verfügung stehen.
Dabei wäre ein solcher Kompromiss wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen. Denn als die Regierung sich mit den VertreterInnen der Opposition zu einer Neuverhandlung des Verfassungstextes hinreißen ließ, war der harte Kern des Widerstands schon an seiner eigenen Unfähigkeit gescheitert, ein mehrheitsfähiges Alternativmodell zu Evos Kurs zu entwerfen. Während sie sich im öffentlichen Diskurs als Opfer des zentralistischen Staatswesens präsentierte, konnte die Autonomiebewegung ihre Macht im Innern der als „Halbmond“ bezeichneten Departamentos des Tieflandes nur durch eine brutale und rassistisch durchsetzte Repression gegen Gewerkschafter, indigene AktivistInnen und Mitglieder der MAS durchsetzen.
Etwa einen Monat nachdem Morales und sein Vizepräsident Álvaro García Linera im August des Jahres 2008 im ersten Abberufungsreferendum der Geschichte des Landes auf knapp 70 Prozent Zustimmung kamen, versuchten die oppositionellen autonomistas sich in einer als „Zivilputsch“ bekannten Erhebung. Im „Halbmond“ wurden die Flughäfen besetzt und die zentralstaatlichen Institutionen in Brand gesetzt, in Santa Cruz attackierte die Jugendorganisation der Autonomisten das Migrantenviertel. Am 11. September wurden im nördlichen Departamento Pando mehr als zehn campesin@s ermordet. Die indigenen und Bauernorganisationen von Santa Cruz antworteten darauf mit der Einkesselung der Hauptstadt ihres Departamentos, und die sozialen Bewegungen des Hochlandes drohten ihre Anreise an. Die Regierung ließ den Präfekten in Pando sowie einige weitere Personen festnehmen.
Obwohl der Putschversuch damit im Keim erstickt war und sich gezeigt hatte, dass die Autonomiebewegung für die außerparlamentarische Schaffung von Tatsachen nicht den nötigen Rückhalt der Bevölkerung genoss, stimmte die Regierung der Neuverhandlung der Verfassung mit den Präfekten und anderen Oppositionspolitikern zu. Dass es seitdem still um den „Halbmond“ geworden ist, liegt zum einen an der unmissverständlichen Warnung der Landbevölkerung Santa Cruz‘ gegenüber den Autonomisten sowie an der konsequenten Verfolgung der Oppositionspolitiker durch die Justiz; zum anderen an den weit reichenden Zugeständnissen hinsichtlich Autonomie und Landbesitz. Eine Lösung der grundlegenden sozialen Probleme dieses Teils Boliviens ist deswegen noch weit entfernt.
Die schließlich im Januar 2009 per Referendum angenommene neue Verfassung Boliviens ist trotz ihrer alles andere als widerspruchsfreien Geschichte in vielerlei Hinsicht zukunftsweisend. Der Text definiert den bolivianischen Staat als plurinational und interkulturell und tritt zentrale Kompetenzen an verschiedene Autonomieebenen ab. Die Verfassung erkennt die Existenz indigener Völker sowie deren eigene politische und rechtliche Strukturen an, wobei diese den staatlichen in vielerlei Hinsicht klar untergeordnet bleiben. Außerdem wurden sehr weit reichende soziale und Bürgerrechte im Verfassungstext festgeschrieben und die Bodenschätze des Landes zum unveräußerlichen Eigentum der bolivianischen Bevölkerung erklärt. Gleichzeitig beschnitt die Verfassung das Recht auf Mitbestimmung der indigenen Gruppen über die Nutzung natürlicher Ressourcen in ihren Territorien, was schon jetzt zu einer Vielzahl regionaler Konflikte insbesondere im erdgasreichen Tiefland führte. Auch die Zusammensetzung des Parlaments brachte Streit, da indigene Gruppen sich nicht ausreichend repräsentiert fühlten. Die Verfassung bleibt damit ein Kompromiss mit Boliviens konservativen Kräften und einem liberalen Staatsmodell verhaftet, das zu überwinden man sich eigentlich vorgenommen hatte.
Fraglos hat die bolivianische Regierung seit des Inkrafttretens der neuen Verfassung und der Ausschaltung des „Halbmondes“ einen größeren politischen Spielraum. Vor allem die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen hat dem bolivianischen Staat in den letzten Jahren zudem bislang unbekannte finanzielle Möglichkeiten beschert. Beliefen sich die öffentlichen Ausgaben Boliviens im Jahr 2001 noch auf gerade einmal 640 Millionen US-Dollar, kletterten diese 2009 auf beinahe drei Milliarden. Die Regierung um Evo Morales hat diese öffentlichen Gelder in Infrastrukturmaßnahmen, Sozialprogramme und in die dezentralisierten staatlichen Strukturen fließen lassen. Die neue Verfassung gibt der Regierung dabei die Möglichkeit, eine progressive Stärkung der Gemeinden einzuleiten, denen mittlerweile ein Großteil aus der „Direkten Steuer auf Kohlenwasserstoffe“ (IDH) zukommt. Auch auf diese Weise wurde die Macht der oppositionellen Präfekten weiter begrenzt. Die Einführung einer universellen Rente für Über-Sechzig-Jährige, einer jährlichen Auszahlung an Schulkinder und einer Art Kindergeld haben zudem neben etlichen anderen Sozialprogrammen zu einer wenn auch zögerlichen Umverteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums beigetragen. Evo wurde das mit seiner Wiederwahl Ende 2009 mit über 60 Prozent der Stimmen gedankt. Die MAS eroberte bei den Regionalwahlen im April 2010 231 der 337 Gemeinden Boliviens.
Dennoch weist das Verhältnis zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen zunehmend Spannungen und Brüche auf. Der Triumph der MAS im April letzten Jahres war überschattet von Siegen des links-reformistischen Bündnisses Bewegung ohne Angst (MSN) unter anderem in La Paz und Oruro, die sich als einzige ernstzunehmende Oppositionspartei zu etablieren scheint. In El Alto siegte Evos Partei nur knapp. Auch in Achacachi, einer der wichtigsten Aymara-Städte, siegte der Oppositionskandidat, nachdem die Regierungspartei ihren dortigen Kandidaten statt über lokale Wahlen per Fingerzeig bestimmt hatte. Wenige Tage später begannen campesin@s in Caranavi, der einstigen MAS-Hochburg im Norden des Departamentos La Paz, eine Straßenblockade, um den von Regierungsseite versprochenen Bau einer Fabrik zur Verarbeitung von Zitrusfrüchten zu erzwingen. Die Regierung vermutete eine „rechte Infiltrierung“ hinter dem Protest und ließ ihn gewaltsam auflösen, was etliche Verletzte und einen Toten zur Folge hatte. Im Juni und Juli 2010 organisierte die CIDOB, die wichtigste indigene Organisation des Tieflandes, einen Marsch von 500 AktivistInnen Richtung La Paz, um für die Durchsetzung ihrer Autonomierechte zu demonstieren. Auch in diesem Fall sah die Regierung rechte Verschwörer am Werk, und statt eines offenen Dialogs suchte sie die Spaltung der Bewegung. Und als die Bevölkerung des bitterarmen Potosí im August für eine Teilhabe am neuen Reichtum demonstrierte, wurde auch sie abgekanzelt.
So hat die „Regierung der sozialen Bewegungen“, wie sie sich selbst gern nennt, mit zunehmendem Erfolg an den Urnen auch zunehmend ihre Fähigkeit verloren, politische Prozesse von unten nach oben zu gestalten. Die MAS hat sich derweil von einem „politischen Instrument“ mehr und mehr zu einer hierarchisch strukturierten Partei im klassischen Sinne entwickelt. Für lange Zeit ließ die extreme Polarisierung der politischen Landschaft Boliviens kaum Kritik an diesen Prozessen zu. Da die Regierung zudem erfahrene BasisaktivistInnen in staatlichen Institutionen platziert hat und einen wichtigen Einfluss auf die Spitzen einiger zentraler politischer Organisationen ausübt, schien es lange Zeit so, als haben Evo und sein Kabinett freie Hand in der Politikgestaltung. Der kürzliche Konflikt um die Erhöhung der Energiepreise hat jedoch gezeigt, dass dies nach fünf Jahren Evo Morales nicht mehr der Fall ist. Es liegt jetzt in der Hand der sozialen Bewegungen, neue Formen der Artikulation mit der Regierung zu suchen – und notfalls zu erzwingen.

