,,Jeder Elfte hat seinen Dreizehnten“

Inwiefern hat der Putsch die Rolle Chávez‘ in der venezolanischen Gesellschaft geprägt?
Der Putsch hat die Regierung grundlegend verändert. Mehr Bedeutung als der Putsch vom 11. April 2002 hatte allerdings der Versuch der Erdölmanager, die Regierung von Chávez im Dezember desselben Jahres zu stürzen. Ab da hat sich die Regierung zunehmend radikalisiert. Die Opposition wurde als klarer Widersacher erkannt und eine grundlegende wirtschaftliche und politische Transformation des Landes in Angriff genommen. Zwei Jahre später hat sich Chávez dann ja auch zum Sozialismus bekannt.
Eine andere Auswirkung der gescheiterten Umsturzversuche war die absolute Delegitimierung der Opposition. Bis dahin wurde ja gerne behauptet, dass der Präsident keine Unterstützung in der Bevölkerung habe und seine Position jeder Legitimation entbehre. Das wurde durch die massive Positionierung breiter Teile der Bevölkerung gegen den Staatsstreich ad absurdum geführt. Das ist auch heute noch wichtig und wird von Chávez immer wieder aufgegriffen. Der oft verwendete Slogan „jeder Elfte hat seinen Dreizehnten“ bedeutet, dass jeder Versuch der Opposition, Chávez zu stürzen, nicht funktionieren wird.

Ist Venezuela heute, zehn Jahre nach dem Putsch, im Sozialismus des 21. Jahrhunderts angekommen?
Venezuela ist immer noch ein sehr kapitalistisches Land, aber es befindet sich eindeutig im Umbruch. Die große Debatte unter Linken dreht sich darum, ob Venezuela eher sozialdemokratisch oder eher autoritär-staatssozialistisch ist. Oder ob tatsächlich etwas Neues geschaffen wurde, was am ehesten mit einer Art partizipativem Sozialismus beschrieben werden könnte. Meiner Meinung nach ist es die dritte Variante, obwohl in ihr natürlich auch Elemente der anderen beiden enthalten sind.

Inwiefern?
Chávez konzentriert schon ziemlich viel Macht in seiner Person, was allerdings in dieser Phase der Transformation auch absolut nötig ist. Und natürlich gibt es auch sozialdemokratische Elemente, wie die verschiedenen Formen von Sozialprogrammen, die darauf hinauslaufen, dass es eine gerechtere Gesellschaft gibt, ohne jedoch die Systemfrage zu stellen. Es gibt aber Bereiche, in denen es tatsächlich einen Übergang hin zum partizipativen Sozialismus gibt, zum Beispiel die Kommunalen Räte. Und auch in der Wirtschaft werden die Mitbestimmung und die Beteiligung in den staatlichen Unternehmen gefördert. Diese demokratischen, partizipativen Elemente sind einer der Hauptgründe, warum die bolivarianische Revolution so viel Unterstützung von der Bevölkerung bekommt. Natürlich sind auch die Sozialprogramme sehr wichtig für die Zustimmung der Menschen, aber eben nicht alleine.

Wird die Transformation der Bürger_innen hin zu einem politisch-partizipativen Wesen immer noch sehr von oben bestimmt, oder hat eine Verinnerlichung dieser Werte bei den Menschen stattgefunden?
Es kommt zum größten Teil von oben, dadurch dass Chávez und sein innerster Kreis diese Ideen haben. Andererseits gibt es aber auch Druck von unten. Das Problem liegt eher in der Mitte, also beim Staatsapparat und der innerparteilichen Bürokratie, die sich oft gegen Veränderungen sträuben. Das ist das eigentliche Problem und es wird auch als solches gesehen.
Nach Umfragen unterstützt etwa die Hälfte der Bevölkerung den Sozialismus. Die Tatsache, dass die Leute ein sozialistisches Projekt unterstützen, heißt natürlich nicht automatisch, dass sie auch wissen, was es genau bedeutet, beziehungsweise wie man damit umgeht. Ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist der Umgang mit Macht in den Kommunalen Räten. Dort kommen immer wieder alte Muster zu Tage und Leute werden ausgeschlossen, wenn sie politisch anderer Meinung sind. Es gibt auch immer noch viel Korruption, Klientelismus und viele andere Praktiken, die eine demokratische Partizipation verhindern. Die Regierung weiß um dieses Problem. Es wird viel davon geredet, eine sozialistische Ethik zu entwickeln, aber das Wie ist nicht sehr klar.

Wie ist es denn um die Diskussionen innerhalb der Linken bestellt? Hier hört man ja immer wieder, dass Leute mundtot gemacht und konträre Meinungen nicht akzeptiert werden.
Ich sehe das sehr differenziert. Es kommt auf jeden Fall vor, dass Leute mundtot gemacht werden, wenn sie sehr hart und kritisch gegenüber der Regierung oder der Partei sind. Andererseits gibt es auch sehr offene Diskussionen. Weder Regierung noch Partei sind monolithisch. Es gibt eine sehr aktive Debatte über die Zukunft Venezuelas innerhalb von Partei und Regierung, aber auch mit Leuten, die nicht Teil davon sind.

Wie äußert sich deren Beteiligung an Gesetzesvorhaben denn konkret, gibt es da Beispiele?
Ein gutes Beispiel dafür ist das neue Arbeitsgesetz, das am 1. Mai verabschiedet werden soll [Chávez hat das Gesetz am 30. April per Dekret verabschiedet, Anm. d. Red.]. Dort wird es Belegschaftsräte geben, was den Arbeiterinnen und Arbeitern aller Unternehmen, auch den privaten, einen erheblichen Beteiligungsspielraum geben wird. Zur Entwicklung des Gesetzes wurden viele, viele Diskussionen geführt und Tausende von Artikeln eingereicht. Andererseits – und das ist der Widerspruch – wird das Gesetz nun von Chávez und seinem innersten Kreis entschieden, weil es ihm zu lange dauert. So etwas passiert immer wieder: die basisdemokratischen Prozesse sind so langwierig und kompliziert, dass Chávez dann irgendwann ein Machtwort spricht und vorgibt, wie es weitergehen soll. Aber es ist offensichtlich, dass viel mehr Leute am politischen Prozess beteiligt sind. Nach Umfrage des Latinobarometro ist Venezuela heute das Land Lateinamerikas, in dem sich die meisten Leute für Politik interessieren und sich auch am meisten an ihr beteiligen.

Was für Parallelen und was für Unterschiede sehen Sie zu der Politik der linken Regierungen in Bolivien und Ecuador?
Ich glaube, Venezuela ist ganz anders. Zum einen hat das Land nicht so eine gut organisierte Zivilgesellschaft. Die sozialen Bewegungen in Venezuela sind schon immer sehr fragmentiert gewesen. Die einzigen, die ein Gegengewicht in der Gesellschaft darstellen, sind die Stadtteilorganisationen, aber die sind sehr klein, verstreut und unabhängig, ohne nationales Profil. Das ist ganz anders als in Ecuador oder Bolivien, wo es sehr starke soziale und vor allen Dingen indigene Bewegungen gibt.
Auf der anderen Seite, also auf der Regierungsseite gibt es auch große Unterschiede. Obwohl die Regierungen sowohl in Ecuador als auch in Bolivien sehr viel Spielraum haben, das heißt sehr viel machen könnten, ist bis jetzt nicht wirklich viel passiert. Dagegen hat die Regierung in Venezuela wichtige Unternehmen nationalisiert, die Kommunalen Räte etabliert und massive Sozialprogramme durchgeführt. Die Sozialausgaben in Venezuela haben sich in Verhältnis zum Bruttosozialprodukt mehr als verdoppelt. Es wird heute viel mehr Reichtum umverteilt als früher in Venezuela. Das hat es, glaube ich, in Ecuador und Bolivien noch nicht gegeben. Man wirft die drei Länder zwar immer wieder in einen Topf, aber das ist nicht stimmig.

Im Oktober wird in Venezuela gewählt – welches sind die Befürchtungen und die Hoffnungen in Bezug auf die Wahlen?
Bis jetzt war die ganze Wahlkampagne total überschattet von Chávez Krankheit. Ihm selbst hat das einen gewissen Vorteil gebracht und er hat Sympathiepunkte gewonnen. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles Radonski, der aus einer der reichsten Familien Venezuelas stammt, hat dagegen im Moment einen schweren Stand. Und das obwohl er intelligent und ein guter Kommunikator ist und die Opposition vereinter auftritt denn je zuvor. Und obwohl seine Familie die größte private Zeitung des Landes besitzt, schafft er es mit seinen Inhalten nicht in die Medien – nicht mal in seine eigenen, da immer wieder die Krankheit von Chávez Thema ist. Deshalb bescheinigen ihm die Umfragen bis jetzt nur 30 Prozent der Stimmen im Vergleich zu Chávez mit 60 Prozent. Für Chávez‘ Popularität ist die Krankheit also von Vorteil, aber es ist durchaus möglich, dass er die Wahl nicht erlebt.

Wer wird denn überhaupt als Nachfolger von Chávez gehandelt? Wird das öffentlich diskutiert?
Unter Chávez-Anhängern wird das nicht öffentlich diskutiert, denn die Parole ist „Chávez ist unser Kandidat“. Natürlich zirkulieren hinter den Kulissen und auch in der Opposition verschiedene Namen: Die wichtigsten vier Kandidaten sind der Außenminister Nicolás Maduro, der Präsident der Nationalversammlung Diosdado Cabello, der Vizepräsident Elías Jaúa und vielleicht der Bruder von Chávez, Adán Chávez, der jetzt Gouverneur ist. Die größten Chancen haben wahrscheinlich Jaúa oder der Außenminister.
Aber wie gesagt, die beiden haben nicht die Ausstrahlung von Chávez. Und um die Wahlen zu gewinnen, bräuchten sie eine Organisation hinter sich, die sein Charisma ersetzen kann und die gibt es noch nicht. Es gibt schon die Vereinigte Sozialistische Partei von Venezuela, die Chávez vor ein paar Jahren gegründet hat, aber es ist noch kein richtiger Apparat, der seine Person ersetzen könnte.
Es steht auch nicht nur die Wahl auf dem Spiel, sondern auch der Zusammenhalt der Koalition, die Chávez unterstützt. Dass sich das Bündnis fragmentieren könnte, wird noch nicht so richtig diskutiert, aber für mich als Sozialwissenschaftler ist das ziemlich klar. So wie in Argentinien nach Perón.

Wenn Chávez oder einer seiner Vertreter_innen die Wahl gewinnen – was sind die größten Herausforderungen für die bolivarianische Revolution?
Es gibt praktische und es gibt theoretische Herausforderungen. Mit praktisch meine ich die größten sozialen Probleme, die bisher noch nicht in Angriff genommen, beziehungsweise gelöst werden konnten: die Kriminalität und die Wohnungsfrage. Zur Bekämpfung beider Probleme hat Chávez im letzten Jahr riesige Programme gestartet.
Und dann gibt es noch die abstrakteren Probleme. Zum einen muss die Bewegung unabhängiger von Chávez werden, egal, ob er stirbt oder nicht. Weiterhin muss sie eine klarere politische Richtung finden. Wie gesagt, Venezuela will einen partizipativen Sozialismus etablieren, aber es ist immer noch unklar, was das genau bedeutet und wie man dahin kommen soll. Das müsste noch klarer definiert werden und zwar zusammen mit der Bevölkerung.

Infokasten:

Gregory Wilpert
ist Politikprofessor am Brooklyn College und Autor des Buchs ,,Changing Venezuela by taking power“. Er gründete das englischsprachige Nachrichtenportal venezuelanalysis.com mit und war bis vor einem Jahr Projektkoordinator der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Venezuela.

Geschichten und Überlieferungen vom Orinoko-Delta

Der nächste von Menschen bewohnte Ort, etwa zehn Kilometer flussabwärts von Chaguaramas de La Horqueta und nichts als acht provisorisch anmutende Hütten, heißt Calentura. Dieser Name ist kreolischen Ursprungs. „Tengo calentura!“ bedeutet auf kreolisch „Ich bin wütend!“ oder „Ich habe Fieber!“ Tatsächlich scheint der Name für manchen Siedler dieses entlegenen Ortes durchaus zutreffend.
Einige Tage vor mir besuchten Abgesandte, welche für die Durchführung der nationalen Volkszählung in der Parroquia Virgen del Valle verantwortlich waren, die an den Ufern des Caño Cocuina stehenden Behausungen. Alles lief nach Wunsch, bis sie Calentura erreichten. Die Anwohner bekamen eine calentura, ergriffen ihre Macheten und jagten die Abgesandten fort …
Einer der Siedler von Calentura (der ein beschauliches Leben führt und nichts mit dem eben erwähnten Vorfall zu tun hatte) ist Cleto Guira, ein Warao, geboren in Capure, nach eigener Rechnung 61 Jahre alt (aber noch ohne ein einziges graues Haar). Er hat sein chinchorro, seine Palmfaserhängematte, in eine schmale, überfüllte temiche-Hütte gehängt, die über dem sumpfigen rechten Ufer des Caño Cocuina inmitten von Maniok- und Bananenplantagen steht (obwohl er selbst lediglich ocumo anpflanzt). Es ist schwierig, Cletos Behausung zu erreichen, da es jeglichen Booten wegen des flachen Wassers verwehrt ist, nahe ans Ufer zu fahren. Ich muss über einen in den Fluss gestürzten moriche-Palmstamm balancieren, um Cleto zu besuchen. Er sitzt auf einem Schildkrötenpanzer und raucht seine guina, eine selbstgedrehte Warao-Zigarette, und dann sagt er, dass er jemanden umgebracht hat.
„Es stand sogar in der Zeitung“, erzählt er. „Und es geschah, weil wir Waraos Klatsch und Tratsch lieben.“ Ein Mann aus Capure erfand ein Gerücht, das Cleto betraf, und erzählte es überall herum. Jemand flüsterte Cleto ins Ohr, der Mann aus Capure plane, Cleto zu töten. Cleto bekam eine schwere calentura, und außerdem wollte er jeglichen gegen seine Person gerichteten Aktionen vorbeugen, also brachte er nonchalant den Mann aus Capure um. Dies geschah vor acht Monaten. Cleto musste drei Monate im Gefängnis sitzen, bis man ihn herausließ und unter Hausarrest stellte. Seit über vier Monaten sitzt er nun schon auf dem Schildkrötenpanzer vor dem glitschigen moriche-Palmstamm, und nur ab und an kontrolliert er das Wachstum seiner ocumo-Pflanzen. Es ist ihm versagt, Calentura zu verlassen, bis er 65 geworden ist, also, zum Glück, ausweislich seiner cedula nur noch für vier Jahre. „Mit diesem hohen Alter“, sagt er, „brauche ich nicht mehr in den Knast, so will es das Gesetz.“

Am 5. März 2001, einige Wochen nach Cletos Bluttat, nahm der Bruder des Getöteten voller calentura Rache. Cletos Sohn war draußen im Busch, um manaca-Palmito für die Palmherzenfabriken von La Horqueta zu schneiden, die diese Delikatesse in Konserven abfüllen und nach Frankreich exportieren. Der Bruder des Toten versteckte sich hinter den Bäumen und ermordete Cletos Sohn. Dann legte er das Gewehr Cletos Sohn in die Hand, um vorzutäuschen, dass dieser sich selbst getötet hätte … Und Cleto? Der muss weiter auf dem Schildkrötenpanzer sitzenbleiben, so will es das Gesetz.
Wir trinken zusammen einen Plastikbecher voll Cinco Estrellas – der Rum ist gar nicht schlecht – und erzählen Geschichten. Die golofas, fette schwarze Bremsen, piesacken uns. Cleto lebt auf. Vor Jahren, erzählt er, verdiente ein Mann aus San José de Buja sein täglich Brot damit, Schmuggelware aus Trinidad nach Venezuela zu bringen. Er benutzte den Caño Cocuina als Handelsroute und eine unscheinbare Hütte in Calentura, die einen geheimen Lagerraum für illegale Waren enthielt, als Versteck. Ein Warao sah eines Tages zufällig, wie der Schmuggler sein Lager mit Zigaretten und Whisky auffüllte. Als der Mann aus Buja weg war, drang der Warao in den geheimen Raum ein und nahm daraus mit, was ihm gefiel. Nach ein paar Tagen kam der Schmuggler zurück, erkannte, dass einige seiner Habseligkeiten fehlten und bekam eine calentura. Er fragte jeden Kreolen, jeden compai [Warao] und jede comai [Waraofrau] in und um La Horqueta, ob jemand gerade Whisky oder Zigaretten zum Verkauf anböte. Er fand den Warao trinkend, rauchend und feiernd in seiner Hütte und erschoss ihn. Danach, so erzählt Cleto, schüttete er seinen geheimen Lagerraum zu und legte einen neuen an anderer, unbekannter Stelle im Labyrinth des Deltas an.
Das Delta, weiß Cleto, ist ein Whiskysumpf, und der Caño Cocuina eigentlich ein Whiskyfluss. Das Geheimnis liegt weiter stromabwärts: Ein Boot, das 500 Kisten geschmuggelten Whiskys aus Grenada nach Venezuela transportierte, berichtet er, dabei eine golofa klatschend, fuhr durch den Caño Cocuina und sank nahe des Zusammenflusses von Caño Cocuina und Caño Cocuinita. Viele Leute tauchten seitdem runter, aber die Stelle war zu tief für sie. Und so wartet der Whisky noch immer darauf, von durstigen Abenteurern heraufgeholt zu werden.
Abends, in der Hängematte. Es ist so finster, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. Glühwürmchen schweifen durch die Plantage, deren Blätter geschwollen und unbeweglich hängen über dem unerbittlich gärenden Sumpf. Cletos Stimme ist heiser.

