Ein nachdenklicher Badespaß

Ein sanftes Plätschern. Eine leichte Brise. Dazu das gleichmäßige Rauschen des Meeres. Das sind die Geräusche, die einen während des gesamten Films begleiten. Gemeinsam mit dem Drehbuchautor Abel Arcos setzt der Regisseur Carlos M. Quintela die Zuschauer_innen an den Rand des Schwimmbeckens, um den gemütlichen Sommertag gemeinsam mit Esteban (Raúl Capote) und seinen Schwimmschüler_innen zu verbringen. Diese haben es inmitten ihrer Pubertät sowieso schon nicht leicht: Diana (Mónica Molinet) fehlt ein Bein, Rodrigo (Felipe García) ist gehbehindert, Oscar (Carlos Javier Martínez) weigert sich schlichtweg zu sprechen und Dani (Marcos Costa) hat das Down-Syndrom. Trotzdem treffen sie sich jeden Tag am Pool, schwimmen und verleben so ihre Sommerferien.
La Piscina erzählt keine dramatische oder atemberaubende Geschichte. Ihre Held_innen müssen weder gefährliche Abenteuer überstehen noch packende Extremsituationen meistern. Nein. In etwas mehr als einer Stunde wird lediglich der Alltag dieser gesellschaftlichen Außenseiter_innen gezeigt. Eigentlich ist das auch schon genug. Sie müssen schließlich mit nichts Geringerem als ihren eigenen Schwächen und Unsicherheiten, Sehnsüchten und Träumen fertig werden. Gerade in dieser Natürlichkeit und Einfachheit liegt der Reiz und die Genialität des Filmes.
Diana ist innerhalb der kleinen Truppe die beste Schwimmerin und drängt sich stets in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch bei Anwesenheit der anderen Jugendlichen ohne Behinderung wird sie plötzlich ganz still. Merklich eingeschüchtert, fast ängstlich, beobachtet sie sie. Trotzdem setzt sie sich nach einer Weile fast demonstrativ an den Beckenrand. Zusammen mit Rodrigo tuschelt sie über Oscar und macht sich offen über seine Stummheit lustig. Dafür steht Dani Oscar treu zur Seite und tröstet ihn, als Diana es mal so richtig übertreibt. Esteban beobachtet sie, mischt sich nur selten ein. Was er wohl denken mag? Während der langen Porträtaufnahmen bleibt dem Publikum viel Zeit und Raum zur Interpretation von Blicken, Gesten und Mimik. Es werden viele Fragen aufgeworfen, die nie beantwortet werden. Denn die Zuschauer_innen sind nur Beobachter_innen und lernen die Jugendlichen nur in dem Maße kennen, wie sie es innerhalb eines Tages auch tun würden.
Die Zuschauer_innen werden dazu angeregt, einen näheren Blick auf diese fünf unterschiedlichen Persönlichkeiten zu werfen. So simpel es von außen scheinen mag, herrscht in der kleinen Gruppe eine komplexe Dynamik: Sie verlieben sich, necken sich, wollen sich messen und sind neidisch – genau wie andere Jugendliche in ihrem Alter. Sie suchen Zuneigung und Verständnis. Vor allem aber brauchen sie einen geborgenen Raum, der ihnen Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Das Schwimmbad ist der Ort, der sie zusammenbringt und wo sie schwerelos lachen und genießen können. Hier ist Diana die schnellste und begehrteste. Hier ist Dani ein Meister an und für sich, unabhängig von seiner Mutter. Rodrigo findet hier Nähe und Akzeptanz. Genau wie Oscar hat er in seinem Trainer einen Verbündeten, der ihn versteht.
Quintelas erster Langspielfilm ist voller Ruhe und atmosphärischer Gelassenheit. Man verlässt den Kinosaal, als ob man gerade selbst einen ganzen Tag am Pool verbracht hätte. Wer gerne Action, Spannung, Drama oder lautes Gelächter mag, der sollte sich lieber etwas anderes suchen. Wer aber gerne still und leise beobachtet und sich aus Blicken, wenigen Worten und kurzen Gesten sein ganz eigenes Bild machen will, für den ist der Film genau das Richtige.

La Piscina („Das Schwimmbad“) // Carlos M. Quintela // 65 Minuten Kuba/Spanien/Venezuela // Sektion Panorama // Spanisch mt englischen Untertiteln

Umbruch, Übergang und Wandel

Eigentlich eine gute Nachricht: Auf der diesjährigen Berlinale gibt es so viele Weltpremieren von lateinamerikanischen Filmen wie selten. Da die Rezensionen der Filme jedoch erst nach der Weltpremiere erscheinen können, wurde der diesjährige Berlinale-Schwerpunkt der LN leider kürzer als sonst.
Umbruch, Übergang und Wandel lautet das Motto in der Festival-Sektion Forum 2013, das sich sowohl auf die Gesellschaft als auch auf das Individuum bezieht. Hier ist zum Beispiel die Weltpremiere Matar extraños (Mexiko/Dänemark) von Jacob Secher Schulsinger und Nicolás Pereda zu sehen. Am Beispiel der mexikanischen Revolution will dieser Film die Inszeniertheit jeder filmischen Geschichtserzählung deutlich machen. Ebenfalls eine Weltpremiere ist La Paz (Argentinien) von Santiago Loza. Der Streifen handelt von einem jungen Mann, der nach der Entlassung aus der Psychatrie und der Rückkehr ins Elternhaus versucht, sich wieder in den Alltag einzuleben. Beinah erstickt von der Liebe seiner Mutter, sucht er Halt bei seiner Großmutter und der bolivianischen Haushälterin. Für Kunstliebhaber dürfte Hélio Oiticica (Brasilien) von Cesar Oiticica Filho ein besonderer Leckerbissen sein. Aus Archivmaterial, Tonspuren und Musik stellt der Neffe des 1980 verstorbenen brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica eine beeindruckende visuelle Collage zusammen.
Im Wettbewerb wird 2013 nur eine Koproduktion aus Lateinamerika gezeigt: Gloria (Chile/Spanien) unter der Regie von Sebastián Lelio (La Sagrada Familia, Navidad, El año del tigre) mit Paulina García und Sergio Hernández. In dem Film geht es um die 52-jährige Gloria und ihre Suche nach Liebe und Zärtlichkeit im Alter.
„Wir-Gefühle in der Ich-Gesellschaft“ präsentiert die Kinder- und Jugendfilmsektion Generation. In Princesas Rojas (Costa Rica/Venezuela) von Laura Astorga Carrera flüchten Claudia und ihre Schwester mit den Eltern, sandinistischen Aktivist_innen, vor den Unruhen in Nicaragua ins benachbarte Costa Rica. Immer unterwegs, führen die Mädchen ein unbeständiges Leben. Und ihre Familie kommt nicht zur Ruhe. In AninA (Uruguay/Kolumbien) von Alfredo Soderguit erhält ein Mädchen als Strafe für eine Pausenhofrangelei einen mysteriösen Brief. Der Animationsfilm erzählt in reicher Bildsprache von Freundschaften, Kinderängsten und ersten leisen Liebesgefühlen. La Eterna Noche de las Doce Lunas (Kolumbien) von Priscila Padilla Farfan widmet sich der indigenen Gemeinschaft der Wayuu, wo Mädchen vor der Pubertät für zwölf Monde abgeschottet werden. In dokumentarischer Qualität erzählt der Film, wie sich die junge Pili auf ihre Rolle als Frau vorbereitet.
Die Sektion Panorama spannt in diesem Jahr einen weiten Bogen: Deshora (Argentinien/Kolumbien/Norwegen) von Barbara Sarasola-Day erzählt die Geschichte von Ernesto und Helena, die fernab der Großstadt im Gebirgsdschungel des Nordwestens von Argentinien wohnen. Ihre Ehe wird erst mit der Ankunft von Helenas Cousin Joaquín belebt, der nach einem Drogenentzug von seiner Mutter zu ihnen geschickt wird. Ebenfalls eine Weltpremiere ist Workers (Mexiko/Deutschland) von José Luis Valle González. Der Film zeigt auf durchaus humorvolle Weise die Ungerechtigkeiten, denen Arbeiter_innen in Mexiko ausgesetzt sind. Zwei von ihnen finden einen Ausweg: Rafael, der seit 30 Jahren in einer Glühbirnenfabrik putzt, und Lidia, eine von sieben Hausangestellten bei einer reichen Mexikanerin, deren ganzes Leben sich nur noch um ihren Hund „Princesa“ dreht. Das Coming-of-age-Debüt Tanta Agua (Uruguay/Mexiko/Niederlande/Deutschland) von Ana Guevara Pose und Leticia Jorge Romero ist die Momentaufnahme einer Familie, deren Mitglieder zwar in unterschiedlichen Lebensphasen stecken, Unsicherheit und Verzweiflung aber ganz ähnlich erleben. Die vierzehnjährige Lucía muss mit ihrem kleinen Bruder und dem von der Mutter geschiedenen Vater eine Woche Urlaub in einem verregneten Ferienort verbringen. Hin- und hergerissen zwischen ihrer Rolle als Kind und als Teenager erlebt sie eine unglückliche erste Liebe. In Habi, la extranjera (Argentinien/Brasilien) von María Folerencia Alvaréz fährt Analía im Auftrag ihrer Mutter nach Buenos Aires. Bald soll sie aufs Land zurückkehren und den Friseurladen der Familie übernehmen. Doch eine Adressverwechselung führt sie zu einer muslimischen Gemeinde, und von der neuen fremden Welt gebannt, beschließt sie kurzerhand, die Rolle einer anderen Person zu übernehmen. Zum ersten Mal öffentlich wird auch Narco Cultura (USA) von Shaul Schwarz gezeigt. Er widmet sich der Musik, die die mexikanischen Drogenbosse, die narcos, verherrlicht und bietet einen verstörenden Einblick in eine Region, in der die Friedhöfe prächtiger sind als die Städte.
Auch das Kulinarische Kino zeigt als einen von 16 Filmen über Essen und Umwelt einen lateinamerikanischen Film. In Perú sabe: La cocina, arma social wird die von Ferran Adrià und Gastón Acurio gegründete Kochschule und die Kochbegeisterung der peruanischen Jugend vorgestellt. Anschließend bereitet Kolja Kleeberg mit Berliner Kochauszubildenden ein peruanisch inspiriertes Menü zu.

Wenn die Medien schweigen, sprechen die Wände

Lateinamerika hat im letzten Jahrzehnt seine politische Gestalt deutlich verändert, mehr Mitte-Links-Regierungen als jemals zuvor prägen die Weichenstellungen auf dem Kontinent. Dazu gehören auch gesetzliche Neuregelungen der Medienlandschaft, deren Wurzeln ökonomisch und juristisch oft in den Zeiten der Militärdiktaturen liegen. Venezuela, Argentinien und Bolivien sind drei von mehreren aktuellen Beispielen, in denen neue Mediengesetze entstehen oder bereits verabschiedet wurden und auf erbitterten Widerstand der betroffenen Medienkonzerne stoßen.
„Konflikte um die Kontrolle der Medien haben in den vergangenen Jahren zugenommen und politische Auseinandersetzungen werden zunehmend über die Medien und mit Medien als zentralen Akteuren ausgetragen“, heißt es dazu im Vorwort. Das selbst gesteckte Ziel der „Interdisziplinarität und Heterogenität“ der Beiträge zu diesem Thema können die Herausgeber_innen des Bandes sehr erfolgreich einlösen. Neben der regionalen und politischen Vielfalt der Länderauswahl reicht die Bandbreite von der Auseinandersetzung mit Medienpolitik bis zum Interview mit der Medienaktivistin eines Basisradios in El Salvador.
Einen wichtigen Beitrag liefert Malte Daniljuk, der detail- und faktenreich Medien und Medienpolitik in Venezuela analysiert und der hierzulande zumeist polemisch geführten Debatte über Zensur in Venezuela eine Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung gibt. Einen anderen Aspekt beleuchtet der Artikel Wenn die Medien schweigen, sprechen die Wände, in dem Fabian Unterberger Gegenöffentlichkeit und Repression in Honduras beschreibt. Nach dem Putsch 2009 griffen dieselben Mechanismen wie in den Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre: Zensur, Schließung von Sendern, Repression gegen Journalist_innen bis hin zum Mord. Denn die Auseinandersetzung um die Neugestaltung der Medien in Lateinamerika darf nicht vergessen lassen, dass in vielen Ländern Pressefreiheit immer noch nicht existiert.
Im zweiten Teil des Bandes kommen nach einer kritischen Analyse der deutschen Auslandsberichterstattung auch diejenigen zu Wort, die in Deutschland für „andere“ Informationen über Lateinamerika sorgen. Neben Redakteur_innen des Nachrichtenportals amerika21.de und des Nachrichtenpools Lateinamerika npla, schildert Tobias Lambert in seinem Beitrag Kritische Solidarität seit 1973 die Lateinamerika-Berichterstattung in (West-)Deutschland am Beispiel der LN.

Lateinamerikagruppe Marburg (Hrsg.) // Medien und Demokratie in Lateinamerika // Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe: Manuskripte 95 // Berlin 2012 // 16,90 Euro // www.rosalux.de

Neuer Sozialismus oder alter Hut?

Demokratie, Partizipation, Sozialismus – im Bannkreis dieser Werte unternimmt das gleichnamige Buch den Versuch, eine Bestandsaufnahme des Transformationsprozesses in Bolivien, Ecuador und Venezuela zu geben. Was hat der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ soweit gebracht? Mehr Demokratie? Mehr Partizipation? Oder ist die neue sozialistische Realität in Lateinamerika alter Wein in neuen Schläuchen und trägt eher Zeichen des real existierenden Sozialismus früherer Tage mit Hang zum Staatskapitalismus und Ein-Parteien-Herrschaft?
Das Buch gibt Antworten auf diese Fragen. Zunächst führen drei theoretische Beiträge die Leser_innen in die Thematik ein. Dann äußern sich bolivianische, ecuadorianische und venezolanische Autorinnen und Autoren über die Situation in ihren Ländern. Und da Sozialismus in Lateinamerika nicht ohne die kubanische Erfahrung denkbar ist, befassen sich die zwei letzten Beiträge mit den Lehren aus der jüngeren Geschichte der Insel.
Die Einleitung von Miriam Lang macht klar, dass das Buch „als Beitrag zu einer Vertiefung der Transformation des Weltsystems [verstanden werden soll], die ohne Verschiebungen im globalen Norden wenig Chancen hat.“ Aufklärung in Form von Reziprozität tue Not. Allerdings erschöpfe sich diese nicht im gegenseitigen Lernen. Vielmehr gehe es darum, „im jeweils eigenen Kontext Transformationen voranzutreiben, die zueinander komplementär sind und dem Vormarsch des Rohstoff-Neokolonialismus Einhalt gebieten.“
Wie das gehen kann, zeigen die beiden anderen theoretischen Beiträge. Boaventura de Sousa Santos sieht in der Plurinationalität den entscheidenden Beitrag zur Demokratie. Die plurinationale Gemeinschaft sei der Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaft. Anders als in jener koexistierten in dieser mehrere Nationalitäten in gegenseitiger Anerkennung und machten sich die freizirkulierenden, unterschiedlichen Wissensformen zunutze, um das Buen Vivir im Ökosozialismus zu verwirklichen. Eduardo Gudynas beschreibt ergänzend das Buen Vivir als das gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum und somit als etwas, das sich des Kapitalismus entledigt und vom Kolonialismus befreit hat.
In den Länderbeiträgen wird unisono das Spannungsfeld zwischen progressiven Elementen der Transformation und der Gefahr des Staatsdirigismus thematisiert. Historisch bedeutsame Anstöße wie die Verabschiedung der neuen Verfassungen in Bolivien und Ecuador oder die Sozialprogramme in Venezuela gäben Mut. Gleichzeitig schüre manch autokratisches, wenig Opposition zulassendes und auf eine Führungsfigur zugeschnittenes Regierungsgebaren die Furcht, alte Fehler erneut zu begehen. Warnend schreibt Raúl Prada in seinem Bolivien-Beitrag, „dass, als die Bolschewiki die Macht ergriffen, sie damit den Staat zerstören wollten, aber […] am Ende einen noch dominanteren Staat geschaffen haben.“ Gegen diese Gefahr, aber auch gegen das Verharren in einem kolonialistischen Staatsmodell, das sich in einem Neo-Extraktivismus ausdrücke und die Partizipation breiter Bevölkerungsteile verhindere, schreiben die Beiträge an. Gleichzeitig sensibilisieren sie für die Probleme der politischen Alltagsarbeit, in der indigene Vertreter_innen nach wie vor diskriminiert würden.
Das Buch ist gut strukturiert, spannend und horizonterweiternd. Insbesondere die Einrahmung der Länderbeiträge durch die theoretische Einführung und den Bezug auf Kuba, geben dem_r Leser_in das Gefühl, allumfassend und facettenreich über die Thematik informiert zu werden. Eine anspruchsvolle, aber empfehlenswerte Lektüre.