Zwischen Debatte und Konfrontation

Zumindest physisch hat sich die Opposition in Venezuela zurück gemeldet. Unterstützt von Demonstrationen und Kundgebungen beider politischer Lager trat am 5. Januar erstmals die neue Nationalversammlung zusammen. Die GegnerInnen von Hugo Chávez sind darin nach ihrem viel kritisierten Wahlboykott im Jahr 2005 nun wieder deutlich repräsentiert. Aufgrund des Mehrheitswahlsystems hatte die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei der Parlamentswahl im vergangenen September allerdings eine klare Mehrheit von 98 Abgeordneten erzielt. Das Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) lag in absoluten Stimmen zwar nur knapp hinter der PSUV, stellt jedoch lediglich 65 Abgeordnete, die sich auf zwei Fraktionen aufteilen. Die kleine Partei Heimatland für Alle (PPT), die erst im vergangenen Jahr mit dem Regierungslager brach, kommt auf zwei Abgeordnete (siehe LN 437).
Das alles bestimmende Thema zu Jahresbeginn war jedoch der plötzliche Aktionismus der alten ParlamentarierInnen, die Ende des Jahres noch rund 30 Gesetze verabschiedeten. So sollen zusätzliche Kompetenzen von repräsentativen Organen auf Gemeindeebene an die basisdemokratisch organisierten kommunalen Räte und die comunas, einen Zusammenschluss jeweils mehrerer Räte, übergehen. Daneben wurden unter anderem die Redezeit im Parlament reduziert, die Finanzierung von Parteien und Nichtregierungsorganisationen durch ausländische Gelder reguliert und der Parteiübertritt von Abgeordneten erschwert.
Die heftigsten Reaktionen erntete aber die erneute Übertragung gesetzgeberischer Vollmachten an Chávez für insgesamt 18 Monate. Demnach kann der venezolanische Präsident bis Ende Juni des Wahljahres 2012 Dekrete mit Gesetzesrang erarbeiten lassen. Begründet wurde dies mit den schweren Unwettern, die Venezuela im Dezember heimsuchten. Mindestens 120.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen und in Notunterkünfte ziehen. Um die Ursachen der Katastrophe wirkungsvoll anzugehen, seien die Vollmachten notwendig, argumentiert Chávez. Das gravierende Wohnungsproblem müsse gelöst, zusätzliche Einnahmen müssten generiert werden. Die Vollmachten erstrecken sich auf zehn unterschiedliche Bereiche, darunter Wohnraum, Infrastruktur, Finanzen und Steuern, aber auch auf Landesverteidigung oder internationale Zusammenarbeit.
Die Erteilung zeitlich begrenzter Vollmachten ist prinzipiell durch die Verfassung gedeckt, sofern drei Fünftel der Abgeordneten dafür stimmen. Bis wohin die Ursachen der Katastrophe reichen sollen, ist hingegen Definitionssache. Pikant ist, dass seit dem 5. Januar keines der beiden großen politischen Lager über eine Dreifünftelmehrheit verfügt, um die Vollmachten wieder zurück zu nehmen.
Dabei verfügt die regierende PSUV auch in dem neuen Parlament über eine bequeme Mehrheit. Die Verabschiedung einfacher Gesetze, wie sie Chávez nun dekretieren darf, könnte die Opposition ohnehin nicht verhindern. Ziel der Vollmachten kann also nur eine Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens sein. Der zu erwartende Schlagabtausch zwischen den beiden unversöhnlichen politischen Lagern fällt dabei teilweise unter den Tisch. VertreterInnen der Opposition kritisierten das Bevollmächtigungsgesetz scharf und stellten Chávez teilweise gar als Diktator hin. Auch international gab es deutliche Reaktionen. Der Unterstaatssekretär für Lateinamerika im US-Außenministerium, Arturo Valenzuela, sprach von einer „undemokratischen Maßnahme“. José Miguel Insulza, Generalsekratär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sagte, die Erteilung der Vollmachten „widerspreche vollkommen der Interamerikanischen Demokratiecharta“.
In den ersten Wochen dekretierte Chávez mehrere Gesetze, die direkt mit den Unwettern zu tun haben. Unter anderem richtete er einen Fonds zur Unterstützung der Betroffenen ein, einen Schuldenerlass für vom Unwetter geschädigte AgrarproduzentInnen und verabschiedete Gesetze über „würdige Zufluchtsorte“ und „Wohnungsnotstand“. Hunderttausende neue Wohnhäuser will die Regierung gemeinsam mit der Privatwirtschaft dieses Jahr bauen. Auch ungenutzte Freiflächen, die sich in Privatbesitz befinden, sollen dafür herangezogen werden. Die Wohnungspolitik ist seit Jahren einer der Bereiche, in denen die Bilanz der Chávez-Regierung äußerst dürftig ausfällt.
Im Nachbarland Kolumbien, das ebenfalls von einer schlimmen Unwetterkatastrophe mit über zwei Millionen Geschädigten betroffen ist, griff Präsident Manuel Santos zu ganz ähnlichen Maßnahmen. Im Rahmen eines für etwa sechs Wochen verhängten Notstandes erließ er 37 Dekrete, darunter auch ein Gesetz, das Enteignungen von Ländereien ermöglicht. Kritik an dem Vorgehen war von internationaler Seite jedoch nicht zu vernehmen.
Bei der obligatorischen Präsentation des Rechenschaftsberichts am 15. Januar, den der venezolanische Präsident stets zu Beginn des Jahres dem Parlament vorlegen muss, schienen sich die Wogen zunächst etwas zu glätten. Chávez kritisierte die Opposition dafür, ihn als Diktator zu bezeichnen und rief zum Dialog auf. „Ich bin sehr froh über eure Anwesenheit hier im Parlament und wir sollten diese neue Möglichkeit nicht ungenutzt lassen“. Die politischen Lager seien „keine Feinde“, betonte Chávez ungewohnt versöhnlich. Zudem kündigte er an, die Vollmachten nur bis zum 1. Mai dieses Jahres zu benötigen. Er werde „schneller arbeiten“, um die Ursachen und Folgen der Unwetterkatastrophe bis dahin in den Griff zu bekommen.
Die Abgeordneten der Opposition zeigten sich weitgehend unbeeindruckt. Chávez habe nur „gebrochene Versprechen wiederholt“ und die Bevölkerung „erneut betrogen“, kommentierte Ramón Guillermo Aveledo, Sprecher des MUD. Auch Chávez‘ Ankündigung, die Vollmachten bereits im Mai dieses Jahres zurückzugeben, nahm die Opposition kühl auf. Der Präsident solle dies unverzüglich tun, ließen mehrere ihrer SprecherInnen verlauten. Anscheinend ließ sich Chávez von den zurückhaltenden Reaktionen provozieren. Wenige Tage später verkündete er, die Vollmachten nun doch nicht zurückgeben zu wollen, wenn die Opposition nicht interessiert sei und es ihr nur um „alles oder nichts“ gehe. „Wir haben die Debatte begrüßt, aber sie verteidigen nur den verlassenen Schuppen eines Privatunternehmens“, sagte Chávez in Anspielung auf die Enteignung eines ungenutzten Grundstücks des Lebensmittel- und Bierkonzerns Polar, auf dem neue Wohnungen entstehen sollen. „Wir verteidigen die Interessen der Bevölkerung. Das ist der fundamentale Unterschied.“
Die Erteilung der Vollmachten ist rechtlich gedeckt, zeigt aber ein grundlegendes Problem des bolivarianischen Prozesses. Die Herausforderung, kollektive und nachhaltige Strukturen zu schaffen, die einen Präsidenten Chávez politisch überleben könnten, ist bisher nicht gemeistert worden. Die Kritik der Opposition ist legitim und war nicht anders zu erwarten. Wäre einer der heutigen Oppositionspolitiker Präsident und würde gesetzgeberische Vollmachten erhalten, die Chavistas würden dies selbstverständlich als undemokratisch kritisieren. Von Chávez erwarten sie, dass er Initiativen von unten aufgreift, von der Opposition hingegen Gesetze für ökonomische Eliten. Im Unterschied zur Opposition würden die Chavistas aber höchstwahrscheinlich die Bevölkerung mobilisieren, um einzelne Präsidialdekrete per Referendum zu kippen.
Denn die bolivarianische Verfassung bietet direktdemokratische Instrumente, um Debatten über einzelne Gesetze zu erzwingen. Bei Präsidialdekreten reichen fünf Prozent der eingeschriebenen WählerInnen aus, um ein Referendum über die partielle oder komplette Aufhebung von Gesetzen durchzuführen. Die Bevölkerung hat also – abgesehen von bestimmten Ausnahmen wie in den Bereichen Steuern, Menschenrechte oder internationale Verträge – die Möglichkeit, Entscheidungen des Gesetzgebers zu korrigieren. Darüber hinaus kann auch das Parlament dekretierte Gesetze jederzeit verändern oder kippen. Chávez ist somit für deren Durchsetzung prinzipiell auf die Mehrheit sowohl im Parlament als auch der Bevölkerung angewiesen. Obwohl die Opposition seit Chávez‘ Amtsantritt 1999 zahlreiche Gesetze rundum abgelehnt hat, wurde bisher noch nie ein Aufhebungsreferendum beantragt. Es ging ihren VertreterInnen nie darum, einzelne Normen durchzusetzen oder zu verändern, sondern darum, den in ihren Reihen verhassten Präsident von der Macht zu verdrängen.
Die Opposition scheint es nicht als demokratisches Recht, sondern vielmehr als Risiko anzusehen, Instrumente direkter Demokratie zu verwenden, da dies dem von ihr abgelehnten politischen System zusätzliche Legitimität verleihen würde. Zu schlecht ist zudem ihre Bilanz der letzten zwölf Jahre, wenn es darum ging, demokratische Mehrheiten zu organisieren. Doch dadurch vertut die Opposition die Chance, Debatten über einzelne Sachfragen in eine Öffentlichkeit zu bringen, die wesentlich breiter wäre als die begrenzten Räumlichkeiten des Parlamentsgebäudes.
Dass sich Debatten in der polarisierten venezolanischen Gesellschaft durchaus organisieren lassen, zeigt das Beispiel des Universitätsgesetzes. Dieses hatte die alte Nationalversammlung im Dezember verabschiedet. Es sah unter anderem vor, die internen Strukturen der Universitäten zu demokratisieren. KritikerInnen sahen vor allem die Autonomie der Hochschulen gefährdet. Anfang Januar gab Chávez bekannt, sein Veto gegen das Gesetz einzulegen, weil es „aus politischen und technischen Gründen unanwendbar“ sei. Die Universitäten und die Bevölkerung rief er dazu auf, über die gewünschten Inhalte zu debattieren. Das Veto, das in Venezuela im Gegensatz zu den meisten Präsidialsystemen mit einfacher Mehrheit vom Parlament zurückgewiesen werden kann, führte zu einem ungewöhnlichen Schulterschluss in der neuen Nationalversammlung. Bei der ersten Abstimmung überhaupt wurde die Aufhebung des Gesetzes einstimmig beschlossen.

Schwere Zeiten für Lugo

Anfang Oktober 2010 befand sich Präsident Fernando Lugo infolge einer Thrombose in Lebensgefahr. Er wurde zur Behandlung nach Brasilien geflogen, wo er sich aber nach einer Woche wieder erholte. Währenddessen waren wieder Spekulationen über seine Nachfolge in der Bevölkerung laut geworden. Der Hauptverantwortliche für die angeheizte Stimmung war einmal mehr Vizepräsident Luís Federico Franco Gómez, der seine Absicht, das Amt des Präsidenten anzutreten, nicht verhehlen konnte.
Während sich Präsident Lugo im syrisch-libanesichen Krankenhaus in São Paulo erholte, versicherte sein politischer Beraterstab, von ihm persönlich den Befehl erhalten zu haben, vier Ämter im militärischen Bereich neu zu besetzen. Lugos Vize Franco nutzte diesen Zwischenfall, um der Öffentlichkeit kundzutun, dass dieser Befehl eigentlich zu seinem Aufgabenbereich als offizieller Vertreter des Präsidenten gehöre. Daraufhin wurden zwei Wochen lang heftige Diskussionen über dieses Thema geführt, auch im Abgeordnetenhaus, wo eine Rüge des Präsidenten beschlossen wurde.
Diese Begebenheit ist nur eine von vielen, mit der der Vize-Präsident seit der Machtübernahme Lugos 2008 mit tatkräftiger Unterstützung oppositioneller Gruppen versucht, das Land zu destabilisieren. Die oben genannte Sitzung im Parlament wurde dazu genutzt, um wieder einmal das Kräfteverhältnis zu messen, in der Hoffnung, den Präsidenten endlich seines Amtes entheben zu können.
Verteidigungsminister Cecilio Pérez gab zu, dass „es unhöflich vom Präsidenten gewesen ist, den Vize-Präsidenten nicht informiert zu haben”, während er aber gleichzeitig hervorhob, dass sich Lugo gesetzeskonform verhalten habe. Innenminister Rafael Filizzola sagte, dass „die Tatsache, dass diese Situation zu einer politischen Krise auswachsen konnte, uns Ministern völlig übertrieben vorkommt und ungerechtfertigt ist.” Die Episode blieb letztlich ohne Folgen, trotz der gezielten Stimmungsmache von Teilen der Presse für ein Amtsenthebungsverfahren.
Die Wahl Lugos hatte viele Erwartungen unter den WählerInnen ausgelöst, doch seine Amtsführung bleibt wenig überzeugend. Dies hat der Kolumnist Miguel H. López von der Tageszeitung Última Hora sehr gut zusammengefasst: „Wir mögen darin übereinstimmen, dass Lugo kein guter Regierungschef ist, dass er keinerlei staatsmännisches Profil hat und dass er ein Tollpatsch ist (…) und versucht, die Träume und Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerung zu kanalisieren, die nach sechs Jahrzehnten nichts mehr hören will von Raub, Korruption und Mord. Von fünf Dingen macht Lugo zwei gut und drei schlecht. (…) Aber er ist der konstitutionell gewählte Präsident und der Zwischenfall mit der Neubesetzung der militärischen Posten hat keine nachhaltigen Folgen gezeigt. Wenn es anders wäre, glauben Sie denn, dass Lugos Opposition, mit dem Vize-Präsidenten an der Spitze, nicht alles unternommen hätte, um die Macht in unserem Land an sich zu reißen?” Die Kommunalwahlen am 7. November wurden als eine Art Referendum über die Amtsführung Lugos eingeschätzt, die nun über zwei Jahre an der Macht ist. Aus diesen Wahlen ging die Oppostionspartei Colorados eindeutig gestärkt heraus. Sie erreichte knapp 46 Prozent der Stimmen.
Die Landlosenbewegung, die Lugo noch bei den Präsidentschaftswahlen unterstützt hatte, hielt sich vor den Kommunalwahlen eher bedeckt. Doch versicherte ein Bauernanführer, der aus Angst vor Repressalien ungenannt bleiben will: „Nach den Wahlen werden wir wieder Land besetzen”. Tatsache ist, dass das Wahlversprechen des Präsidenten, eine Landreform in Angriff zu nehmen, sich in Luft aufgelöst hat. Bis heute konnte das zuständige Institut (INDERT) nur kleine Parzellen erwerben.
Momentan steht dieses Thema, das vor allem die 300.000 landlosen Bauern und Bäuerinnen betrifft, nicht auf der politischen Agenda. Auch wenn dies vor allem der Blockadehaltung der Opposition zugeschrieben werden kann, trägt auch die geringe Effizienz der aktuellen Regierung ihren Teil dazu bei. Die neu gegründete Koordinationsstelle der Exekutive für die Agrarreform CEPRA kann keine größeren Erfolge bei der Unterstützung der Dörfer auf dem Land vorweisen. Ebenso gibt es keine nennenswerten Aktionen, ungenutzte Landstriche fruchtbar zu machen und zu besiedeln – eine der wichtigsten Forderungen der auf dem Land aktiven Bewegungen.
Große Beunruhigung rief auch der vom Präsidenten im Kongress eingereichte Gesetzesvorschlag hervor, die wichtigsten Flughäfen Silvio Pettirossi, im Großraum Asunción, und Guaraní, in Ciudad del Este an der Grenze zu Brasilien, zu privatisieren. Der Vorschlag sieht auch vor, die militärische Anlage in Mariscal Estigarribia, im Herzen des Chaco nahe der Grenzen zu Brasilien und Bolivien gelegen, ausländischen Operationen zu öffnen. Der Vorschlag wurde persönlich von Lugo eingereicht, mit der Begründung, das Land müsse „sich auf das Niveau der anderen Länder der Region begeben.“ Die staatlichen Gewerkschaften protestierten umgehend. Leonardo Beraud, Generalsekretär der Gewerkschaft der FlughafenarbeiterInnen Seodinac, sagte, dass „dieses Projekt wie ein Bonbon angeboten wird, damit das private Kapital in das Straßennetz und die Schifffahrt investieren kann, wo sie sehr viel Geld verdienen werden. Unserer Auffassung nach ist es Unsinn, ein rentables Unternehmen zu opfern, und den multinationalen Unternehmen die Einkünfte der Flughäfen von Pettirossi und Guaraní zu schenken.” Der Gewerkschafter erinnerte daran, dass die 1.380 Angestellten des für die Luftfahrt zuständigen Amtes DINAC nun um ihre Arbeitsplätze fürchten. Die Einnahmen dieses Amtes seien vollkommen ausreichend um die laufenden Kosten der Flughäfen zu decken und neue Investitionen zu tätigen. Jedoch werde das Geld momentan vom Finanzministerium zurückgehalten. Ebenfalls kritisieren die sozialen Bewegungen die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik von Finanzminister Borda. Er zahlt pünktlich die Auslandsschulden (etwa 400 Millionen US-Dollar pro Jahr) und nimmt gleichzeitig Kürzungen im sozialen Bereich vor.
Besorgniserregend sind auch die Anzeichen für die Anwendung „kolumbianischer“ Methoden bei der Aufstandsbekämpfung. So beschloss die Regierung, die Prämie für weitergehende Informationen über den Aufenthalt von Magna Meza, Manuel Cristaldo Mieres und Osvaldo Villalba aufzustocken. Diese gelten als die Anführer der Guerilla namens Armee des paraguayischen Volkes (EPP). Der Innenminister veranlasste diese Maßnahme drei Tage nachdem eine Spezialeinheit der Polizei Gabriel Zárate Cardozo dank eingegangener Informationen über seinen Aufenthalt eingekreist und niedergeschossen hatte. Zárate galt als drittwichtigster Kopf der EPP. Der Guerillero soll einen als Informanten überführten Lehrer Tage zuvor erschossen haben. Es wurde außerdem bekannt, dass die Regierung 250.000 US-Dollar an sieben Informanten ausgezahlt hat. Die Regierung versucht auf diese Weise, die logistische Unterstützung aufzuweichen, die die Guerilla in ländlichen Gebieten im Norden des Landes erhält. Dort befinden sich Soja-Plantagen, Rinderfarmen, Marihuana-Felder und eine große Zahl von landlosen Bauern und Bäuerinnen. Innenminister Filizola äußerte: „Wir fordern die Guerilleros auf, sich umstandslos der Justiz zu stellen, damit dem paraguayischen Volk nicht noch mehr Schmerz zugefügt wird und damit sie sich selbst retten können.“ Auch informierte er, dass die sieben belohnten Informanten sich „alle in einem guten Zustand befinden, ihre Identität wird niemals preisgegeben werden.“
Bis jetzt hat die Polizei zwei Mitglieder der EPP erschossen und fünf weitere festgenommen. Die Guerilleros wurden mit mehreren Schüssen aus Waffen des Militärs getötet. Ihre Familienangehörigen haben nun eine erneute Autopsie gefordert, denn sie vermuten, dass die beiden lebend gefangen genommen, gefoltert und daraufhin umgebracht wurden, was aber vom Innenminister heftig abgestritten wird. Angesichts der zahlreichen Konfliktherde wird Präsident Lugo jedenfalls kaum auf eine ruhige Genesungsphase hoffen können.