Vor neun Jahren oder acht, da schlug ein von Kreolen geführtes Unternehmen Mangrovenholz, um es auf die Isla Margarita zu verkaufen, wo es zum Bau von Strandunterständen für die Touristen gebraucht wurde. Das Unternehmen operierte in der Umgebung der fernab gelegenen Waraosiedlung La Laguna de Cocuina (Lagunitas), deren Einwohner als Jäger und Fischer in Stelzenhütten direkt überm Wasser leben und Wild, Honig und Fisch gegen Mehl, Zucker und Rum einhandeln. Es ist die letzte Siedlung des Caño Cocuina, bevor dieser im Ozean aufgeht. Einmal kommandierte das Unternehmen einen Arbeiter ganz allein in dieses Dorf ab. Während er da war, geschah es, dass eine Frau starb. Wie es dort seit jeher Brauch ist, so legte die Familie der Verstorbenen ihren Körper in einen Einbaum und bedeckte ihn mit Palmwedeln und Lehm. Nun war es für die Dörfler an der Zeit, das bei solchen Anlässen übliche Gelage zu beginnen. Doch gab es – da der Todesfall unvorhergesehen eingetreten war – im ganzen Dorf nicht einen Tropfen Alkohol, und der nächste Laden wäre nur nach mehrtägigem Paddeln zu erreichen gewesen. Also lieh der Arbeiter des Mangrovenholzunternehmens den Verwandten der toten Frau sein Motorboot aus (er selbst durfte seinen Posten nicht verlassen), damit sie den Caño Cocuina aufwärts fahren und Rum kaufen könnten. Dafür gaben sie die Leiche in seine Obhut. Er war guter Dinge und erwartete eine schnelle Rückkehr der Waraos.

Ein Tag verging.

Er wartete vergeblich. Er bemerkte den Geruch der toten Frau.

Zwei Tage vergingen. Noch immer tauchte niemand auf. Der Arbeiter langweilte sich, fühlte sich einsam – fürchtete und ekelte sich vor der faulenden Leiche.

Drei Tage vergingen. Die innere Unruhe, die den Arbeiter schon zuvor erfasst hatte, füllte ihn nun ganz aus. In seiner Verlassenheit begann er auf den rohen Planken des Steges auf und ab zu laufen. Ihm grauste davor, eine weitere Nacht mit der Toten in seiner Hütte zu verbringen. Aber er musste…

Schließlich, am Abend des vierten Tages, kehrte das Boot zurück – darin ein Haufen Rumflaschen und eine Crew, die jenseits von Gut und Böse berauscht war. Die Waraos tranken und lärmten noch die ganze Nacht und den folgenden Tag ohne Verschnaufpause, ob jung, alt, Frauen, Männer, Kinder.
Am zweiten Tag nach Ankunft des Rums in Lagunitas trafen Mitarbeiter des zurückgebliebenen Kreolen ein. Schon vom Fluss aus wunderten sich die Ankömmlinge über eine seltsame Veränderung im Dorf und machten sich Sorgen: Der Ort erweckte den Eindruck als sei er gänzlich verlassen. Nicht die kleinste Bewegung war in den Hütten zu sehen, nicht das leiseste Geräusch zu hören bis auf den Wind. Das war sehr ungewöhnlich. Normalerweise rennt alles, was Beine hat, in die Richtung, aus der das Motorengeräusch kommt, denn Besuch von Fremden ist immer etwas Besonderes.
Als die Kreolen näher kamen, sahen sie einen alten Warao an der Landebrücke kauern. Sein Körper zitterte. Auf ihre Frage, was los sei, weigerte er sich zu sprechen. Sie gingen zu der Hütte, die das Mangrovenunternehmen hier okkupierte, und fanden die gesamte Bevölkerung von Lagunitas darin versammelt wie lebende Tote. In der Mitte der Hütte schaukelte eine Hängematte, darin lag der Arbeiter mit einem Gewehr und einer Flasche. Der alte Mann trat hinter die Kreolen und flüsterte ihnen ins Ohr: „Er sagte, er sei es müde. Er sagte, noch eine Bewegung oder einen Ton, und es gibt eine Ladung in unsern Kopf. Das geht schon so seit gestern …“

„Es hat einen Bewusstseinswandel gegeben“

Was ist der Grund für Ihre Rundreise durch Deutschland?
Cumana: Wir wollen zeigen, was Arbeiterkontrolle in Venezuela bedeutet, welche Veränderungen im Zuge der Aktivitäten von Gewerkschaften und Arbeitern stattfinden, die Teil der venezolanischen Bewegung für Arbeiterkontrolle sind. Außerdem ist uns wichtig bekannt zu machen, worin die bolivarianische Revolution besteht und wie sich die von Präsident Chávez unterstützten und selbst verwalteten Projekte der Arbeiter entwickelt haben.

Wie kam es zur Besetzung der Autoscheibenfabrik von Vivex?
Cumana: 2008 haben wir die Fabrik besetzt, weil der Besitzer zahlreiche Arbeiterrechte verletzt hat. Er behauptete, er sei pleite und bezahlte unsere Löhne nicht. Außerdem hielt er die Sicherheitsnormen für uns Arbeiter nicht ein. Jedem von uns schuldete er 120 Tageslöhne, aber nur 15 davon bezahlte er. Für den Großteil der Arbeiter war das der Auslöser. Wir haben mit ihm verhandelt, aber er wollte nichts bezahlen. Am 20. November 2008 verließ er die Fabrik. Für uns galt die Devise „verlassene Fabrik gleich besetzte Fabrik“, die Chávez vertritt. Wir konnten die Fabrik nicht allein lassen, denn sonst wäre sie zu einem weiteren Opfer der neoliberalen Ausbeutung der Kapitalisten in Venezuela geworden. Wir haben sie besetzt und damit begann ein Kampf gegen die Behörden. Sie haben uns verklagt, aber wir Arbeiter und unsere Rechtsanwälte haben bemerkt, dass ihre Dokumente Unregelmäßigkeiten aufwiesen. Bei den Klagen kam nie etwas heraus. Wir haben uns mit den Gewerkschaften vereinigt und mit der Nationalen Vereinigung der Arbeiter (UNT). Mehr als zwei Jahre lang hielten wir die Fabrik besetzt und kämpften dafür, sie zu übernehmen. Wir wurden dabei auch von der Corriente Marxista Revolucionaria (CMR) unterstützt und von unseren Kameraden der Interbrigadas.

Warum verließ der Besitzer von Vivex die Fabrik?
Cumana: Ihm gehörte die Fabrik seit über 40 Jahren, er hatte bereits Gewinne aus ihr gezogen. In den letzten Jahren investierte er zum Beispiel nicht mehr in Maschinen. So machen es die Kapitalisten, sie beuten die Arbeiter und den Boden aus, und wenn die Gewinne dann zu gering sind, gehen sie weg. Wir stehen mit ihm noch in Gerichtsverhandlung wegen der Schulden, die er uns noch bezahlen muss. Sie belaufen sich auf insgesamt 30 Millionen Bolivar (ca. 5,3 Millionen Euro, Anm. d. Red.). Der Besitzer hat versucht, die Arbeiter mit Geld zu bestechen. Einige sind freiwillig gegangen, nachdem er ihnen eine geringe Abfindung gezahlt hatte.

Was geschah nach der Besetzung der Fabrik?
Cumana: 360 der 400 Arbeiter von Vivex nahmen an der Besetzung teil. An der Übernahme der Produktion durch den Fabrikrat waren aber nur noch 132 Arbeiter beteiligt. Am Anfang haben wir eine Kooperative gegründet, um die Autoscheiben verkaufen zu können. Aber am 31. Mai 2011 wurde die Fabrik von der Regierung enteignet. Wir haben dann zwölf Arbeitsgruppen gebildet, um die verschiedenen Produktionslinien der Windschutzscheiben wieder aufzubauen. Der Staat unterstützt uns dabei finanziell. Die erste Produktionslinie haben wir bereits wiederhergestellt. Wir werden mit 500 Glasscheiben pro Monat anfangen und die Produktion dann steigern. Für die Reaktivierung der zweiten Produktionslinie benötigen wir aber mehr Arbeitskräfte. Wir werden uns deswegen an die Kommunalen Räte und die Kommunen wenden. Unser Ziel ist es, dass die Fabrik sich selbst trägt. Denn auf Dauer können wir ja nicht von staatlichen Einnahmen aus dem Erdölverkauf leben. Das Ministerium für industrielle Entwicklung leiht uns Geld, aber wir müssen es zurückzahlen, denn es gibt noch zahlreiche andere Arbeiter, die in einer ähnlichen Situation sind wie wir und die Gelder benötigen.

Welche Auswirkungen hatten die Bemühungen zur Übernahme der Fabrik auf die Region?
Cumana: In unserer Region gibt es zahlreiche deaktivierte, verlassene und zerstörte Fabriken. Unsere Besetzung der Vivex-Fabrik hatte eine sehr starke Wirkung auf die umliegenden Fabriken. Arbeiter der Autofabrik Mitsubishi, die sich auf dem Nachbargrundstück befindet, unterstützten uns in unserem Kampf. Außerdem solidarisierten sich Arbeiter der zu dieser Zeit noch nicht privatisierten Milchproduktionsfirma Los Andes, des staatlichen Erdgasversorgers PDVSA und der Autositzfabrik Macussa mit uns.

Wer verwaltet die Fabrik heute und wie ist die Arbeit organisiert?
Cumana: Das Unternehmen ist unter staatlicher Kontrolle, arbeitet aber mit dem Fabrikrat zusammen. Wir verdienen alle gleichviel und teilen uns die Arbeit. Jetzt produzieren wir noch nicht, aber wenn wir anfangen werden zu produzieren, werden wir sehen, wie hoch der Tageslohn sein wird. Aber es geht ja nicht nur um den Tageslohn, sondern auch um das soziale Wohlergehen und die Gesundheit der Arbeiter, darum, dass sie mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen und sich fortbilden können. Unsere Philosophie ist die Dialektik, wir hören uns gegenseitig zu, analysieren gemeinsam die Situation und kommen dann zu einem Ergebnis, das alle begünstigt. Natürlich kommt es vor, dass Genossen nicht mit einer bestimmten Politik einverstanden sind. Aber insgesamt hat es einen Bewusstseinswandel unter den Arbeitern gegeben. Sie identifizieren sich jetzt stärker mit der Fabrik. Wenn wir keine staatliche Hilfe mehr bekommen, wird jeder selbst mitverantwortlich sein für die Höhe seines Lohnes oder das Wohlergehen seiner Familie.

Wie viele Frauen arbeiten bei Ihnen, und wie sind sie in die Entscheidungsgremien eingebunden?
Cumana: In der Fabrik arbeiten 25 Frauen. Zwei Arbeiterinnen koordinieren die beiden Instanzen des Fabrikrats. Bei uns gibt es Geschlechtergleichheit. Unter dem ehemaligen Besitzer wurden die Frauen ausgebeutet; sie mussten sehr schwere körperliche Tätigkeiten ausführen. Einige Kameradinnen können nicht mehr den ganzen Tag an derselben Maschine arbeiten, deshalb haben wir sie in andere Sektoren eingeteilt, die ihrer Gesundheit nicht schaden.

Wie sehen die aufgebauten Entscheidungsstrukturen aus?
Cumana: Einmal im Monat trifft sich die Generalversammlung des Fabrikrats. Grundsätzliche Fragen wie Veränderungen an den Produkten, größere Käufe oder neue Uniformen werden von allen gemeinsam abgestimmt. Dann gibt es noch die Versammlungen der verschiedenen Fabrikbereiche. Die Repräsentanten der zwölf Arbeitsbereiche treffen sich alle 14 Tage und besprechen Arbeitspläne und Maßnahmen für unser Projekt. Ich vertrete zum Beispiel den Arbeitsbereich Hygiene und industrielle Sicherheit.

Welche Schwierigkeiten sind nach der Verstaatlichung bestehen geblieben?
Cumana: Die Regierung hat uns von Anfang an unterstützt. Mit Präsident Chávez kommen wir weiter, aber die Bürokratie bremst uns aus. In unserem Bundesstaat müssen wir gegen die staatlichen Behörden ankämpfen. Es gibt viele Staatsfunktionäre, die Bestechungsgelder von unserem Besitzer erhalten. Sie blockieren unser Projekt und die Projekte in den Kommunen. Eine dieser Behörden ist die Steuerbehörde. Sie muss Berichte über Verkäufe der Fabrik sowie über die zu zahlenden Steuern erstellen. Die Angestellten verzögern die Herausgabe dieser Berichte absichtlich und veruntreuen dabei Gelder.

Wo kaufen Sie den Rohstoff für das Glas und an wen sollen die Windschutzscheiben verkauft werden?
Cumana: Die Rohmasse für das Produkt importieren wir aus Brasilien. Die Zusammenarbeit läuft hier über die bilateralen Verträge mit befreundeten Staaten, die über die ALBA (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas, Anm. d. Red.) geschlossen wurden. Für den Verkauf unserer Produkte haben wir bereits Verträge mit den ehemaligen Abnehmern Mitsubishi und Chrysler abgeschlossen. Außerdem sind wir neue Verträge mit einer weißrussischen Wagenfabrik, der chinesischen Autofirma Cherry und Venirauto aus dem Iran eingegangen.

Herr Martínez, Sie haben bei Mitsubishi gearbeitet und eine alternative Gewerkschaft dort mit aufgebaut. Wie ist es dazu gekommen?
Martínez: Bei Mitsubishi gab es ähnliche Probleme wie bei Vivex: Mangelnder Arbeitsschutz, unregelmäßige Lohnzahlungen und die Auslagerung eines Teils der Belegschaft. Wir haben uns gegründet, als es im Jahr 2002 zu einem Konflikt zwischen Arbeitern und Unternehmensbesitzern kam. Die Fabriken haben die Arbeiter nach Hause geschickt und ihnen die Löhne verweigert. So wollten sie Präsident Chávez stürzen. Nachdem ihr „Putsch“ fehlgeschlagen war, kamen wir 2003 zurück in die Fabrik. Mitsubishi hatte sich mit der offiziellen Gewerkschaft CTV darauf geeinigt, Arbeiter zu entlassen. Die Gewerkschaft erlaubte uns nicht, neue Vertreter zu wählen. In dieser Situation begann unserer Kampf. Wir gründeten unsere eigene Gewerkschaft, die SINGETRAM, in der ich heute noch aktiv bin. 186 von 800 Arbeitern beteiligten sich an der Gründung der Gewerkschaft, die anderen hatten Angst. Die Firma durfte aufgrund eine Dekrets des Präsidenten, das weitere Entlassungen verbot, keine Arbeiter mehr entlassen. Denen, die freiwillig aufhörten, zahlte Mitsubishi daraufhin eine gute Abfindung. So gingen 200 Arbeiter freiwillig. Die Mehrheit blieb aber. Wir haben uns dann für die Rechte aller Arbeiter der Mitsubishi eingesetzt. In einem Jahr ist es uns gelungen, die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiter zu bekommen. 550 Arbeiter sind unserer Gewerkschaft beigetreten. In der offiziellen Gewerkschaft waren am Ende nur noch 50 Arbeiter. Sie wurde schließlich aufgelöst.

Wie unterscheidet sich die gegründete Gewerkschaft von der offiziellen?
Martínez: Es ist uns gelungen, dass die Arbeiter in der SINGETRAM mitwirken und sich mit der Gewerkschaft identifizieren. Sie haben gemerkt, dass unsere Gewerkschaft durch sie bestimmt war und nicht über sie bestimmte. In diesen drei Jahren haben wir von dem Erlass eines Gesetzes profitiert, das die Gewerkschaften stärkte. Es ermöglichte uns, mehr Gewerkschaftsvertreter zu wählen. Vorher hatten die 800 Arbeiter nur drei Gewerkschaftsvertreter. Nach dem Erlass dieses Gesetzes hatten wir 27 Arbeitervertreter, die sich für die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeiter einsetzten. Im Gewerkschaftsvorstand saßen 15 Personen. Wir hatten eine Gewerkschaft mit einer horizontalen Struktur aufgebaut. Denn die vertikale Struktur der offiziellen Gewerkschaft brachte korrupte und bürokratische Gewerkschaftsführer hervor.

Wie sahen zu Beginn die Entscheidungsstrukturen der SINGETRAM aus? In welchen Bereichen waren die Arbeiter_innen aktiv?
Martínez: Die meisten Arbeiter beteiligten sich an der Verwaltung. Es gab vier Arbeitsbereiche: Sport und Kultur, Beschwerden über Arbeitsverträge und Konflikte, Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit sowie Presse und Öffentlichkeitsarbeit. In jedem Bereich waren 27 Arbeiter aktiv, die von den 27 Sektoren der Fabrik gewählt worden waren. Jeder Bereich durfte außerdem vier Delegierte für die Generalversammlung wählen. Und alle drei Jahre hatten die Arbeiter das Recht, in direkter und geheimer Wahl die 15 Koordinatoren der vier Arbeitsbereiche zu wählen. Es handelte sich um ein demokratisches und partizipatives Gewerkschaftsmodell, das dazu führte, dass mindestens die Hälfte der Arbeiter an der Generalversammlung teilnahm. Denn es gab eine unmittelbare und dynamische Beziehung zwischen den Delegierten und dem Gewerkschaftsvorstand einerseits und den Arbeitern und der Gewerkschaftsleitung andererseits. Alle lernten voneinander. Was die Arbeitsteilung betrifft, so führten wir in einem Bereich sogar ein Rotationssystem ein, die Arbeiter rotierten zwischen den verschiedenen Arbeitsstationen.

Wie reagierte die Fabrikleitung auf diese Entwicklungen?
Martínez: Als sie bemerkt hat, wie gut wir organisiert waren, hat sie begonnen, Mitarbeiter zu „kaufen“. 2009 haben wir gegen das Outsourcing von 137 Arbeiterinnen protestiert. Die Fabrikleitung hat 65 bewaffnete Polizisten gerufen, um den Protest zu beenden. Sie haben zwei unserer Genossen erschossen, vor der Fabrik. Nach den Morden haben sie uns weiterhin unterdrückt. Wir haben Drohungen erhalten. Außerdem wurden wir entlassen. Sie haben Vorwände für die insgesamt 600 Entlassungen gefunden. Mich haben sie 2009 mit der Begründung entlassen, ich hätte das Tor der Fabrik beschädigt. Sie haben aber keine Beweise dafür.

Mussten sich die Polizisten, die die beiden Arbeiter erschossen haben, vor Gericht verantworten?
Martínez: Präsident Chávez hat eine Untersuchung der Morde angeordnet. 15 der 60 Polizisten sind deswegen vom Gericht verurteilt worden und sitzen in Haft.