Miriam Lang // Demokratie, Partizipation, Sozialismus – Lateinamerikanische Wege der Transformation. Manuskripte Bd. 96 // Karl Dietz Verlag // Berlin 2012 // http://www.rosalux.de/publication/38509

Chávez wiedergewählt

An der Endhaltestelle der Metrolinie 1, Propatria, steht ein großes Einkaufszentrum mit viel unverkleidetem Beton, dahinter windet sich das Viertel die Hänge hoch, Straßenhändler_innen und Transportverkehr bestimmen das Bild. Hier in Catia, einem der bevölkerungsreichsten Viertel von Caracas, gelegen am nordwestlichen Stadtrand der Millionenmetropole, sieht man die Veränderungen: Jahrelange Bauruinen sind inzwischen fertiggestellt und bewohnt. Dazu die ganz neuen Komplexe der Misión Vivienda, dem landesweiten Wohnungsbauprogramm. Straßen werden verbessert, zentrale Plätze in den armen Vierteln gestaltet, um den Aufenthalt schöner zu machen.
Beim Wahlkampfendspurt erschien Venezuelas Präsident Hugo Chávez bei vier von sechs großen Mobilisierungen in einer Woche persönlich. Am Montag war er hier in Catia. Entlang der Metrolinie und auf den umliegenden Hängen leben arme Hauptstadtbewohner_innen, kein bewohnbarer Raum bleibt dort ungenutzt. Betonklötze treffen auf selbstgebaute Häuser, breiter Asphalt auf enge, zum Teil unbefestigte Straßen, Straßenhändler_innen auf Einkaufspassagen – alles vereint sich zu einer Gesamtheit.
Wann Chávez erscheint, ist nach Ort und Zeit ungenau angekündigt. Ohne erkennbare Regie sind irgendwann Menschen und Gruppen auf den Beinen, die durch T-Shirts, Kappen oder mitgeführte Gegenstände als „Chavistas“ erkennbar sind. An verschiedenen Orten wachsen provisorische Bühnen aus dem Boden, Musik dröhnt, Parolen werden gerufen und die ersten Reden gehalten. Und vor allem wächst die Menschenmenge in den Straßen unaufhörlich. Manche erklettern Häuserfassaden, Balkone, Dächer, Kioske, um einen besonderen Platz zu ergattern. Der Auftakt des Umzuges von Chávez fand vor dem Einkaufszentrum Propatria in Gegenwart auch von internationaler Presse statt. Dann fuhr Chávez auf der offenen Ladefläche eines LKW, von Regierungs- und Parteimitgliedern begleitet, durch die Straßen, an den Bühnen vorbei, wo sich Massen von Anhänger_innen schon versammelt hatten. Reden wurden von Aktivist_innen der Basis gehalten, Chávez zeigte sich nur und schon brach Begeisterung aus. Die Stimmung ist – wie immer – wie auf einem Fest, kommunikativ, spielerisch, Scherze fliegen hin und her und erkennbar sind die Leute erfüllt von großer persönlicher Sympathie für den Präsidenten.
So ging die Woche weiter. Am Mittwoch mehrere Tausend Menschen bei einer Demonstration zur Unterstützung von Chávez in Ciudad Guyana, dem Zentrum der Schwerindustrie, organisiert von den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiter_innenbewegung. Im Wahlaufruf der venezolanischen Bewegung für Arbeiter_innenkontrolle wird Chávez als Politiker beschrieben, der „mit der Wucht, Leidenschaft und Aufsässigkeit der karibischen Indigenen und afrikanischen Schwarzen, die keinerlei Beherrschung akzeptieren“, agiert.
Abends ein Treffen von Chávez mit der organisierten Jugend im Poliedro, einem Stadion am südwestlichen Rand der Hauptstadt. Mehr als 20.000 Jugendliche aus den armen Vierteln, zur Popkultur hingezogen und zu explosiver Begeisterung fähig. Ohne nachzulassen wird stundenlang großzügig unerschöpfliche Energie rausgehauen. Als Chávez schließlich redet, ist das eine ungekünstelte Interaktion, die keine Anschleimerei an die Jugend nötig hat. Er hat seine Herkunft aus den einfachen Verhältnissen nie abgelegt und hier liegt die Grundlage, dass ihm die Kommunikation mit seinen Anhänger_innen immer gelingt.
Am Freitag in der Universitätsstadt Mérida mit etwa 300.0000 Einwohner_innen, im Anstieg der Anden gelegen, eine der größten Massenkundgebungen, die die Stadt je gesehen hat. Auch hier spricht Chávez zu seinen Anhänger_innen. Gleichzeitig wird in Caracas eine Demonstration organisierter Frauen für seine Wiederwahl durchgeführt. Unter der Parole: „Die Misiones gehören dem Volk und sind mit Chávez“ haben für den Samstag schließlich Mitarbeiter_innen und Teilnehmer_innen der Misiones, zu einer Massendemonstration und Kundgebung in Caracas aufgerufen. Sie vertreten, dass ihre weitere Arbeit nur unter einer Fortsetzung der Regierung Chávez möglich ist. Bei den Misiones handelt es sich um die zahlreichen Sozialprogramme der Regierung. Zur gleichen Zeit tritt Chávez im Bundesstaat Trujillo vor einem unüberschaubaren Publikum auf.
Warum hat die Mobilisierungskraft nicht nachgelassen? Álvaro García Linera, Mitglied der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) und Vizepräsident Boliviens, hat schon Ende 2009 vorausgesagt, dass nur diejenigen Regierungen wiedergewählt werden, „die den Übergang zu einer gesellschaftlichen Veränderung entschlossen angehen“. Dies entspreche dem Willen der Bevölkerung und sie beteilige sich aktiv. Die fortschrittlichen Regierungen müssten die Transformationsprozesse in Lateinamerika sogar noch beschleunigen, um die Zustimmung im Volk zu behalten. Die unverbrauchte Zustimmung erklärt sich also trotz der negativen Erscheinungen, die anhaltend sind. Chávez selbst spricht immer wieder von Ineffizienz und Bürokratismus, die die Umsetzung von Programmen behindern. Zudem ist die Partei der Regierung, die PSUV, keine Organisation von Revolutionär_innen. Sieben Millionen Mitglieder nominell, beherbergt die Partei eine Masse von Mitläufer_innen, die auf Vorteile im Berufsleben oder anderer Art hoffen.
Der Kandidat des rechten Oppositionsbündnisses MUD (Tisch der Demokratischen Einheit), Henrique Capriles, liefert traditionelle Wahlkampfauftritte ab, wie es in repräsentativen Demokratien üblich ist. Er greift auf das Handwerkzeug der Imageberatung zurück und verspricht Großes: für die nächsten sechs Jahre eine Million neue Arbeitsplätze und mehr „Sicherheit“ innerhalb eines Jahres. Was in Europa in der Regel auf gelangweilte Resignation stößt, ist in Venezuela bereits zu einem Fremdkörper geworden. Nach 14 Jahren Politisierung, ernsthaften, enthusiastischen Programmdebatten und Partizipation der Bevölkerung ist die öffentliche und permanente Diskussion um soziale und politische Programme, um die Veränderung der Gesellschaft und Sozialismus, eine Realität geworden.
Bei den Auftritten von Capriles, bei denen er wenig spricht, soll vor allem ein jugendlicher, kraftstrotzender Kandidat gegen einen kranken Chávez präsentiert werden. Inhaltlich gibt er sich als gemäßigter und volksnaher Rechtspolitiker, der die sozialen Errungenschaften der letzten zwölf Jahre Chávez-Regierung durchaus anerkennt und beteuert, dass er die wichtigsten Sozialprogramme nicht wieder abschaffen würde, nur ihre Finanzierung durch die staatliche Erdölgesellschaft PdVSA. Im Gegenteil, er werde als Präsident diese Programme erst effektiv zum Laufen bringen. Die Linke versage bei der Umsetzung.
Selbstverständlich würde es unter seiner Regierung „keine Enteignungen“ und „keine Konfiszierungen“ (von gehorteten Waren, die aus politischem oder geschäftlichem Kalkül einen Mangel hervorrufen sollen) mehr geben. Und er lehnt die neuen Wirtschaftsbeziehungen ab, die Venezuela im Rahmen des ALBA-Bündnisses eingegangen ist. Diese Beziehungen orientieren sich an Komplementarität und Solidarität und sollen die traditionellen und ungleichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den entwickelten Industrienationen und dem Süden ablösen. Capriles hat außerdem angekündigt, die Großverträge mit den globalen US-Konkurrenten Russland und China zu „überprüfen“.
Geplante Wahlkampfauftritte von Capriles in den Barrios von Caracas mussten abgesagt werden, weil die Bewohner_innen klar machten, dass er in ihren Vierteln unerwünscht ist. Wenn die rechte Opposition auftauchte, um – ohne Capriles – durch die Viertel zu ziehen, stieß sie auf friedliche, aber massive Ablehnung und wurde von den Bewohner_innen regelrecht verschrien. Die Berichte von angeblich „bewaffneten Chavistas“, die Auftritte von Capriles verhindert hätten, sind Propaganda der Rechten. Unter den Barrios ist nur eines, in dem die Opposition bei den vergangenen Wahlen eine Mehrheit erzielte. Petare liegt am östlichen Rand von Caracas, direkt gegenüber einem der reichsten Viertel. Capriles wendet sich hier in subkulturellem Stil an seine „Brüder und Schwestern“. Sicher hat er genügend Stoff, um Frustrationen der „natürlichen Basis“ des Chavismus zu nutzen. Es gibt Mängel in der Gesundheitsversorgung, die Probleme mit der Strom- und Wasserversorgung, eine hohe Kriminalitätsrate und häufige Verzögerungen von Lohnzahlungen. Seine Botschaft an die Bewohner_innen: Die Chávez-Regierung biete keine Lösungen, sie wolle stattdessen „die Menschheit retten“ und sei nur daran interessiert, „dass ihr revolutionäres Projekt voranschreitet.“ Capriles versteht nicht, dass die Unterschichten in ihrem politischen Denken zwar Skepsis, aber nicht Zynismus kennen.
Die Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft und der Klassenkampf haben in den 14 Jahren bolivarianischer Revolution kaum nachgelassen. Der Wahlkampf und die dazu gehörende öffentliche Debatte um eine neoliberale „verdeckte Agenda“ der Rechten für den Fall einer Regierungsübernahme hat den Sprengstoff sichtbar gemacht, der in einem sozialen Rollback für die armen Mehrheiten der venezolanischen Bevölkerung liegen würde. Mit dem Wahlsieg von Chávez wurde der Rollback abgewendet.

Chávez ist ein „Stabilitätsfaktor in Lateinamerika“

Die Ära Chávez geht weiter. Trotz Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarianischen Revolution hat Präsident Chávez es wieder geschafft, aus den Wahlen am 7. Oktober erneut als Sieger hervorzugehen und sich ein Mandat bis 2019 zu sichern. Zu eindeutig repräsentierte der Kandidat der Rechten, Ex-Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der übrigen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen. Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexpert_innen beraten wird, bemühte sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und versprach, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen (das heißt auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen akzeptieren) und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückkehren.
Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie – anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua – nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg neu aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist die Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.
Doch was macht Chávez – der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker_innen (selbst Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) – eigentlich so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicher stellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte „Boli-Bourgeoisie“. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit „Verrat“ als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamt_innen und Privatunternehmer_innen immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus. Oder wie es beim frühen Marx so schön heißt: Wenn sich Idee und Interesse begegnen, blamiert sich in der Regel die Idee.
Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 % des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 % gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitabschnitt stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37% auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42% liegt). Die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zugedacht war, sind ebenfalls kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal 2% der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.
Dramatisch ist die Gewaltsituation: Auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind, lässt sich nicht leugnen, dass Caracas eine der höchsten Mordraten in Lateinamerika hat. Stadtteil-Aktivist_innen weisen in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass die „bolivarische Revolution“ einen großen Teil der Jugendlichen offensichtlich überhaupt nicht erreicht. Das soziale Ansehen des mit Konsumgütern ausgestatteten Kriminellen ist höher als das eines Jugendlichen, der seinen Abschluss an einer der vielen neu gegründeten Fachhochschulen macht und zwar einen Job, aber eben keinen besonderen Reichtum erwarten kann.
So bleiben als große innenpolitische Errungenschaften der letzten Jahre vor allem die Misiones – eine Reihe von Sozialprogrammen, die 1998 von Chávez einberufen wurden und der Armutsbekämpfung und der sozialen Sicherheit der Bevölkerung dienen sollen. 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Erdölkonzern PDVSA allein 2011 in die Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme investiert. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die hohen Ölpreise, sondern auch durch die Bereitschaft der Regierung, die Öleinnahmen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Raubideologie wahrlich keine Kleinigkeit. Doch es gibt auch noch ein zweites wichtiges Argument, warum die arme Bevölkerung mehrheitlich nach wie vor hinter Chávez steht.
Die Veränderungen in Venezuela werden von Gegner_innen wie Anhänger_innen Chávez meist ausschließlich mit dem Präsidenten selbst erklärt. Dabei wird ausgeblendet, dass die Bevölkerung seit 1989 immer wieder gegen die politische Klasse rebelliert und dem Neoliberalismus schon vor Chávez‘ Amtsantritt eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte. Der konstante, kaum von Organisationen getragene Widerstand machte das Land in den 1990er Jahren faktisch unregierbar. Der Soziologe Andrés Antillano spricht in diesem Sinne vom Entstehen einer „plebejischen Macht“, die seiner Meinung nach den entscheidenden Motor der Veränderungen im Land darstellt.
Antillano zufolge ist das Verhältnis dieser gesellschaftlichen Kraft zur Regierung durchaus komplex. Viele Venezolaner_innen würden präzise zwischen Oficialismo und Chavismo unterscheiden: Man verweigere sich jeder politischen Repräsentation, auch der der Regierungspartei PSUV, aber man sei für den Präsidenten. In den Worten Antillanos: „Chávez wird als Negation der Repräsentation betrachtet: der Kommandant, der die Abwesenheit eines Chefs gewährleistet, der Caudillo als Garant der Selbstbestimmung. Oder wie es in einer Parole heißt: ‚Mit Chávez regiert das Volk‘.“
Das mag bizarr klingen – doch richtig daran ist, dass Chávez, obwohl alle Entscheidungen im Land über ihn laufen, immer wieder für ein Machtvakuum sorgt, in dem Slum-Bewohner_innen und Kleinbäuer_innen zum ersten Mal in der Geschichte etwas zu bestimmen haben.
Auch außenpolitisch würde eine Niederlage des Präsidenten in der Region Einiges zum Schlechteren drehen. Dabei sind die Prinzipien der venezolanischen Außenpolitik in vieler Hinsicht skandalös. Das Gerede von der „antiimperialistischen Schwesterrevolution im Iran“ oder die demonstrative Freundschaft mit Despotien in der ganzen Welt können einem – auch wenn man die Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik von EU und USA nicht minder abstoßend findet – nur den Magen umdrehen. Die Chávez-Regierung hält offensichtlich entschlossen an der ebenso simplen wie unsinnigen Position fest, dass gut sein muss, was Washington für schlecht befindet.
Doch selbst wenn es daran nichts zu verteidigen gibt, stimmt auf der anderen Seite eben, dass die Außenpolitik Venezuelas in Lateinamerika zu einer Verschiebung der Kräftekonstellation beigetragen hat. Die US-Dominanz scheint gebrochen. Selbst treue Verbündete wie Kolumbien, das in den vergangenen 15 Jahren zu den wichtigsten Empfängern von US-Militärhilfe in der Welt gehörte, sind ein Stück von Washington abgerückt.
Tatsächlich war die lateinamerikanische Politik im vergangenen Jahrzehnt von einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Brasilien und Venezuela bestimmt: Während die Chávez-Regierung „für´s Grobe“ zuständig war – antiimperialistische Rhetorik, Bündnisse mit „Schurkenstaaten“ und der Aufbau eines sozialistischen Lagers mit Kuba, Bolivien und Ecuador –, hat Brasilien den Aufbau eigenständiger lateinamerikanischer Strukturen vorangetrieben: Mit der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) existiert heute eine amerikanische Staatengemeinschaft, in der Washington nichts mehr zu melden hat. Auf die Staatsstreiche und Umsturzversuche in Honduras, Paraguay und Bolivien hat die Staatengemeinschaft dementsprechend, anders als früher, mit einer Isolation der Putschist_innen reagiert. Handels- und Entwicklungsvereinbarungen trifft man heute lieber vor Ort. Ob sich dadurch etwas Grundsätzliches ändert, mag dahingestellt sein. Brasilianisches Kapital treibt die Erschließung von Erdölvorkommen in Regenwaldregionen, die Ausweitung von Soja-Plantagen oder den Bau von Super-Häfen entschlossen voran. Die Entwicklungsmodelle bleiben die alten, nur die Staatsangehörigkeit der Investor_innen ändert sich. Immerhin: Wenn man bedenkt, mit welcher Aggressivität Lateinamerika von Europa und den USA ausgeplündert wurde, stellt ein solcher Perspektivwechsel wahrscheinlich doch einen Fortschritt dar.
Die Chávez-Regierung ist noch in weiterer Hinsicht außenpolitisch erfolgreicher, als es auf den ersten Blick scheint. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, Vertreter der traditionellen Oberschicht seines Landes, überraschte die Öffentlichkeit vor einigen Monaten mit der Aussage, Chávez sei ein Stabilitätsfaktor in der Region. Viele glaubten kaum, was sie da hörten: Ausgerechnet Chávez, der von Washington der Unterstützung von Guerillas und islamischen Netzwerken bezichtigt wird, soll ein Stabilitätsfaktor sein?
Offensichtlich kommt es auf die Perspektive an. Dass bewaffnete Aufstände heute in Lateinamerika diskreditiert sind, hat auch mit Venezuela zu tun. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der eher einer Renaissance des Wohlfahrtsstaates als einem Sozialismus ähnelt, verweist auf die Möglichkeit, dass sich durch Wahlen bisweilen doch etwas verändern lässt.
Nicht zuletzt für Kolumbien ist die Perspektive interessant. Es ist kein Zufall, dass die Chávez-Regierung eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Friedensverhandlungen zwischen Bogotá und der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) gespielt hat. Schon vor Jahren ist Venezuela auf Distanz zu den kolumbianischen Guerillas gegangen und hat diese zu einer Beendigung des bewaffneten Kampfes aufgefordert.
Das Schicksal der südamerikanischen Nachbarstaaten ist miteinander verwoben. Wie erwähnt, ist die Lage in Venezuela durchaus explosiv – und zwar nicht aufgrund „chavistischer Sabotage“, sondern wegen der sozialen Widersprüche im Land selbst. Vor allem im Westen Venezuelas haben Großgrundbesitzer_innen, kolumbianische Paramilitärs und Drogenhändler_innen, korrupte Einheiten der Nationalgarde sowie – untereinander teilweise verfeindete – Guerilla-Gruppen aus Venezuela (FBL – Bolivarische Befreiungskräfte) und Kolumbien (FARC und ELN – Nationale Befreiungsarmee) parallele Machtstrukturen aufgebaut. Ohne Chávez, der ein gewisses Gleichgewicht garantiert, könnte daraus schnell ein Flächenbrand werden. Man muss keine prophetischen Fähigkeiten besitzen, um zu begreifen, dass ein solcher Konflikt an den Landesgrenzen nicht halt machen würde.