KASTEN:
Schwieriges Gleichgewicht

Die Wahl des ehemaligen Bischofs Fernando Lugo zum Präsidenten im April 2008 war Ausdruck des Wunsches der paraguayischen Bevölkerung, die herkömmliche Form der politischen Gestaltung radikal zu verändern. Angetreten war Lugo als Kandidat einer Parteienallianz namens Patriotische Allianz für den Umschwung (APC). Damit endete die Vorherrschaft der Colorado-Partei nach 61 Jahren.
Lugo ist keiner traditionellen Partei zuzurechnen, an ihn richtete sich die Hoffnung, dass er Programme zur sozialen und wirtschaftlichen Integration der verarmten Bevölkerungsteile einführen würde. Nach zwei Jahren Amtszeit sind viele Menschen enttäuscht, doch muss man berücksichtigen, dass die Opposition gegen die Regierung von der mächtigen Oligarchie und dem rechtsgerichteten Parlament ausgeht. Diesen Kräften ist das Scheitern der derzeitigen Regierung ein Herzenswunsch und sie setzen alles daran, ihre jahrzehntelang genossenen Privilegien nicht zu verlieren. Das Parlament hat beispielsweise die Haushaltsausgaben für alle sozialen Ministerien gekürzt, so dass selbst geringfügige Veränderungen nicht möglich sind. Die Vorgehensweise von Polizei und Justiz zeigt, dass sie von einer mafiösen Oligarchie instrumentalisiert werden mit dem Ziel, das Erstarken der sozialen Bewegungen zu verhindern. Hinzu kommen die andauernden Androhungen, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten in die Wege zu leiten und damit den aktuellen Demokratisierungsprozess zu stoppen.
Die letzten zwei Jahre haben die Schwächen der gegenwärtigen Regierung und des wankelmütigen Präsidenten offengelegt, der sehr schnell dem Druck der Rechten nachgibt. Der unmittelbare Beraterkreis um Lugo hat wenig Interesse daran gezeigt, die Forderungen der sozialen Bewegungen aufzunehmen und auf Veränderungen innerhalb des Staatsapparates zu setzen. Zudem hat sich die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen zugespitzt. Dies geschieht unter dem Vorwand, dass eine Guerilla die Stabilität und Sicherheit des Landes gefährde – ein idealer Vorwand, um eine Art Plan Colombia für Paraguay einzuführen.
Die Koordination für Menschenrechte CODEHUPY, die sich aus Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften zusammensetzt, hat bei mehreren Gelegenheiten öffentlich die Verletzung der Menschenrechte unter der aktuellen Regierung angeklagt. Vor kurzem zeigte sie bei der Interamerikanischen Kommision für Menschenrechte in Washington unrechtmäßige Verhaftungen und Folterungen an, die im Rahmen der Polizei- und Militäreinsätze gegen die Guerilla Armee des Paraguayischen Volkes (EPP) stattgefunden haben sollen. Ein klares Beispiel für die widerspruchsvolle Haltung der Regierung war die Feier des Wahlsiegs am 20. April. Es versammelte sich eine große Menschenmenge, die Lugo ihre politische Unterstützung zusagte, doch der rief wenige Tage später den Notstand aus und stellte kurz darauf im Parlament ein Antiterror-Gesetz vor, das auch prompt verabschiedet wurde.
Dieses komplizierte Szenario stellt die sozialen Bewegungen und die progressiven Parteien vor vielfältige Herausforderungen: Auf der einen Seite müssen sie ihre Ziele und Grundsatzerklärungen verteidigen (Vertiefung des demokratischen Prozesses, integrale Agrarreform und nationale Souveranität) und ihre Fähigkeit zurückgewinnen, die Menschen zu mobilisieren. Auf der anderen Seite müssen sie ihre kritische Haltung und Autonomie im Hinblick auf die Regierung bewahren, die eine Reihe von unpopulären Maßnahmen durchgesetzt und einen Rechtsruck vollzogen hat. Allerdings sollten sie den Dialog mit dem Präsidenten abbrechen, um die ohnehin schon schwierigen politischen Verhältnisse nicht noch zusätzlich zu verschärfen.
Das Schlimmste scheint derzeit noch abwendbar. Gegen einen Putsch der rechten Opposition stehen die klaren Zeichen der Nachbarländer Brasilien und Argentinien, keinen Bruch des konstitutionellen Systems zu akzeptieren. Zudem macht ein großer Teil der Bevölkerung deutlich, dass er bereit ist, die aktuelle Regierung notfalls auf der Straße zu verteidigen, und nach wie vor Hoffnungen auf den Präsidenten setzt.
// Regine Kretschmer

„Der Staat wurde durch die Kartelle ersetzt“

Seit Jahren tobt in Mexiko ein regelrechter Krieg um die Drogen, dabei gibt es hier weder eine nennenswerte Produktion noch einen ausgeprägten Konsum. Woher rührt diese Gewalt?
Die Welle der Gewalt in Mexiko hängt mit der Organisierung von Handelsrouten der Drogen von Süd- nach Nordamerika zusammen. Das ist ein grundlegender Unterschied zu beispielsweise Kolumbien, wo das Drogenproblem eines der Produktion ist. Traditionell werden zwar auch in Mexiko verschiedene Drogen wie Marihuana und Opium hergestellt, aber bis vor Kurzem handelte es sich dabei um mehr oder weniger unabhängige Produktionssysteme, die von keinem Drogenkartell kontrolliert wurden. Zusätzlich gibt es natürlich auch die indigenen, zu religiösen Zwecken verwendeten Drogen wie halluzinogene Pilze und peyote, mescalinhaltigen Kaktus. In Mexiko existiert also, wie in ganz Lateinamerika, eine weit verbreitete Kultur der Nutzung von Drogen, die aber nie die dynamischen Märkte hervorgebracht hat wie in Europa und den USA. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert.
Zum wirklichen Problem wurde das Thema Drogen in Mexiko erst im Laufe der 1980er Jahre. Bis dahin hatte die Revolutionäre Institutionelle Partei PRI den Schwarzmarkt durch Absprachen mit den Händlern zu kontrollieren verstanden. Mit dem Niedergang der politischen Kontrolle des Drogenhandels durch die PRI begannen dann die Auseinandersetzungen zwischen den Kartellen. Die verfehlte Politik der letzten beiden Regierungen tat ein Übriges. Seit Jahren wohnen wir nun einer Art Ent-Institutionalisierung des Landes bei: heutzutage sind es die privaten Akteure, ganz besonders die Drogenkartelle, welche für die Sicherheit der Gemeinden zuständig sind, welche die Straßen bauen und an der Dorffeier teilnehmen. Der Staat wurde durch die Kartelle ersetzt.

Haben diese Veränderungen in den Produktions- und Handelsbeziehungen einen Einfluss auf den Drogenkonsum in Mexiko?
Man muss zwischen den etablierten und den aufstrebenden Drogenmärkten unterscheiden. Marihuana beispielsweise existiert schon lange in Mexiko und obwohl der Konsum infolge des großen Angebots ein wenig gestiegen ist, handelt es sich um einen sehr stabilen Markt, ohne große Variationen. Aber wenn wir uns die Entwicklung des Konsums von Kokain und Methamphetaminen anschauen, haben wir ein sehr ernsthaftes Problem. Der Konsum dieser Drogen ist allein in den letzten fünf Jahren um das Sechsfache gestiegen. Diese Entwicklung ist zum einen dem enorm großen Angebot dieser Drogen in Mexiko geschuldet. Zum anderen hat der Anstieg des Konsums aber auch mit kulturellen Veränderungen zu tun, mit dem Aufkommen bestimmter Jugendkulturen und einer Aufweichung der Familienstruktur und den traditionell konservativen Moralvorstellungen. Ich denke, in Mexiko sind wir in pädagogischer, ökonomischer und institutioneller Hinsicht völlig unvorbereitet auf diese Entwicklung, denn es besteht ein komplettes Unverständnis der Problematik. Niemand begreift das Thema Drogen jenseits des Diskurses der öffentlichen Sicherheit.

