Warten auf den nächsten Caudillo

Nicolás Maduro ließ es sich nicht nehmen, die neuste Whistleblowing-Affäre zu kommentieren. Der venezolanische Präsident erklärte – nicht ohne die obligatorische Breitseite gegen den Lieblingsfeind im Norden auszuteilen – sein Land würde einem Asylantrag des US-amerikanischen Ex-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden höchstwahrscheinlich zustimmen. Snowden hatte massive Internetüberwachung durch die US-Geheimdienste publik gemacht.
Erst wenige Wochen zuvor hatte auch die venezolanische Öffentlichkeit Gelegenheit, ihren ersten Geheimdienstskandal im digitalen Zeitalter zu debattieren. Der Opposition war die Aufzeichnung eines Gesprächs des bekannten Fernsehmoderators Mario Silva mit einem Mitarbeiter des militärischen Abschirmdienstes Kubas in die Hände gefallen. Silva scheint sich mit seinem polemischen Haudraufjournalismus in den letzten Jahren wenig Freunde gemacht zu haben. Zunächst schob er die Schuld dem israelischen Geheimdienst Mossad in die Schuhe, der eine sehr gute Montage erstellt habe, um wenige Tage später das vorläufige Ende seiner Tätigkeit für den staatlichen Fernsehkanal VTV bekannt geben zu müssen.
In der aufgeheizten politischen Stimmung der Wochen nach dem denkbar knappen Ausgang der Präsidentschaftswahlen dürfte die venezolanische Opposition diesmal also einen Triumph feiern. Silva liefert in der Aufzeichnung einen erschütternden Blick auf Korruption und Spaltung in den Reihen der venezolanischen Sozialisten. Der venezolanische Parlamentspräsident Diosdado Cabello, der bereits seit Jahren für einige der sozialen Bewegungen des Landes als Repräsentant der korrupten Funktionärselite des Bolivarianismus gilt, habe sich zusammen mit seinem Bruder und anderen Gefolgsleuten nicht nur die staatliche Devisenbehörde, sondern darüber hinaus auch die für die Steuereintreibung zuständige Institution SENIAT einverleibt. Gestützt auf seinen Einfluss im Militär sei Cabello auf dem Sprung, die Macht an sich zu reißen, erklärte ein besorgter Mario Silva auf den Tapes. Eine Gruppe blutsaugender Journalist_innen hätte sich zudem des Staatsfernsehens VTV bemächtigt. Der Präsident sei von französischen Beratern, vor allem aber von der eigenen Ehefrau um den Finger gewickelt worden und verstünde nicht, dass Lateinamerika ein Kontinent der Caudillos sei. Nicolas Maduro hatte sich im Wahlkampf bemüht, in eben jene Rolle zu schlüpfen, und war daran grandios gescheitert. Seine peinlichen Imitationsversuche des verstorbenen Kommunikationstalents Chávez kosteten ihn innerhalb von nur drei Wochen seinen in den Umfragen noch komfortablen Vorsprung von zwischenzeitlichen 20 Prozentpunkten gegenüber der Opposition.
Durch die mit nur 200.000 Stimmen Differenz knappe Wahlniederlage hatte die venezolanische Opposition nach Jahren der demokratischen Chancenlosigkeit Morgenluft gewittert. Die Beweise für einen angeblichen Wahlbetrug blieben zwar in der Folge dürftig und vor allem widersprüchlich. Das von der gefühlten Wahlniederlage vollkommen überrumpelte Regierungslager tat jedoch mit seinem öffentlichen Hin- und Her bei der Frage nach einer Neuauszählung sein Übriges, um der aufgestauten Wut eines Teils der Bevölkerung ein Ventil zu öffnen. Insbesondere die zeremonielle Proklamation des Wahlsiegs am Tag nach der Abstimmung dürfte die Protestbereitschaft vieler der Opposition nahestehender Venezolaner_innen befeuert haben. Demonstrative Küsschen zwischen Maduro und der Präsidentin des Wahlrates Tibisay Lucena sowie Beschimpfungen der Oppositionswähler als Vaterlandsverräter zur Amtseinführung hatten weder zur Entspannung der Lage noch zur Herstellung größerer politischer Legitimation der gewählten Regierung beigetragen.