Alte Wege verlassen

Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhalte zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahlversprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerbasis sowie entgegen der Empfehlungen von Fachleuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der Linken, und verbündet sich stattdessen mit konservativen und wirtschaftsnahen Kreisen.
Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokulturen in der Landwirtschaft sowie andere Formen von Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateinamerikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Venezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen schwerwiegende soziale und ökologische Konsequenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoffpreisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von 2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau massiv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen, mehr als das aller Andenstaaten zusammen.
Die globale Gesamtsituation macht die exportorientierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem einträglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt, warum das Kapital sich vielerorts dem Primärsektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförderung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konservative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die Wirtschaft des Landes anschieben soll.
So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung des Extraktivismus in ganz Lateinamerika feststellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen, die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer Förderstätten und die Förderung bisher ungenutzter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argentinien. Bodenerkundungen finden in immer entlegeneren und schwerer zugänglichen Gebieten sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik-Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Monokulturen werden auf riesige Flächen ausgeweitet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstofflieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonialzeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt diese Funktion immer wieder in abgewandelter Form zurück. Geändert haben sich nur die Gründe, mit denen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich konservative oder neoliberale Regierungen auf alte Konzepte von der Rolle des Marktes und von ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“ von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoffausbeutung doch unlängst noch kritisiert.
Die Regierungslinke hat jedoch einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn reformiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirtschaftswachstum und Wählerbindung.
Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich deutlich von vorhergehenden Regierungen unterscheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeichnen konnten, insbesondere im Kampf gegen die Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Rohstoffexporte finanziert wurden und den hohen Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue Extraktivismus der progressiven Regierungen geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staatlichen Präsenz einher, beispielsweise durch nationale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhere Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialprogramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht über monatliche Transferzahlungen hinausgehen. Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige Zahlungen beschränken.
Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökonomien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig klein geredet oder abgestritten. Diese Situation macht den Ausbruch von sozialen Protesten gegen den Extraktivismus verständlich. Die Konfliktlagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kontinuität der Ausbeutung von Natur und des ökonomischen Wachstums ist dermaßen deutlich, dass selbst linke Präsident_innen sich über soziale und ökologische Forderungen lustig machen, Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen attackieren. Man solle den Reichtum der Natur des Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen sie, sondern diesen Trend sogar verstärken.
Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt, einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesamten Planeten befriedigen könnten. Ökologische Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos, mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respektiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden, wird behauptet, diese könnten technisch gelöst werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Gewinne würden die sozialen und ökologischen Schäden wettmachen. Die massenweise Förderung von Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaftlichen Wohlstand und steigenden Konsum in den urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den Städten gibt es riesige Einkaufszentren und marginalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heute in vorher ungekanntem Ausmaß.
Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Ländern Debatten über den Ausstieg aus der Abhängigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Miteinbezogen wird darin der veränderte politische Kontext. In den Debatten kommt die Forderung auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungskonzepte enthalten sein, als auch der politische Diskurs der progressiven Regierungen eine neue Richtung einschlagen muss, der bisher Extraktivismus als notwendig für die Armutsbekämpfung darstellt. In einem Transitionsprozess werden post-extraktivistische Strategien als Alternativen zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt. Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt werden, um die schwerwiegendsten Auswirkungen von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern. Dazu gehören beispielsweise die Schließung besonders umweltschädlicher Förderstätten oder die Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Notwendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbarmachung der ökonomischen Kosten von sozialen und ökologischen Schäden. Ökologische und ökonomische, soziale und politische Maßnahmen werden miteinander verknüpft, um die Fokussierung auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgreifende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maßnahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten verbunden werden, um den Ausstieg aus dem gegenwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen.

Venezuela klebt am Öl

It’s the oil price, stupid! Auf die Entwicklung des Ölpreises könnte sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez berufen, wenn er begründen müsste, warum Venezuelas Wirtschaft allen Diversifizierungsbemühungen zum Trotz immer noch extrem vom Schwarzen Gold abhängt. Ölexporte machen nach wie vor rund 90 Prozent der Exporterlöse des Mitglieds der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) aus, die Öl- und Gasindustrie ist für etwa ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich und trägt rund die Hälfte zu den Staatseinnahmen bei.
Als Chávez im zweiten Halbjahr 1998 seine erste Wahl gewann, dümpelte der Ölpreis im Zuge der Asienkrise bei rund zehn US-Dollar pro Barrel (Ein Barrel sind 159 Liter). Kein Wunder, dass Chávez schon zu Beginn seiner Amtszeit 1999 verkündete, dass er neben der Neuordnung der Ölgesellschaft PdVSA auch Landwirtschaft, Industrie und Tourismus neu ausrichten werde, um dem Auf und Ab des Ölpreises mit all seinen Konsequenzen für die venezolanische Konjunktur weniger ausgeliefert zu sein.
Doch so tief wie im Jahr 1998 steht der Ölpreis schon lange nicht mehr: Der Trend geht eindeutig nach oben. Dafür sorgt zum einen die generelle Begrenztheit der Vorkommen, die im so genannten Peak Oil kulminieren, dem Punkt an dem das Globale Ölfördermaximum erreicht ist, bevor es unweigerlich nach unten geht. Dieser Punkt ist nicht exakt wissenschaftlich bestimmbar, auch weil immer wieder neue Ölvorkommen entdeckt werden, die meist jedoch aufwändiger Fördermethoden bedürfen. Die Produktion eines Fasses Rohöls auf neu erschlossenen Feldern kostet im weltweiten Durchschnitt zwischen 50 und 80 US-Dollar – bei den alten Feldern im saudischen Wüstensand liegen sie bei zwei bis drei US-Dollar.
Hinzu kommen politische Faktoren, wobei vor allem Krisen die Preise beeinflussen. Letztes Jahr war es insbesondere der Bürgerkrieg in Libyen, derzeit sind es die israelischen Drohungen mit einem Militärschlag gegen den Iran, die für Unruhe sorgen und zudem Spekulant_innen auf den Plan rufen. Ein Barrel der Nordseesorte Brent zur Auslieferung im Oktober kostete am 27. August 114,82 US-Dollar. Die Preise steigen, obwohl wegen der schwächelnden Weltkonjunktur und damit einhergehender sinkender Gesamtnachfrage eigentlich ein Preisrückgang zu erwarten wäre. Vom Rekordhoch von 147,50 US-Dollar im Sommer 2008 sind die Preise zwar noch weit entfernt, doch sie sind hoch genug, um den Druck auf Venezuela zu mildern. Die mühseligen Diversifizierungsversuche drohen so einmal mehr auf die lange Bank geschoben zu werden.
Wie stark Venezuelas Wirtschaftsentwicklung mit dem Ölpreis verbunden ist, lässt sich in den Jahren seit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 nachzeichnen. Der globale Wirtschaftseinbruch in den beiden Folgejahren ging mit sinkenden Ölpreisen einher, die zwischenzeitlich lediglich 30 bis 40 US-Dollar pro Barrel betrugen und bescherten Venezuela eine kräftige Rezession von 3,2 Prozent im Jahr 2009 und 1,5 Prozent im Folgejahr. Erst nachdem der Ölpreis wieder stieg, erholte sich auch die venezolanische Wirtschaft und verzeichnete im Jahr 2011 wieder ein Wachstum von 4,2 Prozent, dass dieses Jahr vermutlich sogar übertroffen wird.
Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit. In den Niederlanden wurde in den 1960er Jahren nach dem überraschenden Fund reichhaltiger Erdgasvorkommen zum ersten Mal festgestellt, dass sich Rohstoffreichtum in einen Fluch verwandeln kann. Der Zufluss von reichlich US-Dollar aus dem Rohstoffexport führt zu einer Aufwertung der eigenen Währung. Der angenehme Aspekt daran ist, dass sich die Importkapazität des Landes erhöht, sprich sich das Land mehr Güterimporte leisten kann. Der negative und schwer wiegende Nachteil besteht darin, dass einheimische Produzent_innen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, sowohl gegenüber Importeuren als auch auf dem Weltmarkt, sofern es sich um Unternehmen handelt, die etwas anderes als Rohstoffe exportieren. Der Verlust an Arbeitsplätzen in jenen Sektoren ist fast unumgänglich. Die ganze Volkswirtschaft bekommt so mehr und mehr Schlagseite in Richtung des dominanten Rohstoffsektors, in Venezuela dem petrochemischen Sektor.
In Venezuela hat die Holländische Krankheit unter anderem die einheimische Landwirtschaft befallen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf beträchtliche Nahrungsmittelimporte angewiesen, obwohl es potenziell an geeigneten Agrarflächen nicht fehlt. So ist Venezuela das einzige südamerikanische Land mit einer negativen Agrarbilanz. Im Jahr 2010 standen Agrarexporten von 59 Millionen US-Dollar rund 5 Milliarden US-Dollar Importe gegenüber, belegen die Zahlen der Lateinamerikanischen Integrationsvereinigung ALADI. Egal ob Fleisch, Milch, Getreide, Fette oder Öle: Venezuela ist Nettoimporteur. Laut dem venezolanischen Statistikamt INE sind in den vergangenen 13 Jahren die Nahrungsmittelimporte um 230 Prozent gestiegen und haben sich damit mehr als verdreifacht.
Dabei war die Regierung Chávez nicht untätig. Schon im Jahr 2001 wurde mit einem Landgesetz der Weg für eine Agrarreform geebnet. Das Nationale Landinstitut INTI verteilte in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar brachliegendes Staatsland an Kooperativen, danach wurden noch über 100.000 landlose Familien mit enteignetem ungenutztem Privatland ausgestattet. Mit dem Plan Zamora greift die Regierung seit dem Jahr 2003 Kleinbauern und -bäuerinnen mit Krediten, Bildungsangeboten, Investitionen in Vertriebswege, Häuserbau, Wasser und Infrastruktur unter die Arme. All dies hat zwar die nationale Produktion bei Agrargütern nach Angaben der Regierung von 1999 bis 2011 um 44 Prozent nach oben getrieben, doch noch kräftiger wuchs die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum der ärmeren Bevölkerungsschichten. Venezuela muss so immer noch rund 70 Prozent seiner Lebensmittel einführen.
Mit den Währungsabwertungen in den Jahren 2010 und 2011 hat sich die Konkurrenzfähigkeit der heimischen Landwirtschaft und Industrie zwar wieder verbessert, jedoch nicht in einem Maße, das die vorangegangene jahrelange Überbewertung kompensiert. Der Wechselkurs war bis 2010 bei 2,15 Bolívar pro US-Dollar festgezurrt und das, obwohl Venezuela hohe Inflationsraten von weit über 20 Prozent verzeichnete und damit weit höhere als die USA mit der Referenzwährung. Nur mittels Dollarverkäufen und Devisenkontrollen der Zentralbank konnte der Bolívar mehr schlecht als recht auf diesem Niveau gehalten werden. Im Jahr 2010 wurde die Währung auf 4,3 Bolívar pro US-Dollar abgewertet. Zum Jahresbeginn 2011 schaffte die Chávez-Administration dann noch den Vorzugswechselkurs von 2,6 Bolívar je US-Dollar ab. Damit wurde bis dato der Import von Lebensmitteln und Medikamenten sowie bestimmten Investitionsgütern wie Maschinen subventioniert. Auch hier gilt seitdem der offizielle Wechselkurs von 4,3 Bolívar pro US-Dollar.
Der Holländischen Krankheit und der Überbewertung könnte durch eine gezielte Strategie der Unterbewertung seitens der venezolanischen Zentralbank begegnet werden. Dafür müssten die Devisenzuflüsse in ihrer Wirkung auf die heimische Geldmenge und Währung so weit wie möglich sterilisiert werden, indem sie in einen Zukunftsfonds fließen und dort langfristig angelegt werden. Ein solches Modell praktiziert Norwegen mit beachtlichem Erfolg. Im dortigen Ölfonds werden seit dem Jahr 1990 die enormen Erträge aus dem Ölexport angelegt. Dies geschieht ausschließlich auf ausländischen Märkten, um ein Überhitzen der inländischen Wirtschaft und einer Aufwertung der Norwegischen Krone entgegenzuwirken.
Angesichts der enormen sozialen Schuld, die in Venezuela über die vergangenen Jahrzehnte akkumuliert wurde, ist ein solches Modell in Venezuela wohl schwer politisch durchsetzbar. Chávez nützt die Öleinnahmen schließlich bisher dazu, Sozialprogramme durchzuführen. Die Ölgesellschaft PdVSA fungiert seit dem Jahr 2003 auch als eine Art Sozialministerium, die aus dem eigenen Haushalt Sozialprogramme wie die misiones finanziert – die unter anderem von Bildung (misión Robinson und misión Ribas) über Gesundheit (misión barrio adentro) bis hin zur Versorgung mit subventionierten Lebensmitteln (misión mercal) reichen. Im Jahr 2011 flossen fast 40 Milliarden US-Dollar in Sozialprogramme und Sonderfonds des Präsidenten.
Die Öldollar gleichzeitig aufzuschatzen und auszugeben, geht logischerweise nicht. Venezuela wäre entwicklungsökonomisch allerdings gut beraten, künftig zumindest einen Teil der Öleinnahmen langfristig anzulegen, um auf Sicht einen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer Stärkung des Binnensektors zu erreichen. Dazu bedarf es neben der Unterbewertungsstrategie einer selektiven Protektion, bei der die Zollsätze mit dem Verarbeitungsgrad ansteigen. Damit könnte Venezuela das erreichen, was bisher verfehlt wurde: eine breitere Produktpalette der heimischen Wirtschaft und eine konkurrenzfähige Binnenmarktentwicklung. Die Weichen in diese Richtung müssen indes noch gestellt werden. Chávez Ankündigung vor wenigen Wochen, bis zum Jahr 2019 die Ölförderung in Venezuela verdoppeln zu wollen, spricht nicht für eine schnelle, fundierte Kursänderung.