Trotzdem wurde vor etwa einem Jahr eine Gesetzesreform vorgenommen, die von vielen als erster Schritt Richtung Legalisierung der Drogen gedeutet wurde. Was ist davon zu halten?
Im August letzten Jahres wurde das so genannte Gesetz gegen den Drogenkleinhandel erlassen und hat für viel Wirbel gesorgt. Entgegen der Einschätzung in Mexiko und in der Welt sieht das Gesetz aber keinesfalls eine Entkriminalisierung der Drogen vor. Im Gegenteil, es geht eigentlich um eine Verschärfung der Strafen für die Kleinhändler. Die neue Gesetzgebung zielt gegen die Armen in den Städten, die sich auf niedrigster Ebene in den gefährlichen Kreislauf des Drogenmarktes begeben, da unsere Gesellschaft ihnen ansonsten keine Überlebensmöglichkeiten anzubieten hat. Dass das Gesetz trotzdem als eine Art Legalisierung verstanden wurde, ist das Resultat von einem Widerspruch im mexikanischen Recht: Das Strafgesetzbuch verbietet zwar den Kauf und Besitz von Drogen, den Konsum aber nicht. Deswegen musste eine rechtliche Unterscheidung zwischen Händler und Konsument getroffen werden, und das passiert über das Modell des Kleinstmengenbesitzes. Laut dem nun geltenden Recht ist der Drogenbesitz weiterhin ein Vergehen, wer aber mit weniger als einer bestimmten Menge festgenommen wird, gilt als Drogennutzer oder als Abhängiger. Im ersten Fall gibt es keinerlei Sanktionen, doch nach der dritten Festnahme gilt man als abhängig und wird zu einer Therapie gezwungen.
Eigentlich hat Felipe Calderón das Gesetz im Rahmen der Verschärfung seines „Drogenkrieges“ eingebracht, aber was als Anziehen der Schraube auf der einen Seite und notgedrungenes Lockern auf der anderen Seite gedacht war, wurde plötzlich als Beginn der Legalisierung gedeutet. Und das bei einem Gesetz von der Rechten, mit dem die Armen dran gekriegt werden sollten! Es wurde also nichts legalisiert, aber es ist sehr aufschlussreich, dass das Gesetz so gedeutet wird.

Diesbezüglich ist das Referendum über die Legalisierung von Marihuana von Interesse, welches Anfang November im US-Bundesstaat Kalifornien stattfindet. Welchen Einfluss hätte eine Annahme des Vorschlags auf den Drogenmarkt und die Drogenpolitik in Mexiko?
In Hinsicht auf den Markt wird die eventuelle Legalisierung keinen Einfluss auf Mexiko haben, denn die Produktion von Marihuana ist in Kalifornien sehr viel weiter fortgeschritten als hier, und das nicht erst seit der vor Jahren erfolgten Legalisierung zu medizinischen Zwecken. Der Effekt einer Legalisierung in Kalifornien wäre viel eher politischer Art. Wie genau dieser aussehen könnte, ist sehr schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall bedeutete sie für Mexikos politische Klasse, dass das Thema Legalisierung nun offener angesprochen werden könnte. Auch Obama hat ja Signale ausgesendet, die darauf hindeuten, dass er eventuell auf den Gebrauch informeller Druckmittel zur Steuerung der mexikanischen Drogenpolitik verzichtet. Das Problem ist jedoch, dass sich kaum ein mexikanischer Politiker mit dem Thema auskennt. Es wird noch eine Weile dauern, bis es hier zu einer tiefgreifenden und konstruktiven Debatte kommt, denn das Thema Drogen wurde zu lange vernachlässigt.

Als Kollektiv tretet ihr für die Legalisierung der illegalisierten Drogen ein. Es gibt ja gewisse Erfahrungen mit alternativen Drogenpolitiken in Ländern wie den Niederlanden. Aber Mexiko ist ein Transitland mit einem enormen Gewaltproblem. Was kann man hier von einer Legalisierung des Drogenkonsums erhoffen?
In letzter Instanz wollen wir die Legalisierung und spezifische Regulierung aller Drogen erreichen. So wie zum Beispiel Tabak, Alkohol oder Opiate nach verschieden Kriterien behandelt werden, sollte es auch für andere Drogen spezifische Schemata geben. Klar, die dahingehenden Erfahrungen in den Niederlanden oder in Portugal beziehen sich auf die Welt des Konsums. Dort haben die Entkriminalisierung und Kontrolle der Drogen zu einer Senkung der Kriminalität geführt, was natürlich fantastisch ist. Das zeugt von einer gut durchdachten Drogenpolitik, in der die Probleme des Konsums die Mehrheitsgesellschaft nicht negativ beeinträchtigen. Die Situation in den Hersteller- und Transitländern ist aber eine völlig andere, denn die Gewalt resultiert aus den Interessen an den enormen Geldmengen, die der Drogenhandel bewegt.
Wir haben damit zu kämpfen, dass die Drogenproblematik in Mexiko nicht als Problem der öffentlichen Gesundheit oder unter dem Gesichtspunkt der Verbraucherrechte behandelt wird, sondern allein aus der Perspektive der öffentlichen Sicherheit. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Entkriminalisierung des Konsums auf einer gewissen Ebene helfen würde, vor allem auf der gesundheitlichen. Aber das hätte keinen direkten Einfluss auf die Entwicklung der organisierten Kriminalität und der Gewalt in Mexiko.

Eine Legalisierung lediglich des Konsums würde das Problem der Gewalt also kaum lösen. Müssten dazu nicht auch der Handel und die Produktion legalisiert werden?
Das kommt darauf an. Der Markt des Marihuana beispielsweise kann in einen sehr demokratischen Markt transformiert werden. Das ist zum Teil in den Niederlanden der Fall. Die Coffee-Shops sind natürlich gewinnbringend, und es gibt große Mafias, die sie beliefern. Aber ich kenne auch viele Menschen in den Niederlanden, die in ihrem eigenen Garten Marihuana anbauen und dies dann an die Coffee-Shops verkaufen. Du kannst die Pflanzen auf deiner Dachterrasse züchten, ohne dass gleich ein narco ankommt und dir in den Kopf schießt, weil du mit ihm in Konkurrenz stehst. Es koexistieren also zwei Arten von Produktion von Marihuana, und zudem bauen die KonsumentInnen noch selber an. Aber das ist mit dem Kokain nicht möglich. Kokain wird in den Anden produziert und in Mexiko weiter gehandelt, und es gibt keine Möglichkeit, diesen Markt zu demokratisieren. Entweder legalisiert man das Kokain und regelt den Markt, oder man versucht weiter zu verhindern, dass es hierher gelangt.

Würde eine solche grundsätzliche Legalisierung und Kontrolle der Drogenmärkte nicht das Ende der großen kriminellen Organisationen bedeuten?
Ich werde immer gefragt, ob ich die Drogenbosse nun in die Legalität führen will. Natürlich nicht! Alle, die schwere Delikte begangen haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Aber ich bin mir sicher, dass sie oder ihre Kinder die technischen Voraussetzungen hätten, sehr gute Wettbewerber auf einem regulierten Markt zu werden. Eine Legalisierung würde natürlich dem Anreiz der enorm hohen Gewinne aus dem Drogengeschäft einen Riegel vorschieben, aber das bedeutet nicht, dass die Mafias nicht zum Beispiel die Prostitution kontrollieren würden. Eine Ent-Kriminalisierung der Drogen würde es dem Staat ermöglichen, Ressourcen für die Bekämpfung wirklich krimineller Aktivitäten einzusetzen, anstatt Müttern den Prozess zu machen, die zwei Kilo Marihuana von A nach B befördern, um ein wenig Geld für ihre Familie zu verdienen. Solche Delikte zu verfolgen kostet den Staat Unmengen Geld, zerstört Familienstrukturen, überlastet das Gefängnissystem und nutzt niemandem. Eine Legalisierung von Drogen würde den Mafias nicht nur Macht nehmen, sondern es auch ermöglichen, effizienter gegen sie vorzugehen. Wenn wir über die Legalisierung eines der fundamentalen Motive der Gewalt zerstören können, nämlich die enormen Gewinnerwartungen aus dem illegalen Drogenmarkt, dann wäre das ohne Frage ein riesiger Fortschritt.