Wie ging es mit der SINGETRAM weiter?
Martínez: Unsere Gewerkschaft besteht weiterhin. Wir beraten Arbeiter in der Region und koordinieren die Nationale Vereinigung der Arbeiter UNT in unserem Bundesstaat Anzoategui. In unserer Region haben sich mehrere Gewerkschaften der UNT angeschlossen. Außerdem unterstützen wir die Gewerkschaften von Vivex bei der Zusammenarbeit mit den Gemeinden. Wir organisieren Veranstaltungen und Debatten, bei denen wir das Modell der Arbeiterkontrolle und das der Arbeiterräte erklären. Mit dieser Arbeit geben wir der Bewegung für Arbeiterkontrolle und der Bewegung gegen Straflosigkeit in Venezuela Impulse.

Wovon leben Sie heute?
Martínez: Ich war Mitglied einer Kreditkooperative, in der einige Arbeiter von Mitsubishi Geld angespart haben. Dieses Geld wurde mir ausgezahlt, als ich die Kooperative verließ. Außerdem verkaufe ich zusammen mit meiner Frau Eis und Süßigkeiten. Gelegentlich arbeite ich auch als Taxifahrer. Bei Mitsubishi habe ich in der Qualitätskontrolle gearbeitet. Ich kontrollierte die einzelnen Autoteile. Diese Kenntnisse kann ich aber nur in einer großen Fabrik anwenden. So ist das mit der Arbeitsteilung.

Jenseits des Personenkultes

In der internationalen Wahrnehmung ist es um Venezuela ruhiger geworden. Doch im Laufe dieses Jahres wird sich dies ändern: Am 8. Oktober 2012 werden bei den Präsidentschaftswahlen in dem südamerikanischen Erdölland die politischen Weichen für die kommenden sechs Jahre gestellt. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, dass sich die meisten Medien auf eine personalisierte Berichterstattung beschränken werden. Dass es hinter dem Personenkult um Hugo Chávez in Venezuela viele interessante politische Entwicklungen, aber auch Widersprüche gibt, daran erinnert der Journalist Helge Buttkereit in seinem Buch Wir haben keine Angst mehr. Nachdem Buttkereit in seiner vorangegangenen Publikation Utopische Realpolitik mehrere linke Prozesse in Lateinamerika näher beleuchtet hat, wendet er sich nun ganz Venezuela zu. Nach einer mehrwöchigen Recherchereise hat er insgesamt sieben Interviews mit unterschiedlichen Protagonist_innen zusammengestellt, die sich innerhalb des bolivarischen Prozesses engagieren und ein heterogenes Bild der politischen Basis von Präsident Hugo Chávez zeichnen. Das Spektrum reicht von einem Verwaltungsbeamten über Sprecher_innen der basisdemokratischen kommunalen Räte bis hin zu einem Politiker der Kommunistischen Partei Venezuelas. Dabei wird nicht die „schöne Revolution” stilisiert, wie sie etwa im staatlichen Fernsehen als Kontrast zu der Berichterstattung der oppositionellen Privatsender zu sehen ist. In den von unten entstandenen, kommunitären Radios wird zum Beispiel deutlich, „dass es keine schöne, perfekte Revolution gibt”, wie es die Aktivistin Guadalupe Rodríguez aus dem seit jeher rebellischen Viertel 23 de Enero formuliert. Aber Rodríguez nennt auch viele Fortschritte, die ohne das Zusammenspiel von Regierung und Bewegungen nicht möglich gewesen wären.
Den spannenden, wenngleich teilweise etwas sperrig zu lesenden Interviews, lässt der Autor zwei Reportagen und kurze theoretische Einschübe aus antiautoritärer linker Tradition folgen. Anhand einer Zusammenfassung aktueller Texte der in Venezuela viel rezipierten Autor_innen Michael Lebowitz und Marta Harnecker gibt Buttkereit zudem Einblicke in die theoretische Reflexion der politischen Prozesse in Lateinamerika. Er selbst kritisiert, dass es in den Debatten und Vorstellungen vieler Aktivist_innen in Venezuela häufig nur darum gehe, den Erdölreichtum sinnvoll zu nutzen und den Konsum der marginalisierten Bevölkerung zu steigern. Dies habe mit Sozialismus wenig zu tun. Vielmehr sei es nötig, „dass Menschen gemeinschaftlich eine neue Form der Produktion beginnen, die die wirklichen Bedürfnisse der Menschen befriedigt”.
Durch die Mischung von Stimmen aus der Praxis, Reportagen und Theorie entsteht ein knapper, aber vielseitiger Einblick in Partizipation und Selbstorganisierung in Venezuela, der zu einer weiteren Beschäftigung mit den politischen Prozessen jenseits der Chávez-Regierung einlädt. Abgerundet wird das Buch durch ein Interview mit Aktivist_innen des Berliner Vereins Interbrigadas, der auch Kooperationspartner bei der Entstehung des Buches war. Seit einigen Jahren organisieren die Interbrigadas erfolgreiche Brigaden nach Venezuela, Bolivien sowie Kolumbien und reflektieren gleichzeitig kritisch ihr eigenes Wirken vor Ort. Beispielhaft wird dabei deutlich, wie engagierte junge Menschen hierzulande praktische Solidarität mit den Bewegungen in Lateinamerika leisten können.

Helge Buttkereit // Wir haben keine Angst mehr. Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela // Pahl-Rugenstein-Verlag // Bonn 2011 // 167 Seiten // 14,90 Euro // www.pahl-rugenstein.de

Lernen vom Schüler

„Fast alltäglich waren apagones (Stromausfälle). Wenn der Kühlschrank ausfiel, brach ich die fetten Batzen gefrorenen Wassers aus dem Eisfach, bevor es meine Wohnung fluten konnte. Ich legte sie aufs Fensterbrett und sah zu, wie sich in der Januarhitze Tropfen um Tropfen aus der Masse löste, und wie sie die sechs Stockwerke weit nach unten fielen und auf das Dach der Druckerei platschten.“
Die tiefe Krise Argentiniens mit ihren täglichen Stromausfällen Anfang der 1990er Jahre, die Sebastian Schoepp während eines einjährigen Arbeitsaufenthaltes beim Argentinischen Tageblatt in Buenos Aires miterlebte, ist Ausgangspunkt seiner facettenreichen Beschreibung der aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika. Diese fielen in den letzten zehn Jahren überraschend positiv aus, wenn man sie mit den letzten vierzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergleicht: eine Zeit, die von Militärputschen, Diktaturen, einem „verlorenen Jahrzehnt“ und wiederkehrenden ökonomischen Krisen geprägt war.
„In fast allen Ländern etablieren sich innerhalb weniger Jahre Demokratien, die nicht mehr so leicht ins Wanken zu bringen sind wie ihre Vorläufer. Die Wahlen verlaufen in der Mehrzahl fair und frei. Ja, mehr noch: Manche Regierungschefs erreichen Zustimmungsraten, von denen europäische Politiker nur träumen können. Die Wirtschaft, jahrhundertelang das Hauptproblem Lateinamerikas, boomt nicht nur, sie zeigt sich sogar krisenresistenter als die Europas und Nordamerikas. Die Armut, zwar immer noch das drängendste Problem, wird durch Sozialprogramme signifikant verringert. Der Mittelstand wächst,“ so fasst es Schoepp in seiner Einleitung „Gute Nachrichten aus Lateinamerika“ zusammen. Seit 2005 ist er als außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Spanien und Lateinamerika zuständig.
Anschließend nimmt Schoepp seine Leser_innen mit auf eine Zeitreise durch Ecuador, Bolivien, Peru und Nicaragua vor 2002, in das Argentinien nach der Krise unter Néstor und Cristina Fernández de Kirchner (seit 2003), nach Bolivien, das Morales (seit 2006), und nach Brasilien, das Lula (2003 bis 2011) zum Präsidenten wählte. Seine Analysen der politischen, sozialen und ökonomischen Fakten bettet er ein in Reportagen von zahlreichen Reisen durch den Kontinent, hin und wieder ergänzt von kurzen Interviews, die er mit Schriftsteller_innen, Wissenschaftlern und Politikern führte.
Von Kapitel zu Kapitel entsteht so ein immer vielschichtigeres Bild eines Kontinents im Wandel, bei dem Schoepp kaum einen wichtigen Aspekt auslässt: die indigenen Bewegungen in den Andenländern und die Sozialprogramme Brasiliens, Extraktivismus und Neo-Extraktivismus, das mögliche Ende des Drogenkrieges und die Aufarbeitung der Militärdiktaturen, die Bedeutung der Schriftsteller_innen für den gesellschaftlichen Wandel und die wechselhaften Migrationsflüsse zwischen Europa und Lateinamerika. Besonders eindrücklich ist seine Beschreibung immer dann, wenn der Autor das Land und seine Verhältnisse sehr gut kennt und uns mit seinen Reportagen direkt in das Herz der jeweiligen Gesellschaft führen kann. Wirklich spannend ist auch das Kapitel „Heimkehr in die Fremde“ über Lateinamerikaner_innen in Barcelona, wo Schoepp ebenfalls ein Jahr verbrachte, und das sich der identitätsstiftenden Wirkung des Exils widmet. Auch die Exkurse des Autors in die Geschichte Lateinamerikas sind immer treffend, informativ und bereichern das jeweilige Thema, so erfahren wir zum Beispiel, wie das Erbe der Hidalgos mit dem Extraktivismus und dem Urteil gegen Chevron im Jahr 2011 zusammenhängt.
Doch die größte Stärke von Das Ende der Einsamkeit ist zugleich seine größte Schwäche. Denn in den Kapiteln, in denen die Reportagen die Leser_innen nicht auf eine spannende Reise mitnehmen, bleiben die Analysen recht oberflächlich und sehr auf die Regierungspolitik beschränkt. Schoepps Kapitel über Brasilien „Lula Superstar“ bezieht sich ganz auf diesen und seine Bedeutung für die internationale Politik.
Nicht nur, dass die starken sozialen Bewegungen in Brasilien praktisch nicht erwähnt werden, auch die Analyse der Erfolge Lulas greift zu kurz. Dass wichtige politische Ziele der Regierungspartei PT – wie die Landreform oder der Schutz der indigenen Gebiete – nicht eingelöst wurden, ist nicht nur eine Randnotiz einer ansonsten erfolgreichen Entwicklungsstrategie. Die fehlende Veränderung grundlegender gesellschaftlicher Strukturen – wie die Verteilung des Landbesitzes – birgt die Gefahr, dass die Politik der 1980er und 1990er Jahren von denselben Eliten fortgesetzt werden kann, sobald es ihnen gelungen ist, wieder die Führung des Staates zu übernehmen.
Das Kapitel über Venezuela – das sich über weite Strecken um eine differenzierte Darstellung bemüht und sogar Kritik an der Form der deutschen und internationalen Berichterstattung über Chávez übt – mündet überraschend in eine vernichtende und pauschale Kritik am venezolanischen Präsidenten. „Seine Kollegen in den Nachbarländern denken gar nicht daran, den nebulösen Weg der ’bolivarischen Revolution’ mitzugehen. Sie wissen, dass Chávez’ System in der Praxis nichts anderes ist als der auf Klientelismus basierende Ansatz eines lückenhaften Staatskapitalismus.“ Erstaunlicherweise schließt Schoepp dieses Kapitel dann mit der Feststellung „Trotzdem wäre das ‚neue Lateinamerika’ – vor allem die Umwälzungen in Ecuador oder Bolivien – ohne seine kantigen Reden und seine Petrodollars nicht denkbar gewesen.“
Das Ende der Einsamkeit, dessen Titel ebenso auf den Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez wie auf Das Labyrinth der Einsamkeit von Octavio Paz verweist, endet mit einem optimistischen Ausblick: Ausgerechnet aus Kolumbien kommt in einer der schönsten Reportagen eine weitere gute Nachricht aus Lateinamerika. Fast schade, dass dieses Buch nicht ein Jahr später erschienen ist. Hätte doch Schoepp seine These, dass die Welt von Lateinamerika lernen kann, im Jahr des arabischen Frühlings, der Besetzungen in Spanien und der Griechenlandkrise besonders gut an der Realität überprüfen können.

Sebastian Schoepp // Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann // Westend Verlag // München 2012 // 288 Seiten // 17,99 Euro

„Als Frau von oben herab wäre auch schräg”

Wird das Radiomachen in Lateinamerika gerade neu erfunden?

Davalos: Ich denke, unabhängige Radios haben historisch schon oft eine wichtige Rolle gespielt. In Bolivien organisierten die Minenarbeiter bereits Ende der 1940er eigene Sender und auch in den Jahren der Diktatur waren sie als kommunikative Alternative von fundamentaler Bedeutung. Heute sind diese Radios Orte der Dekolonialisierung, an denen wichtige Schalter sozialen Wandels umgelegt werden.

Arienta: Auch in Venezuela sind Community Radios ein wichtiger Teil der bolivarianischen Revolution. Einige Sender sind sogar noch älter als die Regierung Chávez. Natürlich schießen in den letzten Jahren auch immer neue Sender aus dem Boden. Sind sind eben Ausdruck der Bevölkerung, die dabei ist, sich eine eigene Stimme zu schaffen.

Das hört sich erst mal wenig konkret an. Wie muss man sich denn das tägliche Arbeiten in einem Community Radio denn vorstellen?

Mina: Im Radio sind wir, salopp gesagt, ein paar wenige Leute, die viele Sachen anstellen. Im Grunde bin ich die Technikerin des Radios. Aber ich fahre auch ein paar Sendungen und bin verantwortlich, was die Kooperation mit neu entstehenden Radioprojekten angeht. Denn die helfen wir aufzubauen, unterstützen sie technisch aber auch bei ihrer Selbstorganisation.

Davalos: Ich arbeite in einer Sendung mit, die sich Traumspinnerinnen nennt. Darin spinnen wir Geschichten, um ein anderes Land und eine andere Gesellschaft zu konstruieren. Wir greifen Geschehnisse auf, an denen wir dekolonialisierende Momente ausmachen. Und wir analysieren sie weiter, denn nicht immer stellt Dekolonialisierung zwingend auch das Patriarchat in Frage. Genau das versucht jedoch unser Frauenkollektiv zu leisten, in dem ganz unterschiedliche Personen mitarbeiten: Theoretikerinnen, Frauen aus dem Gesundheitswesen, Kunsthandwerkerinnen, Soziologinnen.

Arienta: Ja, auch in Venezuela gibt es ähnliche feministische Programme. Aber meine eigentliche Arbeit besteht vor allem darin, Workshops für Frauen und Männer zu organisieren, um patriarchale Strukturen zu analysieren oder Genderfragen zu bearbeiten. Wir sind noch relativ wenige, aber die Idee ist es, auf diese Weise eine Reflexion und Selbstanalyse innerhalb der sozialen Bewegungen zu entwickeln. Darauf lässt sich hoffentlich aufbauen, um andere Situationen schaffen.

Das heißt, Sie outen Patriarchen und Machos nicht nur in den sozialen Bewegungen, sondern auch in den Radios. Gibt es da wirklich tagtäglich Konflikte?

Mina: Machismus gibt es leider überall. Zum Glück gibt es aber auch Inseln oder widerständige Orte, an denen ein anderes Miteinander existiert. La Tribu FM ist ein Stück weit eine solche Insel, auf der es sowohl in Gesprächen aber auch in der alltäglichen Praxis kaum Machismus gibt. Wenn ich als Technikerin in andere Radios gehe, werde ich manchmal aber schon schief angeschaut. Dass da eine Frau kommt und an der Studiotechnik herumschraubt, wird nicht von allen begrüßt. Es ist schon vorgekommen, dass mir Männer das Werkzeug aus der Hand genommen haben und mich loswerden wollten.

Und was machen Sie in so einer Situation?

Mina: Das hängt ein bisschen von der Situation ab. Ich fahre auch schon mal die Ellenbogen aus. Manchmal warte ich eher ab und zeige ihnen dann später wie es geht, wenn sie es alleine nicht hinkriegen. Es ist nicht einfach, dabei seine Rolle zu finden. Denn ich will ja auch niemanden entmündigen und akzeptiere die Prozesse anderer Kollektive. Als Frau von oben herabzusprechen wäre auch schräg.

Davalos: In Bolivien gibt es heute in vielen Radios, aber auch öffentlichen Einrichtungen bereits eine 50-50-Quotenregelung, um Ämter und Machtpositionen zwischen Männern und Frauen gleich zu verteilen. Doch ein allgemeines Umdenken hat längst noch nicht stattgefunden. Die Mentalität ist immer noch die gleiche. Die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse müssen weitreichender und auch im Alltag spürbar sein.

Arienta: Ja und oft gibt es auch eine Diskrepanz zwischen der Rolle von Frauen in sozialen Kämpfen oder den Radiokollektiven und ihren privaten Beziehungen. Oft treten die Partner öffentlich als als respektvolle Compañeros auf, und zuhause ist der Ton dann ein ganz anderer. Deshalb weisen wir in den Workshops immer wieder darauf hin, dass auch das Private politisch ist, denn es spiegelt den gesellschaftlichen Machismus in seiner gesamten Reichweite wieder.

Und wie ist das im Kleinen, in Ihrem Radio?

Arienta: Auch da werden Geschlechterrollen reproduziert, zum Beispiel bei der Verteilung von Aufgaben. Technikworkshops richten sich implizit immer an Männer. Denen fällt es allein einfach nicht ein, auch mal eine Frau zum Zusammenlöten eines Senders einzuladen. Umgekehrt höre ich von Männern oft, wenn wir für Community Radios gemeinsame Workshops zu Geschlechtergleichheit organisieren, “Wie schön, mal sehen ob eine unserer Frauen aus dem Radio Interesse hat mitzumachen …” Als ob so was nicht auch mal einen Mann interessieren könnte. Dem lässt sich nur entkommen, indem man unterschiedliche Möglichkeiten aufzeigt, Gender und Geschlecht zu leben. Die Vorstellung, es gäbe nur einen Typ Frau und einen Typ Mann, die müssen wir knacken.

Wie lebt es sich als Feministin in Venezuela? Dort füllt bekanntlich ein mächtig starker Mann das Präsidentschaftsamt aus. Hugo Chávez hat ja nicht nur die Demokratie gerettet, sondern gleich noch den Sozialismus des 21. Jahrhunderts auf den Weg gebracht.