In der Folge radikalisierte die noch im Wahlkampf um moderate Töne bemühte Opposition um ihren Spitzenkandidaten Henrique Capriles Radonski ihren Diskurs und stellte offen die Legitimation des Präsidenten in Frage. Nach anfänglich friedlichen Protesten für eine Neuauszählung der Wahlen schwappte die Stimmung schnell in Gewalt um. Je nach Quelle sollen zwischen acht und 14 Anhänger_innen der Regierung in den folgenden Tagen von rechten Fanatiker_innen ermordet worden sein.
Auch wenn viele hysterische Vergleiche mit dem Staatsstreich von 2002 eher der Diskreditierung des politischen Gegners dienten, hatten die Warnungen vor einem möglichen Putschversuch durchaus eine reale Grundlage.
So hat die Wahl in Venezuela letztlich viele Verlierer_innen hervorgebracht. Die nach den Auseinandersetzungen der ersten Tage erfolgte Neuauszählung konnte zwar das Wahlergebnis bestätigen, das Vertrauen in die nationale Wahlbehörde CNE ist für viele Venezolaner_innen trotzdem beschädigt. Insbesondere die Weigerung der CNE wegen Maduros Aussage zu ermitteln, er kenne die Namen und Personalausweisnummern der Mitglieder seiner Partei, die nicht oder gegen ihn gewählt hätten, brachte die verfassungsrechtlich unabhängige vierte Gewalt Venezuelas in eine Legitimationskrise.
Doch auch der im Wahlkampf als neuer charismatischer Führer gefeierte Kandidat der Opposition, Henrique Capriles Radonski, hat in den Wochen nach der Wahl sein mühsam aufgebautes Bild des großen nationalen Versöhners nachhaltig beschädigt. Insbesondere seine mangelnde Distanzierung von der brutalen Gewalt von Teilen des eigenen Lagers führte dazu, dass viele oppositionelle Wähler_innen der oberen und unteren Mittelschicht den Protesten gegen die angeblich gefälschten Wahlen fernblieben. Die medial ausgeschlachteten Treffen mit Vertretern der lateinamerikanischen Rechten haben seinen politstrategisch erfolgsversprechenden Kurs in die politische Mitte zudem abrupt beendet.
Das politische Momentum ist der venezolanischen Opposition deshalb wieder entglitten. Dabei bietet die Regierung genügend Angriffsflächen. Die Inflationsrate erreichte im Mai den Rekordwert der letzten 15 Jahre. Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres lag die Teuerungrate damit bei über 18 Prozent. Im Superwahljahr 2012 hat sich zudem die Staatsverschuldung nach offiziellen Angaben um 20 Milliarden US-Dollar erhöht. Bei einer Wirtschaftsleistung von knapp 300 Milliarden US-Dollar liegt die Schuldenquote nach der in den ersten Jahren des Erdölbooms erfolgreichen Konsolidierung der Staatsfinanzen wieder bei über 50 Prozent. Diese Zahl ist zwar im internationalen Vergleich alles andere als dramatisch. Der Versuch, die gestiegenen Konsumbedürfnisse der eigenen Klientel allein aus der Staatskasse zu finanzieren, dürfte jedoch eine Trendumkehr schwierig machen.
Durch die Währungsüberbewertung, mit der die Kaufkraft der Bevölkerung gesteigert werden soll, hat sich die einst so verteufelte Importabhängigkeit des Landes noch weiter verstärkt. Nach einer kurzen Konsum-Bonanza in den Jahren 2004 bis 2007 sind die Reallöhne insbesondere der unteren Mittelschicht wieder massiv gesunken.
Der eigentliche Kern einer sozialistischen Revolution, die Demokratisierung der Wirtschaft durch Kooperativen und selbstverwaltete Betriebe, wurde schon in den letzten Regierungsjahren des großen „Comandante“ wieder verworfen. Präsident Maduro betonte jüngst, dass er auch in Zukunft keine weiteren Anstrengungen in diesem Bereich für sinnvoll hält. Der Versuch der Regierung, den ökonomischen Folgen einer allein auf Petrodollars basierenden Umverteilungspolitik mit Staatsunternehmen zu begegnen, hat sich zudem als hochgradig ineffizient bewiesen. Besonders in den wenigen Industrieanlagen des Landes, der Stahl- und Aluminiumproduktion Guayanas, hat die Verstaatlichung zu einem rasanten Abstieg der Produktionsmengen geführt.