Mehr als ein Stimmungstest

Es geht wieder einmal um alles in Venezuela. Zwar wird bei der bevorstehenden Parlamentswahl nicht über Präsident Hugo Chávez abgestimmt, dennoch steht der omnipräsente Staatschef auch am 26. September im Mittelpunkt. Die Wahl habe den „Rang einer Präsidentschaftswahl“, betont Aristóbulo Istúriz, der für die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) in Caracas antritt und den Wahlkampf der Partei koordiniert. Es gehe nicht darum, „einen Abgeordneten mehr oder einen weniger zu haben“, auf dem Spiel stehe „das Schicksal des revolutionären Prozesses“, versucht Istúriz die WählerInnen zu mobilisieren. Das Ziel des Regierungslagers, das neben der PSUV die kleinen Bündnispartner Kommunistische Partei (PCV) und Venezolanische Volkseinheit (UPV) umfasst, ist klar formuliert. Es geht um die Zweidrittelmehrheit, um bei Entscheidungen in keinster Weise von der Opposition abhängig zu sein.
Deren Hauptziel besteht in der Rückeroberung der öffentlichen Institutionen und der Einleitung eines politischen Wandels. Verbindendes Merkmal der mehr als 20 Parteien bleibt nach wie vor die Ablehnung von Chávez und seines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Die Opposition kann es als Erfolg verbuchen, sich nach Jahren des internen Streits als „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) für die Parlamentswahl zusammengeschlossen zu haben. Im Gegensatz zur PSUV, die einen Großteil der Kandidaturen in internen Vorwalen ermitteln ließ, handelten die jeweiligen Parteiführungen des Oppositionsbündnisses die meisten ihrer gemeinsamen KandidatInnen untereinander aus (siehe LN 432).
Als dritte Option will die PPT (Heimatland für Alle) die Polarisierung aufbrechen. Erst vor wenigen Monaten hatte sich die linksgewerkschaftliche Partei vom Regierungslager losgesagt und tritt nun mit zahlreichen als unabhängig geltenden KandidatInnen an, darunter die bekannte Historikerin Margarita López Maya. Große Chancen werden der Partei nicht zugerechnet, auch weil die bestehende Nationalversammlung im vergangenen Jahr das Wahlgesetz modifiziert hat. Elemente des Mehrheitswahlrecht wurden gegenüber dem Verhältniswahlrecht ausgebaut, wodurch das Wahlsystem größere politische Blöcke gegenüber kleineren Parteien bevorzugt. KritikerInnen bemängeln, dass zudem die Neuaufteilung einiger Wahlkreise die PSUV bevorzuge. Nach der Wahl wird es nicht lange dauern, bis Rechnungen präsentiert werden, wie das Ergebnis ohne die Wahlrechtsreform ausgesehen hätte.
Neben 110 DirektkandidatInnen werden 52 Abgeordnete über ein Listensystem gewählt, weitere drei von der indigenen Bevölkerung. Sicher ist, dass die neue Nationalversammlung wesentlich pluralistischer ausfallen wird als die jetzige. Bei der letzten Wahl 2005 gingen aufgrund des Boykotts der Opposition alle 165 Parlamentssitze an Chávez-freundliche Abgeordnete. Durch Abspaltungen von Teilen des Chávez-Lagers verfügt die Opposition zum Ende der Legislaturperiode über elf Mandate.
Die meisten Umfragen gehen von einem knappen Sieg der Regierungskoalition aus. Mehr noch als in anderen Ländern sind Umfragen im polarisierten Venezuela allerdings mit Vorsicht zu genießen. Zudem ist der Anteil der unentschlossenen WählerInnen, der so genannten Ni-Ni, in den Umfragen mit bis zu 40 Prozent relativ hoch. Die größte Gefahr für die PSUV wird erneut die mögliche Wahlenthaltung des eigenen Lagers sein. Enttäuschte Chávez-AnhängerInnen werden wie beim Verfassungsreferendum 2007 eher zu Hause bleiben als zur Opposition überzulaufen.
Für diese wird es allemal einen Erfolg darstellen, wenn sie eine Zweidrittel- beziehungsweise Dreifünftelmehrheit der Regierungskoalition verhindert. Damit könnte sie bei Verfassungsänderungen und der Besetzung wichtiger Positionen der unterschiedlichen Gewalten mitreden beziehungsweise Bevollmächtigungsgesetze verhindern.
Entgegen den Verlautbarungen über die richtungsweisende Wahl, kreist der Wahlkampf vorwiegend um das Thema Sicherheit. Julio Borges, der im oppositionell regierten Bundesstaat Miranda für die rechtsliberale Partei Primero Justicia (Zuerst Gerechtigkeit) antritt, sprach sich gar dafür aus, die Parlamentswahl als Referendum darüber anzusehen, „wie die Regierung das Thema der Unsicherheit im Land angeht“. Angeheizt wurde das Thema von US-Medien wie CNN und der New York Times, die venezolanischen Oppositionsmedien und -politikerInnen griffen es bereitwillig auf.
Für einen Eklat sorgte die Tageszeitung El Nacional mit ihrem Titelbild vom 13. August. Zu sehen war ein Foto aus dem letzten Jahr, aufgenommen in einem Leichenschauhaus, auf dem sich nackte, tote Körper stapeln. Nachdem ein Gericht den Abdruck aus Gründen des Kinder- und Jugendschutzes untersagte, protestierten Medien und OppositionspolitikerInnen sogleich gegen die „neuerliche Zensur der Regierung“. Davon ist indes nichts zu merken, die Zeitungen schreiben angriffslustig wie eh und je. Auch über zu wenig Medienpräsenz kann sich die Opposition nicht beklagen. Der Nationale Wahlrat ermittelte Ende August, dass über 60 Prozent der Wahlwerbespots im Fernsehen dem MUD zu Gute kämen. In den Printmedien dürfte das Verhältnis aufgrund einer stärkeren oppositionellen Ausrichtung noch ungünstiger für die Regierung ausfallen.
Wenngleich kaum verlässliche Zahlen über die Kriminalität existieren und je nach politischer Meinung unterschiedliches Material zitiert wird, bestreitet niemand, dass Kriminalität und die Mordrate während der Regierungszeit von Chávez weiter zugenommen haben und ein bedeutendes Problem für die Bevölkerung darstellen.
Die Regierung hat in jüngster Zeit einige Maßnahmen eingeleitet, die mittelfristig Erfolg haben könnten. Ende letzten Jahres hat die neue Bolivarianische Nationalpolizei zunächst in Catia, einem Stadtviertel der Hauptstadt Caracas, die Arbeit aufgenommen. Sie soll ihren Dienst Stück für Stück auf die ganze Stadt und das Land ausweiten. Bisher gibt es in ganz Venezuela etwa 140 unterschiedliche Polizeieinheiten, die nicht selten selbst tief in das Verbrechen verstrickt sind. Mit der neuen Nationalpolizei verspricht die Regierung hingegen einen „bevölkerungsnahen“ Ansatz. Die Hürden für AspirantInnen sind hoch und das Ausbildungsprogramm enthält ausführliche Menschenrechtsschulungen. Noch vor der Wahl will das Parlament zudem ein Gesetz zur Entwaffnung verabschieden. Der Entwurf sieht unter anderem vor, die Strafen für unerlaubten Waffenbesitz und Waffenhandel drastisch zu verschärfen. Der private Waffenverkauf soll sogar gänzlich verboten werden. Gleichzeitig sollen illegale Waffen während einer Frist freiwillig und straffrei abgegeben werden können.
Die Opposition kritisiert das Gesetz als Wahlkampfshow, fordert inhaltlich jedoch das Gleiche. Ihre Strategie bestand in den letzten Monaten meist darin, bestimmte Themen zu instrumentalisieren, ohne sich an konkreten Lösungsvorschlägen zu beteiligen. Sei es die mittlerweile nicht mehr akute Energiekrise, der Skandal um tonnenweise verrottete Lebensmittel im staatlichen Importsystem oder aktuell die Sicherheitsdebatte. Für einen Wahlsieg dürfte das zu wenig sein.

Cochabamba liefert jede Menge Impulse

Es ist der Abschlusstag des alternativen Klimagipfels in Cochabamba. Auf dem Campus der Valle-Universität im bolivianischen Tiquipaya, wo in den letzten Tagen die meisten Veranstaltungen des alternativen Klimagipfels stattgefunden haben, herrscht am Nachmittag Aufbruchstimmung. Die Menge strömt bereits in Richtung Fußballstadion im nahe gelegenen Cochabamba, wo in wenigen Stunden die von über 17 Arbeitsgruppen ausgearbeitete Abschlusserklärung verlesen wird. Dort wird der venezolanische Präsident Hugo Chávez die „Erpressungspolitik“ der US-amerikanischen Regierung geißeln, die Ecuador und Bolivien wegen eigenständiger Positionen in der Klimapolitik bereits zugesagte Gelder entzogen hat.
Über 35.151 TeilnehmerInnen hatten sich im Laufe der Woche akkreditiert, die meisten aus Bolivien. 9.254 Personen waren aus 141 Ländern angereist. Der Ansturm hat die OrganisatorInnen überrascht. Doch hat sich der Aufwand gelohnt?
„Auf jeden Fall“, sagt Tadzio Müller. Der lang gewachsene 33-jährige Umweltaktivist aus Berlin – schwarzes T-Shirt, schwarze Shorts, kurzer Vollbart – sitzt inmitten einer Handvoll AktivistInnen auf der Wiese vor dem Fachbereich Kultur.
Gerade hat er mit seinen MitstreiterInnen vom Netzwerk Climate Justice Action (CJA) einen Workshop organisiert, zu dem an die 100 Leute gekommen seien. Thema: die globale Klimaaktionswoche im Oktober, an der sich auch der Kleinbauerndachverband Vía Campesina und Kampagnengruppen wie 350.org beteiligen.
„Die Tage hier waren für mich interessant und produktiv“, sagt Müller, der sich sehr an die Weltsozialforen in Brasilien erinnert fühlt. Der Austausch von Gleichgesinnten steht im Vordergrund, kontroverse Debatten sind eher die Ausnahme.
Die Stimmung auf dem Unigelände ist entspannt: Hunderte drängen sich an Ständen vorbei, an denen vegetarisches Essen, Politliteratur und Kunsthandwerk angeboten werden. Junge KünstlerInnen bemalen eine Stellwand, andine Folkloregruppen musizieren, eine Rapperin aus El Alto im Andenhochland trägt ihre Stücke vor. Auf schattigem Rasen ruhen sich farbenfroh gekleidete Indigenas aus.
Und ob leibhaftig oder nicht: Boliviens Präsident Evo Morales ist allgegenwärtig: auf riesigen Plakaten an Unigebäuden oder an Ständen diverser Ministerien, auf Buchdeckeln oder Stellwänden, in den Reden begeisterter AnhängerInnen aus dem In- und Ausland. Morales kommt auch selbst vorbei: Mal lauscht er einer Podiumsdiskussion, mal eilt er mit seinem Gefolge zu einer Wiese, wo er mit dem burundischen Vizepräsidenten Yves Sahinguvu per Hubschrauber zu einer Stippvisite in die Provinz abhebt. Dort wird er eine Sporthalle einweihen und Fußball spielen.
In einem nahe gelegenen Luxushotel gibt der Staatschef eine Pressekonferenz. Umrahmt von Außenminister David Choquehuanca und UN-Botschafter Pablo Solón, sammelt er Fragen, die er anschließend im Block beantwortet. Eine beliebte Methode, um unbequeme Themen auszuklammern. Und doch ist dieser Auftritt weitaus überzeugender als Morales‘ Eröffnungsrede, wo er auf dem örtlichen Sportplatz durch ein paar unglückliche Bemerkungen Aufsehen erregt hatte. Die weiblichen Hormone industriell hochgezüchteter Hühner sei ein Auslöser für Homosexualität, scherzte er da, der Verzehr von genmanipulierten Lebensmitteln sei die Ursache für grassierenden Haarausfall. In Bolivien brachte ihm das Spott von der Opposition und den Protest von Schwulengruppen ein, in der internationalen Presse stellte er damit vielerorts seine Ausführungen über die Klimafrage in den Schatten.
Als Gesellschaftsform schwebt dem Präsidenten ein „kommunitärer Sozialismus“ vor. Auf dem Andenhochland, „wo ich geboren bin, gibt es kein Privateigentum“. Zur Förderung der Bodenschätze, dem von linken ÖkologInnen kritisierten „neuen Extraktivismus“, sieht er kurz- und mittelfristig allerdings keine Alternative, ebenso wenig zum Bau neuer Überlandstraßen. Hinter den Protesten gegen solche Projekte steckten Nichtregierungsorganisationen, die die lokale Bevölkerung manipulierten.
Andererseits bieten Morales & Co. in- und ausländischen AktivistInnen ein Forum, von dem die auf offiziellen UN-Klimagipfeln nur träumen können. Dass die KritikerInnen von Bergbau-, Staudamm- oder Straßenprojekten, die sich zur Arbeitsgruppe 18 zusammengeschlossen haben, außerhalb des Campus tagen müssen, hat sich als Eigentor erwiesen: Mehr als die 17 „offiziellen“ Gruppen stehen sie im Mittelpunkt des Medieninteresses, auch Promis wie die kanadische Bestsellerautorin Naomi Klein oder Ecuadors früherer Energieminister Alberto Acosta treten dort auf. Nach zwei Tagen wird die Forderung an Evo Morales verabschiedet, sämtliche Großprojekte abzublasen, von denen indigene Völker direkt betroffen sind. Außerdem solle die Regierung ein Wirtschaftsmodell anstreben, das nicht mehr auf dem Export von Rohstoffen basiert.
Aber auch in der Arbeitsgruppe „Wälder“ geht es hoch her, da feilschen SpezialistInnen um jede einzelne Formulierung. Schließlich setzten sich die KritikerInnen des Emissionshandels gegenüber den regierungsnahen FunktionärInnen aus Venezuela oder Bolivien durch. Die Vorsitzende Camila Moreno aus Brasilien lobt den „wunderbaren Konsens“, den man erreicht habe: „Anders als bislang in der Klimakonvention dürfen künstlich angelegte Monokulturen wie Eukalyptusplantagen nicht als Wälder definiert werden, und die Rechte der Indígenas müssen ausdrücklich berücksichtigt werden.“
Besonders freut sie sich über das klare Nein zum Emissionshandel als „neoliberalem Mechanismus“ zur Privatisierung von Urwäldern. Stattdessen wünsche man sich die Einrichtung von freiwilligen Fonds, die auf der Anerkennung der „Klimaschulden“ des Nordens gründen. „Das ist ein ganz entscheidender Unterschied“, erläutert Camila Moreno, „wir wollen keine Almosen des Nordens als Gegenleistung für so genannte Umweltdienstleistungen, sondern die Anerkennung, dass er uns das schuldet. Wir wollen die ökologische Restaurierung der Wälder durch die Völker“.
Die Beschlüsse der Wäldergruppe sind das klarste Beispiel dafür, wie sich Positionen, die selbst bei Südamerikas fortschrittlichen Regierungen noch keine Chance haben, auf der Konferenz Gehör verschaffen können. Das ist das Neue an Cochabamba: Durch Druck von unten scheint es wieder möglich, marktbasierte, von der internationalen Klimadiplomatie ersonnene Mechanismen in Frage zu stellen, deren Haupttriebfeder der Profit von Privatunternehmen ist. „Es ist ein wichtiger Schritt nach vorne“, sagt Alberto Acosta: „Das ist der größte Verdienst von Evo Morales“.