Weichen gestellt

Schon fahren die Züge wieder. Seit Mitte Juli 2012 hatten Eisenbahner_innen bei der Bahnlinie FENOCO, die sich der Bergbaukonzern Drummond mit anderen Unternehmen teilt, gestreikt. Denn die Züge transportieren keine Menschen, sondern täglich um die 160.000 Tonnen Kohle von den Tagebauen im Nordosten des Landes zu den Häfen Santa Marta und Ciénaga an der Karibikküste. Die Streikenden und die Metallgewerkschaft SINTRAIME forderten sicherere Arbeitsbedingungen, Sozialversicherungen und ein Ende befristeter Verträge bei Subunternehmen. Ein Gericht in Bogotá erklärte den Streik im August für illegal.
Immer wieder beschwört Präsident Juan Manuel Santos die „Lokomotiven“ für wirtschaftliches Wachstum in Kolumbien: Agrarindustrie, Infrastruktur, Immobilien und Bergbau. Kohle und Bergbau allein machen fast die Hälfte der Exporte aus, sie sollen die gesamte exportorientierte Wirtschaft anschieben.
Für die kanadischen, britischen oder schweizerischen Unternehmen ist der kolumbianische Bergbausektor im wörtlichen Sinn eine Goldgrube. Weit über den bereits beachtlichen vier bis fünf Prozent, die das Bruttoinlandsprodukt zuletzt jährlich wuchs, lag das Wachstum des Bergbausektors 2010 bei um die 15 Prozent. Es ist der größte Boom der Geschichte. Selbstverständlich spielen dabei die Weltmarktpreise eine wichtige Rolle. Mit der weltweiten Krise zog etwa die Nachfrage nach Gold massiv an, die Preise explodierten. Exportierte Kolumbien 2007 noch Gold im Wert von 332 Millionen US-Dollar, waren es 2009 bereits 1,54 Milliarden. Während des Streiks bei FENOCO konnten die Firmen nur die Hälfte der üblichen Menge an Kohle ausfahren; die Tonne kolumbianischer Kohle verteuerte sich im Vergleich zu den Weltmarktpreisen. Doch „wenn die Nachfrage drastisch sinkt und die Preise fallen, fällt die ganze Exportstrategie in sich zusammen. So war es immer! Nichts weist darauf hin, dass das diesmal nicht passiert!“ kommentiert Diego García vom Medienkollektiv El Turbión.
Die ausländischen Direktinvestitionen im kolumbianischen Bergbausektor stiegen zwischen 2006 und 2009 um 73 Prozent auf etwa drei Milliarden US-Dollar an. Bei 72 Millionen Tonnen pro Jahr liegen die Ausfuhren von Kohle inzwischen, zweitwichtigstes Empfängerland ist Deutschland.
Anders als in Venezuela oder Mexiko sind staatliche Stellen in Kolumbien im Bergbau fast nur noch Lizenzgeber, finanzieren Infrastruktur oder nehmen indirekte Abgaben („regalías“) ein. Von Steuern sind die Unternehmen weitestgehend befreit. Die Gewinne reinvestieren die Unternehmen keineswegs produktiv in Kolumbien, sondern transferieren sie meist zurück in den Norden.
Als zentrale Achse der Entwicklungsstrategie profitiert der Bergbau im autoritären kolumbianischen Modell auch von gewaltsamen Vertreibungen der letzten Jahrzehnte: So systematisch ist die Vertreibung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern aus Regionen, die unterdessen durch agroindustrielle Nutzung, Bergbau oder für die extensive Rinderwirtschaft inwertgesetzt werden, in keinem anderen lateinamerikanischen Land. Gerade in den selbstverwalteten Gebieten indigener und afrokolumbianischer Gemeinden spiegeln sich gewalttätige Aneignungsprozesse wider. Ganze Dörfer wurden aus ihren an Bodenschätzen oder Biodiversität reichen Gegenden vertrieben. Heute wächst der Druck auf bäuerliche Gemeinden mit der Orientierung auf große Bergbauprojekte, Infrastrukturvorhaben und agroindustriell bewirtschaftete Großflächen noch an. Immer wieder gibt es daher Vorwürfe gegen Bergbaumultis, mit Paramilitärs gemeinsame Sache gemacht zu haben. So stand das US-amerikanische Kohleunternehmen Drummond wiederholt in den USA vor Gericht. Ohne jahrelange hartnäckige Bemühungen verschiedener Organisationen wäre das kaum passiert.
Im August 2012 riefen das Kolumbianische Netzwerk gegen den transnationalen Großbergbau (Reclame) und mehrere Gewerkschaftsverbände zum Widerstand gegen die „Lokomotive Bergbau“ und zu Demonstrationen in 21 Städten auf. Im Protest gegen große Bergbauprojekte sammeln sich Umweltbewegungen, bäuerliche und Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und indigene Vertretungen. Das Komitee zur Verteidigung der Hochebene Santurbán sammelte über 100 000 Unterschriften zum Schutz des Gebietes. Dort hatten die Firmen Greystar (Kanada) und Endesa/Enel (Spanien) im Projekt Angostura („Enge“) den Goldabbau geplant. Der Páramo Santurbán gilt als seltenes Ökosystem der Hochanden mit entscheidenden Wasserreservoirs. „Würde man dort eingreifen, wäre das eine Umweltkatastrophe und würde die Wasserversorgung in der ganzen Region zerstören“, so die Befürchtung des Komitees. Im Februar 2011 gingen in der nahegelegenen Großstadt Bucaramanga über 40.000 Menschen auf die Straße. Im Mai 2011 lehnte das Umweltministerium den Antrag des Unternehmens auf Unbedenklichkeit ab – ein Erfolg, wenn auch keine endgültige Entscheidung.
Die Vernetzung zwischen Arbeiter_innen und Gemeinden, die vom Ressourcenabbau betroffen sind, ist nicht immer einfach. Für die einen sind die Minen Arbeitgeberin, für die anderen zerstören sie Acker- und Weideland. Francisco Castillo von der Organisation Aury Sará weist auf die unmögliche Situation der Ölarbeiter_innen in den Amazonasdepartamentos hin: „Bei Pacific Rubiales und anderen Multis werden die Arbeitsrechte völlig missachtet, außerdem sind paramilitärische Gruppen aktiv, und von diesen profitieren die Firmen, weil sie gewerkschaftliche Arbeit unmöglich machen.“ Häufig werben die Unternehmen Arbeiter_innen aus anderen Landesteilen an, um den Gemeinden, die einem Tagebau weichen müssen, nicht eine neue Lebensgrundlage zu schaffen.
Fast nie lassen sich die Unternehmen auf geregelte Umsiedlungsprozesse ein: Die Gemeinde Tabaco in der Nähe der Kohlemine Carbones del Cerrejón räumte die Polizei 2001 gewaltsam. Bulldozer rissen Häuser ein, in denen noch Möbel, Kleidung und Küchengerät standen. Die noch bestehenden Dörfer in der Nähe der Kohlemine sind auf ihren Ortskern zusammengeschrumpft – überall, wo die Firma Land aufgekauft hat oder die Leute entnervt und eingeschüchtert ihren Besitz aufgaben, markierte das Unternehmen die Grenzen des Privatgeländes: Zutritt verboten. Privates Sicherheitspersonal verbot Angeln und Jagen in der Umgebung. Die Grundstücke wurden weit unter Wert an die Firma verkauft. Fast nie reichte der Erlös, um sich anderswo ein Stück Land zu kaufen. Die Gemeinden gleichen Inseln, um die herum bereits Kohle abgebaut wird.
Während die Unternehmen beteuern, ihr Umweltmanagement sei exzellent, kritisieren die betroffenen Gemeinden, die Folgen des groß angelegten Bergbaus seien unumkehrbar. Allein der Wasserverbrauch im Kohle- oder Goldabbau ist enorm; zum Herauslösen aus dem restlichen Gestein werden zudem Giftstoffe wie Zyanid benötigt. Auch die Wasserquellen selbst sind bedroht. Der einzige Fluss der semi-ariden Region Guajira, der auch in den Trockenphasen des Jahres Wasser führt, ist der Río Ranchería. Das Unternehmen Cerrejón will ihn auf 26 km umleiten: Unter dem Flussbett vermutet es 530 Millionen Tonnen Kohle.
„Warum sollten wir unseren einzigen Fluss gegen Exportabgaben tauschen?“ schreibt Vicenta Siosi Pino, Angehörige der indigenen Wayúu, Anfang 2012 in einem offenen Brief an Präsident Santos. „Und wenn wir uns angeblich keine Sorgen machen sollen, warum will das Unternehmen uns dann Entschädigungen zahlen?“
Wo nicht im Tagebau gefördert wird, sind die Folgen für die lokale Gesellschaft ebenfalls schwerwiegend. Smaragde etwa exportiert Kolumbien seit Jahrhunderten. In den Minen in Boyacá nahe der Hauptstadt Bogotá ist Kinderarbeit keine Seltenheit. Kinder sieben die Überbleibsel aus den Minen nach winzigen Smaragden durch, die übersehen wurden oder arbeiten in für Erwachsene zu engen Tunneln. Die Gemeinde Muzo im Herzen der Smaragdabbauregion hat eine der höchsten Analphabetenraten Kolumbiens: Viele Kinder arbeiten in den Minen, statt die Schule zu besuchen. Lungenkrankheiten sind häufig.
Jede Familie arbeitet dort für sich, alle hoffen auf den einen Smaragd, der sie reich machen wird. Sie sind das eine Ende des Spektrums. Am anderen stehen Netzwerke der Organisierten Kriminalität, die unter anderem im 20. Jahrhundert mit dem Smaragdschmuggel reich wurden und heute die kolumbianische Politik mitbestimmen. Victor Carranza, der „König der Smaragde“, hat, so das Gerücht, eine steuerfreie Lizenz über die Minen. Mehr als die Hälfte der weltweit gehandelten Smaragde kommen aus Kolumbien. Ein formalisierter Wirtschaftszweig ist es bis heute nicht: Im Zentrum Bogotás findet man die Smaragd-Händler auf der Straße, täglich versammeln sie sich an der Avenida Jiménez.
Immer hat es in Kolumbien auch kleine Bergbauprojekte und einzelne Bergleute gegeben, die meist keine Lizenzen fürs Schürfen von Gold oder Smaragden haben. Lange ignoriert, finden sie sich nun als Konkurrent_innen von Firmen wie der britisch-südafrikanischen Anglo-Gold Ashanti um ihre Schürfgebiete wieder – so etwa im traditionellen Minenstädtchen Suárez in der Region Cauca, wo laut der kolumbianischen Le Monde Diplomatique Anglo-Gold Ashanti sogar für das Areal des Friedhofs eine Förderlizenz beantragt hat.
Rechtlich gibt es den Status des Kleinbergbaus nicht mehr. Die kleinen Bergleute sollen ebenso Landtitel erwerben wie ein multinationales Unternehmen mit Kapitalzuflüssen in Milliardenhöhe. Immer wieder zerstören nun kolumbianische Sicherheitskräfte ohne richterlichen Beschluss Gerät der „informellen“ Bergbauunternehmen, weil bereits ein Großunternehmen eine Lizenz beantragt hat. Der informelle Bergbau sei eins der großen Probleme des Landes, so der Bergbau- und Energieminister Mauricio Cárdenas Santamaría: Die Bergleute ohne Lizenz müssten „wie Drogenhändler behandelt werden“. Präsident Santos setzte in Rio de Janeiro eins drauf: „Der illegale Bergbau ist in vielen Ländern ein Problem für die Umwelt, in Kolumbien ist er zusätzlich zu einer Geldquelle für illegale Gruppen geworden“ (vgl. auch den Text von Ronald Köpke in diesem Dossier).
Stattdessen hat die Regierung nun 17,5 Millionen Hektar im Nordwesten und den Amazonasregionen reserviert, um die „nachhaltige“ Förderung von Koltan, Uran, Platin und Gold zu ermöglichen. Sie will ab sofort in Verhandlungsrunden entscheiden, welchem Unternehmen sie Titel in den „strategischen Regionen“ zuspricht. „Einige“ der autonom verwalteten Gebiete indigener Gemeinden und Naturschutzzonen sollen ausgespart bleiben.
„Wir als Staat müssen jetzt die Umweltbehörden schneller arbeiten lassen. Diese strategischen Bergbauregionen sind eigentlich eine Schutzmaßnahme für Territorien mit großer Sensibilität für Umweltschäden“, traut sich Luz Helena Sarmiento, Leiterin der Nationalen Umweltlizenzbehörde, zu sagen. Unternehmen, die es gewohnt waren, dass eine „Umweltprüfung“ ein ziemlich rasch ausgestelltes Papier war, hatten sie kritisiert. In der Region Cesar habe sie nun die geplante Expansion der Tagebaue von Firmen wie Drummond, Prodeco, Vale y CNR um noch einmal die Hälfte ihrer Fläche gestoppt. „Wir haben das nicht autorisiert. Die Schadstoffquoten waren zu hoch“, so Sarmiento im Interview mit der Wochenzeitung Semana. Kolumbien müsse seine Biodiversität schützen, auch im „grünen Geschäft“ könne das Land zur wirtschaftlichen Macht werden. Beruhigend klingt das wohl weder für betroffene Gemeinden noch für Arbeiter_innen im Bergbau.

„Aus Umbau wurde Kontinuität“

Seit Monaten halten zwei massive Bergbaukonflikte Peru in Atem. Sowohl bei den Protesten gegen das Projekt Conga, das den Ausbau einer Goldmine in Cajamarca vorsieht, als auch bei dem Konflikt um die Kupfermine Tintaya im Verwaltungsbezirk Espinar, waren Tote zu beklagen. Zeichnen sich Lösungen für die beiden Konflikte ab?
Eher nicht, denn der Regierung scheint nicht klar zu sein, welche Tragweite diese Proteste haben. Es fehlt an klaren Analysen, warum es zu immer mehr und deutlich massiveren Protesten und Konflikten in Peru kommt. Exemplarisch für dieses Unvermögen steht die Tatsache, dass angesichts der Proteste gegen das Bergbauprojekt Conga zweimal das Kabinett ausgewechselt wurde. Ich denke, dass es weder eine vernünftige Analyse noch eine Strategie und auch keine politisch relevanten Persönlichkeiten gibt, die nach Kompromissen suchen und den Dialog führen. Die Regierung reagiert, sie agiert nicht, um grundsätzliche Probleme zu lösen.

Mit der Wahl von Präsident Ollanta Humala im vergangenen Jahr waren viele Hoffnungen verbunden, beispielsweise, dass der Bergbau mit der Landwirtschaft vereinbar sein müsse. Humala selbst hat die Bedeutung dessen mehrfach betont. Ein Großteil der betroffenen Landbevölkerung bezeichnet ihn inzwischen als Lügner. Zu Recht?
Ollanta Humala hatte viele Hoffnungen geweckt und angekündigt, die Interessen der Bauern, der Gemeinden und auch deren Zugang zum Wasser zu garantieren. Doch einmal im Amt hat sich die Situation schnell und entscheidend verändert. Anfangs gab es noch den politischen Willen ein Bündel von Reformen durchzuführen, die den peruanischen Staat und das Umweltministerium zu einer ernsthaften Autorität im Lande gemacht hätte.
Doch mit dem Aufkommen der ersten Konflikte, vor allem dem Projekt Conga in Cajamarca, aber auch anderen, nahm die Bereitschaft ab, den Wandel in der Umwelt- und Bergbaupolitik des Landes einzuleiten. Aus der Regierung des Umbaus, der Transformation, wurde die Regierung der Kontinuität, des Stillstands.

Da Sie diese Phase quasi hautnah als Vizeminister im Kabinett miterlebt haben – gibt es einen Punkt, wo der Wille zu Reformen den Präsidenten verlassen hat?
Ja, es gibt verschiedene Schlüsselmomente. Im ökonomischen Bereich war die Nominierung von Wirtschaftsminister José Miguel Castilla ein wichtiger Schritt. Dieser war bereits unter Alan García [neoliberal ausgerichteter Ex-Präsident, Anm. d. Red.] im Wirtschaftsministerium einer der Vizeminister und steht für die Kontinuität einer Wirtschaftspolitik, die sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert hat. Auch die Bestätigung von Julio Velarde als Zentralbankchef war ein Zeichen in diese Richtung, das sicherlich auch potentielle Investoren beruhigen sollte.
Im Umweltbereich wurde hingegen erst im November klar, wohin es gehen soll. Damals kam der Präsident von einer Tagung aus Hawaii zurück und musste feststellen, dass die Proteste zugenommen hatten.

Wie reagierte Humala?
Sehr überraschend: Er entzog uns im Umweltministerium den Rückhalt für die anlaufenden Reformen und entschied, zentrale Funktionen des Umweltministeriums dem Ministerrat direkt zu unterstellen. So entstand faktisch ein zweites Umweltministerium, eine Parallelstruktur, und dort sollten fortan auch die Umweltgutachten ausgewertet werden – eben auch jenes zum Projekt Conga. Für mich war das der Wendepunkt und ich bin von meinem Posten zurückgetreten. Wenig später folgte dann das ganze Kabinett, angeführt von Salomon Lerner [dem damaligen Ministerpräsidenten, Anm. d. Red.].