Arienta: So einfach ist es nicht. Zunächst mal beanspruchen wir eine Autonomie, beim Denken und beim Entscheidungen treffen. Wir unterstützen den Prozess des gesellschaftlichen Wandels, aber der fing nicht damit an, dass Präsident Chávez eines Tages aufgewacht ist und gesagt hat: „Hey Leute, lasst uns die bolivarianische Revolution machen!“ Das ist ein Prozess, der Jahre vorher in der Bevölkerung seinen Anfang hatte. Die Regierung Chávez ist vielmehr eine Frucht dieser Anstrengungen.

Und wie ist das Verhältnis von Community Radios und Regierungen, von Autonomie und Kooperation?

Davalos: Radio Wayna Tambo bezeichnet sich als alternatives Community Radio. Das heißt, im Gegensatz zu vielen anderen Sendern akzeptieren wir keine finanzielle Unterstützung durch den Staat. Denn wir wollen nicht immer nur Beifall klatschen, sondern auch kritisch sein können. Wir stehen für Meinungsvielfalt und wollen, dass die Diskussion, die in unserer Community stattfindet, auch im Radio zu hören ist. Das ist für uns ein wichtiges Kriterium, an dem sich die Stärke eines Radios bemisst, nicht daran, wie viel Geld es mobilisiert oder welche politischen Kontakte es hat. Unser Radio alternativ zu nennen ist weniger eine konzeptionelle Spitzfindigkeit, sondern der Versuch, die unterschiedlichen Strömungen von Community Radios in der Praxis sichtbar zu machen.

Mina: Es ist unmöglich, als Radio außerhalb des Staates zu agieren, auch wenn wir das liebend gern tun würden. Denn wir leben und arbeiten mitten in Buenos Aires. Es ist schlicht unmöglich keinen Kontakt zu haben, gerade wenn man dem Staat kritisch gegenübersteht. Wir müssen ja ständig Sachen klarstellen, die nicht gut laufen, uns mit polizeilicher Repression auseinandersetzen, darauf hinweisen, wo das neue Mediengesetz nicht angewandt wird und Druck machen, dass es dazu kommt.

Und was passiert, wenn ein Radio Druck macht? Wie reagieren die Regierenden auf eine kritische Berichterstattung?

Arienta: Also direkte Reaktionen sind die Ausnahme. Einmal hat die Stadtverwaltung von Caracas einen Videoprojektor zurückverlangt, wahrscheinlich weil wir am Vortag über Foltervorwürfe auf einer Polizeiwache berichtet hatten. Aber das war ein Einzelfall.

Davalos: Ich glaube Kritik ist sehr nützlich, wenn sie konstruktiv ist. Der politische Veränderungsprozess der in Bolivien stattfindet ist unserer. Und deshalb ist es wichtig, mitunter auch die Regierung zu kritisieren. In Bolivien ist die Rechtsprechung leider noch immer ein mächtiger Verbündeter des Patriarchats, die eine Emanzipation der Frauen verhindert. Gewalt gegen Frauen wird vor Gericht noch immer nicht konsequent verfolgt. Davon reden wir im Radio und fordern auch die regierende Bewegung für den Sozialismus auf, sich diesem Problem zu stellen. Bisher geschieht jedoch zu wenig. Wir ermutigen deshalb beispielsweise vergewaltigte Frauen, zu regionalen Treffen des Regierungsbündnis zu gehen und dort in direkter Aktion das Wort zu ergreifen. Es ist unser Anspruch als alternativer Sender, auch politisch zu handeln, um konkrete Veränderungen zu erreichen. Nur im Radio zu kommentieren, das reicht nicht.

Infokasten: Compañeras im Radio

Es gibt in Community Radios keine Machos. Doch die gibt es. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist offen für kritische Medienstimmen. Nicht immer. Unabhängige Radios sind autonom und staatsfern. Das kann man diskutieren. So oder ähnlich sehen das zumindest Mariela Davalos, Sabina Mina und Ilaria Arienta, allesamt unabhängige Radiomacherinnen aus Südamerika. Im höchst gelegenen Sender arbeitet Davalos (Mitte). Vom bolivianischen El Alto aus organisieren sie und ihre Compañeras in Radio Wayna Tambo Programme “von Frauen für Frauen“ und für das allgemeine Publikum. Im wohl bekanntesten Community Radio Lateinamerikas, La Tribu FM in Buneos Aires tüftelt Sabina Mina (Rechts) als Technikerin mit. Am weitesten hörbar ist dagegen wohl Ilaria Arienta (links) vom Sender Libre Negro Primero, „dessen kritisches Programm Dank seiner geographischen Lage in ganz Caracas zu empfangen ist.“ Ende März berichteten die drei Radiomacherinnen auf der Linken Medienakademie (LIMA) in Berlin von ihrer Arbeit.

„Der kulturelle Wandel ist unumkehrbar“

Im Jahr 2011 gab es große Mobilisierungen in Chile. Auch wenn die Regierung kaum auf die Forderungen reagiert hat, welche Erfolge hat die Bewegung erzielt?
Camila Vallejo: Trotz ihrer Stärke und Vielfalt und der mehr als 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, die die Bewegung 2011 für ihre Forderungen bekommen hat, ist es innerhalb der Grenzen unseres politischen Systems, das ja aus der Militärdiktatur gewachsen ist, schwierig, die strukturellen und grundlegenden Forderungen umzusetzen. Die Bewegung hat nicht nur gefordert, dass der Bildung als Markt ein Ende bereitet werden muss, sondern sie spricht auch von einer Steuerreform und von der Wiederverstaatlichung des Kupfers. Bei keiner der Forderungen geht es nur um eine Korrektur des derzeitigen Systems. Einer der großen Erfolge der Bewegung ist, dass sich das Bewusstsein der Chilenen verändert hat. 2009, 2010 war das anders. Die chilenische Bevölkerung lebte individualistisch, konsumorientiert, apathisch. Heute glauben die Chilenen wieder an kollektive Aktionen, haben neue Hoffnung; viele haben die noch aus der Militärdiktatur stammende Angst verloren. Dieser kulturelle Wandel ist unumkehrbar.

Welche Strategien gibt es für das Jahr 2012? ?
Jorge Murúa: Wir sind bereits dabei, für den achten März zu mobilisieren, um das Jahr mit einer Demonstration am Internationalen Frauentag einzuläuten. Aber auch die Bürgerversammlungen werden eine Rolle spielen. Hier werden die Studierenden, die Arbeiter, die Indigenen, die Umweltbewegung und sogar die Kleinunternehmer koordiniert. Zudem ist 2012 ein Wahljahr und es gibt Kandidaten der Bewegung, um die Rechten von der kommunalen Ebene zu vertreiben.
Karol Cariola: Ich glaube, dass im Jahr 2012 nicht die gleiche Stärke an Mobilisierungen auf der Straße erreicht werden wird. Wir sind an einem Punkt, an dem vieles neu gedacht werden muss. Es ist eine Etappe der Reflexion, der Debatte und der Neuaufstellung, um die aus der Bewegung gewachsenen Organisationen zu stärken. Dazu gehören beispielsweise die Bürgerversammlungen. Aber auch der Verband der Studierenden Chiles, CONFECH, befindet sich in einem Diskussionsprozess und prüft, ob auch die privaten Universitäten in die Prozesse eingebunden werden können.

Wie wird die Regierung auf weitere Proteste reagieren? Im Moment soll ja mit einem nach dem Innenminister Hinzpeter benannten Gesetz die Repression verschärft werden.
Karol: Die Regierung hat immer sehr gewaltsam reagiert. Nicht nur mit physischer Gewalt bei den Demonstrationen, sondern auch mit politischer Gewalt. Ein Teil dieser Strategie ist das Hinzpeter-Gesetz, das unsere Mobilisierungen und die Anführer der Bewegung kriminalisieren soll. Damit sollen nicht nur Personen inhaftiert werden können, die an Besetzungen öffentlicher Gebäude teilnehmen, sondern alle, die zu dieser Art von Protesten aufrufen. Das gilt auch für nicht angemeldete Demonstrationen. Viele der Demonstrationen 2011 waren nicht angemeldet.
Camila, du hast dich dazu entschieden, nicht mehr mit der Tageszeitung La Tercera zu sprechen. Welche Rolle spielen die traditionellen Medien für die Bewegung?
Camila: Die großen Medien in Chile werden von zwei Konzernen dominiert, die nicht bloß ökonomische, sondern auch politische Interessen vertreten. Die Forderungen der Bewegung werden verfälscht und verkürzt; sie selbst wird kriminalisiert. Außerdem berichten sie über angebliche Streitigkeiten, die Bewegung sei gespalten, es gebe interne Konflikte und sie sei von der Kommunistischen Partei kontrolliert . Deswegen ist eine unserer Forderungen die Demokratisierung der Gesellschaft. Nicht bloß in Bezug auf die natürlichen und ökonomischen Ressourcen, die gerechte Verteilung dieser und der politischen Macht, sondern auch in Bezug auf die extreme Medienkonzentration.

Camila, du wirst immer als Anführerin dargestellt, was einerseits sicher von Vorteil ist, weil die Medien leider so funktionieren. Andererseits ist die Personalisierung auch eine Gefahr für die Bewegung . Wie siehst du deine derzeitige Rolle?
Camila: Oft ist es notwendig, dass es eine Führungsperson gibt, oder jemanden, der die Ideen einer Bewegung in die Öffentlichkeit trägt. Nichtsdestotrotz führt die Personalisierung dazu, dass Informationen stark manipuliert werden. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ursache für die Proteste des letzten Jahres in der Verfestigung des neoliberalen Modells liegt. Darüber wird aber nicht berichtet, im Mittelpunkt stehen persönliche Fragen. Ich werde sogar gefragt, wann das zu Ende sein werde, wann ich zufrieden sein werde! Wir lehnen diese Vorstellung ab, weil die Leute, die nicht so sehr mit der Bewegung verbunden sind, glauben, dass das Aufkommen dieser Ideen von den Anführern kommt. Die Bewegung und der zu Grunde liegende gesellschaftliche Prozess hängen nicht von einer Person ab. Die Bewegung ist nicht wegen mir entstanden und geht auch nicht mit mir zu Ende.
Karol: Das ist die einfachste Taktik, um soziale Bewegungen zu zerstören. Deswegen wird Camila auch so häufig kritisiert. Wir haben die Delegation daher auch so besetzt, wie sie ist. Wir haben hier allen Medien gesagt, dass wir nur zusammen Interviews geben. Wenn man sich die verschiedenen Artikel ansieht, fällt auf, dass in fast allen die Rolle der Delegation weggelassen wird und sich alles nur auf Camila konzentriert. Wir wussten, dass das so sein würde und haben uns trotzdem den Medien ausgesetzt. Wir lassen nicht zu, dass die Bewegung dadurch zerstört wird, dass man eine Anführerin kaputt macht. Besonders weil Camila dieser Idee immer treu gewesen ist. Sie hat sich immer hinter das Kollektiv gestellt.

Ihr habt die Kommunalwahlen im Oktober erwähnt. Wie werdet ihr euch in die Parteienpolitik einbringen, obwohl die Bewegung doch eine soziale Bewegung ist?
Karol: Ich glaube, hier muss genauer differenziert werden. Diese Bewegung ist eine breite, soziale und vielfältige Bewegung, der viele politische Strömungen angehören. Wir sind Repräsentanten einer politischen Strömung, einer Vision. Genauso gibt es andere politische Organisationen der Linken, des Zentrums, unabhängige, die allesamt einverstanden mit den Forderungen der Bewegung sind. Deswegen gibt es nicht nur eine Vision, wohin sich die Rolle der Bewegung im Bezug auf die Kommunal- und Präsidentschaftswahlen hin entwickeln soll. Jede Organisation des Prozesses hat ihre eigenen Ideen. Wir als Aktivisten der kommunistischen Partei sind Teil der Bewegung, nicht deren Besitzer.

Es gibt ebenfalls eine starke Repression gegen die Mapuche in Chile. Gibt es eine Position der CONFECH oder der Juventudes Comunistas zu diesem Thema?
Camila: Im Vergleich zu der studentischen Bewegung und allen anderen sozialen Bewegungen ist die Repression gegenüber den Mapuche sehr viel systematischer. Die Mapuche-Gemeinden werden militärisch unterdrückt, ständig gibt es Übergriffe, bei denen es zu Aggression und Gewalt gegen Kinder und Frauen kommt. Durch die Geschehnisse vom letzten Jahr haben sich unsere Verbindungen mit den Mapuche verstärkt. Es gab sie bereits vorher, aber seit 2011 ist die Föderation der studierenden Mapuche (FEMAE) aktiver Teil der CONFECH. So werden die Probleme der Mapuche sichtbarer und ihre Forderungen stärker in die Öffentlichkeit getragen. Die heutige Situation der Mapuche, die Kriminalisierung, Militarisierung, die verübten Morde, wird sonst verschwiegen.
Karol: Bereits 2010 gab es große Proteste für die Befreiung der politisch inhaftierten Mapuche. Eine ihrer Anführerinnen, Natividad Llanquileo, hat gerade Europa besucht, um auf die Situation der Mapuche aufmerksam zu machen. Zum Beispiel wurden einige ihrer politischen Anführer zu Gefängnisstrafen von bis zu 120 Jahren verurteilt. Das ist ein Ergebnis des Antiterrorgesetzes, das extrem kriminalisierend ist und das fragwürdige Beweismittel zulässt. Dazu gehören sogenannte anonyme Zeugen. In den Prozessen tauchten mehr als hundert solcher Zeugen auf, von denen niemand weiß, woher sie kommen oder wer sie sind, die aber die angeklagten Mapuche direkt beschuldigt haben. Außerdem waren einige bis zu zwei Jahre in Untersuchungshaft, bevor überhaupt irgendwelche Beweise gegen sie vorlagen. Diese Strafen werden den Mapuche auferlegt, nur weil sie Indigene sind, die ihr Land und ihre Rechte einfordern.

Im Januar gab es einen Skandal, als der Bürgermeister von Ñuñoa, Pedro Sabat, die Schülerinnen des Nationalen Mädcheninternats als Huren bezeichnete. Ist die chilenische Gesellschaft sexistisch?
Karol: Ja, insgesamt kann man das so sagen. Sabats Entgleisung zeigt aber auch, dass die Rechte jede Möglichkeit nutzt, um die Bewegung zu diffamieren. Das ist der gleiche Mechanimus der Demobilisierung wie der Versuch der Kriminalisierung durch das Hinzpeter-Gesetz oder wenn behauptet wird, dass sich in einigen besetzten Schulen Drogenhandel entwickelt hätte. Weil die Regierung sich nicht mit Argumenten verteidigen kann, bedient sie sich nun schmutziger Tricks. Sabats Verhalten zeigt, dass er verzweifelt ist.

In Lateinamerika existieren viele linke Bewegungen und Regierungen. Gibt es eine, die als Inspiration für Chile dienen kann?
Jorge Murúa: Der Prozess, den wir gerade in Chile erleben, ist durch und durch chilenisch. Was wir zunächst wollen, ist ein sozialer, ein demokratischer und ein solidarischer Staat. Ob wir dem Ganzen den Namen A, B oder C geben ist unerheblich, aber der Prozess muss für uns in eine Richtung gehen, die den Neoliberalismus überwindet. Diese Art von Staat können wir nicht auf einem Weg erreichen, wie ihn zum Beispiel Chávez in Venezuela gegangen ist. Wir hatten in Chile 17 Jahre eine Militärdiktatur, die das neoliberale Modell eingeführt und gefestigt hat. Deswegen müssen wir unsere Verfassung erneuern, die noch aus der Militärdiktatur stammt. Davon ausgehend werden wir unseren eigenen Prozess aufbauen, und wenn am Ende die verschiedenen Prozesse Lateinamerikas zusammenfinden, dann ist das gut.

Wie denkt ihr, hat sich das Bild von Chile in Europa durch die Proteste verändert?
Karol: In Chile wurde für lange Zeit versucht, ein Bild vom Land zu zeichnen, das sich von dem, was wirklich im Land passiert, sehr unterscheidet. Chile wurde als Bastion des Neoliberalismus in Lateinamerika gezeigt, von konstantem ökonomischem Aufschwung, mit dem die Armut verringert wird und so weiter. Chile ist außerdem Mitglied der OECD geworden, was sehr gelobt wurde. Das hat dazu geführt, dass das Bild von Chile in Europa sehr positiv war. Dementsprechend sind viele Menschen überrascht von der Realität, die die Bewegung ans Licht bebracht hat: die Diskriminierung, die fehlenden Möglichkeiten, das konstante Anwachsen der Ungleichheit.

Was sind Eure Eindrücke nach der Reise?
Karol: Ich glaube, unsere Schlussfolgerung nach der Reise ist, dass sich die Krise des Kapitalismus in allen Ecken der Welt auf die gleiche entmenschlichende Art ausdrückt. Selbstverständlich immer in Relation zum derzeitigen Modell; die Armut hier in Europa ist nicht dieselbe wie in Lateinamerika. Die Schwierigkeiten und Ungleichheiten treten auf unterschiedliche Weise zu Tage, aber der Mechanismus ist im Endeffekt der Gleiche. Wir möchten unsere Erfahrungen teilen und zeigen, wie das chilenische Modell ist, damit ihr in Europa nicht zulasst, dass hier das gleiche passiert. Damit ihr nicht zulasst, dass die sozialen Garantien und der Wohlfahrtsstaat aufgegeben werden.

Kasten:

Die Aktivist_innen (von links): Camila Vallejo (23) ist stellvertretende Vorsitzende der Studierendenvereinigung der Universität von Chile (FECH). Sie studiert seit 2006 Geographie. Von November 2010 bis Dezember 2011 war sie Vorsitzende der FECH und Sprecherin des Verbands der Studierenden Chiles CONFECH, in dem die Studierenden der traditionellen staatlichen Universitäten organisiert sind. // Karol Cariola (24) studiert seit 2005 Geburtshilfe an der Universität Concepción. In den Jahren 2009 und 2010 war sie Vorsitzende der dortigen Studierendenvereinigung. Seit November 2011 ist Karol Cariola Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Chiles. // Jorge Murúa (35) ist Mitglied der Leitung der Metallarbeitergewerkschaft CONSTRAMET sowie des Gewerkschaftsdachverbandes CUT. // Die drei Aktivist_innen bereisten Anfang Februar auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der GEW Deutschland, um über die soziale Bewegung in Chile zu berichten und sich mit deutschen Aktivist_innen auszutauschen.