Kasten:
ABKOMMEN DER VÖLKER
Radikale Erklärung: Die Ergebnisse aus insgesamt 18 Arbeitsgruppen flossen in eine 10-seitige Abschlusserklärung ein, die in vielen Punkten radikaler ist als die Praxis der lateinamerikanischen Linksregierungen. So wird das Agrobusiness, das Lebensmittel für den Markt, aber nicht für die Ernährung aller Menschen produziere, als einer der Hauptverursacher des Klimawandels bezeichnet.
Die Kritik: Agrotreibstoffe, Emissionshandel, Gentechik, Geo-Engineering oder Monokulturen seien allesamt falsche Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel, heißt es weiter. Durch große Infrastruktur- und Bergbauprojekte würden indianische und bäuerliche Gemeinschaften in ihrer Existenz bedroht.
Die Forderungen: An die Industrieländer wird die Forderung gerichtet, ihren CO2-Ausstoß bis 2020 zu halbieren und sechs Prozent ihres jährlichen Haushalts in einen Weltklimafonds einzuzahlen. In einem weltweiten Referendum soll darüber abgestimmt werden, ob die Verteidigungsausgaben nicht lieber für den Klimaschutz umgewidmet werden sollten.
Das Klimagericht: Schließlich sollten Unternehmen und Regierungen vor einem zu gründenden Weltklimagerichtshof verklagt werden können.

Für die Rechte von Mensch und Natur

Auch wenn ich nicht bei Euch sein kann, möchte ich doch auf irgendeine Weise Euer Treffen als ein Treffen von Menschen begleiten, denen ich mich zugehörig fühle. Um dabei zu sein ohne vor Ort zu sein, sende ich Euch also diese Worte.
Ich möchte Euch meinen Wunsch ausdrücken, dass alles Mögliche getan wird, und auch das Unmögliche, damit der Gipfel der Mutter Erde ein erster Schritt hin zum kollektiven Ausdruck der Völker wird, die zwar nicht die Weltpolitik bestimmen, die aber unter ihr leiden. Hoffentlich werden wir dazu in der Lage sein, diese beiden Initiativen des Compañero Evo (Morales, des bolivianischen Präsidenten) voran zu treiben: das Tribunal der Klimagerechtigkeit und das weltweite Referendum gegen ein Machtsystem, das auf Krieg und Verschwendung beruht, das menschliche Leben gering schätzt und die Flagge des Meistbietenden auf unsere irdischen Güter setzt.
Hoffentlich werden wir dazu in der Lage sein, wenig zu reden und viel zu tun. Die Inflation der Worte, die in Lateinamerika schädlicher ist als die monetäre Inflation, hat uns großen Schaden zugefügt und tut dies auch weiterhin. Und außerdem und vor allem haben wir die Heuchelei der reichen Länder satt, die uns den Planeten nehmen, während sie pompöse Reden schwingen, um diese Beschlagnahmung zu vertuschen.
Es gibt Leute, die sagen, dass die Heuchelei der Tribut ist, den das Laster an die Tugend entrichtet. Andere sind der Meinung, dass die Heuchelei der einzige Beweis für die Existenz des Unendlichen sei. Und das Gerede von der so genannten internationalen Gemeinschaft, diesem Club von Bankiers und KriegstreiberInnen, beweist, dass beide Definitionen richtig sind.
Ich will dagegen die Kraft der Wahrheit preisen, die aus den Worten und dem Schweigen hervorgeht, welche die Gemeinschaft der Menschen mit der Natur ausstrahlt. Und es ist auch kein Zufall, dass dieser Gipfel der Mutter Erde in Bolivien abgehalten wird, in dieser Nation der Nationen, die dabei ist, sich nach zwei Jahrhunderten eines verlogenen Lebens selbst wieder zu entdecken.
Bolivien hat gerade den zehnten Jahrestag des Sieges der Volksbewegung im Wasserkrieg gefeiert, als es die Bevölkerung von Cochabamba vermochte, eine allmächtige Firma aus Kalifornien zu besiegen, die sich auf Grund der Machenschaften einer Regierung, die sich als bolivianisch bezeichnete und sehr großzügig mit dem Besitz anderer umging, zum Besitzer des Wassers aufschwingen wollte.
Dieser Krieg um das Wasser ist einer der Kämpfe, die dieses Land auch weiterhin zur Verteidigung seiner natürlichen Ressourcen führt oder vielmehr zur Verteidigung seiner Übereinstimmung mit der Natur. Dabei gibt es Stimmen der Vergangenheit, die in die Zukunft hinein sprechen.
Bolivien ist eine der amerikanischen Nationen, in der es die indigenen Kulturen verstanden haben zu überleben, und diese Stimmen ertönen, trotz langer Zeiten der Verfolgung und Missachtung, heutzutage stärker als jemals zuvor.
Die ganze Welt, die verstört und wie blind im Kugelhagel umher irrt, sollte auf diese Stimmen hören. Sie lehren uns, die wir nichts als kleine Menschlein sind, dass wir ein Teil der Natur und verwandt mit allem sind, was Beine, Pfoten, Flügel, Flossen oder Wurzeln hat. Die europäische Eroberung verurteilte die Indígenas, die diese Gemeinschaft lebten, wegen Götzenanbetung. Sie wurden wegen ihres Naturglaubens ausgepeitscht, enthauptet und bei lebendigem Leibe verbrannt.
Seit jenen Zeiten der europäischen Renaissance ist die Natur entweder zur Ware oder zum Hindernis für den menschlichen Fortschritt geworden. Und bis zum heutigen Tag hat sich diese Trennung zwischen uns und ihr soweit fortgesetzt, dass es zwar immer noch Menschen guten Willens gibt, die um diese bedürftige, so misshandelte und verletzte Natur besorgt sind, sie aber doch nur von außen betrachten.
Die indigenen Kulturen dagegen sehen die Natur von Innen: Indem ich sie ansehe, sehe ich mich selbst; was ich gegen sie tue, ist gegen mich selbst gerichtet; in ihr finde ich mich selbst, meine Beine beschreiten ihren Weg.
Begehen wir also diesen Gipfel der Mutter Erde und hoffen wir, dass auch die Schwerhörigen die Kunde vernehmen: Menschenrechte und Naturrechte sind zwei Bezeichnungen für dieselbe Würde.

// Übersetzung von Klaus E. Lehmann,
amerika21.de

Kasten:
Fast eine Weltgeschichte.
Spiegelungen
Eduardo Galeano ist besessen von dem Wunsch, Geschichte zu erinnern. Mit seinem weltberühmten Buch Die offenen Adern Lateinamerikas schrieb er ein grandios unorthodoxes Geschichtswerk. In Fast eine Weltgeschichte. Spiegelungen überschreitet der uruguayische Schiftsteller die Grenzen seines Kontinents und wendet sich in einer literarischen Reise dem Ganzen zu: der Geschichte der Menschheit. In Geschichten, Anekdoten und Aphorismen streift er Hunderte kleiner Begebenheiten und in allen spiegelt sich das Verhältnis von Oben und Unten, von Macht und Ohnmacht. Unnötig zu betonen, was Galeano bewegt: „Ich schreibe für die, die seit Jahrhunderten Schlange stehen.“

Eduardo Galeano // Fast eine Weltgeschichte. Spiegelungen // Aus dem Spanischen von Lutz Kliche // Peter Hammer Verlag // Wuppertal 2009 // 460 Seiten // 24 Euro

Gelungener Streifzug durch Uruguay

Uruguay weckt häufig Assoziationen, die an längst vergangene Zeiten erinnern. Sei es die Austragung der ersten Fußball-Weltmeisterschaft 1930 und der zweifache Triumph bei dem Turnier, der einstige Wohlstand in der „Schweiz Lateinamerikas“ oder die Faszination, die ab den 1960er Jahren von der Stadtguerilla der MLN-Tupamaros ausging. Dem Land hafte „in manchem etwas ‚Anachronistisches‘ an“, stellen die HerausgeberInnen des Sammelbandes Uruguay. Ein Land in Bewegung im Vorwort fest. Dass es aber auch heute noch lohnenswert ist, sich mit dem vergleichsweise kleinen Staat am östlichen Ufer des Río de la Plata zu beschäftigen, zeigen die darauf folgenden etwa 260 Seiten.
Angefangen von Geschichte und Geografie, über Politik und soziale Bewegungen, Wirtschaft und Ökologie bis hin zu kulturellen Themen besticht diese „Landeskunde von unten“ durch eine enorme thematische Bandbreite. Neben Persönlichkeiten wie dem Unabhängigkeitshelden José Gervasio Artigas oder bedeutenden Präsidenten des Landes werden spannende linke Biografien vorgestellt. Etwa die der im vergangenen Jahr verstorbenen Tupamara Yessie Macchi, die einer Regierungsbeteiligung der Linken bis zuletzt skeptisch gegenüberstand. Oder die Geschichte des „doppelten Exils“ von Ernesto Kroch. Der jüdische Kommunist floh zunächst vor den Nazis nach Uruguay, bevor er während der uruguayischen Militärdiktatur in den 1970er Jahren den umgekehrten Weg einschlagen musste und Exil in West-Deutschland fand. Dabei wird nicht nur Kroch, der in dem Buch selbst auch als Autor vertreten ist, porträtiert, sondern in einem zusätzlichen Text auch das uruguayische Exil in BRD und DDR beschrieben.
Wo sich die Entwicklung vom Einwanderungs- zum Auswanderungsland wie ein stetiger Abstieg liest, kamen von linken Bewegungen und Organisationen immer wieder wichtige politische Impulse. Zwar konnten die legendären Tupamaros noch vor Beginn der Militärdiktatur (1973 – 1985) militärisch besiegt werden. Bereits 1971 gründete sich mit der Frente Amplio (Breite Front) jedoch eines der ältesten Linksbündnisse Lateinamerikas, in dem die Tupamaros als MPP (Bewegung für Basisbeteiligung) heute die stärkste Fraktion bilden. Während der Hochphase des Neoliberalismus gelang es sozialen Bewegungen und der Frente im Jahr 1992, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen per Referendum zu verhindern. Damit setzte die uruguayische Bevölkerung bereits Jahre vor der viel zitierten „Linkswende“ in Lateinamerika ein bedeutendes Zeichen, indem sie bewies, dass die undemokratische Privatisierung öffentlicher Güter auf demokratische Art und Weise verhindert werden kann. 2003 lehnten die WählerInnen den Teilverkauf der staatlichen Erdölraffinerie ebenfalls ab. 2005 wurde das Recht auf Trinkwasser durch ein weiteres Referendum als elementares Menschenrecht in die Verfassung aufgenommen. Im selben Jahr gewann die Frente Amplio mit dem Mitte-Links-Kandidat Tabaré Vázquez erstmals die Präsidentschaftswahlen und beendete somit die seit der Gründung Uruguays bestehende Zwei-Parteien-Herrschaft der konservativen Blancos und liberalen Colorados. Seit März dieses Jahres amtiert mit dem 74-jährigen bekennenden Anarchisten José „Pepe“ Mujica sogar ein ehemaliger Stadtguerillero, der während der gesamten Militärdiktatur als „Geisel des Staates“ eingekerkert war.
In einem eigenen, wenn auch kurzen Kapitel wird eine ambivalente Zwischenbilanz der Frente Amplio-Regierung gezogen. Die vielseitige Landschaft der sozialen Bewegungen wird hingegen ausführlich vorgestellt. Von Gewerkschaften über die Menschenrechtsbewegung bis hin zu Wohnungsbaukooperativen und alternativen Medien werden zahlreiche Bewegungen behandelt. Die Perspektiven der von regelmäßigen Finanzkrisen gebeutelten uruguayischen Wirtschaft, die sich vor allem um Banken, Fleisch und Papier dreht, werden im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie erörtert. Ein längeres Kapitel ist schließlich der kulturellen Vielfalt Uruguays gewidmet. Das Land hat nicht nur eine erstaunlich reiche Literatur hervorgebracht, wie sich aus den Werken bekannter Autoren wie Eduardo Galeano, Juan Carlos Onetti oder Mario Benedetti ablesen lässt. Auch die musikalischen und in den letzten Jahren immer mehr hervortretenden cineastischen Werke sind beeindruckend. Nicht fehlen dürfen schließlich Fußball, Karneval und Küche, die den kulturellen Teil des Buches abrunden.
Die HerausgeberInnen legen ein facettenreiches und fundiertes Buch über Uruguay vor, das aufgrund seiner thematischen Breite zum Stöbern und quer Lesen einlädt. Insgesamt 50 kurz gehaltene Beiträge deutscher und uruguayischer AutorInnen machen das Buch zu einer idealen Einführung in Land, Geschichte, Politik und Kultur. Doch auch KennerInnen des Landes wird sich sicherlich so manch bisher unbekannter Aspekt eröffnen.