Ist das Modell des Extraktivismus in Peru an seine Grenzen gestoßen?
Nun gut, die peruanische Regierung hat sich für ein Wirtschaftsmodell entschieden, das auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fußt. Aber das ist ein Phänomen, welches in ganz Lateinamerika zu beobachten ist. Alle Regierungen, egal welcher politischen Couleur, stützen sich auf den Extraktivismus. Natürlich gibt es Unterschiede. In Peru und Kolumbien ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen großer internationaler Konzerne, in Bolivien, Venezuela, Ecuador und auch zu großen Teilen in Brasilien ist es der Staat, der bei der Förderung der Rohstoffe die zentrale Rolle spielt. In allen Ländern gibt es allerdings soziale Probleme und Widerstände gegen die Vernichtung von Schutzgebieten wie derzeit das Beispiel des umstrittenen Straßenbaus durch den TIPPNIS-Nationalpark in Bolivien zeigt.
In Peru ist der Bergbau für rund 60 Prozent der Exporte verantwortlich, sorgt aber nur für rund 100.000 Arbeitsplätze. Trotzdem und obwohl er Arbeitsplätze in der Landwirtschaft gefährdet, soll er weiter ausgebaut werden, wenn es nach der Regierung in Lima geht. So gibt es mehrere Großprojekte, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden sollen, obwohl der Widerstand zunimmt.

Humala hatte sich im Wahlkampf für die Entwicklung eines Flächennutzungsplans ausgesprochen, um die Konzessionierung von sensiblen Flächen durch den Bergbau zu regulieren. Warum ist von einem derartigen Plan, den Sie im Umweltministerium gefördert haben, nichts mehr zu hören?
Das ist ein zentrales Thema, das in den letzten Monaten unter den Tisch gefallen ist, obwohl die Konzessionierung für den Bergbau immer wieder für Konflikte sorgt. Der Hauptgrund dafür ist, dass keine Gebiete von der Konzessionierung ausgenommen sind und die Bevölkerung erst gar nicht eingeweiht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Zudem gibt es viele Konzerne, die sich Konzessionen für die Zukunft gesichert haben und Bergbauprojekte auf Basis dieser vorbereiten; sie haben kein Interesse an einem Flächennutzungsplan. So steigt der Anteil der Flächen, auf die Konzessionen vergeben sind, stetig an, oft ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung. Für die Debatte über die Frage, wo Bergbau stattfinden darf und wo eben nicht, wäre ein Flächennutzungsplan das richtige Instrument. Wir brauchen klare Strukturen und es ist sinnvoll eine ganze Reihe von Gebieten zu No-Go-Areas für den Bergbau zu erklären. Aus meiner Perspektive gibt es jedoch kaum politischen Willen diese Diskussion zu führen.

In der Region von Huancabamba, im Norden Perus, wehrt sich die lokale Bevölkerung gegen die Ansiedlung einer Kupfermine. In einem selbst durchgeführten Referendum hat sie deutlich gemacht hat, dass sie auf nachhaltige Landwirtschaftskonzepte setzt. Ist das ein Beispiel, das Schule machen könnte?
Ja, durchaus. Bereits 2002 führte ein Referendum zum Ende eines Goldbergbauprojekts in Tambogrande. Aber auch in Guatemala und Argentinien hat sich das Instrument genauso wie in Peru, in Tía María 2009 und Huancabamba 2007, bewährt. Auch in der Region von Cajamarca, wo das Bergbauprojekt Conga geplant ist, ist über ein Referendum diskutiert worden, aber die peruanischen Gesetze sehen dieses Instrument nicht vor. Dabei könnten Referenden eine Alternative nicht nur für Peru, sondern für ganz Lateinamerika darstellen. Es ist schließlich nötig, neue Mechanismen für die Partizipation der lokalen Bevölkerung zu entwickeln.

Welche Lektionen können internationale Investoren aus den Konflikten von Conga und Tintaya lernen?
Es ist klar, dass die Bergbauunternehmen nicht mehr den Bergbau wie vor zwanzig Jahren durchziehen können. Die lokale Bevölkerung stellt Ansprüche und vier Bergseen auszuradieren ist auch in Peru keine kleine Sache mehr. Früher war das möglich, denn der Bergbau ist von oben durchgesetzt, quasi verordnet worden. Heute ist die Zerstörung von vier Lagunen ein Attentat auf die Gemeinden und deren Grundrechte. Die Parameter haben sich verschoben und wir leben in einer Welt, die von der Klimakatastrophe bedroht ist, die längst spürbar ist.

In Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas, sucht man sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Peru. Was kann eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit für Peru bringen und welche Bedeutung kann sie für die Abbauregionen haben?
Das Problem dieser Partnerschaften ist, dass sie nicht auf Augenhöhe stattfinden und auch nicht unbedingt die nachhaltige Entwicklung des betreffenden Landes im Blick haben. Diese Partnerschaften und auch die Freihandelsabkommen auf multilateraler und bilateraler Ebene gehorchen einem Wachstumsimperativ. Verträge wie das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Peru, welches auch ein Thema beim Besuch von Präsident Humala im Juni in Berlin war, verhindern faktisch, dass Staaten wie Peru ihre Umweltschutzbestimmungen verbessern, weil sie die Investitionsbedingungen verändern. Das ist aber in vielen Verträgen untersagt und von den Konzernen faktisch auch einklagbar. Das ist ein gravierendes Problem, da die Umweltschutzbestimmungen in Peru und anderswo erst am Entstehen sind und dringend erweitert werden müssen, wie die zunehmende Zahl von Konflikten zeigt. Ich denke, dass die Rohstoffpartnerschaften der gleichen Logik folgen.

Kasten:

José de Echave
arbeitet für die regierungskritische Sozial- und Umweltorganisation CooperAcción. Der 54-jährige Ökonom war Vize-Umweltminister unter Präsident Ollanta Humala, dessen Mitte-Links-Bündnis seit Juli 2011 regiert. Ende November 2011 trat de Echave aus Protest gegen die Regierungspolitik zurück.

Frischer feministischer Wind in Ecuador

Der feminismo popular besteht seit 30 Jahren – nun hört man, er sei wieder aktuell. Wie ist das zu verstehen?
Die Wurzeln des feminismo popular in Ecuador liegen im Marxismus. Er ist an den Kampf der Arbeiterklasse gebunden, an die weibliche Bevölkerung aus den Armenvierteln, die Landarbeiterinnen und indigenen Frauen. Daher heißt er feminismo popular. Zentral für diesen Feminismus ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Heute sehen wir aber noch andere Widersprüche. Außerdem sind neue Themen, Forderungen und Organisationsräume dazu gekommen.

Welche Themen sind das?
Neben der Klassenunterdrückung werden die Diskriminierung der Frau, sexuelle Unterdrückung sowie das Thema der Kolonialisierung und des ererbten kolonialen Staats komplex diskutiert.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Analyse des aktuellen Entwicklungsmodells, um es fundiert kritisieren und dagegen ankämpfen zu können. Wir wollen den Neoliberalismus mit seiner Strategie der Territorialisierung und Kolonialisierung verstehen – und auch die Rolle, die den Frauen darin zugedacht ist.
Neu ist auch, dass die Natur im Mittelpunkt steht. Natur wird dabei nicht als Objekt oder abstraktes Symbol verstanden, sondern als Pachamama (Anm. d. Red.: personifizierte Mutter Erde), als ein Subjekt mit Rechten, so wie es in der ecuadorianischen Verfassung festgelegt ist.

Geht diese feministische Strömung von den armen, einfachen und benachteiligten Frauen aus?
Ja, auf jeden Fall. In Ecuador gab es seit den 1980er Jahren bis Anfang der 2000er Jahre eine Gender-Agenda, eingeführt durch die Institutionen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Bereits bestehende feministische Positionen, selbst die Diskussion über patriarchale Strukturen, wurden nicht berücksichtigt. Ziel dieses liberalen Feminismus war die Durchsetzung von Frauenrechten auf institutioneller Ebene. Die Zielgruppe waren Frauen der städtischen Mittelklasse. Es handelte sich um einen Entwicklungshilfe-Feminismus in einer kolonialen Form, der nicht nur von oben, sondern auch von außen eingeführt wurde.
Im Gegensatz dazu erleben wir jetzt einen Feminismus, der sich als Ausdruck von Diversität versteht. Diversität nicht im postmodernen Sinn, als multikultureller Raum, sondern ausgehend von den historischen strukturellen Ungleichheiten. Hier finden sich die unterschiedlichsten Frauen zusammen: Indigene, Bäuerinnen, Hausfrauen, Arbeiterinnen in den Mangrovenwäldern, Studentinnen, Aktivistinnen gegen den Bergbau und Hausangestellte.
Wichtig ist uns der Bezug auf die Geschichte, denn wir fangen nicht in den 80er Jahren an, sondern wir haben Wurzeln und Vorbilder: Frauen, Indigene, Bäuerinnen aus der Geschichte Mitglieder der kommunistischen Partei der 20er und 30er Jahre. Darunter befinden sich wichtige politisch wegweisende Frauengestalten, die nicht unbedingt Feministinnen waren.

Ein Feminismus also, der sich als links definiert?
Das kommt darauf an. In Venezuela existiert ein klarer marxistischer Feminismus, der sich in der sozialistischen Struktur versteht. In Ecuador ist das nicht so: Für die Indigenen gibt es andere Ansätze der Partizipation und Emanzipation.

Welche politischen Ursachen gibt es Ihrer Meinung nach für die Entwicklung dieser neuen feministischen Strömung?
Vorbereitet wurde dies durch Frauenorganisationen wie Luna Creciente, die seit den 80er Jahren landesweit eine Organisationsstruktur für Frauengruppen, Indigene, Afrofrauen, Bäuerinnen und städtische Frauen aufgebaut haben.
Heute sind Aktivistinnen oft Teil diverser, gemischter Strukturen. Man kann die indigenen Frauen nicht aus der gemischten Struktur des Dachverbandes der Indigenen Ecuadors (CONAIE) herausnehmen, damit sie ausschließlich einer feministischen Gruppe angehören. Sie benötigen den Kontext, aus dem sie kommen, wollen ihre Themen aber gleichzeitig aus feministischer Sicht diskutieren.
Allein dadurch, dass Correa Präsident ist, gibt es noch keinen Feminismus, wie manche meinen. Im Gegenteil: Völlig unabhängig von Correa sind die Frauenorganisationen in den letzten zehn Jahren gewachsen.
Unter Correas Regierung wurde hingegen wieder ein Entwicklungshilfe-Feminismus eingeführt, der liberale Forderungen wie eine Frauenquote für politische Ämter in den Mittelpunkt stellt. Es gibt nun 36 Prozent Frauen in Führungspositionen in den Ministerien, 33 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen. Da kann man sagen: Da hat sich etwas getan!
Aber für uns ist dieser Ansatz nicht vollständig. Das aktuelle Entwicklungsmodell bringt eine Steigerung des Reichtums mit sich, der gerecht, auch geschlechtergerecht, verteilt werden sollte.
Teil der Verteilungsstrategie der Regierung sind die stark gestiegenen Sozialleistungen für Bedürftige, ohne eine Änderung der grundlegenden Ordnungsmuster in den Armenvierteln herbeizuführen. Diese Politik schafft Ungleichheit, Armut und Gewalt in den weiterbestehenden patriarchalen Sozialgefügen.

Welche Rolle spielt die feministische Nationalversammlung Asamblea Nacional de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador AMPDE?
Als Organisation existiert sie seit vier Jahren. Sie ist ein diverser politischer Raum, eine Art Sammelbecken, im positiven Sinn, für die Kämpfe und Forderungen lokaler Frauenorganisationen aus dem ganzen Land.
Vor Ort bearbeiten sie Themen wie Geschlechtergewalt und Abschaffung patriarchaler Strukturen. Sie sehen sich jedoch nicht unbedingt als Feministinnen.
Es begann mit der Verfassungsdebatte, gemeinsam mit anderen Gruppen diskutierten und erarbeiteten wir Vorschläge. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, einen gemeinsamen Raum, eine gemeinsame Struktur zu finden.
Im vergangenen Jahr haben wir mit Organisationen zusammengearbeitet, die in anderen politischen Räumen engagiert sind. Thematisch standen dabei im Mittelpunkt: Chancengleichheit, Gewalt an Frauen im Hinblick auf das neue Strafgesetz, Gesetz über soziale und solidarische Ökonomie, Recht auf Trinkwasser, Ernährungssouveränität. Faszinierend ist, wie es bei aller Unterschiedlichkeit gelingt, gemeinsame politische Positionen zu finden.

Die Themen sind also sehr unterschiedlich, je nachdem, was die Frauen in ihrem Lebensbereich bewegt…
Nein, eigentlich nicht. Wir untersuchten die Themen, die die Frauen in die Asamblea einbringen, und stellten fest, dass sich diese wiederholen. Meistens sind es Konflikte um Naturressourcen – Energie, Wasser, Land, Ernährungssouveränität. Ein anderer Schwerpunkt ist Arbeit: würdige Arbeit, gerechte Entlohnung, Hausarbeiterinnen, soziale Sicherheit. Gewalt und die Debatte über eine soziale und solidarische Wirtschaftsordnung sind weitere Themenbereiche.

Wie können Sie ihre politischen Vorschläge und Forderungen in die aktuelle politische Agenda einbringen?
Bei den Gesetzesdebatten mobilisierten wir rund 1.000 Frauen, zu drei landesweiten Treffen kamen jeweils ca. 700 Teilnehmerinnen. Bei Veranstaltungen mit anderen Organisationen und politischen Autoritäten wurden gemeinsame Erklärungen aufgesetzt. Wichtig sind auch die Ergebnisse der Protestmärsche. Aus den Diskussionen im Umfeld der Demonstration vom 22. März ergab sich ein 16-Punkte-Katalog.
Darüber hinaus engagieren wir uns aber auch in anderen Räumen, zum Beispiel in akademischen Zusammenhängen und anderen Foren.

Welche Bedeutung hatte die Demonstration am 22. März für die AMPDE?
Es begann sehr konfliktreich, bereits am 8. März. Die linken Frauen schlugen den Frauentag als Beginn der Aktionen vor, die in der Demonstration des 22. März „für das Wasser, das Land und die Würde“ gipfeln sollten. Die Regierung jedoch organisierte eine Gegenveranstaltung zum 8. März: Regierungsfreundliche Frauen wurden mobilisiert, um in Quito zur Schau zu stellen, dass Frauen die Bürger_innenrevolution unterstützen.
Am 10. März fand der internationale Marsch der Huren (putas) statt, ein wahrhaft historisches Ereignis, mit dem der Begriff der Hure sprachlich angeeignet und von verschiedenen Frauenorganisationen positiv besetzt wurde. Dem folgte am 20. März der Marsch der landwirtschaftlichen Organisationen zu Gesetzen über Agrodiversität und Ernährungssouveränität. Hier bot sich durch Unterschriftensammlungen eine der seltenen Gelegenheiten zur unmittelbaren politischen Partizipation der Bevölkerung, die die Verfassung zulässt.
Und schließlich der Marsch vom 22. März, an dem wir als Asamblea de Mujeres teilgenommen haben. Es gelang uns, gemeinsam mit anderen Organisationen viele Teilnehmerinnen zu mobilisieren und es gab interessante Debatten.

Wie ist das Verhältnis der verschiedenen feministischen Strömungen und Organisationen untereinander? Gibt es Kooperationen?
Die Regierung hat hier viel zerstört…

Zerstört?
Ja, zerstört – aber nicht, weil sie bewusst zerstören wollten. Dadurch, dass die Regierung selber als Akteur auftritt, verlangt sie den Aktivistinnen ab, Position zu beziehen. Die Frauenorganisationen fragen sich nun, ob sie auf Regierungsseite stehen oder sich in einer sozialen Bewegung engagieren. Das ist eine komplexe Situation.
Beim Marsch der Huren am 10. März warf man uns als Asamblea vor, wir kritisierten die Regierung. Diesen Vorwurf hören wir oft, denn wir hinterfragen und begnügen uns nicht mit Vorschlägen der Regierung.
Andere Organisationen wie die transsexuellen und lesbischen Genoss_innen sehen das anders. Sie haben durch diese Regierung nun endlich eine Anerkennung erfahren, eine Ministerin ist Mitglied der Organisation lesbischer Frauen, und das ist wichtig für sie.
Für uns ist ihre Anerkennung auch wichtig, aber das ändert nichts daran, dass es immer noch Gewalt und Ungerechtigkeit gibt.
Wo bleibt die Verbesserung der sozialen Rechte? Wo bleibt die Umsetzung der Land- und Wassergesetze?
Dafür kämpfen wir weiter.