„Wir können uns keine Fehler leisten“

Vielen Unternehmer_innen in Kuba geht es nicht schnell genug mit den Reformen. Warum mahnt Raúl Castro zur Geduld statt den Umbau der kubanischen Wirtschaft wie auf dem Parteitag beschlossen voranzutreiben?
Es passiert doch kontinuierlich etwas. Jede Woche gibt es eine neue Maßnahme, neue Bestandteile einer Reform. Am 20. Dezember wurde eine Maßnahme bekannt gegeben, am 23. Dezember eine weitere; nun am 4. Januar wieder eine – es geht schon voran, aber in kleinen Schritten.

In sehr kleinen Schritten, denn die Reform des Gesetzes 259, welches die Landwirtschaft im zweiten Anlauf wieder flott machen soll, wurde vertagt…
Die Entscheidungen sind gefallen, nur die Ausformulierung zum Gesetz scheint nicht fertig zu sein. Unstrittig ist, dass die Bauern das Land länger vom Staat zur Verfügung gestellt bekommen; unstrittig ist auch, dass die Bauern auf dem Land nun Häuser, Lagerhallen und dergleichen bauen dürfen. Es ist nicht so, dass hier nichts passiert. Vor ein paar Tagen sind Maßnahmen beschlossen worden, die den einkommensschwachen Schichten ermöglichen, Baumaterialien zu kaufen und ihre Häuser zu reparieren – dafür soll es auch Kredite geben.
Seit Monaten warten die Selbständigen in Kuba auf die Einrichtung von Großmärkten, um Arbeitsmaterialien zu kaufen. Warum lässt man die Leute so lange warten?
Die Leitlinien zur wirtschaftlichen Neuausrichtung reichen bis in Jahr 2015 und es gibt einen Zeitplan. Man will nichts überstürzen und es gibt Leitlinien, die schnell umgesetzt werden können wie die Aufhebung von Verboten, andere sind komplexer und brauchen mehr Zeit. Geplant ist aber, dass in den Jahren 2012 und 2013 die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden. Die wichtigsten Maßnahmen, so hat es Marino Murillo Jorge, der Beauftragte für die Umsetzung der Beschlüsse des Parteitags angekündigt, werden derzeit ausgearbeitet. Zudem hat es einige Maßnahmen in den letzten Woche gegeben, die für Schlagzeilen gesorgt haben – der freie Autoverkauf, der freie Hausverkauf, die ersten Maßnahmen in der Landwirtschaft, die Kreditprogramme…

Dennoch: Wenn man in Havanna mit Handwerker_innen und Selbständigen im gastronomischen Sektor spricht, fällt immer wieder das Wort Großmärkte. Warum gibt es die bisher immer noch nicht? Warum müssen die Selbständigen ihre Produkte zu Einzelhandelspreisen kaufen?
Bisher gibt es diese Märkte nicht, aber es wurden im Dezember die ersten Maßnahmen verabschiedet, die in diese Richtung gehen. Es soll einen Preisnachlass von 20 Prozent für Lebensmittel in Großhandelsmengen geben – zum Beispiel werden 5-Liter-Kanister mit Speiseöl und Mehlsäcke für die Gastronomie billiger.

Ein Schritt, aber noch keine Lösung.
Ja, aber man muss auch etwas Geduld haben, wie Raúl Castro mehrfach angemahnt hat. Alle Welt will einen schnellen Reformprozess, aber ich ziehe eine langsamen und dafür soliden Weg vor. Wir können uns keine Fehler leisten. Man muss auch bedenken, dass es bis heute keine Rückschläge gibt – keine Maßnahme wurde zurückgenommen. Es geht nur in eine Richtung.

Wie sieht es denn im Bereich der freiberuflichen Tätigkeit aus? Wird es in absehbarer Zeit Neuerungen geben?
Ja, es gibt neue Pläne, aber keine konkreten Zeitpunkte. Aber eine interessante Maßnahme gibt es. Die staatlichen Reparaturunternehmen sollen allesamt privatisiert werden. Das betrifft Elektriker, die Fernseher, Radios oder Uhren und Nähmaschinen reparieren. Aus diesen Bereichen wird der Staat sich zurückziehen. Bisher gibt es rund 340.000 erteilte Lizenzen für die Freiberuflichkeit in Kuba – diese Zahl soll weiter zunehmen und hat sich 2011 fast verdoppelt.

Wie steht es um die anvisierten Kredite von Seiten des Staates? Hat die Regierung ausreichend Kapital, um diese Kredite zu gewähren?
In nationaler Währung ja, in harten Devisen nicht. Mit den Krediten betreten wir Neuland, denn Kredite in nationaler Währung und in CUC, dem Devisenpeso, hat es bisher in Kombination nicht gegeben. Da muss sich das Banksystem vollkommen neu aufstellen.

Warum hat die Regierung in Havanna bisher die Angebote aus Brasilien und der EU nicht angenommen sich bei den Kreditprogrammen helfen zu lassen? Mehr als 20 Millionen US-Dollar wurden angeboten.
Es hat eine Reihe von Angeboten gegeben, aber die Regierung will anscheinend mit den eigenen Ressourcen zurechtkommen. Ob es zu einem späteren Zeitpunkt zu Kreditprogrammen kommen wird, die vom Ausland finanziert werden, muss man abwarten. Der Prozess geht etwas langsam voran, das ist richtig.

Welche Bedeutung hat die Bohrinsel, die seit einigen Wochen vor Kuba nach Öl bohrt?
Aus ökonomischer Perspektive keine, denn selbst wenn man Öl finden sollte, wird es mindestens fünf Jahre dauern bis gefördert werden kann. Aber natürlich gibt es eine große Hoffnung, dass Öl in kommerzialisierbarer Menge und Qualität gefunden wird. Sollte das eintreten, dann wird es auch Geld für die Förderplattformen geben. Kuba könnte zum Ölexporteur werden oder zumindest unabhängig von Importen und das wäre schon ein großer Schritt für die Erholung der Wirtschaft. Derzeit importieren wir ungefähr 50 Prozent unseres Erdölbedarfs.

Ist denn die Produktivität gestiegen? Es hat den Anschein, dass sich die Regierung schwer tut Maßnahmen wie die Legalisierung von kleinen Genossenschaften umzusetzen.
Grundsätzlich stellt uns hier die Alterung der Bevölkerung vor neue Aufgaben. Der Anteil der Jungen ist stark rückläufig und der Anteil der älteren Menschen steigt kontinuierlich. Wer soll dann für die Alten in Zukunft arbeiten? Wir müssen deswegen die Produktivität erhöhen, dazu gibt es keine Alternative. Das Genossenschaftsgesetz wird in diesem Jahr verabschiedet werden. Es betrifft den nicht-landwirtschaftlichen Sektor und kann einiges zu mehr Produktivität beitragen.

Gibt es ein konkretes Datum?
Nein, nein, konkrete Daten werden nie im Vorfeld bekannt gegeben.

Viele der Maßnahmen, die angedacht sind und in diesem Jahr umgesetzt werden sollen, kosten Geld. Wie steht es um die finanzielle Situation der Regierung?
Es gibt sicherlich nicht genug Geld, aber anders als früher setzt die Regierung auf eine restriktive Geldpolitik. Die hat es ermöglicht, dass das Gros der Schulden bei den Unternehmen, die in Kuba agieren, bezahlt wurden. 2009 wurden mehrere Konten eingefroren, weil Kuba in finanziellen Schwierigkeiten war. Diese Konten sind nun allesamt wieder frei und die Außenstände bezahlt. Derzeit gibt es die Leitlinie, Schulden zu zahlen, speziell die kurzfristigen Verbindlichkeiten mit China und anderen Ländern zu begleichen. Ohne die Bedienung der Schulden wird Kuba keine neuen Kreditlinien erhalten, so einfach ist das und deshalb versucht die Regierung besser zu wirtschaften. Wir wollen unsere finanzielle Situation verbessern, aber derzeit sind die Beträge, die ins Land kommen, noch zu gering.

Bis zum 1. April 2011 sollten eigentlich eine halbe Million Kubaner_innen in staatlicher Beschäftigung entlassen werden, um das Budget zu entlasten. Die Entlassungen wurden im Februar aber unterbrochen. Sollen sie wieder aufgenommen werden?
Sie wurden nie ganz eingestellt, aber es ist richtig, dass nie die Zielperspektive erreicht wurde. Es sind 127.000 Kubaner entlassen worden und ich bin der Meinung, dass man das eine mit dem anderen kombinieren muss – Reformen mit Entlassungen. Das ist genauso wichtig, wie die Löhne zu erhöhen. Natürlich ist es Ziel, die Unterbeschäftigung zu beenden, doch das geht nur graduell und sollte kombiniert werden mit Lohnanreizen. Ich glaube, dass wir in diesem Jahr etwas produktiver werden.

Wo sehen Sie die wichtigsten Herausforderungen? In der Landwirtschaft?
Da sind erste Ansätze zu sehen, es gibt einige Anbauprodukte, bei denen die Erträge gestiegen sind. Ich denke, dass es eminent wichtig ist, dass die Leute sehen, dass es vorangeht, dass sich etwas bewegt. Immerhin wurde mehr als eine Million Hektar Fläche an Klein- und Neubauern verteilt – da sollten sich Erfolge einstellen, denn grundsätzlich produzieren die privaten deutlich mehr als die staatlichen Unternehmen. Das liegt nicht nur an den Besitzverhältnissen, sondern auch an den Produktionsverhältnissen und den Strukturen. Wie organisieren sich die Bauern, wie verkaufen sie ihre Produkte und so fort. Das sind Herausforderungen, vor denen wir stehen, und wir müssen es schaffen, die Bauern zu animieren, die Erträge zu steigern. Zudem müssen wir auch Mittel für Investitionen generieren.

Woher sollen die kommen? Die Regierung hat kaum Mittel und die Investor_innen stehen nicht gerade Schlange.
Die Regierung sucht Investoren für Großprojekte und einige schreiten voran, wie der Ausbau des Hafens von Mariel, für den Brasilien Kredite gewährt hat. Der Ausbau der Raffinerie in Cienfuegos geht dank der Kredite aus China und Venezuela voran. Daneben gibt es kleinere Projekte, doch generell erwarte ich mehr Investitionen erst im Jahr 2013.

Die Bourgeoisie übt Sozialdemokratie

Am Ende machte der Favorit klar das Rennen. Wie erwartet wird Henrique Capriles Radonski als Präsidentschaftskandidat des venezolanischen Oppositionsbündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober Amtsinhaber Hugo Chávez herausfordern. Mittels offener Vorwahlen der MUD bestimmten die Wähler_innen am 12. Februar zudem zahlreiche oppositionelle Gouverneurs- und Bürgermeisterkandidat_innen für die im Dezember stattfindenden Regionalwahlen. Capriles, bisher Gouverneur des zentral gelegenen Küstenstaates Miranda, erreichte etwa 63 Prozent der abgegebenen Stimmen. „Ich möchte Präsident der Weißen, Grünen, Orangen, Roten und derer ohne Farbe sein”, sagte er nach Bekanntgabe seines Triumphes.
Den zweiten Platz belegte der Gouverneur des westlichen Bundesstaats Zulia, Pablo Pérez, mit etwa 31 Prozent. Die anderen Kandidat_innen blieben wie in den Umfragen vorhergesehen chancenlos. Die rechte Abgeordnete María Corina Machado erreichte vier Prozent, der Ex-Diplomat Diego Arria gut ein Prozent. Der Gewerkschafter Pablo Medina landete mit deutlich unter einem Prozent auf dem fünften Platz. Nach Bekanntgabe des Ergebnisses stellten sich die unterlegenen Kandidat_innen demonstrativ hinter den siegreichen Capriles. „Mein Freund, Du wirst der nächste Präsident Venezuelas sein“, sagte Pérez und sicherte dem Präsidentschaftskandidaten seine Unterstützung im kommenden Wahlkampf zu. Der Rückzug des ursprünglich sechsten Kandidaten zugunsten Capriles hatte dessen Ausgangsposition bereits im Vorfeld der Abstimmung verbessert. Leopoldo López, Ex-Bürgermeister des wohlhabenden Viertels Chacao im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas, tritt als Wahlkampfkoordinator seitdem an der Seite von Capriles auf.
Mit rund drei Millionen abgegebener Stimmen lag die Wahlbeteiligung laut Angaben des Wahlkommission des MUD bei knapp 16 Prozent. Gemessen an den 5,6 Millionen Stimmen, die die Opposition bei den Parlamentswahlen 2010 – ihrem bisher bestem Ergebnis – erreichte, beteiligten sich somit mehr als die Hälfte ihrer potentiellen Wähler_innen. Die hohe Wahlbeteiligung und vereinzelte Betrugsvorwürfe sorgten im Anschluss für Kontroversen über die Transparenz der Vorwahlen. Diese wurden durch den Nationalen Wahlrat CNE logistisch durchgeführt, die Kontrolle des Wahlablaufes, die Auszählung der Stimmen und die Verkündung des Endergebnisses oblag jedoch dem MUD selbst. Vereinbart war vorab, dass die in Venezuela gängigen Verfahren zur Vermeidung von Mehrfachvoten einzelner Wähler_innen nicht obligatorisch sind. Dazu zählen die Abgabe eines elektronischen Fingerabdrucks und die Verwendung unlöslicher Tinte. Bereits kurz nach der Vorwahl meldeten verschiedene Vertreter der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) ihre Zweifel an, ob die hohe Wahlbeteiligung mit rechten Dingen zu Stande gekommen sei. Parlamentspräsident Diosdado Cabello sagte, es sei aufgrund der Anzahl verwendeter Wahlmaschinen unmöglich, an einem Wahltag auf eine derart hohe Anzahl von Stimmen zu kommen. Jorge Rodríguez, amtierender Bürgermeister von Caracas und ehemaliges Mitglied im Direktorium des CNE, meldete ebenfalls Zweifel an und kritisierte die geplante Zerstörung der Wahlakten. Dennoch verbrannte die Opposition rasch die Unterlagen, so dass eine Überprüfung der Wahlen nun nicht mehr möglich sein wird. Sprecher_innen des MUD begründeten dies mit der Wahrung des Wahlgeheimnisses. Der CNE wies die Befürchtungen, das Wahlgeheimnis sei in Gefahr, als unbegründet zurück.
Pikant ist in diesem Zusammenhang zudem, dass die Opposition mit der Zerstörung eine vom Obersten Gericht (TJS) nach der Vorwahl erlassene einstweilige Verfügung offen missachtete. Der Vorkandidat für einen Bürgermeisterposten im Bundesstaat Yaracuy, Rafael Velászquez Becerra, hatte von Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess, wie zum Beispiel der Abgabe von Mehrfachvoten berichtet und den Antrag beim TSJ gestellt. Daraufhin hatte das Oberste Gericht angeordnet, die Wahlakten nicht zu zerstören. Der Vorstandssekretär des MUD, Ramón Guillermo Aveledo, kritisierte die Verfügung des Gerichtes als „verfassungswidrig und unverhältnismäßig“.
Letztlich bleiben die Vorwürfe im Raum stehen, werden aber wohl keine größeren Konsequenzen haben. Die meisten Politiker_innen des Regierungsbündnis schossen sich in ihren Statements nach der Vorwahl denn auch rasch auf Capriles ein. „Der Kandidat des Imperiums [der USA, Anm. d. Red.] hat nun ein Gesicht“, sagte Vizepräsident Elias Yaúa. Der Vizepräsident des Parlaments, Aristóbulo Isturiz, warf Capriles vor, Venezuela in die Situation bringen zu wollen, „die Europa gerade erlebt“. Der Oppositionskandidat stehe für „die Vergangenheit, weil er uns in den Neoliberalismus führen will“.
Der 39-jährige Capriles ist Sprössling einer Familie von Medienunternehmern. Der Jurist war Mitglied der früheren christdemokratischen Regierungspartei COPEI und später Mitbegründer der Partei Primero Justicia (Gerechtigkeit Zuerst), die unter anderem von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird. Er startete seine politische Karriere als Abgeordneter und war zwischen den Jahren 2000 und 2008 Bürgermeister des wohlhabenden Gemeindebezirks Baruta im Großraum Caracas. Während des Putsches gegen Chávez im April 2002 beteiligte sich Capriles angeblich an Aggressionen gegen die kubanische Botschaft. Er selbst behauptete hinterher, in der damaligen Situation nur vermittelt zu haben. 2008 gewann er die Wahl zum Gouverneur in Miranda gegen den heutigen Parlamentspräsidenten Diosdado Cabello.
Im Wahlkampf versuchte sich Capriles nun als Mitte-Links-Kandidat zu profilieren. Seine politischen Vorstellungen verglich er mit der Regierungszeit von Luíz Inácio Lula da Silva in Brasilien. Hatte die Opposition nach Chávez‘ erstem Wahlsieg 1998 jahrelang durch einen reinen Konfrontationskurs von sich Reden gemacht, setzte sich bei den Vorwahlen nun eine gemäßigte Linie durch. Im Wahlprogramm, das der MUD Ende Januar beschlossen hat, wendet sich das Oppositionsbündnis gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft wie Nationalisierungen, Preis- und Devisenkontrollen. Die Erdölproduktion soll mit Hilfe privater Investitionen erhöht werden. Die 1999 in Kraft getretene Verfassung erkennt der MUD ausdrücklich an, will aber die Rolle der Legislative und der bundesstaatlichen Kompetenzen gegenüber dem Präsidenten stärken.
Viele der Errungenschaften der Chávez-Regierung wie etwa die Sozialprogramme oder die basisdemokratischen Kommunalen Räte will die Opposition laut ihrem Programm nicht abschaffen, aber reformieren. In der Medienpolitik strebt sie eine Minimierung des staatlichen Einflusses an. Die hohe Kriminalitätsrate soll durch eine umfassende Entwaffnung der Bevölkerung und mehr Polizei gesenkt werden.
Capriles kündigte an, bis zu den Wahlen im Oktober „jede Ecke Venezuelas” zu besuchen und gibt sich in seinem Diskurs bisher betont moderat. Es gehe ihm darum, für Venezuela die „Tür zur Zukunft” zu öffnen. In dem „Omnibus des Fortschritts” sei Platz für alle, unabhängig der Zugehörigkeit zu einer politischen Strömung oder Partei. Während Chávez seinen Herausforderer als „Bourgeois” und „Kandidat des Imperiums“ bezeichnet, hält sich Capriles mit Beleidigungen bewusst zurück. Laut den Umfragen vor den Vorwahlen gilt Chávez als klarer Favorit bei den Präsidentschaftswahlen. Im Gegensatz zum Jahr 2006, als die Opposition weniger geeint auftrat und mit Manuel Rosales einen schwachen Kandidaten aufstellte, dürfte der Wahlkampf dieses Jahr jedoch spannender werden. Für Ungewissheit sorgt zusätzlich der Gesundheitszustand von Chávez, dessen Krebserkrankung im Juni 2011 öffentlich gemacht wurde. Zwar galt er vorerst für geheilt, Ende Februar musste sich der venezolanische Präsident in Kuba jedoch erneut einer Operation unterziehen.
Allem rhetorischen Geplänkel zum Trotz sind die Vorwahlen, die völlig frei und ohne größere Zwischenfälle abliefen, eine Bestätigung dafür, dass es um die Demokratie in Venezuela wesentlich besser steht als von der Opposition selbst und in den meisten Medien dargestellt. Ob sich die Opposition selbst durch den Wahlakt auch intern demokratisiert hat und darauf Verlass sein kann, dass sie einen Machtwechsel zukünftig ausschließlich im Rahmen der Verfassung anstrebt, ist dadurch jedoch noch nicht garantiert. Letztlich war es bei der Vielzahl der großen Egos in den Reihen der heterogenen Opposition pragmatisch betrachtet kaum möglich, auf andere Weise als durch eine Vorwahl die Präsidentschaftskandidatur zu bestimmen. Die früher üblichen Hinterzimmerabsprachen hätten zur Herstellung einer Einheit nicht getaugt. Noch fraglicher ist der progressive Anstrich, den Capriles der Opposition durch seine verbale Sozialdemokratisierung a là Lula verpassen will. Es erscheint allzu offensichtlich, dass es sich um eine Wahlkampfstrategie handelt, um Wählergruppen anzusprechen, die aus Unzufriedenheit mit der Chávez-Regierung eher nicht wählen gehen würden als ihr Kreuzchen bei der Opposition zu machen. Die nach wie vor ausgeprägte Korruption, die Ineffizienz staatlicher Politik in vielen Bereichen und die hohe Gewaltrate sorgen auch in den Reihen des Chavismus für Unmut. Nachdem der Konfrontationskurs der Opposition schon lange als gescheitert gilt, ist die Hinwendung zu einer moderaten Rhetorik, die auch soziale Ziele mit einschließt, nur folgerichtig. Darüber, dass sich hinter Capriles zu großen Teilen der private Unternehmenssektor, die alten Eliten und an den USA orientierte Konsument_innen versammeln, kann die Rhetorik allerdings kaum hinwegtäuschen. An den Vorwahlen konnte nur teilnehmen, wer in der Lage war, rund 230.000 US-Dollar Startgebühr aufzutreiben. Dass die offizielle Ausrufung des MUD-Kandidaten in der teuren privaten Universidad Metropolitana (UNIMET) organisiert wurde, passt taktisch nicht gerade zu dem Vorhaben, auch enttäuschte Chavistas für sich zu gewinnen.
Die selbst gesteckten Ziele scheinen indes auf beiden Seiten kaum erreichbar zu sein. Die Chavisten, die bei den Präsidentschaftswahlen 2006 mit 7,3 Millionen Stimmen das bisher beste Ergebnis für ihren Kandidaten eingefahren hatte, streben zur Mobilisierung, wie damals auch schon, 10 Millionen Stimmen an. Pablo Pérez gab sich im Namen der Opposition etwas bescheidener. „Das Ziel ist es, neun Millionen Stimmen zu erreichen, um die Präsidentschaft an Capriles Radonski zu überreichen”.