Stefan Thimmel, Theo Bruns, Gert Eisenbürger, Britt Weyde (Hg.) // Uruguay. Ein Land in Bewegung // Assoziation A // Berlin/Hamburg 2010 // 272 Seiten // 18 Euro

Die plurale Gesellschaft

Es ist wohl kein Zufall, dass erst der politische Neubeginn unter Hugo Chávez auch frischen Wind für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexen (LGBTI) in Venezuela gebracht hat. Im Juni 2001 – über 30 Jahre nach dem New Yorker Stonewall-Aufstand – war die Zeit überreif für einen eigenen Christopher Street Day (CSD), bei dem rund tausend Menschen öffentlich für das Recht auf sexuelle Vielfalt durch das Zentrum von Caracas zogen. In diesem Jahr wird somit bereits die 10. Auflage der Demonstration stattfinden, zu der LGBTI aus dem ganzen Land strömen. Seit 2005 wird jährlich am 17. Mai auch der internationale Tag gegen Homophobie begangen, der an die Streichung der Homosexualität von der Krankheitsliste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erinnert. Bei der ersten Begehung dieses Datums, noch unter dem Oberbürgermeister Juan Barreto von der damaligen Chávez-Partei Bewegung Fünfte Republik (MVR), konnten queere Gruppen die Regenbogenflagge auf der symbolträchtigen Plaza Bolívar hissen. Für einige Jahre existierte in der Stadtverwaltung von Caracas sogar ein Büro zur Unterstützung queerer Lebensweisen. Unter dem seit 2009 amtierenden Antonio Ledezma von der rechten Alianza Bravo Pueblo wurde die Einrichtung umgehend wieder abgeschafft. Doch auch die Regierung Chávez stellt keine Räumlichkeiten für dauerhaftes Engagement zur Verfügung, etwa für Kulturzentren lesbischer, schwuler, transgender oder queerer Gruppen. Die Aktivist_innen, zum Beispiel von der Organisation Alianza Lambda oder des im August 2009 neu konstituierten venezolanischen LGBTI-Netzwerks, treffen sich in Privatwohnungen, bezahlte Stellen gibt es nicht. Selbstorganisation und Eigeninitiative sind dort gefragt, wo Menschen auf die Gesellschaft wirken wollen. So wurde von einem Kreis queerer Akademiker_innen am Institut für Anthropologie der staatlichen Zentraluniversität Venezuelas (UCV) ein mehrmonatiges Studien-Panel zu Sexueller Vielfalt eingerichtet. Die Gruppe mit dem provokativen Namen Contranatura (Gegen die Natur) ist auch maßgeblich an der Organisation unregelmäßig abgehaltener Konferenzen zu Queer Theory und Sexueller Vielfalt beteiligt, die bereits 2002 von der Literaturwissenschaftlerin Gisela Kozak ins Leben gerufen wurden.
Vorhut des Aktivismus war die Gruppe Entendido, die ab 1980 erstmals eine lesbisch-schwule Zeitschrift gleichen Namens herausgab. Nach einigen Ausgaben wurde das Projekt jedoch wieder eingestellt. Erst 1994 gründete sich dann die Organisation Movimiento Ambiente de Venezuela, aus der zahlreiche der heute existierenden Gruppen hervorgingen.
Die 1999 erarbeitete Verfassung des Landes enthält, trotz ihrer progressiven Ausrichtung, keinen expliziten Schutz vor Diskriminierungen für Lesben, Schwule und Transgender. Dies ist auf die Intervention der Venezolanischen Bischofskonferenz zurückzuführen, die damals auch gesetzliche Lockerungen für Abtreibungen verhinderte. Die Aufnahme eines expliziten Verbots der „Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Alter, politischer oder sexueller Orientierung“ in den Gleichheitsartikel 21 der Verfassung scheiterte zusammen mit Dutzenden weiteren Änderungsinitiativen an der knappen Ablehnung der Verfassungsreform im Referendum von Dezember 2007. Wie aus einem Urteil der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs vom Februar 2008 hervorgeht, verbietet der Artikel allerdings auch in seiner derzeitigen Fassung Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung. Bis heute mündete dies jedoch nicht in die von Artikel 21 vorgesehenen konkreten Gesetze.
Zuletzt scheiterte im vergangenen Jahr ein Vorstoß von Romelia Matute, Abgeordnete der sozialistischen PSUV und Mitglied im parlamentarischen Ausschuss für Familie, Frauen und Jugend. Dabei ging es um den Artikel 8 des Organgesetzes über Gleichheit und Gleichberechtigung der Geschlechter. Queere Gruppen hatten mittels Unterschriftensammlung und Demonstrationen gefordert, dort das Recht auf Änderung des juristischen Geschlechts in Dokumenten für Transgender, die staatliche Übernahme der Kosten für medizinische Geschlechtsanpassungen Transsexueller sowie die rechtliche Gleichbehandlung für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften festzuschreiben. Und wieder war es die Venezolanische Bischofskonferenz, die durch ihren Einfluss rechtliche Verbesserungen unmöglich machte. In einer öffentlichen Stellungnahme der Bischöfe hieß es, die Menschenwürde in einem mehrheitlich von Christen bewohnten Land sei bedroht, sollten gleichgeschlechtlichen Partnerschaften dieselben Rechte zuerkannt werden wie der Ehe zwischen Mann und Frau. Dabei beriefen sie sich unter anderem auf den Artikel 77 der Verfassung, der heterosexuelle Partnerschaften privilegiert. Ricardo Hung, langjähriger Aktivist der Organisation Alianza Lambda, bestätigt einen großen Einfluss nicht nur katholischer sondern auch evangelikaler Gruppen auf das Parlament. Dies gilt Hung zufolge auch für die PSUV-Abgeordneten. Viele sehen offenbar keinen Widerspruch zwischen revolutionärer Rhetorik und konservativen, ausschließenden Werten. Es gibt jedoch auch hoffnungsvolle Entwicklungen. Im Jahr 2002 hatte Präsident Chávez in einer Ausgabe seiner wöchentlichen Fernsehsendung „Aló Presidente“ die Rechte von Homosexuellen bekräftigt. Kurz darauf gründete sich analog zur MVR bereits eine linke Gruppe unter dem Namen Revolutionäre Schwulenbewegung, deren Vorsitzender, Heisler Vaamonde, zu den Parlamentswahlen Ende 2005 antrat. Letztlich reichten die Stimmen nicht für ein Abgeordnetenmandat. Zumindest gibt es heute innerhalb der PSUV eine queere Strömung, den Sozialistischen Block für Homosexuelle Befreiung. Diese trägt nicht nur linke Positionen in die queere Szene, sondern will auch innerhalb der Partei für Emanzipation sorgen.
Die Widerstände in der Nationalversammlung führen jedoch noch immer dazu, dass geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen aus dem Verantwortungsbereich der Exekutive ausgeklammert werden. Dass dies dringender Änderungen bedarf, wird deutlich, wenn man sich mit dem Phänomen transphober Gewalt auseinandersetzt. Brutal ist die Realität, die die Konzeptkünstlerin Argelia Bravo sichtbar macht. Ihre Ausstellung „Arte social por las trochas hecho a palo, pata’ y kunfú“(etwa: Social Art auf Trampelpfaden: mit Schlägen, Fußtritten und Kung Fu) im staatlichen Zentrum für Lateinamerika-Studien Rómulo Gallegos (CELARG) gab Anfang des Jahres einen Blick auf den Transenstrich der venezolanischen Hauptstadt frei. Die Avenida Libertador, eine der Hauptverkehrsadern von Caracas, verwandelt sich allnächtlich in einen Ort von Sexarbeiter_innen, die als Transgender, Transsexuelle, Transformistas leben. Die hier arbeitenden Trans*frauen – käufliches Objekt der Begierde – werden häufig Opfer von Gewalt, auch durch Polizeibeamte. Die Misshandlungen reichen bis hin zu Verstümmelung und Mord – schlimme Erfahrungen, die Bravo in die Gesellschaft tragen will. Aussagen der Künstlerin zufolge wurzelt das Problem in der Heteronormativität, dem Druck, sich vorgestanzten geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen zu unterwerfen.
Die Ablehnung durch die Gesellschaft, Diskriminierung und ökonomische Zwänge führen offensichtlich einen Teil der Trans*frauen trotz aller Gefahren an diesen Ort. Einige zahlen mit ihrem Leben dafür. So wurde am 7. Mai 2009 die 27-jährige Xiomara Durán auf der Avenida Libertador durch gezielte Schüsse lebensgefährlich verletzt. Sie starb einige Tage später an ihren Verletzungen. Durán war bereits das vierte transsexuelle Mordopfer innerhalb weniger Monate. Am 28. Januar 2010 wurde erneut eine Transsexuelle ermordet aufgefunden, diesmal im Stadtteil Caripita. In keinem der Fälle wurden die Hintergründe aufgeklärt.
Zwar ist die Zahl der in Venezuela begangenen transphoben Morde nicht annähernd so hoch wie etwa in Mexiko oder Brasilien. Dennoch stellt sich die Frage, wie solche Hassverbrechen wirksam verhindert werden können.
Möglicherweise trägt eine Ende Februar vorgestellte Kooperation zur Lösung bei, die von der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte mit dem kubanischen Sexualinstitut CENESEX vereinbart wurde. Das Partnerland hatte schon vor zwei Jahren bahnbrechende Neuerungen für
LGBTI-Rechte vorzuweisen (siehe LN 411/412). Nun wurde angekündigt, in Venezuela eine gesonderte Ombudsstelle für Sexuelle Vielfalt gründen zu wollen, die sich mit spezifischen juristischen und sozialen Fragen befassen soll. Außerdem sind Aufklärungsmaterialien geplant, die an Bildungseinrichtungen im ganzen Land den Respekt vor unterschiedlichen sexuellen Orientierungen fördern sollen.
Ob die Maßnahmen mit dem ausreichenden Elan vorangetrieben werden, muss sich erst erweisen. Ein weiteres Problem ist die verbreitete Straflosigkeit – und dabei ist Venezuela kein Einzelfall. Rechtsunkenntnis oder sogar das Wissen um Straflosigkeit führen im Alltag zu dreisten Angriffen von privaten Arbeitgebern, Kneipenwirten oder Familienvätern. Emanzipation muss alltäglich mühsam erkämpft werden, auf Diskriminierungen immer wieder konsequent aufmerksam gemacht werden – so lange, bis eine Kultur der Akzeptanz in allen gesellschaftlichen Schichten erreicht ist. Ein großer Erfolg auf diesem Weg war der Fall des Pedro Alejandro Lava Socorro im vergangenen Oktober. Der Professor für römisches Recht an der privaten Universidad de Santa María hatte in einer Lehrveranstaltung immer wieder homophobe Äußerungen angebracht. Er wurde dabei gefilmt, das Video ins Internet gestellt. Innerhalb von 48 Stunden hatten tausende Mitglieder sozialer Netzwerke im Internet gegen die Schmähungen protestiert. Die Universität prüfte den Vorfall und suspendierte den Mann.