Kasten:

Alejandra Santillana
ist Aktivistin der Asamblea Nacional de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador (AMPDE) und Projektkoordinatorin im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito.

// DOSSIER: EXTRAKTIVISMUS IN LATEINAMERIKA

 

Foto: Olmo Calvo Rodríguez von der argentinischen Kooperative Sub [Cooperativa de fotógrafos]
(Download des gesamten Dossiers)

Die Ausbeutung von Rohstoffen ist für Lateinamerika nichts Neues. Seit der Kolonisation wurde der Kontinent geplündert, die Gewinne flossen in den globalen Norden. Für die lokale Bevölkerung blieben hingegen Armut, Krankheiten und Umweltschäden. Die Geschichte der hemmungslosen Ausbeutung hat der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano in seinem 1971 erschienenen Standardwerk Die offenen Adern Lateinamerikas eindrücklich geschildert.

Seit ein paar Jahren nun wird nun unter dem Stichwort „Neuer Extraktivismus“ wieder zunehmend über die negativen Folgen der Rohstoffförderung debattiert. Extraktivismus bedeutet in diesem Zusammenhang eine auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für den Export ausgerichtete Entwicklungsstrategie. Die Koordinaten haben sich allerdings verschoben. Denn heute erhöhen in vielen Ländern Lateinamerikas (Mitte)-Linksregierungen die staatliche Kontrolle über die Rohstoffe. Dabei ist die globale Bedeutung Lateinamerikas in diesem Bereich deutlich gestiegen. Lag dessen Anteil am weltweiten Bergbau 1990 zum Beispiel noch bei zwölf Prozent, so betrug er 2009 bereits 35 Prozent. Eine offen neoliberale Bergbaupolitik verfolgen nur noch wenige Länder in Lateinamerika, darunter Chile und Kolumbien.

In Ländern wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador müssen transnationale Konzerne heute deutlich höhere Abgaben entrichten. Mit dem Geld werden unter anderem Sozialausgaben gesteigert, was vielerorts zu einem deutlichen Rückgang der Armut und einer Verbesserung des Zugangs zu Bildung und Gesundheitseinrichtungen geführt hat. Bolivien und Ecuador haben als gesellschaftliches Ziel in ihren neuen Verfassungen die Verwirklichung des „guten“ oder „erfüllten Lebens” (buen vivir) formuliert, das auf indigenen Wertvorstellungen basiert. Ecuador hat sogar Rechte der Natur in der Verfassung festgeschrieben. Doch jenseits von öko-sozialistischen Diskursen hat sich an der Fixierung auf Rohstoffexporte nichts geändert. Im Gegenteil nimmt deren Bedeutung als Devisenquelle mit steigenden Staatsausgaben zu.

Der Uruguayer Eduardo Gudynas vom Lateinamerikanischen Zentrum für Sozialökologie (CLAES) charakterisiert die neuen Rohstoffpolitiken der progressiven Regierungen als „Neo-Extraktivismus” und hat damit in Lateinamerika eine Debatte über die Nachhaltigkeit des extraktiven Wirtschaftsmodells ausgelöst. Das Neue am Neo-Extraktivismus ist dabei – laut Gudynas – in erster Linie die größere staatliche Kontrolle über die Einnahmen aus den extraktiven Industrien. Die Ausbeutung der Rohstoffe werde durch die gerechtere Verteilung der Gelder wiederum stärker legitimiert und Kritik daran politisch marginalisiert. Anstatt an der Überzeugung festzuhalten, dass möglichst viele Einnahmen aus dem Rohstoffsektor abgeschöpft werden müssten, fordert Gudynas zum Nachdenken über Alternativen auf. In der Debatte um eine Überwindung des Extraktivismus geht es ihm dabei nicht darum, künftig sämtliche Rohstoffförderung zu unterbinden, wohl aber deutlich einzuschränken. Da der Weg zu einer post-extraktivistischen Ära langwierig sei, müssten Übergange eingeleitet werden, zu denen zunächst auch eine Erhöhung der Kontrolle über die extraktiven Industrien gehöre, wie sie etwa in Venezuela und Bolivien stattgefunden hat. Dabei stellt Gudynas auch den herrschenden Entwicklungsbegriff und dessen Linearität radikal in Frage. Statt einer „alternativen Entwicklung“ müssten „Alternativen zu Entwicklung“ diskutiert werden.

Bei aller schlüssigen Kritik am Extraktivismus darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass sich die progressiven, von einer breiten Bevölkerungsmehrheit demokratisch legitimierten Regierungen in einem realpolitischen Umfeld und dem ständigen Kampf um Souveränität befinden. Zwar hat es in der Geschichte Lateinamerikas immer wieder Verstaatlichungen (und teilweise Reprivatisierungen) von rohstofffördernden Industrien gegeben. Mit einer derart weitgehenden Rückkehr des Staates bei gleichzeitigem Anziehen der Rohstoffpreise, wie in den letzten Jahren, hatte in den 1990er Jahren jedoch kaum jemand gerechnet. In Folge der Schuldenkrise der 1980er Jahre war den meisten lateinamerikanischen Staaten von Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) als Bedingung für den Erhalt von Krediten eine Deregulierung der Wirtschaft und Verschlankung des Staates auferlegt worden. Dazu gehörte auch die Privatisierung des Bergbausektors. Ein neoliberales Investitionsklima sowie eine schwache Arbeits- und Umweltgesetzgebung zogen transnationale Bergbaukonzerne an.

Seit den letzten Jahren aber kontrollieren viele Staaten in Lateinamerika die Rohstoffförderung wieder stärker. Dabei steht außer Frage, dass, wenn schon Rohstoffe gefördert werden, die Einnahmen aus dem Geschäft der (marginalisierten) Bevölkerung zu Gute kommen sollten und nicht transnationalen Unternehmen. In vielen Fällen haben die Einnahmen aus dem Rohstoff-Export in links regierten Länder erst den Horizont für eine eigenständige Politik geöffnet, die nicht von den Weisungen der einzelnen Industriestaaten oder des IWF abhängig ist. Sollten neoliberale Kräfte in der Region wieder hegemonial werden, würde die Rohstoff-Politik weder ökologischer noch sozialer ausfallen. Die Gewinne wanderten schlicht wieder mehr in die Taschen der Privatwirtschaft. Die stärkere (sozial-) staatliche Kontrolle über die Rohstoffe stellt also durchaus einen ersten Fortschritt dar – längerfristig praktikabel ist die Fokussierung auf den Rohstoffexport dennoch nicht. In ganz Lateinamerika nehmen die sozioökologischen Konflikte mit Anwohner_innen von Bergbau-Projekten drastisch zu. Gegner_innen der Rohstoffförderung werden als Sympathisant_innen der rechten Opposition diffamiert und teilweise kriminalisiert. Das extraktivistische Modell zieht die Vertreibung von Menschen, die Zerstörung von Ökosystemen und landwirtschaftlichen Nutzflächen sowie die Verschmutzung von Wasservorräten nach sich. Der in einigen Ländern diskursiv gewünschte Übergang zu einer produktiven nicht-kapitalistischen Wirtschaftsweise, scheint durch den Extraktivismus nicht befördert, sondern umgekehrt behindert zu werden.

Mit dem Dossier Verbohrte Entwicklung werfen die Lateinamerika Nachrichten und das FDCL einen Blick auf die aktuelle Situation des Extraktivismus in Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Förderung mineralischer und fossiler Rohstoffe. Zunächst führt Eduardo Gudynas in die Diskussion um den Neuen Extraktivismus ein. Martin Ling erläutert am Beispiel des venezolanischen Erdöls die Schwierigkeiten eines Landes, dessen Wirtschaft überwiegend von nur einem Rohstoff abhängt. Anhand von Texten über Bolivien, Ecuador und Brasilien thematisieren Thilo F. Papacek, Ximeña Montaño und Christian Russau jeweils beispielhaft die Rohstoffpolitik der (Mitte-) Linksregierungen. Als Beispiel für eine strikt neoliberale Rohstoffpolitik beschreibt Alke Jenss anschließend, was es bedeutet, dass die kolumbianische Regierung den Bergbau zur „Lokomotive“ für die Exportwirtschaft erklärt hat. David Rojas-Kienzle zeigt am Beispiel des chilenischen Kupfers auf, dass die Geschichte von Verstaatlichungen im Rohstoffsektor keineswegs erst in den letzten Jahren begonnen hat. Im Interview geht der peruanische Bergbau-Experte und ehemaliger Vize-Umweltminister unter der aktuellen Regierung Humala, José de Echave, auf die zunehmenden Konflikte rund um den Extraktivismus in Peru ein. Als ehemaliges Kabinettsmitglied erläutert er die Schlüsselmomente, in denen die Regierung Humala sich vom erklärten Ziel einer anderen Rohstoffpolitik abwendete. Ronald Köpke beschreibt anschließend, wie der Kleinbergbau gegenüber dem industriellen Großbergbau benachteiligt wird, obwohl daran deutlich mehr Menschen finanziell partizipieren. Punktuell konnte der zunehmende Widerstand gegen die industrielle Rohstoffförderung bereits Erfolge verzeichnen, die über die bloße Aufschiebung einzelner Projekte hinausgehen und tatsächlich den Extraktivismus in Frage stellen. In Argentinien verabschiedete der Kongress im Oktober 2010 ein Gesetz zum Schutz der Gletscher, das die Ausbeutung von Rohstoffen in festgelegten Gebieten untersagt und einen Rückschlag für die Lobby-Arbeit großer Bergbaukonzerne darstellt. Ebenso verhält es sich mit dem im November 2010 beschlossenen Verbot aller neuen Projekte des offenen Metall-Tagebaus in Costa Rica als erstem Land in Lateinamerika. Antje Krüger und Markus Plate behandeln die beiden Fälle jeweils in ihren Artikeln.

Bei aller Kritik an den Regierungen, Konzernen oder Schwellenländern sollte indes eines klar sein: Ohne eine nachhaltige Senkung des Rohstoffkonsums im globalen Norden werden Übergänge zu post-extraktivistischen Modellen kaum möglich sein. Das auf fortwährendem Wachstum basierendes Wirtschaftsmodell kann aufgrund der Begrenztheit der meisten Rohstoffe sowie der vielfältigen Krisen des globalisierten Kapitalismus (Ernährungs-, Klima-, Energie- und Finanzkrise) nur radikal in Frage gestellt werden.