Warten auf María

Wassertropfen prasseln aus einer verkalkten Dusche monoton auf den gekrümmten Rücken eines alten Mannes. Eine Frau wäscht ihm Haare und Ohren. Ins Rauschen der Dusche mischen sich Rufe streitender Kinder.
So geht es zu am Morgen in der engen Wohnung von María (Roxana Blanco), in der sie zusammen mit ihrem Vater Agustín (Carlos Vallarino) und ihren drei Kindern lebt. Duschen und Anziehen helfen: María scheint dabei hin- und hergerissen zwischen Zärtlichkeit und Unmut über ihren Vater. Der Film beginnt mit der vollen Dosis schmerzhafter Ambivalenz, die familiäre Verantwortung mit sich bringen kann.
Mit faszinierender Beiläufigkeit inszeniert der Film den harten Alltag der überlasteten und unterbezahlten Frau. Marías älteste Tochter trägt längst so schwer daran wie die Mutter, geht traurig mit ihren zwei kleinen Brüdern zur Schule. Mal wieder konnte die Mutter ihr kein Geld für den Schulausflug mitgegeben. Die Kinder – wie immer vertröstet auf ein anderes Mal.
Als María in die Fabrik geht, für die sie als Näherin von zuhause aus arbeitet, macht sich Vater Agustín allein auf den Weg in die Stadt. Hilflos steht er in einem überfüllten Bus und fragt nach Straßen, durch die der Bus nie fährt. Er irrt durch Montevideo, bis es dunkel wird. Auf der Suche nach ihm streift auch María durch die regnerische Nacht. Und irgendwann taucht Agustín einfach wieder auf. Nestór, ein alter Freund von María, bringt den Orientierungslosen nach Hause.
Überfordert von Fürsorge und Angst will María den dementen Vater in einem Heim unterbringen. Doch die bittere Wahrheit auf dem Sozialamt: Sie ist zu arm, um sich einen Heimplatz für ihren Vater leisten zu können. Doch nicht arm genug, um Anspruch auf Unterstützung zu haben. In tiefer Verzweiflung lässt María ihren Vater einsam auf einer Parkbank zurück. Der Großvater sei nun im Krankenhaus, erklärt sie den Kindern. Ab jetzt werden die Gefühle von Sorge, Schuld und Verwirrung für beide Protagonist_innen erst recht zu einer stillen Hölle.
Kleinste Gefühlsregungen von María und Agustín fängt Regisseur Rodrigo Plá durch viele Großaufnahmen vor unscharfem Hintergrund ein. Und zeigt so, wie sich die Not der beiden auf dramatische Art und Weise zuspitzt. Der Film kommt fast ohne Musik aus. Stattdessen benutzt Plá Geräusche, um die Gefühlszustände zu verdeutlichen: Ein klapperndes Werbeschild, welches sich immer schneller in seiner Halterung dreht und dabei lauter und lauter wird, als sich María immer weiter vom Vater entfernt. Der verlassene Agustín hingegen sitzt wie in Schockstarre; so groß ist seine Angst, er könne die Rückkehr seiner Tochter verpassen. Das lange einsame Warten des Vaters auf seine Tochter wird aufgefangen von der tief empfundenen Sorge der Nachbar_innen. So treibt der Film die Beklemmung auf die Spitze.
La demora („Die Verzögerung“) ist der dritte Spielfilm des jungen Regisseurs Rodrigo Plá. Bei der diesjährigen Berlinale läuft der Film im Forum, das ganz im Zeichen globaler und individueller Krisen steht. Rodrigo Plá gelingt es in seinem Film, sehr eindringlich zwei persönliche Krisen zu zeigen, beide Protagonist_innen können in ihrer emotionalen Störung nicht mehr vernünftig handeln. Die überforderte Tochter kämpft mit ihrer Situation als alleinerziehende Mutter, während der Vater immer mehr verkümmert durch die Begrenzungen, die das Älterwerden mit sich bringt. Das Zusammenspiel dieser beiden krisengeschüttelten Personen wird auf eine harte Probe gestellt und droht ihre Beziehung in den Abgrund zu reißen.
Plá sagte über seinen Film: „Ich finde diese Geschichte hat die Möglichkeit, uns zutiefst zu bewegen, da hier ein sehr persönlicher Fall eines Konflikts thematisiert wird, den jeder von uns an einem Punkt in seinem Leben erfahren wird: die Auseinandersetzung mit der Altersschwäche der Eltern oder des eigenen Alters.“
Rodrigo Plá hat La demora seinem Vater gewidmet. Ein anrührender und sehr sehenswerter Film, der durch seine stille Erzählweise zum Nachdenken anregt.

La Demora („Die Verzögerung“) // Rodrigo Plá // 84 Minuten // Uruguay/Mexiko/Frankreich 2011 // Sektion Forum

Kasten: Weitere Berlinale-Filme aus Lateinamerika

In der Sektion Forum, dieses Jahr dem Motto „Alltag und Fantasie“ gewidmet, laufen zwei weitere argentinische Filme, die bis Redaktionsschluss nicht mehr rezensiert werden konnten. Für den Aufbruch einer jungen Generation von Filmemacher_innen im nordargentinischen Córdoba steht das Regiedebüt Salsipuedes („Geh raus wenn du kannst“) von Mariano Luque, das auf visionäre Weise von familiärer Gewalt gegen Frauen erzählt. Der Film handelt von Carmen und ihrem Ehemann Rafa, die ihre Ferien bei schönem Wetter und in angenehmer Umgebung auf einem Campingplatz verbringen. Dennoch können sie ihren Urlaub nicht genießen. Luques Film ist die Langfassung eines 44-Minüters, der letztes Jahr auf dem Festival in Cannes zu sehen war.
Der Dokumentarfilm Escuela normal („Normale Schule“) von Celina Murga wiederum beobachtet an einer Oberschule im argentinischen Entre Ríos, wie Jugendliche die politischen Muster der Erwachsenenwelt kopieren. „Meine Intention war, zu zeigen, was der Schulalltag heutzutage in Argentinien bedeutet und nicht nur, was Domingo Faustino Sarmiento (argentinischer Präsident von 1868 -1874, Anm.d.Red.) bei ihrer Gründung geplant hatte“, so die Regisseurin aus Paraná im Interview.

Im Panorama ist darüber hinaus die kolumbianische Produktion Chocó zu sehen, in dem der Regisseur Jhonny Hendrix Hinestroza von einer Frau erzählt, die sich zur Wehr setzt: Die Afro-Kolumbianerin Chocó (gespielt von Karent Hinestroza), wird in der gleichnamigen Provinz im Norden Kolumbiens durch die Gewalt des internen Konflikts und ihre Armut dazu gezwungen, mit ihrer Familie das Land zu verlassen.

Im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale 2012 (9. bis 19. Februar) läuft nur eine brasilianische Co-Produktion des portugiesischen Filmemachers Miguel Gomes. Tabu (Portugal / Deutschland / Brasilien / Frankreich 2011) erzählt die Geschichte einer temperamentvollen alten Frau. Ihre kapverdische Haushälterin und eine sozial engagierte Nachbarin leben im selben Stockwerk eines Wohnhauses in Lissabon. Als die alte Frau stirbt, lernen die beiden anderen eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit kennen – die einer leidenschaftlichen Liebe und eines Verbrechens im Afrika des Abenteuerfilms.

Zahlreiche lateinamerikanische Filme hingegen sind im Kurzfilmprogramm Berlinale Shorts zu sehen. Neben Loxoro der Peruanerin Claudia Llosa, die mit La teta asustada den Wettbewerb der Berlinale 2009 gewonnen hat, sind das La Santa (Chile) von Mauricio López Fernández, Licuri Surf (Brasilien) von Guile Martins und Nostalgia (Venezuela) von Gustavo Rondón Córdova.

„Meister sein ist nur ein Detail“

Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Viera de Oliveira – welch ein Name, schon wie ein Gedicht und erste Zeile eines Sambas. Und welch ein Fußballer! Fast kann man es schon nicht mehr glauben, dass die Welt – und Brasilien – auch solche Fußballer wie Sócrates hervorgebracht hat. Geboren in Belém im amazonischen Bundesstaat Pará, aufgewachsen in Riberão Preto im Staat São Paulo. Sohn eines Vaters, der Platon las und von einem Philosophen als Sohn träumte. Den griechischen Sokrates kennen wir nur durch Platons Schriften, aber in Brasilien war es dann andersrum: Sócrates las Platon – so sagt es wenigstens die Überlieferung.
Sócrates war Arzt und Fußballer und wurde deshalb auf dem Platz immer doutor gerufen. Er blieb stets dem Verein verbunden, mit dem er berühmt wurde: Corinthians, einer der drei großen Clubs von São Paulo. Aber ungewöhnlich für einen Fußballer ist Sócrates‘ Verbindung zur Politik. Anfang der 1980er – Brasilien stand noch unter dem Regime der Militärdiktatur (1964 bis 1985) – unterstützte Sócrates die Kampagnen für demokratische Direktwahlen, die sogenannte direitas já-Bewegung, und etablierte in seinem Club die democracia corinthiana, nach welcher alles im Verein per Abstimmung aller Beteiligten – Spieler, Trainerstab und Vereinsleitung – erfolgte. Die Fans von Corinthians, insbesondere die Gruppe der Gavioes da Fiel Torcida (Die treuen Habichte), waren schon seit 1969 durch Parolen gegen die Militärdiktatur aufgefallen. Aber 1982 verbündeten sich die rebellischen Fans mit einigen Spielern: Neben Sócrates spielten noch Vladimir, Zenon (noch ein griechischer Philosoph) und Casagrande eine wichtige Rolle. Sie verbanden das politische Engagement für Direktwahlen mit einer Politisierung des Fußballs. Sócrates selbst sagte über die Zeit: „Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Clubführung mitbeteiligt. Und das mit einem einzigartigen Gleichheitsniveau: Der einfachste Angestellte hatte das gleiche Gewicht wie der Repräsentant des Unternehmens, seine Stimme hatte den gleichen Wert. Es war alles sehr demokratisch. Diese Zeit war wunderbar und hat uns alle verändert. Die Personen, die in dieser Mikrogesellschaft involviert waren, haben ständig kommuniziert, jeder hat teilgenommen und mit entschieden. Die Neuen waren am Anfang wirklich verzweifelt: »Warum spricht hier niemand über Fußball?«“ Aber Fußball wurde gespielt und sehr erfolgreich – auch wenn die Democracia Corinthiana unter dem Slogan posierte: Meister zu sein, das ist nur ein Detail. 1982 gewannen sie die Meisterschaft von São Paulo.
Aber 1982 ging auch als eines der tragischen Jahre in die Geschichte des Fußballs Brasiliens ein: Das für viel Brasilianer_innen bis heute großartigste Team aller Zeiten spielte bei der WM 1982 in Spanien genial auf – und schied dann gegen die „0:0“-Spezialisten aus Italien aus. Sócrates, Falcão und – der wohl größte von allen – Zico sind die unvergessen Heroen dieser Tragödie, die sich 1986 durch die bittere Niederlage im Elfmeterschießen gegen Platinis Frankreich wiederholte. Sócrates und Zico präsentieren bis heute die brillianteste Epoche des brasilianischen Fußballs. Die Emotionen, die diese Teams (1986 war noch der geniale Júnior dabei) hervorgerufen haben, sind für viele unermesslich größer als die „kalten“, ergebnisorientierten Siege von 1994 und 2002: Im Gedicht „Das Angesicht von Brasilien“ heißt es:
„Brasilien Mauro Silva, Dunga und Zinho,
das Brasilien 0:0 und Weltmeister
oder das Brasilien, das auf dem Weg stehen blieb,
Zico, Sócrates, Júnior und Falcão“
Das Brasilien von Sócrates & Co war noch mitten auf dem Weg, es verkörperte die Zeiten der Hoffnung, der großen Möglichkeiten, den Traum, dass Schönheit und Erfolg zusammenpassen. Sócrates äußerte sich und agierte politisch links wie kaum ein anderer Fußballer von Weltrang, er stand ein für eine Praxis, in der soziale Gerechtigkeit und Fußball wundersame Symbiosen eingehen können. In den tragischen Momenten blitzte die Utopie eines Spiels auf, dessen Signifikanz weit über das Fußballfeld hinaus deutet. Sócrates gab dem brasilianischen Fußball, nach den Worten des Literaturtheoretikers und Komponisten José Wisnik „einen philosophischen Touch“.
Sócrates wirkte manchmal fast ungelenk, irgendwas war falsch: eine wandelnde Heuschrecke nannte Wisnik ihn, 192 cm lang bei nur Schuhgrösse 41, genannt Magrão (der Magere). „Gefährte des Biers, der Philosophie und des Schweißes“, so charakterisierte Wisniks berühmter Samba den brasilianischen Sócrates.
Ja, Gefährte des Bieres und des Weines, Sócrates hatte immer seinen alkoholisierten Hedonismus mit flotten Sprüchen verteidigt: „Bier ist mein bester Psychologe.“ Zum Ende seines Lebens muss ein vom Alkoholkonsum schwer gezeichneter Sócrates seinen Alkoholismus öffentlich bekennen.
Nach seiner aktiven Laufbahn als Fußballspieler betätigte sich Sócrates unter anderem als politischer Kommentator. Er schrieb eine regelmäßige Kolumne in der Wochenzeitschrift Carta Capital, die in kritischer Unterstützung zur Regierung des Ex-Präsidenten Lula da Silva (2003 bis 2010) und jetzt zu Dilma Rouseff stand. Sócrates blieb immer ein bekennender Linker, ein Bewunderer von Fidel Castro (ein Sohn heißt Fidel, und Sócrates selbst sagte einmal, er wäre gerne Kubaner) und Hugo Chávez. Sócrates träumte immer von einer Welt ohne Macht.
Politik und die Leidenschaft für Corinthians verbinden Lula und Sócrates, der sich zwar nicht parteipolitsch betätigte, aber doch in der Regierung Lula einen großen Fortschritt für das Land sah. Aber irgendwie gingen die Träume Sócrates in eine andere Richtung als die Lulas. In einem seiner letzten Interviews diese überraschende Vision: „Die Mobilisierung des Volkes ist fundamental. Wir haben zwei große politische Gruppen: die organisierten Fußballfans und die Bewegung der Landlosen (MST). Die Bourgeoisie fürchtet, dass diese Gruppen noch stärker werden. Stell dir mal vor – die größten Fangruppen in einer gemeinsamen Aktion, etwa gegen die Erhöhung der Eintrittspreise. Der Grad der Politisierung dieser Organisitionen wird unsere Zukunft bestimmen.“
Eine seiner letzten Ideen war, nach Venezuela zu gehen und für Chávez zu arbeiten. Dies brachte ihm eine überschwengliche Hommage des venezolanischen Präsidenten ein, der ihn als Verkörperung des Neuen Menschen sieht, der sogar Geschlechtergrenzen überschreitet: „Dr. Sócrates ist ein Beispiel des neuen Menschen und der neuen Frau, die wir so sehr in Lateinamerika und der Karibik brauchen.“
Wenige Stunden nach dem Tod Sócrates‘ am 4. Dezember 2011 wurde Corinthians brasilianischer Meister. Wie sein Leben ist das Timing der Fußballgötter voller Ambiguitäten. Wollten sie ihn für den Spruch „Meisterschaft ist nur ein Detail“ bestrafen? Wollten Sie noch einmal die fußballerische Tragik seines Lebens evozieren? Und den heutigen Fans von Corinthians eine Lektion erteilen: kein Triumph ohne Tränen. Wie dem auch sei, Sócrates wird‘s überleben.