Nein zur Wiederwahl

Die Entscheidung war in Kolumbien mit großer Spannung erwartet worden. Am 26. Februar entschied das Verfassungsgericht, dass eine dritte Kandidatur des amtierenden Präsidenten Álvaro Uribe Vélez nicht zulässig ist. Dazu hätte wie schon vor den Wahlen 2006 die Verfassung geändert werden müssen, doch das dafür notwendige Referendum wird nun nicht stattfinden. Das Verfassungsgericht ist zwar inzwischen großteils mit Richtern aus Uribes Anhängerschaft besetzt. Dennoch entschied es, eine erneute Kandidatur des amtierenden Präsidenten sei nicht nur wegen Verfahrensfehlern nicht zulässig, sondern verletze demokratische Prinzipien. Lange Zeit hatten Anhänger wie Gegner der Regierung die Wiederwahl Uribes bereits für sicher gehalten. In seiner Reaktion auf das Urteil beeilte sich der Präsident, den funktionierenden Rechtsstaat zu loben und rief dazu auf, den „eingeschlagenen Weg weiterzugehen“. Somit kann er bei den Präsidentschaftswahlen am 30. Mai nicht wieder antreten. Die Parlamentswahlen finden bereits am 14. März statt.Aus verschiedenen Gründen schwindet erstmals die Popularität der Regierung. Grund für Proteste ist zum einen die umstrittene Gesundheitsreform. Angesichts völlig überlasteter Krankenhäuser und einer Finanzkrise im Gesundheitssystem rief Uribe im November 2009 den sozialen Notstand aus. Der Notstand ermöglichte der Regierung, geplante Neuerungen im Gesundheitssystem in 10 Dekreten – ohne den lästigen Umweg über die parlamentarische Debatte – festzuschreiben. Das Vorhaben hat für heftige Diskussionen im Land gesorgt.
Während Gesundheitsminister Diego Palacios erklärte, das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung werde nicht eingeschränkt, versammeln sich immer wieder Menschen zu Protesten gegen die „Reform“ auf der Straße. So gab es am 6. Februar zeitgleich in Bogotá, Cali, Medellín und anderen Städten Großdemonstrationen, bei denen das Recht auf Gesundheitsversorgung symbolisch zu Grabe getragen wurde. Durch die Umstrukturierungen würden laut Palacios 683,5 Millionen US-Dollar frei, die einen finanziellen Kollaps des Systems verhindern könnten. Die angebliche Liquiditätskrise ergibt sich aber eher daraus, dass die Gelder aus dem staatlichen Gesundheitsfonds zu circa 90 Prozent im Finanzsektor investiert sind und nicht für Zahlungen zur Verfügung stehen.
War es bisher möglich, sich „außergewöhnliche“ Behandlungen vor Gericht zu erstreiten, sollen die Kosten nun in vielen Fällen vollständig vom Patienten übernommen werden. Die Behandlung muss von einem „technischen Ausschuss“ autorisiert werden. Die Beweislast liegt beim Patienten: Wer keine Mittel hat, die eigene Behandlung zu bezahlen, muss dies nachweisen und ansonsten mit Erspartem oder sogar mit Krediten für die Krankenhausrechnung einstehen. Für Mittellose wurde ein neuer Fonds eingerichtet, der allerdings nur eine bestimmte Geldmenge pro Jahr zur Verfügung hat. Wenn diese aufgebraucht ist, werden für niemanden mehr Kosten übernommen. Überweisungen zu Fachärzten sollen nur noch erfolgen, wenn sie „das Gesundheitssystem nicht finanziell belasten“. Krankenhäuser, die nicht profitabel arbeiten, werden vom Staat geschlossen. ÄrzteInnen, die PatientInnen über einen bestimmten Katalog von Minimalleistungen hinaus behandeln, hätten mit Sanktionen rechnen müssen – mit dieser Maßnahme brachte die Regierung auch die ÄrztInnen gegen sich auf. Sie musste bereits zurückgenommen werden. Bereits Anfang der 1990er Jahre war das kolumbianische Gesundheitssystem privatisiert worden, die Versorgung hatte sich seitdem verschlechtert. PatientInnen waren entweder einem Beitragssystem oder bei sehr niedrigen Einkommen dem staatlich subventionierten System Sisbén zugeordnet, das einen bestimmten Katalog von Minimalleistungen umfasst. Diese Art, das Problem lösen zu wollen, scheint sich für die Regierung Uribe aber eher zu einem Bumerang zu entwickeln. ÄrztInnen, PatientInnenvereinigungen und GegnerInnen der Regierung fordern ein gerechteres Versorgungsmodell, zu dem möglichst Viele Zugang haben. Gesundheit dürfe nicht zum reinen Geschäft verkommen, so der Tenor auf den Demonstrationen.
Auch die katastrophale Menschenrechtslage spielt offenbar eine Rolle in der aktuellen politischen Debatte. Der Anfang Februar veröffentlichte kritische Jahresbericht von Human Rights Watch, der auch für die Beziehungen zwischen den USA und Kolumbien einiges an Gewicht hat, löste bei der kolumbianischen Regierung heftige Reaktionen aus: Der Bericht sei ideologisch gefärbt, man müsse endlich die Angst vor den Menschenrechtsorganisationen verlieren, wetterte Verteidigungsminister Gabriel Silva in einem Interview. Er war zudem vergebens nach Washington gereist: Die finanziellen Mittel der USA für Kolumbiens Militär im Rahmen des Plan Colombia wurden just in der gleichen Woche um 55 Mio. US-Dollar gekürzt. Auch der Freihandelsvertrag zwischen USA und Kolumbien ist – in Erwartung einer verbesserten Menschenrechtssituation – vom US-Kongress noch immer nicht ratifiziert worden und liegt seit inzwischen drei Jahren in der Schublade.
All dies führt selbstverständlich nicht zu einer Wende in der Regierungspolitik. Obwohl sich der Skandal um den Geheimdienst DAS, der JournalistInnen, GewerkschafterInnen und AktivistInnen ausspioniert hatte, kaum beruhigt hat und die strafrechtlichen Ermittlungen erst anlaufen, wartete Uribe bereits mit einer neuen Idee auf: ein Netz von 1000 als InformantInnen bezahlten Studierenden in Medellín sollte zur Terrorismusbekämpfung beitragen, wurde aber in der Öffentlichkeit rundweg abgelehnt. Die Mordrate in Medellín steigt wieder, und es zeigt sich deutlich, dass die militarisierte Politik der letzten Jahre die eigentlichen, strukturellen Probleme städtischer Sicherheit nicht lösen kann.
Die unklare Haltung der Regierung gegenüber möglichen Verhandlungen mit den sogenannten aufstrebenden Banden (die „neuen Paramilitärs“), die unter Leitung der katholischen Kirche stattfinden sollen, und die Verzögerungen bei der anstehenden Freilassung zweier von der FARC-Guerilla entführten Soldaten tragen zur Irritation bei. Währenddessen gehen repressive Maßnahmen gegen Oppositionelle wie gewohnt weiter: Am 6. Februar beispielsweise wurden bei einer Massenverhaftung durch Militärs in der Region Catatumbo einmal mehr 16 Aktivisten der Bauernorganisation ASCAMCAT festgenommen.
Geradezu bizarr wirkt die fortgeführte „Sicherheitspolitik“: In Massengräbern werden immer wieder als verschwunden gemeldete ZivilistInnen gefunden, die als angebliche Gueriller@s in Gefechten mit dem Militär umgekommen sein sollen. Diese Praxis, ZivilistInnen zu verschleppen und zu ermorden, ist nicht neu, aber ganz offenbar systematisch geworden, seit die Regierung Uribe Bonuszahlungen für Soldaten eingeführt hat, die getötete Gueriller@s präsentieren. Laut Staatsanwaltschaft sind in den letzten Jahren vermutlich über 3.000 meist junge Männer aus den Slums der Hauptstadt Bogotá und anderer Städte in diesem Zusammenhang ermordet worden.
Mehrere Mütter von Verschwundenen aus Soacha bei Bogotá wollten sich nicht damit abfinden, dass ihre Söhne Mitglieder der Guerilla gewesen sein sollten und erreichten in den vergangenen Monaten ein gewisses Maß an öffentlichem Interesse. Wegen des Verdachts der Ermordung von 19 jungen Männern aus Soacha und Ciudad Bolívar stehen nun 46 verantwortliche Soldaten bis auf weiteres auf einer Militärbasis in Bogotá „unter Arrest.“ Dorthin wurden sie aus einem Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Nun wurde öffentlich, welche Art Willkommen das Militär den immerhin des Mordes Verdächtigen ausgerichtet hatte: Ihre Familien waren anwesend, die Soldaten bekamen aromatherapeutische Massagen, ihre Kinder wurden von Clowns unterhalten und die Frauen der Soldaten von KosmetikerInnen verschönert. Derartige Wohltaten hat wohl nicht jedes Militär zu bieten. Die „Mütter von Soacha“, wie sie inzwischen genannt werden, haben dagegen nicht einmal eine finanzielle Entschädigung erhalten. Der Vorfall sorgte selbst in der kolumbianischen Presse, die nicht gerade für kritische Berichterstattung bekannt ist, für scharfe Kritik. Die eher kritische Zeitschrift Cambio wurde im Februar von ihrem Verlag geschlossen, offiziell aus Gründen der Wirtschaftlichkeit. Erschienen war die Zeitschrift in der Verlagsgruppe Editorial El Tiempo, die der einflussreichen Santos-Familie gehört.
Zwar nutzte Uribe in den letzten Wochen seinen Präsidentenstatus, um fast täglich in allen erdenklichen Kommunikationsmedien aufzutreten und intensiv Wahlkampf für sein Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ zu betreiben. In der kolumbianischen Presse wird allerdings gemunkelt, der Präsident habe seinen „Teflon-Effekt“ verloren – schien doch früher jeder Skandal an seiner Popularität abzuperlen: Selbst viele, denen Uribes enge Verbindungen zu paramilitärischen Terrorgruppen bewusst waren, zuckten während seiner ersten Legislaturperiode gern mit den Schultern. „Paraco, pero veraco“, etwa, „er mag ja ein Paramilitär sein, aber immerhin räumt er hier mal auf“. Ganz so leicht scheint es heute nicht mehr zu sein, über den Sicherheitsdiskurs und das Schüren von Ängsten die autoritäre und ultraliberale Politik zu legitimieren. Denn diese schadet möglicherweise inzwischen auch der kleinen, aber für die Wahlen wichtigen kolumbianischen Mittelschicht. Gerade die Dekrete zum Gesundheitssystem treffen nicht nur völlig mittellose Bevölkerungsgruppen auf dem Land, die ohnehin einen schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, sondern sind auch unter ÄrztInnen und städtischer Bevölkerung auf große Ablehnung gestoßen.
Dennoch: Selbst angesichts der Tatsache, dass Uribe für die kommende Legislaturperiode nicht mehr selbst als Präsidentschaftskandidat antritt. Sein aggressives Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ kann mit einer Fortsetzung rechnen. Der autoritäre Umbau der Gesellschaft der letzten acht Jahre, die Legalisierung paramilitärischer Gruppen und die utraliberale Politik zugunsten ausländischer Investoren sind angesichts der Kräfteverhältnisse im Land kaum rückgängig zu machen. Aus Uribes Lager hat der ehemalige Verteidigungsminister Juan Manuel Santos bereits vor Monaten vorsorglich seine Kandidatur erklärt, sollte Uribe nicht selbst antreten können. Zwar wird eine Stichwahl für möglich gehalten, aber kaum eineR der zahlreichen GegenkandidatInnen wird wohl genug Stimmen für sich gewinnen. Santos dürfte ein „würdiger“ Nachfolger Uribes sein. Als Verteidigungsminister zeichnete er unter anderem verantwortlich für die Ermordung von als Aufständischen ausgegebenen ZivilistInnen und für den Bombenangriff auf ein Lager der FARC auf ecuadorianischem Boden 2008.

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