Kalter Putsch in Paraguay

Paraguays Ausflug in die Demokratie ist nach kurzer Zeit beendet. Am 22. Juni enthob der Senat des Landes den 2008 gewählten Präsidenten, Fernando Lugo, durch einen politischen Prozess seines Amtes. Als Nachfolger bestimmten die Senator_innen den bisherigen Vizepräsidenten, Federico Franco, von der Radikalen Authentischen Liberalen Partei (PLRA), mit der Lugo lange koalierte. Franco galt intern schon länger als schärfster Widersacher Lugos. Francos Partei vertritt die Interessen der Großgrundbesitzer_innen; zu Lugos buntem Unterstützer_innenkreis gehören vor allem Arme, Landlose sowie Kleinbauern und Kleinbäuerinnen.
Begründet wurde das politische Gerichtsverfahren mit einem blutigen Zusammenstoß zwischen Landbesetzer_innen und der Staatsmacht am 15. Juni in Curuguaty, nahe der brasilianischen Grenze. Dort besetzten Aktivist_innen ein Landstück des Großgrundbesitzers Blas Riquelme. Nach einigen Wochen der Besetzung ließ Riquelme Ende Juni „sein“ Grundstück mit Polizeigewalt räumen. In mehrstündigen Kämpfen starben dabei mindestens 17 Menschen, darunter sieben Polizisten, viele andere wurden verletzt. Woher die ersten Schüsse kamen, ist bislang ungeklärt. In einem Bericht der linken Nachrichtenwebseite Toward Freedom wurde beschrieben, wie die Polizei nach den Zusammenstößen Menschenrechtsgruppen nicht auf das Gelände ließen. Zahlreiche Beweise seien vernichtet worden. Augenzeug_innen berichteten davon, dass Scharfschützen die ersten Schüsse abfeuerten. Angesichts dieser Informationen wirkt es unglaubwürdig, dass die Gewalt wirklich von den Besetzer_innen ausging.
Der Jesuit Franco Oliva sprach im Interview mit der Agentur adital von einer „gut vorbereiteten Falle“, in die Lugo gelockt wurde. Die rechtskonservative Colorado-Partei Asociación Nacional Republicana (ANR) und die Liberalen hätten gespürt, dass sich in den sozialen Bewegungen zuletzt viel tat – und zogen die Reißleine, sagte der Befreiungstheologe.
Direkt nach den Vorfällen in Curuguaty hatte Lugo den Polizeichef entlassen, sein Innenminister Fillizola trat zurück. Landesweit protestierten Tausende gegen den Vorfall. Schließlich initiierte die Legislative das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo. Es wirkt so, als hätten seine Koalitionspartner, die Liberalen der PLRA, nur auf eine Gelegenheit gewartet, um mit ihren ehemaligen Erzfeinden, den Colorados der ANR, gemeinsame Sache zu machen, und ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.
Liberale und Colorados warfen Lugo unter anderem „schlechte Amtsführung“ vor. Die Verfassung Paraguays sieht tatsächlich seit 1992 bei schlechter Amtsführung ein politisches Gerichtsverfahren vor. Was das aber bedeuten soll, ist völlig unklar. Durchgeführt wurde das Verfahren niemals – es gibt nicht einmal ein Regelwerk dafür. Am Donnerstag, dem 21. Juni, stimmten 76 von 80 Kongressmitgliedern für die Durchführung eines Amtsenthebungsverfahrens. Tags darauf hatten zwei seiner Anwälte ganze zwei Stunden Zeit, ihn vor dem Senat zu verteidigen. Danach entschieden sich die Senator_innen mit 36 zu 4 Stimmen für die Amtsenthebung. Die Mehrheit in der Kammer hat die ANR, gemeinsam mit den Stimmen der rechtsliberalen PLRA kamen sie leicht auf die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Nur 24 Stunden nach der Eröffnung des Prozesses schwor der ehemalige Vizepräsident Franco seinen Amtseid.
Die Vorwürfe, die Lugo gemacht wurden, wirken zusammengeschustert und konstruiert. Angeblich habe der Präsident die Guerilla Paraguayische Volksarmee (EPP) unterstützt. Die EPP weist dies zurück, gegen die absurden Vorwürfe konnte sich Lugo nie richtig verteidigen. Die International Herald Tribune kommentierte, „das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo kam kaum auf das Niveau eines Schauprozesses.“
Nun regieren die Liberalen wieder das Land, zum ersten Mal seit 1936. Pikanterweise tun sie das mit dem Segen ihrer historischen Feinde, der Colorados. Die Colorados und die Liberalen hatten sich noch 1947 in einem Bürgerkrieg bekämpft. Unter der Diktatur des Colorados Alfredo Stroessner (1954-1989) war die PLRA lange verboten. Doch eigentlich vertreten beide Parteien vor allem die Interessen der mächtigen Agrarlobby.
Der Gegensatz zwischen der armen Landbevölkerung Paraguays und den Großgrundbesitzer_innen, die mit industrieller Landwirtschaft ein Vermögen verdienen, liegt allen politischen Konflikten des Lande zugrunde. Auch bei den Zusammenstößen in Curuguaty ging es um diesen Grundkonflikt. Die Proteste richten sich gegen den ehemaligen Funktionär der ANR Blas Riquelme, dessen Partei von 1947 bis zur Wahl Lugos mehr als 60 Jahre die Regierungsgewalt innehatte. Riquelme hatte den Landstrich in den 1970er Jahren, wie so viele andere Vertraute des Regimes von Diktator Alfredo Stroessner, erhalten. Diese Art der Besitzverteilung war lange normal in Paraguay. Schätzungen sprechen davon, das Stroessner während seiner Diktatur etwa 19 Prozent der Landesfläche an seine persönlichen Verbündeten verschenkte.
Nicht zuletzt wegen der engen Bindung der Agrarindustrie an die langjährige Stroessner-Diktatur besitzen heute weniger als drei Prozent der Bevölkerung rund 80 Prozent des Bodens. Obwohl seit 1989 die Stroessner-Diktatur beendet war, konnte man nicht von einer wirklichen Demokratisierung sprechen. Die Colorado-Partei regierte weiter im Interesse der Großgrundbesitzer_innen. Ihre zahlreichen Verbrechen wurden nicht geahndet, jeder Protest gegen sie aber kriminalisiert.
Fernando Lugos Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen 2008 basierte auf diesem Umstand. Lugo war Priester und seit 1994 Bischof der verarmten Diözese San Pedro. Stark beeinflusst von der Befreiungstheologie, die Katholizismus mit sozialistischen Positionen vereinbaren wollte, entschied er sich, sein Priesteramt aufzugeben und in die Politik zu gehen. Von der Hoffnung getragen, die bestehende Ungerechtigkeit im Land und die Herrschaft der Colorados zu beenden, wurde er 2008 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt.
Doch bisher war er damit kaum vorangekommen. Gegen die Stimmenmehrheit der Opposition im Parlament und gegen die Liberale PLRA in der eigenen Regierung vermochten es Lugo und seine Getreuen nicht, eine Landreform durchzusetzen. Landbesetzungen sind an der Tagesordnung, Menschenrechtsgruppen sprechen von mehr als 100 Toten, die in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren zu beklagen waren. Zunehmend waren auch die Unterstützer_innen Lugos von seiner Regierung enttäuscht, weil keine Landreform durchgeführt wurde. Für die Wahlen im kommenden April sahen Beobachter_innen schon vor dem Putsch eher einen Wahlsieg der Colorados voraus. Doch bis nächsten August, wenn der neue Präsident vereidigt wird, wollten Liberale und Colorados wohl nicht warten und fertigten den Präsidenten im Schnellverfahren ab.
Fast alle lateinamerikanischen Staaten verurteilten den Vorgang scharf. Selbst Kolumbiens Regierung, übermäßigen Sympathien für linke Regierungen völlig unverdächtig, sprach von einem „irregulären Verfahren“.
Deutschlands Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, hingegen gehört zu den wenigen, die den Umsturz begrüßten. Der FDP-Politiker war als erster europäischer Minister vor Ort und gratulierte dem Parteifreund Franco. Während mehrere Staaten ihre Botschafter_innen abzogen und von einem verkappten Putsch sprachen, sagte Niebel laut deutschen Medien:„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass es bei dem Regierungswechsel verfassungswidrig zugegangen ist.“ Mit der Meinung stand und steht er ziemlich alleine da, sogar das Auswärtige Amt ruderte inzwischen zurück und will die Situation eingehend prüfen.
Lugo selbst akzeptierte die Entscheidung des Senats – zunächst. Auch, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Denn bereits am Tag des Prozesses hatten sich etwa 5.000 Demonstrant_innen am Parlamentsgebäude eingefunden. Viele beklagten, dass das Busunternehmen die Verbindungen eingestellt hatten. Die Lizenzen für die Busse werden meist an politische Mandatsträger_innen verteilt. Nach der Verkündung der Entscheidung schlugen Polizist_innen los. Tränengas und Schlagstöcke wurden eingesetzt und die Menge auseinander getrieben. Bis zum Redaktionsschluss wurde überall im Land von Protesten gegen das neue Regime berichtet. Die Aktivist_innen vernetzen sich über die Webseite paraguayresiste.com.
Zu Treffen des MERCOSUR und des UNASUR luden die Mitglieder Lugo ein, die Regierung Franco wurde ausgeladen. Der geschasste Präsident sagte sein Kommen beim MERCOSUR-Gipfel in Mendoza zunächst ab. Die Mitglieder schlossen Paraguay bei dem Treffen aus der Staatenvereinigung vorläufig aus und nahmen dafür Venezuela auf. Genau das Land, dessen Aufnahme die paraguayische Agrarlobby stets zu verhindern wusste.
„Wir bedauern die Situation, aber es gibt zur Zeit in Paraguay keine funktionierende Demokratie“, sagte der brasilianische Außenminister Antonio Patriota. Lugo begrüßte den Entschluss. Eliten des neuen Regimes wiesen ihn zurück und brachten eine Volkabstimmung über einen Verbleib Paraguays in der Gemeinschaft ins Spiel.
Als Retourkutsche für die internationale Isolierung des Landes sucht nun der neue Außenminister Francos, Juan Fernández Estigarribia, die Nähe Großbritanniens. Dieses befindet sich mit Argentinien im Streit um die Malvinen/Falkland Inseln im Südatlantik vor der argentinischen Küste. Das Außenministerium in London kündigte an, die seit 2005 geschlossene Botschaft in Asunción wieder zu öffnen. In der Colorado-eigenen Netzzeitung El Colorado wurde bereits die Botschaft der „befreundeten Nachbarn“ begrüßt, eine eindeutige an Argentinien gerichtete Provokation.
War das Amtsenthebungsverfahren nun ein Parlamentsputsch oder nicht? Dieser Frage ging das paraguayische Verfassungsgericht am Montag, dem 25. Juni, nach. Nein, alles sei verfassungsmäßig abgelaufen. Formaljuristisch mag das stimmen, doch wenn man sich die Anklagepunkte anschaut, nach denen Präsident Lugo verurteilt wurde, bekommt man an der Legitimität der Entscheidung seine Zweifel. Wenn man bedenkt, wie schnell Lugo abgefertigt wurde, erst recht.
Dies sah auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte CIDH so. Die unabhängige Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten OAS schrieb in einer Pressemitteilung vom 23. Juni, dass „die Geschwindigkeit, mit der die Amtsenthebung durchgeführt wurde, unannehmbar“ sei. Die Kommission sehe die Rechtsstaatlichkeit in Paraguay gefährdet.
Die Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Iñigo Errejón und Alfredo Serrano attestierten im Fall Paraguay in der Zeitung El Ciudadano einen golpismo blando – einen „sanften Staatsstreich“. Dabei handele es sich um eine neue Form des undemokratischen Putsches. Zuletzt haben in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten staatliche Institutionen versucht, einen politischen Umsturz unblutig auf diese Art zu erzwingen, analysierten sie.
Berichten zufolge könnte der Parlamentsputsch von Akteuren aus der multinationalen Agrarindustrie gestützt worden sein. Saatgutunternehmen wie Monsanto und Cargill haben sich demnach mit Großgundbesitzer_innen und der Liberalen Partei verbündet, wodurch genmanipulierte Saat in Paraguay zunächst zugelassen wurde. Vertreter_innen eines von den Unternehmen dominierten Verbandes fuhren seit Längerem eine mediengestützte Hetzkampagne gegen Lugo-treue Regierungsmitglieder, hieß es.
Das hält auch Martin Almada, Träger des Alternativen Nobelpreises und Menschrechtsaktivist für plausibel. Er fordert eine rasche Untersuchung sowohl der tödlichen Kämpfe als auch der Amtsenthebung durch eine internationale und neutrale Kommission. „Wieder einmal wurden Recht und Gerechtigkeit ausgehebelt, wieder einmal auf dem Rücken der arbeitenden Klasse und der Kleinbauern“, sagte er. Almada fürchtet einen Rückfall in diktatorische Zeiten, etwa durch das Ausrufen eines Ausnahmezustandes und zunehmende politische Isolation des Landes.
Es sieht so aus, als könne die Agrarlobby nun wieder ungestört im Lande schalten und walten. Einige Agrarunternehmer_innen begrüßten bereits gegenüber der uruguayischen Zeitung El Observador die Ankündigung der Regierung Francos, Umweltstandards zu lockern. Künftig soll es wesentlich einfacher werden, Waldgrundstücke in Viehweiden umzuwandeln.
Allerdings könnte der Fall am Ende eine ganz neue Wendung nehmen. Der Widerstand gegen die Agrarlobby mehrt sich – und auch der Parlamentsputsch provozierte zahlreiche Proteste. So einfach wie zu Stroessners Zeiten wird sich nicht gegen die Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit regieren lassen. Egal, wer die nächsten Wahlen gewinnt.

// DOSSIER: INDIGENE JUSTIZ

 

Indigene Autorität der Ponchos Rojos hält einen Chicote als Symbol seines Amtes // Foto: Sub [Cooperativa de fotógrafos]
(Download des gesamten Dossiers)

Lynchjustiz, Willkür, Prügelstrafen – es sind keine positiven Assoziationen, die mit dem Thema indigene Justiz geweckt werden. Sicherlich ist die indigene ebenso wenig wie die staatliche Rechtsprechung ein Garant für faire und gleichberechtigte Rechtsprechung in Lateinamerika. Andererseits sind Gesetze kulturelle und moralische Normen, geronnen in Worte. Eine Kultur mit eigener Kosmologie und Moral hat das Recht auf eine eigene Justiz. Laut der UN-Deklaration über indigene Rechte haben Indigene nicht nur das Recht, ihre eigenen politischen, sozialen und kulturellen Lebensweisen zu pflegen, sondern eben auch ihr eigenes Justizwesen.

In diesem Dossier möchten die Lateinamerika Nachrichten die Diskussion um indigene Justiz aus einer polemischen Ecke herausholen und die vielfältigen Facetten dieses Themas aufzeigen. Dabei stellt sich für uns das Dilemma, dass wir bei einer Bewertung konkreter Fälle indigener Justiz einerseits immer aus einer europäischen Perspektive argumentieren, da wir nicht selbst betroffen sind. Anderseits haben wir den Anspruch, uns an die Seite von indigenen Akteuren zu stellen, welche die Rechtspraktiken indigenen Justiz aus einer emanzipatorischen Perspektive heraus kritisieren, die von der Universalität der Menschenrechte ausgeht. Welche indigenen Rechtsordnungen können mit dem Hinweis auf kulturelle Differenz gerechtfertigt werden – und welche nicht? Zur Beantwortung dieser Frage sollte zuerst geklärt werden, wer überhaupt von wem als indigen definiert wird. Eine Möglichkeit ist, die Individuen selbst zu fragen: Was bist du?

Hierbei besteht das Problem, dass Staaten gerne verbindliche Aussagen zu Identitäten haben wollen, beispielsweise in der Frage nach der Staatsbürgerschaft. Aber Menschen verändern ihre Antwort auf diese Frage. Sie hängt auch davon ab, ob die Menschen von der Antwort Vorteile oder Nachteile haben. Eine verbindliche Aussage zur eigenen Identität trägt den unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexten der Menschen nicht Rechnung.

Nationale und internationale Netzwerke von Indigenen verbinden Tradition und Modernität, Territorialität und Mobilität. Es gibt verschiedene Vorstellungen des guten Lebens, des gesellschaftlichen Fortschritts und von Gerechtigkeit. Wenn aus dem Wertepluralismus der Rechtspluralismus folgen soll, dann muss auch geklärt werden, für wen, wann und wo indigene Rechtsprechung gelten soll, sodass Willkür und doppelte Standards ausgeschlossen werden.

Damit in Bolivien eine Straftat unter die jeweilige indigene Rechtsprechung fällt, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Sie muss von einer Person, die sich selbst als indigen identifiziert, auf indigenem Territorium begangen worden sein und in den Rahmen gesetzlich definierter indigener Tatbestände fallen.

Im Gegensatz zu anderen Ländern versucht Bolivien, rechtsfreie Räume zu schließen und die Verfahrensregeln für die indigene Justiz festzulegen. Von 2007 bis 2009 wurde dazu die Verfassung überarbeitet. Ende 2010 ist ein Gesetz zur ihrer Umsetzung der Verfassung erlassen worden. Es hat sich also noch keine Rechtspraxis etabliert. Laut Verfassungstext soll sich der bolivianische Staat nach den Bedürfnissen der Bevölkerung als plurinationales Gebilde neu erfinden. Dies beschreiben der Jurist Farit Rojas Tudela und der Politologe Juan Pablo Neri in ihrem Beitrag über den Verfassungsprozess in Bolivien.

Wie diese Ideen in der bolivianischen Realität umzusetzen sind, ist eine schwierige Frage. Die indigene bolivianische Aktivistin Maria Eugenia Choque Quispe übt Kritik an den Regeln für die Indigene Justiz. Die Räume, die noch bleiben, seien zu klein, um wirklich handlungsfähig zu sein, kritisiert sie im Interview. Dabei liegen die Vorteile der indigenen Justiz für sie vor allem darin, dass die juristischen Prozesse der indigenen Gemeinden schnell und effizient seien und die Rechtsautoritäten genau wüssten, mit wem sie es zu tun hätten. Außerdem betont sie, dass das Recht in der indigenen Justiz eher gemeinschaftlich verstanden werde, die staatlichen Justiz hingegen eher auf das Individuum ausgerichtet sei. Die spanische Aktivistin Lola Cubells beschreibt die indigene Rechtsprechung in Chiapas als eine Möglichkeit für die Tzeltales, Konflikte im Gespräch friedlich zu lösen. Die Ausbildung ihrer Rechtsautoritäten steht seit kurzem auch Frauen offen.

Kritiker_innen der indigenen Justiz auf Verfassungsebene befürworten statt eines alternativen Systems die Stärkung der bestehenden Justiz, den Kampf gegen die Korruption und den Rassismus im bestehenden System sowie die Ergänzung durch neue Gesetzte für indigene Inhalte.

Denn wie kann eine indigene Justiz ihre politische Unabhängigkeit und Neutralität garantieren und nicht einfach dem Stärkeren Recht geben? Dieses Problem thematisiert Niels Barmeyer, der die „Usos y Costumbres“ in Oaxaca untersucht hat. Dort nutzen Gruppen, die innerhalb der indigenen Strukturen ihre Interessen nicht durchsetzen konnten, die Einflussmöglichkeiten des Staates aus, um diese Strukturen außer Kraft zu setzen. In diesem Fall bietet die indigene Justiz keine Alternative zu einem korrupten staatlichen Rechtssystem, sondern reproduziert dessen Probleme.

Der zentrale Kritikpunkt sind Strafen und Praktiken, die gegen die Menschenrechte verstoßen, wie die Einschränkung individueller Freiheitsrechte oder, im extremem Fall, auch Morde. Über dieses Extrem berichtet der Ethnologe Mathias Lewy in seinem Artikel über Venezuela. Jenseits der staatlichen Justiz liegen dort spirituelle Ideen den Morden zu Grunde. Lewy beschreibt, wie es zu dieser Situation auch dadurch kommen konnte, dass indigene Autoritäten, in diesem Falle Schaman_innen, ihren Einfluss verloren hätten beziehungsweise gar nicht mehr existieren würden.

Die vielen offenen Fragen und Probleme sind gegenwärtig nicht zu lösen. Im Interview äußert der indigene Aktivist Alancay Morales aus Costa Rica jedoch die Hoffnung, dass die Widersprüche und Konflikte zwischen staatlicher und indigener Justiz mit der Zeit pragmatisch gelöst werden können.

Das Dilemma zwischen der Achtung kultureller Differenz und dem Postulat der Gleichheit vor dem Gesetz kann jedoch nicht so einfach gelöst werden. Zur Einleitung des Dossiers versucht die Politologin Anna Barrera trotzdem, einen differenzierten Blick auf die indigene Rechtsprechung in Lateinamerika zu werfen.

Selbstbestimmung oder Barbarei

Die deutschen Medien verwenden das Schlagwort „indigenes Recht“ in jüngster Zeit zunehmend als Aufhänger für skandalträchtige Radiofeatures, Zeitungsartikel oder Videos. Bolivien scheint sich für solche Reportagen in besonders prägnanter Weise zu eignen. Da versieht der Zeit-Autor Ulrich Ladurner einen Artikel zum Thema mit dem Titel „Wo man Diebe verbrennt“. Er stellt die Frage, ob die formal-rechtliche Gleichstellung der staatlichen Rechtsordnung mit indigenen Rechtssystemen in Bolivien in eine „Barbarei“ münden wird – vergleichbar mit der Terrorherrschaft der Taliban im pakistanischen Swat Tal. Unhinterfragt erweckt der Text den Eindruck, indigene Rechtsausübung wäre quasi eine Form von Lynchjustiz. Oder das Deutschlandradio berichtet von einem bolivianischen Verfassungsrichter, der unter Zuhilfenahme von Koka-Blättern höchstrichterliche Urteile trifft. Titel: „Bolivianischer Richter urteilt mit Hilfe von Koka-Blättern.“ Die Radionachricht sieht von jeglicher Kontextualisierung der Information ab, hat aber noch genug Platz für den despektierlichen Beisatz, wonach Koka-Blätter dem Richter nebenbei auch helfen „mit Pflanzen, Bergen und Flüssen zu kommunizieren“. Angesichts dieser oft oberflächlichen und vorurteilsbeladenen Berichterstattung ist es nicht nur angebracht, sondern höchste Zeit, sich etwas rationaler und fundierter mit der Frage auseinanderzusetzen, worum es eigentlich geht, wenn wir von indigener Justiz in Lateinamerika reden.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Ausübung indigenen Rechts ein international anerkanntes und zunehmend auch in nationalen Verfassungen verankertes Kollektivrecht indigener Völker darstellt. Auf Protestmärschen, Dialogforen und Verfassunggebenden Versammlungen machten Vertreter_innen indigener Bevölkerungen in den vergangenen Jahrzehnten ihre Forderungen nach Selbstbestimmung laut. In Bezug auf indigene Bevölkerungsgruppen beinhaltet das Konzept der Selbstbestimmung die Möglichkeit, innerhalb der existierenden Staaten gemäß eigenen Vorstellungen von Entwicklung zu leben und sich als Gruppe selbst zu regulieren. Dazu gehört die Aufrechterhaltung eigener Formen kultureller, sozialer, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Organisation. Auf internationaler Ebene flossen diese Forderungen in das 1991 in Kraft getretene Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein, wo es unter anderem heißt:

Art. 8.1. Bei der Anwendung der innerstaatlichen Gesetzgebung auf die betreffenden Völker sind deren Bräuche oder deren Gewohnheitsrecht gebührend zu berücksichtigen.
Art. 8.2. Diese Völker müssen das Recht haben, ihre Bräuche und Einrichtungen zu bewahren, soweit diese mit den durch die innerstaatliche Rechtsordnung festgelegten Grundrechten oder mit den international anerkannten Menschenrechten nicht unvereinbar sind.