Wahlbetrug trotz bester Aussichten

„Dafür, dass Ortega die Wahlen gewonnen hat, gibt es gute Gründe.“ Julio Zúniga ist Kleinunternehmer. In seinem Viertel im Zentrum Managuas hat er einen Auto-Waschdienst eröffnet, später kam ein Reifendienst und eine Werkstatt hinzu. Zúniga lässt keinen Zweifel an seiner Unterstützung für die Regierung des 65-jährigen Daniel Ortega, des einstigen Comandante der Revolution, der seit 2007 das Land wieder regiert. Dabei hätte er die besten Gründe, dem dienstältesten Politiker Nicaraguas zu misstrauen. In den 1980er Jahren, als Ortega die sandinistische Revolution führte, kam Zúniga dreimal ins Gefängnis: Er hatte an Kundgebungen der katholischen Jugend teilgenommen und kritisierte offen die Privilegien der Parteiführung.
Seit ihrer Wiederwahl im Jahr 2006 ist Ortegas Partei FSLN im permanenten Wahlkampf. Schamlos bedient sich die Partei dabei auch der staatlichen Institutionen: Ortegas Wahlwerbung findet sich in Gesundheitseinrichtungen, in Rathäusern und auf Müllautos. Die Werbung der oppositionellen Parteien war dagegen kaum noch wahrzunehmen. Andererseits präsentierte sich die FSLN während der starken Regenfälle in den Wochen vor der Wahl bemerkenswert unaggressiv als selbstlose Helferin, die sofort zur Stelle war.
Ortega erhielt fast 63 Prozent der Stimmen und lag damit weit vor dem konservativen Fabio Gadea mit rund 31 Prozent und dem liberalen Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán mit knapp sechs Prozent. Im Parlament stehen 60 Abgeordnete der FSLN insgesamt 30 Abgeordneten der Opposition gegenüber, was den Spielraum der Regierungspartei erheblich erweitert, denn ab einer Mehrheit von 57 Stimmen sind Verfassungsänderungen möglich. Hierin ließe sich ein Motiv für einen Wahlbetrug trotz des bereits in allen Umfragen soliden Vorsprungs für die FSLN erkennen.
Dass seine Kandidatur für diese Wahl überhaupt möglich wurde, verdankt Ortega einem der vielen juristischen und politischen Winkelzüge, die die FSLN seit der Regierungsübernahme vollzogen hat: Nachdem er im Parlament keine Mehrheit für eine Verfassungsänderung mobilisieren konnte, die ihm eine dritte Amtsperiode ermöglicht hätte, zog er kurzerhand den Obersten Gerichtshof heran, der wie alle wichtigen staatlichen Institutionen von der FSLN kontrolliert wird. Dieser erklärte den betreffenden Verfassungsartikel für ungültig.
Aber diese Tricks meint der Kfz-Meister Julio Zúniga nicht, wenn er von guten Gründen dafür spricht, dass Ortega die November-Wahlen gewonnen hat. Ortegas Politik ist für die meisten Nicaraguaner_innen auch inhaltlich attraktiver als die seiner Gegner: Die Kooperation mit den Ländern der Bolivarianischen Allianz für die Völker Amerikas (ALBA) ermöglicht Ortega einen finanziellen Spielraum von jährlich geschätzten 500 Millionen US-Dollar außerhalb des 1,4 Milliarden Dollar umfassenden Staatshaushalts, aus dem soziale Programme finanziert werden. Ungeachtet seines augenfälligen schwerwiegenden Machtmissbrauchs erkennen fast alle Nicaraguaner_innen die Verdienste der Regierung in den letzten Jahren an.
„Der Mann arbeitet gut“, meint Francisco Cruz, Kleinbauer im Departamento Matagalpa. Cruz hat sich von Parteipolitik stets fern gehalten und ist in der Basisbewegung „Movimiento Comunal“ organisiert. In seiner Gemeinde sind in Ortegas Amtszeit zwei neue Schulen entstanden, die Landstraße wurde verbreitert und asphaltiert, die bedürftigsten Familien haben Wellblech für ihre Dächer geschenkt bekommen und viele Frauen erhielten ein Förderpaket aus dem Programm „Null Hunger“ zur Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Das Nationale Technologie-Institut INATEC bietet Kurzausbildungen in Bereichen an, die in der Region von Nutzen sind, wie Handyreparaturen, Nähen oder Bedienung von Computern. Freiwillige der Sandinistischen Jugend leisten Erwachsenenbildung für die teils erst kürzlich alphabetisierten Bäuerinnen und Bauern. Angesichts dieser sehr konkreten Fortschritte in seiner Gemeinde tritt für Francisco Cruz der Zweifel an Ortegas demokratischer Redlichkeit in den Hintergrund.
Die Liste der Verbesserungen lässt sich fortsetzen: Die Energieversorgungskrise, die das Land vor Ortegas Amtsantritt lähmte, konnte mit dem Beitritt zum ALBA-Bündnis schnell überwunden werden. Darüber hinaus ist es eine Vielzahl sozialer Programme, mit denen Ortega das Land verändern will. Einige davon haben eindeutig assistenzialistischen Charakter: „Casas para el Pueblo“ ist ein Wohnungsbauprogramm, „Calles para el Pueblo“ sorgt für Straßenbau in benachteiligten Vierteln, beim „Plan Techo“ bekommen bedürftige Familien neues Wellblech für ihre Dächer geschenkt und das „Programa Amor“ kümmert sich um Straßenkinder in den Städten. Bei anderen geht es um eine Dynamisierung der Wirtschaft in den untersten Einkommensbereichen: „Usura Cero“ („Null Wucher“) unterstützt mit Mikrokrediten Frauen bei der Gründung von Kleinstunternehmen, der „Bono de Patio“ („Hof-Bonus“) soll landlosen Familien dazu verhelfen, mit Garten und Kleintierzucht zusätzliches Einkommen zu erzeugen, das erwähnte Programm „Null Hunger“ strebt die Dynamisierung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft an.
Die am häufigsten geäußerte Kritik an diesen Maßnahmen besteht in der parteilichen Auswahl der Begünstigten. Auch wenn die FSLN dies stets dementiert, kommt hier der traditionelle caudillismo zum Ausdruck: Ein populistischer Führer begünstigt seine eigenen Gefolgsleute.
Ortegas Regierung ist, entgegen einer verbreiteten Kritik, nicht einfach ein korrupter Populismus, der sich durch das Verschenken der Gaben aus Venezuela an der Macht hält. Die Wirtschaftspolitik ist zwar keineswegs links, aber konsistent und stellt sowohl die Gewerkschaften zufrieden, als auch den nationalen Unternehmerverband, den IWF und die ausländischen Investor_innen. Dass Nicaragua gleichzeitig Bündnisse mit den USA, der EU und dem ALBA eingeht, ist für den Präsidenten kein Widerspruch. Ortega geht es um die Diversifizierung der Handelspartner. Während die Steuereinnahmen den höchsten Stand in der Geschichte Nicaraguas erreicht haben, ist die Inflationsrate gering. Die Regierung stoppte die Politik der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen durch die neoliberalen Vorgängerregierungen. In jüngerer Zeit werden wieder Grundnahrungsmittel in die Nachbarländer exportiert. Es sind Großprojekte in Planung, wie der Bau eines Tiefseehafens an der Atlantikküste und einer Ölraffinerie, die Nicaragua in die Lage versetzen soll, Benzin und Diesel zu exportieren.
Trotz des vorteilhaften Ölgeschäfts mit Venezuela setzt Nicaragua auf Strom aus nachhaltigen Energien. Geothermie- und Windkraftanlagen sind bereits in Betrieb. Statistiken der Weltbank konstatieren ein Ansteigen der Exporte und ein Sinken des Anteils der Armutsbevölkerung von 65 Prozent im Jahr 2005 auf mittlerweile 57 Prozent. Der Ökonom Arturo Cruz lobt Ortegas „verantwortungsvollen Populismus“. Er bescheinigt der Regierung Ortega die Fähigkeit, drängende Fragen effektiv zu lösen und „sich selbst wie ein großer Bürgermeister zu präsentieren, der ein Ohr für die Belange der Leute hat.“
Heute stehen auch viele ehemalige Gegner_innen Ortegas hinter ihm. Julio Zúniga, in den 1980er Jahren politischer Häftling unter der FSLN, wundert sich über die kritische Haltung der ehemaligen Internationalist_innen, die damals die Revolution bejubelten: „Worüber regt ihr euch auf? Die Repression war doch damals viel schlimmer. Heute gibt es keine politischen Gefangenen, die Presse und Opposition wird zwar gelegentlich drangsaliert, kann aber im Wesentlichen tun und lassen was sie will.“ Dem ist nur bedingt so. Die FSLN sorgt mit bezahlten Schlägerbanden dafür, dass die Opposition sich mittlerweile kaum noch zu Demonstrationen auf die Straße traut. Die Polizei schaut bei diesen Übergriffen regelmäßig weg. Gleichzeitig hat jedoch der Druck auf die unabhängigen Nichtregierungsorganisationen nachgelassen. Es herrscht Resignation vor, auf Seiten der rechten und der linken Opposition.
Man kann Ortega und seiner Gattin Rosario Murillo das machtpolitische Geschick nicht absprechen. Die selbst ernannte „Zweite Etappe der Revolution“ hat aus den Problemen der Vergangenheit gelernt: Um die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen, musste die aus dem Contra-Krieg der 1980er Jahre entstandene gesellschaftliche Spaltung überwunden werden. Die traditionelle Kirche soll nicht als Gegnerin der FSLN dastehen, ebenso wenig die privaten Unternehmer_innen, aus denen sich mittlerweile auch die Führungsriege der FSLN rekrutiert. Weiterhin wird durch geschickte Spaltungs- und Kooptationspolitik die Opposition in Uneinigkeit gehalten.
All dies wurde mit politischen Zugeständnissen erkauft, die den Bezug auf die sandinistische Revolution von 1979 heute als bloßes Etikett der FSLN erscheinen lassen: Sie negiert den laizistischen Staat, die Interessen der Frauenbewegung, die Idee einer Demokratisierung der Gesellschaft und die von ihr selbst geschaffene Verfassung. Auch ihre antiimperialistische Propaganda steht im deutlichen Widerspruch zur politischen Praxis.
Dank einer langen Reihe taktischer Winkelzüge hält Ortega mittlerweile die Kontrolle über alle staatlichen Organe, mit Einschränkungen nur bei der Polizei und beim Militär. Dank der beim Wahlsieg vom 6. November hinzugewonnenen qualifizierten Mehrheit der Parlamentssitze kann er ohne Gegenwind regieren.
Durch die Zusammenarbeit mit der ALBA stehen Ortegas Regierung finanzielle Ressourcen zur Verfügung, die ihr einen politischen Gestaltungsspielraum verschaffen, von dem Ortegas Gegner_innen nur träumen können. Ebenfalls erfolgreich ist der Bezug auf Glaube und Spiritualität, deren Bedeutung mit der Verbreitung der evangelikalen Kirchen in Nicaragua noch zugenommen hat. Mag die politische Umwidmung religiöser Feiertage als grotesk erscheinen – bei vielen gläubigen Nicaraguaner_innen verfehlt sie ihre Wirkung nicht. Mehrheitsfähig ist in Nicaragua leider auch das generelle Abtreibungsverbot, das die Präsidentengattin Rosario Murillo, eine der mächtigsten Personen in Ortegas Regierung, nach wie vor offensiv propagiert. Was anfangs noch wie ein Wahlgeschenk an die Kirchen aussah, stellt sich heute als Ausdruck einer reaktionären, familien-orientierten Genderpolitik dar.
Den Anhänger_innen selbst scheint die Machtpolitik der FSLN, die vor allem in der Vermischung von Staat und Partei besteht, völlig unproblematisch: Sie begreifen beide als Instrumente einer Revolution, die sich selbstverständlich gegen ihre Gegner_innen durchsetzen muss. Die unzähligen freiwilligen Aktiven der FSLN handeln nach wie vor in dem Selbstverständnis, die Sache des Volkes gegen feindliche Kräfte von rechts und links zu verteidigen.
Auch wenn die autoritären Strukturen in der FSLN es nicht eben nahe legen, dass ihre Politik sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert – ihre Erfolge können die Wähler_innen überzeugen. Die vorsichtige, pragmatische Abkehr vom rein neoliberalen Wirtschaftsmodell, die multilaterale Bündnispolitik und die Förderung des ländlichen Raums erweisen sich als gangbare Alternative für ein Land, in dem die Perspektiven ansonsten rar sind.
Unter den gegebenen historischen Bedingungen hat Ortega in den letzten Jahren sehr klug gespielt, und es ist deutlich, dass es ihm dabei nicht, wie etwa dem Ex-Präsidenten Alemán, nur um seinen eigenen Profit ging. Er scheint seinen Machterhalt weniger als Geschäft, sondern eher als Mission zu verstehen.
William Rodriguez, Mitarbeiter des Sozialforschungsinstituts CEI und FSLN-Dissident seit den 1990er Jahren, sieht die Erneuerung der nicaraguanischen Gesellschaft aus der Parteibasis der FSLN selbst hervorgehen: „Irgendwann wird die sandinistische Jugend es satt haben, auf Befehl Fahnen zu schwenken und Laternenpfosten zu bemalen. Wer sich heute noch über die kleinen Privilegien freut, wird sich morgen über damit einhergehenden Denkverbote ärgern. Bis dahin ist Ortega leider der beste Präsident, den Nicaragua haben kann.“

Ein nachhaltiges Modell

Vor knapp zehn Jahren befand sich Argentinien auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftskrise. Wie haben sich seitdem die zahlreichen von Arbeiter_innen besetzten und übernommenen Betriebe, die sogenannten empresas recuperadas (EERR), entwickelt?
Die EERR entstanden in der Tat in der schlimmsten Krise Argentiniens. Als die ursprünglichen Besitzer die Betriebe schlossen und ihre Angestellten hinauswarfen, gab es kaum eine Möglichkeit, wieder Arbeit zu finden und das auch noch zu einem angemessenen Lohn! Also mussten wir uns selbst um Arbeit, unsere Gehälter und deswegen um den Betrieb kümmern – ohne Kapital, ohne Geld und nur mit dem Wissen über den jeweiligen Produktionsprozess.
Es waren dann zwei Stützpfeiler, auf die wir bauen konnten: Die Aufopferung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die soweit auf ihren Lohn verzichtet haben wie der jeweilige Betrieb das Geld brauchte. Zudem eine intelligente Politik der Arbeiter, die dafür sorgte, dass die Rohstofflieferanten die Betriebe als Kunden behalten konnten. Mit einem Startkapital von umgerechnet zehn Euro haben wir im Fall der Backfabrik Mil hojas nur von einem Tag zum nächsten Mehl gekauft, dann für fünf, irgendwann für 30 Tage und so weiter.
Die Mehrheit der EERR hat ihr Produktionsniveau heute verfünffacht im Vergleich zu der Zeit vor der Krise, als die Betriebe sich noch nicht in Besitz der Arbeiter befanden. Im Vergleich zur Krise hat sich das Niveau wahrscheinlich verhundertfacht, auch begünstigt durch die Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft.

Welche Aufgaben und Herausforderungen stehen für die EERR derzeit an?
Prinzipiell gilt es, dieses Modell zu festigen, das sich noch im Anfangsstadium befindet. Statt auszugrenzen, bietet es eine Antwort auf die strukturelle Krise des neoliberalen Kapitalismus. Wir wollen mehr als dass die Armut einfach ausgehalten wird. Arbeit soll wieder die Basis für ein würdiges Leben und soziale Inklusion sein. Wir zeigen, dass der Gesamtwert eines Betriebs neben dem Kapital aus den Menschen, dem Know-how, der Technologie besteht. Und dass das erwirtschaftete Geld egalitär unter den Arbeiterinnen und Arbeitern verteilt werden kann.

Werden immer noch Betriebe besetzt und instand gesetzt?
Ja, natürlich. Die Besetzungen waren keine Reaktion allein auf eine konjunkturelle Krise, sondern auf das strukturelle Problem neoliberaler Makroökonomie. Der Neoliberalismus zerschlägt jedweden gesellschaftlichen Sozialvertrag und geläufige Beschäftigungsformen. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist das Ergebnis dieser entfesselten Politik, in Lateinamerika wie in Europa. Was stellen sich die Europäer zum Beispiel vor? Eine Eurozone, eine Dienstleistungszone, eine Technologiezone, Unterstützung für einzelne Unternehmen – das kommt allerdings nur Wenigen zugute. Die restliche Politik besteht in Beihilfe für Arbeitslosigkeit oder verdeckter Subvention der Beschäftigung, die mit prekären Arbeitsverhältnissen einhergeht.
Die Perspektive, die den Arbeitern bleibt, sind neue Formen der Organisation und des Arbeitskampfes. Dabei kümmern sich die Arbeiter um die Produktion von Waren und Dienstleitungen und damit um die Schaffung von Wohlstand – auf Basis von Lohnarbeit, von Betrieben. Nicht nur in Argentinien übernehmen Arbeiter die Betriebe, sondern auch in Deutschland, Frankreich, Japan, den USA.