Venezuela dürften deshalb turbulente Zeiten bevorstehen. Mit steigenden Preisen und sinkenden Einkommen ist die soziale und wirtschaftliche Legitimation der „bolivarianischen Revolution“ gefährdeter denn je. Ein sich aufgrund der abkühlenden Wachstumszahlen Chinas und einer weitergehenden Krise der westlichen Industrienationen verringernder Ölpreis könnte die venezolanische Regierung sogar schon kurzfristig vor massive Probleme stellen.
Zudem ist die politische Legitimation der Regierung seit der Wahl zumindest nicht gewachsen. Besonders aber das Fehlen eines gemeinsamen politischen Projekts nach Jahren chavistischer Personalisierung dürfte den zentrifugalen Kräften innerhalb der bolivarianischen Bewegung weiter Aufschwung verleihen.
Nachdem die Turbulenzen einer vor allem von der Opposition gesuchten Zuspitzung des politischen Konflikts nach den Wahlen überstanden sind, scheint sich Maduro zwar nun wieder auf seine alte Rolle als verhandlungserfahrener Gewerkschafter zu besinnen. Mit den nationalen Medienunternehmen diskutierte er über ein gemeinsames Vorgehen gegen eine „mediale Kultur der Gewalt“. Mit den Unternehmerverbänden verhandelte er über Versorgungsengpässe und Wettbewerbsnachteile und versprach gleichzeitig mehr Devisen und Subventionen für den privaten Sektor. Damit ermöglichte er auch die Umsetzung des von der venezolanischen Nationalversammlung beschlossenen Arbeitsgesetzes, das in Venezuela zur Einführung der 40-Stunden Woche, der massiven Ausweitung der bezahlten Elternzeit und Inklusion der prekarisierten Selbstständigkeit in die Sozial- und Rentenversicherung führte.
Dennoch können die tiefen Risse in der venezolanischen Gesellschaft nach dem Tod des „Giganten“ Hugo Chávez von keinem der bisher in der ersten Reihe stehenden Politiker_innen überwunden werden. Es scheint sich also zu bewahrheiten, dass am Ende einer charismatischen Herrschaft wieder einmal ein gesamtes politisches System auf dem Prüfstand steht. Es bleibt dabei zu hoffen, dass eine Demokratin oder ein Demokrat in der Lage sein wird, die Hoffnungen der Venezolanerinnen und Venezolaner auf die „Befreiung der Nation“ von Korruption und Misswirtschaft zu erfüllen. Das Warten auf den nächsten Caudillo hat jedenfalls begonnen.

Maduro siegt, Opposition gewinnt

Gerade einmal knapp 225.000 Stimmen trennten die beiden Kontrahenten. Der Sozialist Nicolás Maduro erreichte bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 14. April 50,61 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles kam auf 49,12 Prozent. Fünf Wochen zuvor war der erst am 7. Oktober 2012 wieder gewählte Präsident Hugo Chávez Frías nach einer langen Krebserkrankung verstorben. Bereits im Dezember letzten Jahres hatte er seiner Partei, der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), als Nachfolger den Vizepräsidenten und zuvor langjährigen Außenminister des Landes, Nicolás Maduro, empfohlen. Der Tod von Hugo Chávez markiert gleichzeitig die besondere Bedeutung dieses Wahlgangs. In Wahlgängen, bei denen er nicht persönlich als Kandidat angetreten war, fielen sowohl die Wahlbeteiligung als auch die Erfolge der bolivarianischen Bewegung stets deutlich geringer aus. Dies ging sogar soweit, dass die Opposition bei den Parlamentswahlen 2010 und beim Referendum über die Verfassungsänderung im Jahr 2007 mit leichtem Vorsprung gewann.