Die inhaltlich weiter gehende, 2007 verabschiedete Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker bestätigt das Recht auf eigene Rechtsinstitutionen gleich zweifach. An seiner Formulierung waren deutlich mehr Repräsentant_innen indigener Gruppen involviert als an der vorangegangenen ILO Konvention,

Art. 5 Indigene Völker haben das Recht, ihre eigenen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen zu bewahren und zu stärken, während sie gleichzeitig das Recht behalten, uneingeschränkt am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Staates teilzunehmen, sofern sie dies wünschen.
Art. 34 Indigene Völker haben das Recht, ihre institutionellen Strukturen und ihre Bräuche, Spiritualität, Traditionen, Verfahren, Praktiken und, wo es sie gibt, Rechtssysteme oder Rechtsgewohnheiten im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen zu fördern, weiterzuentwickeln und zu bewahren.

Die meisten lateinamerikanischen Staaten gehören sowohl zu den Unterzeichnerinnen des rechtlich bindenden ILO Übereinkommens 169, als auch zu den Ländern, die sich bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung für die Annahme der Erklärung von 2007 ausgesprochen haben. Entsprechend haben viele dieser Staaten indigenen Bevölkerungsgruppen, die auf ihrem Territorium ansässig sind, im Zuge von Verfassungsreformen das Recht auf die Ausübung eigener Justiz zugesichert. Dazu gehören zum Beispiel Brasilien, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Mexico, Nicaragua, Paraguay, Peru und Venezuela. Ähnlich wie in den internationalen Normen werden der Ausübung dieses Rechts jedoch Schranken gesetzt, meist durch eine Klausel, wonach diese Praktiken nicht gegen ihre nationalen Verfassung oder die Menschenrechte verstoßen dürfen.

Ein wesentlicher Aspekt im Hinblick auf indigene Justiz bezieht sich auf die Tatsache, dass es sich hierbei keinesfalls um eine homogene Praxis über alle Regionen und indigenen Bevölkerungsgruppen hinweg handelt, sondern vielmehr um eine äußerst vielfältige „Rechtslandschaft“. Rechtsanthropolog_innen in Lateinamerika betonen, dass nicht einmal eine indigene Gruppe (zum Beispiel die Mapuche in Chile) mit einem einheitlichem Rechtssystem gleichgesetzt werden darf. Die Normen und Verfahren einer lokalen Gemeinde können sich durchaus von den entsprechenden Praktiken der Nachbargemeinde unterscheiden, selbst wenn beide ein und derselben Gruppe angehören. Das macht die Suche nach übergreifenden Charakteristiken natürlich nicht einfacher. Diese ist dennoch erforderlich, nicht zuletzt, um klarer abzugrenzen, wo indigene Justiz aufhört und Lynchjustiz, die die Medien oft mit indigenen Rechtspraktiken gleichsetzen, anfängt.

Die Suche nach Elementen, die in einer Vielzahl indigener Rechtssysteme präsent sind, führt zunächst einmal zu den Autoritäten, die die Kompetenz haben, Recht auszuüben. Diese Funktion wird in indigenen Gemeinden nicht von einer beliebigen Person oder einer sich spontan versammelnden Gruppe von Anwohner_innen ausgeübt (wie bei Fällen der Lynchjustiz üblich). In der Regel übertragen Gemeinden diese Kompetenz an spezielle Gemeindemitglieder, wobei die konkreten Verfahren jeweils stark variieren. In einigen Gemeinden ist etwa die Ernennung erfahrener Personen in einen Ältestenrat üblich. Andernorts wählt die Gemeinde Mitglieder, die ein gesellschaftlich und moralisch vorbildliches Verhalten aufweisen, auf bestimmte Zeit in das Amt der Rechtsautorität.

Konflikte, die an indigene Rechtsautoritäten herangetragen werden, beziehen sich typischerweise auf Fragen des Landbesitzes, die Nutzung von natürlichen Ressourcen wie kollektivem Weideland oder Wasser, den Diebstahl von Vieh oder Sachgegenständen oder den Schaden, der durch Vieh auf benachbarten Feldern angerichtet wird. Auch Streitigkeiten zwischen Nachbar_innen und familiäre Konflikte wie Erbstreitigkeiten oder häusliche Gewalt sind Themen. Gelegentlich müssen sich Rechtsautoritäten aber auch mit übersinnlichen Phänomenen wie der Hexerei auseinandersetzen.

Während sich Lynchjustiz an spontanen Willkürakten einer aufgebrachten Menschenmenge festmachen lässt, folgt indigene Justiz Regeln und Verfahren, die meist zwar nicht in einem „Gesetzbuch“ niedergeschrieben, aber dennoch allen Gemeindemitgliedern bekannt sind. Die Verfahren umfassen verschiedene Phasen: Der Auftakt eines rechtlichen Verfahrens besteht oftmals darin, dass die zuständige Rechtsautorität einer Gemeinde von einem Problem oder Konflikt erfährt. Sie wird zunächst versuchen, alle beteiligten Konfliktparteien anzuhören und danach wichtige Details des Falls zu klären. Dies kann durch die Befragung von Zeug_innen, die Einholung von Unterlagen oder die Begehung relevanter (Tat-)Orte geschehen. Im Anschluss bemüht sich die Rechtsautorität um eine mögliche Lösung des Konflikts, wobei sie den Rat von Ältesten oder erfahrenen Gemeindemitgliedern hinzuziehen kann. Oftmals werden die Konfliktparteien selbst dazu aufgefordert, Lösungen vorzuschlagen oder Übereinkünfte zu treffen.

Akte der Lynchjustiz lassen der Suche nach alternativen Lösungsvorschlägen keinen Raum. Die Dynamik der aufgebrachten Masse zielt in der Regel einzig auf die Vergeltung des (vermeintlichen) Rechtsverstoßes durch Tötung, oder zumindest die Absicht der Tötung der Beschuldigten ab, und dies oftmals in einer brutalen und unmenschlichen Art, die der Folter nahekommt. Im Vergleich dazu zielen Sanktionen oder Resolutionen indigener Rechtsautoritäten darauf ab, den entstandenen Schaden wieder gut zu machen und so das aus den Fugen geratene Gleichgewicht in der Gemeinde wiederherzustellen. Personen, die einen Schaden angerichtet haben, sollen über ihr Fehlverhalten reflektieren, den Schaden kompensieren, aber auch die Chance erhalten, sich in die Gemeinschaft zu reintegrieren. Sanktionen werden nicht pauschal ausgesprochen, sondern richten sich nach dem Grad des begangenen Rechtsverstoßes. Zu den typischen Sanktionen im indigenen Recht gehören etwa ein öffentliches Gelöbnis der Verhaltensänderung, die Wiedergutmachung eines Schadens durch Gemeindearbeit, Vergütung in Geld oder anderen materiellen Sachleistungen oder körperliche Strafen. Dies können Bäder im kalten Wasser, aber auch Peitschenschläge mit Brennnesseln oder Viehriemen sein. Gerade letztere rufen häufig Kritiker_innen auf den Plan, die solche physischen Strafen als Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit oder als Folter interpretieren. Expert_innen im indigenen Recht argumentieren hingegen, dass diese Praktiken weder darauf abzielen, die Person ihrer Würde zu berauben, noch die Gesundheit der Person ernsthaft aus Spiel zu setzen. Vielmehr heben sie den Aspekt der spirituellen Reinigung der Person hervor, bei welcher der physische Schmerz Teil des Besinnungsprozesses ist.

Zu weiteren wichtigen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Lynchjustiz und indigener Jusitz zählt einmal die Tatsache, dass in vielen indigenen Gemeinden die Möglichkeit besteht, sich an eine höhere Instanz zu wenden, etwa die Dachorganisation der ethnischen Gruppe. Diese kann ein Urteil überprüfen und revidieren, wenn sich dieses erste Urteil als fehlerhaft erweist. Zum zweiten können bei indigener Justiz Wiederholungstäter_innen beziehungsweise Personen, die ihre Strafauflagen nicht erfüllen, durch erneute Rechtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Oftmals hat das zur Folge, dass die Sanktionen verschärft werden oder mit der Übergabe des Falls an die staatliche Justiz gedroht wird. Im Übrigen orientieren sich auch sehr weit abgelegene indigene Gemeinden zunehmend an den nationalen Normen ihrer Staaten, weshalb Sanktionen wie die Todesstrafe, die früher in einigen Regionen durchaus bei besonders schweren Vergehen angewandt wurde, in den wenigsten Gemeinden noch zum Repertoire der Rechtsausübung gehört. Stattdessen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der überwiegenden Mehrheit indigener Gemeinden der Ausstoß aus der Gemeinde, und damit der Verlust der Gemeinderechte und des unmittelbaren sozialen Netzes, zur härtesten Strafe entwickelt.

Ein Punkt, bei dem die Grenzen zwischen Lynchjustiz und indigenem Recht schon eher fließend werden, ist die Frage nach den Orten oder Schauplätzen, an denen diese praktiziert werden. Wo die sozialen Netze einer Gemeinde noch dicht und die eigenen Organisationsstrukturen gut aufgestellt sind, finden wir häufig auch eine effektiv funktionierende und von den Bewohner_innen respektierte Verwaltung der eigenen Justiz vor. Allerdings sind viele ländliche Gemeinden längst von temporärer oder dauerhafter Migration gekennzeichnet. Die jüngere Generation sucht nach besseren Ausbildungsmöglichkeiten in Städten und viele Familien haben neben ihrem Standbein auf dem Land und der dort betriebenen Landwirtschaft längst ein zweites Standbein in urbanen Zonen aufgestellt, um so ihre Einkommensquellen zu diversifizieren. Vor diesem Hintergrund wird es zunehmend schwieriger, stabile Strukturen der Selbstregulierung in ländlichen Gemeinden aufrechtzuerhalten. In Regionen, in denen eigene Organisationsstrukturen geschwächt oder abhanden gekommen sind, aber ebenso in semiurbanen Zonen und städtischen Peripherien, ist Lynchjustiz daher eher anzutreffen. So wie auf dem Land, ist auch in diesen Zonen die Präsenz von Polizei und anderen Ordnungskräften minimal. Diese können oftmals nur machtlos dabei zusehen, wenn Bürger_innen „die Justiz in ihre eigenen Hände“ nehmen.

Konstellationen wie die hier beschriebene, in denen staatliches Recht und indigene Justizformen nebeneinander existieren und sich teilweise überlappen, werden gemeinhin unter dem Stichwort Rechtspluralismus diskutiert. Diese Sphären sind freilich nicht voneinander abgeschottet, sondern stehen meist in unbequemen und konfliktträchtigen Beziehungen zueinander. Die Gewichtung, die Vereinbarkeit der normativen Inhalte, aber auch konkreten Zuständigkeiten für Personengruppen, Sachverhalte und geographische Regionen sind unklar.
Eine wichtige Härteprüfung für indigene Justiz in Lateinamerika bildete der mit dem Kolonialismus einhergehende Einzug kontinentaleuropäischer und christlich geprägter Werte und Ordnungsvorstellungen. Je nach den jeweiligen politischen und ökonomischen Interessenlagen der Herrschenden in bestimmten Regionen wurde indigenes Recht geduldet, gewaltsam unterdrückt oder schlicht ignoriert. Die Aufrechterhaltung indigener Rechtsvorstellungen beziehungsweise Versuche ihrer Neukonstituierung über alle Widrigkeiten hinweg, wird heute von indigenen Bevölkerungsgruppen als eine Form von Resistenz gegen jahrhundertelange Diskriminierung verstanden. Doch hat indigene Justiz nicht nur als kulturelle Praxis überlebt, weil sie von indigenen Gemeinden als legitimer Ausdruck ihrer Selbstbestimmung angesehen wird. Sie bildet auch eine effektive Alternative zum staatlichen Rechtssystem, das in Lateinamerika mit enormen Schwächen beladen ist – hohe Kosten, lange Wartezeiten, bürokratische Verfahren, unangemessene Ausstattung, geringe flächendeckende Präsenz, Korruption und Straflosigkeit – um nur einige zu nennen.

Ohne jeglichen Zweifel ist aber auch indigenes Recht nicht frei von Problemen: Neben den bereits erwähnten körperlichen Strafen, die bisweilen schwer mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sind, sind auch diese Systeme nicht vor Missbrauch der handelnden Autoritäten gefeilt. Weil die Ausübung von Recht in den Händen eines Nachbarn beziehungsweise einer Nachbarin oder gar eines Familienmitglieds liegt, kann von Neutralität gegenüber den Konfliktparteien keine Rede sein. Daneben ist indigene Justiz vielerorts eine männlich dominiere Sphäre, die dazu führt, dass sich Frauen seltener mit ihren Problemen an die Rechtsautoritäten wenden, und wenn sie dies doch tun, sie sich oft mit völlig unangemessenen Urteilen konfrontiert sehen. So kann es durchaus vorkommen, dass die sexuelle Vergewaltigung einer Minderjährigen durch die Abgabe zweier Kühe oder eine Heirat mit dem Vergewaltiger beglichen wird.

Zugleich darf nicht übersehen werden, dass indigene Rechtsordnungen nicht fix und unveränderbar sind, sondern sich vielmehr im Laufe der Zeit weiter entwickelten. Sie passten sich an neu in den Gemeinden auftretende Konflikte und Gegebenheiten an. Dabei eigneten sich die jeweils handelnden Akteure auch Elemente aus dem kolonialen und republikanischen Recht an und verwendeten diese nicht zuletzt zur Legitimierung der eigenen Autorität nach innen und nach außen. Insofern besteht zumindest Grund zu der Annahme, dass indigene Rechtsautoritäten auch heute in der Lage sein sollten, Normgehalte jüngeren Datums in ihre eigene Praxis zu übersetzen, sofern sie zu der Überzeugung gelangen, dass diese dem Gemeinwohl aller dienen könnten.
Mit der rechtlichen Anerkennung indigenen Rechts in vielen lateinamerikanischen Staaten ist ein erster wichtiger Schritt zum Dialog zwischen den verschiedenen Rechtskulturen getan worden. Das klassische Nationalstaatsmodell, das dem Staat ein Monopol auf die Rechtsausübung zusicherte, wurde damit zumindest formell überwunden. Nun aber müssen weitere Schritte folgen. Staatliche Institutionen müssen sich für die Aufnahme normativer Wertvorstellungen indigener Herkunft öffnen. Wichtige Rahmengesetzgebungen wie die nationalen Strafgesetzbücher sollten im Hinblick auf die neue Rechtswirklichkeit reformiert werden. Curricula der Rechtsfakultäten sollten um das Thema indigener Justiz angereichert werden. Bei staatlichen Rechtsverfahren, in denen indigene Personen involviert sind, sollte die Hinzuziehung indigener Rechtsautoritäten oder Rechtsanthropolog_innen Standard werden. Die Koordination zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen sollte zumindest in ihren Grundzügen klar geregelt werden. (Das entsprechende Gesetz in Bolivien ist zwar das erste seiner Art, lässt aber zu viel Raum für Kritik und offene Fragen). Staatlichen und indigenen Rechtsautoritäten sollten Räume für Austausch und die Formulierung von Übereinkünften gegeben werden. Auch indigene Autoritäten sollten sich nicht vor der Verantwortung scheuen, sich auf diesen interkulturellen Dialog einzulassen. Es ist notwendig, dass sie sich über nationale und internationale Rechtsstandards informieren und Veränderungen der eigenen Rechtspraxis dort einleiten, wo die gängigen Normen, Verfahren und Sanktionen nicht mehr zeitgemäß erscheinen und Rechte schwächerer Gemeindemitglieder beeinträchtigen. Und wenn die Medien auch nur einen Teil der Energie und Ressourcen, die sie bislang in die skandalisierte Berichterstattung zu indigener Justiz eingesetzt haben, fortan in einen der eben genannten Bereiche investieren würden, wäre schon viel getan.

 

(Download des gesamten Dossiers)

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