Wie erkennt die Präsidentin Cristina Kirchner Ihre Arbeit an, gibt es Unterstützung durch die Regierung?
Vor der Krise wurden wir durch die neoliberalen Regierungen unter Carlos Menem und Fernando de la Rúa in unserem Arbeitskampf wie Straftäter behandelt und unterdrückt. Seit der Krise und nach der Regierungsübernahme 2003 von Néstor Kirchner waren wir keinen Repressionen mehr ausgesetzt und wurden sogar in den Präsidentenpalast eingeladen. Das hat sich unter Cristina Kirchner fortgesetzt. In diesem Jahr gab es eine Gesetzesinitiative, die sehr bedeutsam für die EERR ist: die Veränderung des Konkursrechts zugunsten der Arbeiter, die nun alles der Produktion Dienliche selbstverwaltet weiter betreiben dürfen. Auch wenn die inzwischen etablierte Politik noch unzureichend ist und verbessert werden muss, so gab es zumindest hinsichtlich unserer Situation eine Drehung von 180 Grad.

Was bedarf es seitens des Staates?
Durch die unterdrückerischen und blutigen Diktaturen überall in Lateinamerika haben sich Strukturen und Mentalitäten durchgesetzt, die nicht so leicht aufzulösen sind, auch wenn sie aufgedeckt sind. Wir stellen uns einen Staat vor, der mit den Arbeits- und den sozialen Organisationen zusammenarbeitet, um die größte Herausforderung in Lateinamerika zu lösen: die soziale Inklusion. Diese schafft man über einen aktiven Staat, der Hilfe zur Selbsthilfe gibt. Denn jeder dieser Betriebe bedeutet Arbeitsmöglichkeiten und jeder Arbeitsplatz mehr, bedeutet einen ausgegrenzten Arbeiter weniger.

Gibt es auch Sektoren jenseits des Staates, mit denen die Zusammenarbeit gesucht wird?
Ja. Von Anfang an haben wir Beziehungen zu denjenigen gesucht, die vor Ort sind und Forschung betreiben oder mithelfen können. Mit mehr als 20 Universitäten haben wir Verbindungen zu EERR hergestellt. Aber es stellte sich heraus, dass die akademische Welt unsere Erwartungen nicht erfüllen konnte. 2008 gründeten wir dann in der Universität von Rosario einen Aufbaustudiengang „Soziale Ökonomie“ für Ingenieure, Anwälte und Buchhalter – alle aus verschiedenen Disziplinen, um ihnen etwas über solidarische Ökonomie zu vermitteln, über Kooperativen usw. So schufen wir uns selbst professionelle Quellen, die wir in die Unternehmen miteinbeziehen.

Wie wird die demokratische Partizipation in den EERR gesichert?
Das ist ein kompliziertes Thema. Formell gesehen sind wir 100 Prozent demokratisch. Dazu gehört aber auch ein Partizipationsprozess und in diesem haben wir immer noch ein klares Defizit. Das beruht auf kulturellen Bedingungen bei der Entstehung einer Kooperative: Wir sind ja nicht als Genossenschafter geboren worden. Vorher waren die Arbeitsbeziehungen ganz klar: auf der einen Seite der Chef und auf der anderen die Arbeiter.
Es ist tatsächlich eine der schwierigsten Fragen und wir mobilisieren alle notwendigen Kräfte und bitten um Hilfe bei verschiedenen Akteuren, um eine Basis zu schaffen, die auf der Partizipation der Arbeitenden beruht.

Wie läuft die Vernetzung zwischen den Unternehmen auf regionalem, nationalem und internationalem Niveau?
In den Neunzigern hatte niemand eine Antwort auf unsere Fragen. Wir haben schnell begriffen: Wenn wir nicht untereinander solidarisch sind mit denjenigen, denen dasselbe passiert, wird es nirgends eine helfende Hand geben. Deswegen bauten wir ein solidarisches Netz auf, das in Argentinien geholfen hat, 300 Betriebe wieder instand zu setzen. Durch den großen Einfluss, den dieses Netz hatte, geschah das Gleiche in Brasilien. In Venezuela haben wir 2005 ein Treffen mit Vertretern von EERR aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Venezuela, Bolivien, Peru veranstaltet. Im Rahmen einer internationalen kooperativen Allianz konnten wir fundamentale Verbindungen zu italienischen Kooperativen aufbauen und jetzt haben wir ein Netz über fast die ganze Welt gespannt. Heute werden wir gebeten, unsere Lösungsvorschläge in Ländern zu unterbreiten, in denen Unternehmen geschlossen werden.

Das Kooperativensystem stellt für Sie eine Alternative zum Neoliberalismus oder gar zum Kapitalismus dar?
Na klar! Es ist kein politisches Modell oder erfüllt eine ideologische Funktion. Es ist ein wirtschaftlich nachhaltiges Modell. Zum Beispiel hier in Argentinien gibt es Hunderte von Verbraucher-Kooperativen in den Bereichen Licht, Gas, Telefon, Internet usw. Problematisch ist eben nur, dass Genossenschaften kaum Außenwirkung haben, dadurch verlieren sie an Leistungsfähigkeit, an Kraft. Dass Kooperativen zu Krisenzeiten weniger entlassen oder gar neu einstellen können – darüber wird nicht gesprochen. Wenn man sich mehr über diese Wirklichkeit öffentlich austauschen würde, könnte man besser verstehen, dass durch eine andere Form der wirtschaftlichen Organisation Erfolg möglich wäre.

Welche Art von Unterstützung bräuchten die EERR besonders aus Europa?
Das Wichtigste ist, Verbindungen zwischen Universitäten, Gewerkschaftern und sozialen Bewegungen im Bereich von fairem Handel, nachhaltiger Landwirtschaft, Technologietransfer und auch der Forschung herzustellen, und auch, was zum Beispiel die Festigung der demokratischen Partizipation angeht: Welche ist die neue Rolle des selbstverwalteten Arbeiters?
Wir glauben, dass der sich in der Krise befindenden europäischen Ökonomie mit kooperativ organisierten Unternehmen geholfen werden könnte und wir sind bereit, unsere Erfahrungen bereitzustellen und Wissen auszutauschen. Wir können auch mit klein- und mittelständischen Unternehmen zusammenarbeiten, denn das ist der Unternehmenssektor, der dem Neoliberalismus am stärksten ausgesetzt wird. Ein kleines deutsches Unternehmen, das sich mit einem Multi an einen Tisch setzt, wird kein gutes Geschäft machen, mit jedwedem selbstverwalteten lateinamerikanischen Unternehmen schon eher.

José Abelli
stammt aus Rosario, Argentinien, und arbeitet zum einen für den genossenschaftlichen Dachverband IN.DA.CO, der sich um Markterschließungen für Kooperativen und Technologie und Know-how-Transfer zwischen Genossenschaften kümmert. Er ist verantwortlich für die spanischsprachige Region Lateinamerikas. Zum anderen arbeitet José Abelli für eine Kristallglasbläserei, wo er mit der Produktionsleitung und administrativen Aufgaben betraut ist. Er hat die Besetzung von Betrieben in und um Rosario von Anfang an begleitet, indem er sich für Vernetzung, Kredite und den Dialog mit der Gemeinde und Politik einsetzt.

„Das Recht auf Kulturerbe verjährt nicht“

Warum fordert die venezolanische Regierung den Stein Kueka nach mehr als zwölf Jahren zurück?
Richtig ist, dass wir bereits seit 2003 versuchen, den Stein zurück zu bekommen. Der Stein wurde 1998 vom damaligen Leiter der Nationalparkbehörde, Hector Mujica, dem Künstler Wolfgang Schwarzenfeld offiziell geschenkt. Am 30. Juli 1998 verließ der Stein den Nationalpark. Als die Pemón-Gemeinde sah, dass ein LKW den Stein Kueka abtransportierte, haben sie diesen gestoppt. Der Stein wurde daraufhin 6 Monate von der Nationalgarde festgehalten. Die Pemón haben sich an den damaligen Kongress gewandt und einige Parlamentarier setzten sich für die Annullierung der Schenkung ein, die am Ende jedoch vom Kongress bestätigt wurde. Seit 1971 besteht aber ein Nationalparkgesetz, das Venezuela im Rahmen Internationaler Abkommen zum Naturschutz, aber auch zum Schutz des Kulturerbes unterzeichnet hat. Nach diesem Gesetz hätte ein öffentlicher Beamter, wie der damalige Leiter des Nationalparks, gar keine Schenkung entscheiden dürfen. Ich möchte jedoch vor allem betonen, dass es neben den rechtlichen und diplomatischen Feinheiten in diesem Fall zunächst um das Recht eines Volkes auf sein Kulturerbe geht. Ein Recht, das nicht verjährt. Ginge es hier nur um Rechtsfragen, dann könnten wir auch die Kolonisierung Lateinamerikas als legal beschreiben. Immerhin hat die damalige höchste Rechtsinstanz, der Papst, Spanien und Portugal seine Einverständnis erteilt.

Nun behauptet der Künstler jedoch, die Pemón hätten ihm ausdrücklich die Ausgrabung und Ausfuhr des Steins erlaubt. Lügt der Künstler?
Nehmen wir an, er sagt die Wahrheit. Wir waren nicht dabei und können es nicht widerlegen. Trotzdem ist ebenso wahr, dass ein Volk sein Kulturerbe zurückfordert. Die Pemón sagen, dass der Künstler ein paar Mitglieder der Gemeinde bezahlt hat, um den Stein zu bergen. Es hat zwischen 1999 und 2003 viele Demonstrationen der Pemón-Gemeinde vor der deutschen Botschaft in Caracas gegeben. Vom Einverständnis der gesamten Gemeinde kann also nicht ausgegangen werden.

Welche Schritte hat die venezolanische Regierung denn unternommen, um den Stein zurück zu bekommen?
Es hat 2003 von unserer Seite aus eine offizielle Anfrage an die deutsche Regierung gegeben. Die venezolanische Botschaft in Berlin hat mehrere diplomatische Verbalnoten an das Kanzleramt und das Auswärtige Amt geschickt. Bis heute hat die venezolanische Regierung darauf keine offizielle Antwort erhalten. 2004 hat dann der Künstler Forderungen gestellt. Als erstes hat er eine Entschuldigung des venezolanischen Volkes gefordert. Er fühlte sich moralisch beleidigt. Dann wollte er einen Tausch des Steins vorschlagen und forderte zusätzlich eine Million Euro. Er wollte dieses Geld zwar für eine Stiftung mit sozialen Zielen, aber in erster Linie ging es ihm doch um persönliche Interessen. Im Moment warten wir weiterhin auf eine offizielle Antwort der deutschen Regierung. Wir sind jedoch dabei, in Gesprächen Alternativen zu finden. Der venezolanische Staat übernimmt gegenüber den Pemón die Verantwortung. Obwohl eine andere Regierung verantwortlich war, sind wir ja immer noch derselbe Staat. Konkret bieten wir der Bundesregierung an, die Kosten für die Rückkehr des Steins nach Venezuela zu übernehmen.

Der Bildhauer Wolfgang Schwarzenfeld wirft der venezolanischen Regierung einen Propaganda-Coup vor. Auch venezolanische Künstler und Kulturschaffende kritisieren die politische Vereinnahmung der Kunst. Ihrem Ministerium wird vorgeworfen, die Förderung von Künstler- und Kulturprojekten streng an ideologische Überzeugungen zu knüpfen. Der Sender Deutschlandradio Kultur zitierte im August Héctor Manrique, Direktor des international bekannten Theaterkollektivs Grupo Actoral 80. Er behauptet, ihm seien nach einer Aufführung eines Werkes des Chávez-Kritikers Mario Vargas Llosa die Mittel gestrichen worden. Gibt es im Sozialismus des 21. Jahrhunderts eine neue politische Zensur?
Venezuela erlebt heute vielleicht seine größte kulturelle Blütezeit. Das sage ich nicht nur, weil es das Ergebnis unserer Politik der Förderung durch öffentliche Institutionen und den Staat ist. Es gibt eine Vielzahl privater Einrichtungen, mit unterschiedlicher politischer und ideologischer Ausrichtung, die sich künstlerisch ausdrücken und sich dabei vollkommen frei entfalten können. Die künstlerische Arbeit in Venezuela hat sich unter unserer Regierung verzehnfacht und dabei unsere Kulturproduktion obendrein demokratisiert. Sie hat die Mittelvergabe demokratisiert. In diesem Punkt haben andere Institutionen Fehler gemacht. Zum Beispiel das Ateneo in Caracas (u.a. Spielstätte des Grupo Actoral 80, Anm. des Interviewers). Das Ateneo ist eine private Stiftung, die wie ein Monopol die staatlichen Mittel der Kulturförderung verwaltet hat. Dies hat andere Projekte von Förderungen ausgeschlossen. Heute erhält das Ataneo keine öffentliche Förderung mehr. Dafür erhalten sie private Mittel und niemand schränkt sie in ihrer Arbeit ein.

Was verstehen Sie denn unter „kultureller Blütezeit”?
Noch nie wurden in Venezuela so viele Bücher wie heute veröffentlicht, noch nie wurden so viele Bücher verschenkt. Alleine in Caracas gibt es fünf Buchmessen. Alle sind voll mit Besuchern, auch die in den Stadtteilen der Opposition. Bis vor fünf Jahren, haben die internationalen Verlage, zum Beispiel Planeta aus Spanien, gesagt: Venezuela ist ein Land der Nichtleser. Der Buchmarkt war extrem klein. Heute widerrufen diese Verlage ihre Aussage. Leonardo Milla, der vor kurzem verstorbene Besitzer des bedeutenden spanisch-venzolanischen Alfa-Verlages, hat sich vor seinem Tod öffentlich über das venezolanische Phänomen gewundert. Plötzlich lesen die Leute Geschichte, Philosophie und Belletristik, und der Verlag kann nun 5000er Auflagen drucken lassen, ohne sich darum zu sorgen, ob sie sich verkaufen. Wie ist das möglich? Durch die Verfolgung des freien Denkens? Nein, durch die Demokratisierung und die Politisierung des Landes durch Regierung und Opposition gleichermaßen.
Das Recht des Bürgers auf Kultur hat in Venezuela Verfassungsrang. Das hat uns erlaubt, unser kulturelles Spektrum zu erweitern. Es ist klar, dass es bei der Durchsetzung des Rechts auf Kultur Meinungsverschiedenheiten gibt, die in erster Linie davon abhängen, welche Regierung an der Macht ist. Das ist normal.

Ihr Vorgänger im Amt des Kulturministers, Francisco Sesto Novás, sagte: „die Kultur muss revolutionär sein.“ Denken sie auch, dass die Kunst eine politische Richtung haben muss, um gefördert zu werden?
Wir kommen aus einer Situation, in der ein Teil der Gesellschaft gegen die Institutionen des Staates gekämpft hat. Sie haben keine staatliche Institution mehr anerkannt, nicht die Verfassung, nicht die Gesetze, nicht die Wahlen. Das hatte natürlich Konsequenzen auf die Politik. Es gab einen Moment, in dem sich der Staat von diesen Sektoren distanzieren musste. Obwohl ich damals nicht Minister war, kann ich mir vorstellen, dass dabei auch viele Kunstschaffende ihren Einfluss im Kulturministerium verloren haben. Das ist aber ein sehr großer Unterschied zu einer Politisierung der Kunst.
Allerdings denke ich, dass Kultur immer auch eine soziale und kollektive Funktion erfüllt. Niemand, oder zumindest die wenigsten, schreiben ein Gedicht, um danach das Papier, auf dem es geschrieben wurde, in einer Zigarette zu rauchen. Normalerweise ist es doch gerade der Antrieb der Künstler, ihre Werke öffentlich zu machen. Genau deshalb ist für mich jede künstlerische Produktion auch politisch, zumindest im weitesten Sinne des Begriffs. Ich glaube alle Produktionen haben eine politische Orientierung und es ist gut, dass diese unterschiedlich sind. Was ich hingegen nicht gelten lasse, ist eine politische Naivität der Künstler, zu sagen, ich habe etwas geschaffen, das nichts mit meiner mich umgebenen Welt zu tun hat. Generell drückt der Künstler doch seine Gegenwart aus. Und er drückt diese auch politisch aus, ohne das notwendigerweise explizit zu machen oder sich darüber bewusst zu sein. Ich sage aber auch deutlich, dass jedwede Form der Kunst wichtig und legitim ist. In der venezolanischen Gesellschaft, und ich habe nicht den geringsten Zweifel das zu sagen, ist jedwede Kunst willkommen.
Zum Beispiel haben wir im Theater Teresa Careño in Caracas vom Kulturministerium neulich die Koproduktion der Aufführung des Musicals „The Sound of Music” übernommen. Die radikale Linke hat mich daraufhin kritisiert, die Aufführung eines in den USA uraufgeführten und geschriebenen Musicals mit öffentlichen Geldern zu unterstützen. Natürlich hätte es auch andere Möglichkeiten gegeben. Am Ende soll aber der Zuschauer entscheiden und nicht ich. Was ich aber nicht mache, ist öffentliche Gelder für Theaterstücke freizugeben, die den Sturz der venezolanischen Regierung fordern.

Eine öffentliche Förderung eines Theaterstücks nach Vorlage von Chávez-Kritiker Mario Vargas Llosa wäre also kein Problem?
Nein, wir importieren doch auch Bücher von Vargas Llosa nach Venezuela. Das Problem ist vielmehr, dass diese, genauso wie die Werke von Gabriel Garcia Marquez, unglaublich hohe Lizenzgebühren kosten. Wir wollten über die öffentliche Filmförderung eine Verfilmung von Garcia Marquez‘ „Der General in seinem Labyrinth” finanzieren. Eine Million Euro hätte uns das an Lizenzgebühren gekostet. Nur für einen Film. Davon können wir fünf Filme produzieren.

Pedro Calzadilla
ist seit Mai 2011 Kulturminister Venezuelas. Als Professor der Geschichtswissenschaft lehrte er an der Zentraluniversität in Caracas (UCV). Zudem leitete er das Nationale Zentrum für Geschichte (CNH).

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

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