Gemessen an diesen Ergebnissen erzielte Nicolás Maduro ein gutes Resultat. In absoluten Zahlen erhielt er fast 7, 6 Millionen Stimmen und damit das zweitbeste Ergebnis der bolivarianischen Bewegung. Während er allerdings einen Verlust von 600.000 Stimmen gegenüber dem Ergebnis von Hugo Chávez im Oktober 2012 zu verzeichnen hatte, gewann die Opposition noch einmal 760.000 hinzu. Damit näherten sich die Kontrahenten auf weniger als zwei Prozent an – ein knappes und für alle Beobachter_innen überraschendes Ergebnis. Bei einer leicht höheren Wahlbeteiligung – sie lag aktuell bei 79,7 Prozent – hatte der Vorsprung von Hugo Chávez im Oktober letzten Jahres noch 1,6 Millionen Stimmen beziehungsweise knapp elf Prozent ausgemacht.
Eine Besonderheit historischen Ausmaßes liegt im Verlauf der Prognosen vor diesem Wahlgang. Am 17. Februar veröffentlichte das private Institut Hinterlaces erstmals ein Ergebnis, nach dem Maduro mit 14 Prozent deutlich vor dem Herausforderer lag. In den folgenden Wochen schienen sich seine Aussichten sogar noch zu verbessern: Zwischen 17 und 23 Prozent lag der Übergangspräsident angeblich in Führung. Bei den Wahlen im Oktober 2012 hatten einige private, der Opposition nahe stehende Institute versucht, den Herausforderer Capriles systematisch überzubewerten, um seinen Anhänger_innen eine reale Aussicht auf eine erfolgreiche Stimmabgabe zu suggerieren. Vor dem aktuellen Wahlgang verhielt es sich genau umgekehrt. Während die Aussichten von Nicolás Maduro weitgehend richtig mit 50 Prozent oder mehr angegeben wurden, unterschätzten die Meinungsforscher Henrique Capriles mit 34 bis maximal 44 Prozent durchgehend deutlich. Eine denkbare Auswirkung auf das Verhalten der Wähler_innen wäre, dass diese Zahlen einen mobilisierenden Einfluss auf die Opposition und einen demobilisierenden Effekt auf diejenigen Unterstützer_innen der Regierung hatten, welche den Sieg bereits sicher glaubten.
Neben dem üblichen politischen Schlagabtausch bestand eine zentrale Kontroverse im Vorfeld der Abstimmung im Verhältnis zum Nationalen Wahlrat (CNE). Wie schon bei den letzten Wahlen weigerte sich die oppositionelle Wahlallianz vorher eine Versicherung darüber abzugeben, dass sie das Ergebnis der Abstimmung anerkennen werde. Die Parteien der fünf unabhängigen Kandidat_innen und alle Parteien, die Maduro unterstützten, hatten eine entsprechende Erklärung des CNE unterzeichnet. Am Dienstag vor der Wahl erklärte der Vorsitzende der PSUV und Präsident der Nationalversammlung, Diosdado Cabello, er verfüge über Beweise von Plänen der Opposition, das Wahlergebnis im Falle einer Niederlage nicht anzuerkennen. Tatsächlich hatte es schon bei vergangenen Wahlen immer wieder Gerüchte über derartige Pläne gegeben. Am Nachmittag des Wahltages der letzten Präsidentschaftswahl, als erste Befragungen einen eindeutigen Sieg von Hugo Chávez vermuten ließen, hatte Henrique Capriles jedoch eine umstandslose Anerkennung zugesichert. Auf diesen Umstand bezog sich im Vorfeld der aktuellen Abstimmung auch die oppositionelle Abgeordnete María Corina Machado, als sie auf Vorhaltungen der internationalen Wahlbeobachter_innen antwortete, schlussendlich habe die Opposition bisher doch immer das Ergebnis anerkannt.
Genau das passierte nach den aktuellen Wahlen jedoch nicht: Bereits nach der Verkündung des Ergebnisses durch die Präsidentin des Nationalen Wahlrates blieb der Oppositionsvertreter im Direktorium, Vicente Díaz, auf seinem Stuhl und gab eine eigene Erklärung ab. Angesichts des knappen Ergebnisses und der politischen Polarisierung sei die Forderung der Opposition berechtigt, dass alle abgegebenen Stimmen nachgezählt würden. Am Nachmittag des folgenden Tages sprach Henrique Capriles erstmals von Wahlbetrug und rief seine Anhänger_innen dazu auf, „ihre Wut auf die Straße“ zu tragen. Während ein Großteil der Oppositionsanhänger_innen in Autokorsos mit Hupkonzerten in den von ihnen dominierten Oberschichtsstadtteilen demonstrierte, begannen Gruppen studentischer Jugendlicher zentrale Kreuzungen und Autobahnen zu besetzen, wobei es bereits zu ersten kleineren Konfrontationen mit der Nationalpolizei kam.
Die dramatischen Zusammenstöße begannen nach Einbruch der Dunkelheit. Gruppen von oppositionellen Aktivist_innen griffen Gebäude der sozialen Projekte, Regierungseinrichtungen, Parteibüros der PSUV und Gebäude des Nationalen Wahlrates an. Bereits ernster waren die Angriffe auf Privathäuser von Politiker_innen der PSUV, des Ölunternehmens PdVSA und des Nationalen Wahlrates. So belagerte in der Nacht eine größere Gruppe das Privathaus der Präsidentin des Wahlrates, Tibisay Lucena, bewarf es mit Steinen und hinterließ Parolen an den Wänden. Den Blutzoll zahlten allerdings die Basisaktivist_innen der bolivarianischen Bewegung, die in der Nacht den Aufrufen folgten, die Gebäude zu schützen. An mehreren Orten wurden sie von bisher nicht identifierten Täter_innen beschossen. Am Dienstag meldete die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz insgesamt sieben Tote und 61 Verletzte. Weitere drei Personen verstarben in den folgenden Tagen an der Folgen ihrer Verletzungen.
Seit der Wahl versucht die Opposition, die Legitimät des Wahlergebnisses infrage zu stellen und Neuwahlen zu erreichen. Zunächst hatte Capriles angeführt, dass es über 3.000 Beschwerden über Unregelmäßigkeiten gebe. Allerdings handelte es sich bei dem größten Teil davon um Verstöße gegen die Wahlordnung, welche parteipolitische Werbung vor und während der Wahl verbietet. Gegen das Verbot der Wahlwerbung hatte Capriles selber den gravierendsten Verstoß geleistet, indem er noch am Tag vor der Wahl eine Pressekonferenz bei dem Nachrichtenkanal Globovisión durchführte. In 570 Fällen wollen Oppositionsanhänger_innen Fälle beobachtet haben, bei denen Personen hinter die Wahlkabine begleitet wurden. Selbst wenn dies der Wahrheit entspräche, wäre es bei 15 Millionen Wähler_innen eine verschwindend geringe Prozentzahl.
Da die Opposition mit eigenen Zeug_innen und Wahlmitarbeiter_innen an sämtlichen 39.000 Wahltischen vertreten war, markieren diese Verstöße auch tatsächlich die Höchstzahl der zu überprüfenden Fälle. Diese Beteiligung der Opposition am Wahlverfahren führt auch das einzige statistisch relevante Argument der Opposition ad absurdum: Seit der Wahl nannte Capriles unterschiedliche Zahlen über nicht-existente Wähler_innen, die entweder als Tote oder mit doppelten Identitäten in den Wahllisten geführt worden seien. Seine Angaben variierten zwischen 60.000 und 300.000 Stimmen. Allerdings wird auch die Einschreibung in die Wählerlisten von allen beteiligten Parteien bis auf die lokale Ebene mehrmals überprüft. Jede_r Wähler_in gibt die Personalausweisnummer, ein Foto und einen Fingerabdruck ab, ohne den die digitale Wahlmaschine nicht zu aktivieren ist. Das Auftreten nicht existenter Wähler_innen in den Listen würde bedeuten, dass mindestens 40.000 Zeug_innen, Wahltischmitarbeiter_innen sowie ein Heer von Techniker_innen und Spezialist_innen aus ihren eigenen Reihen im Vorfeld der Abstimmung ihrer Aufgabe nicht nachgekommen wären. Tatsächlich hatte es bis zur Verkündung des vorläufigen Endergebnisses am Sonntag um 22 Uhr keine Beschwerde von einem der Wahltische gegeben. Auch die obligatorische öffentliche Auszählung von – zufällig ausgewählten – mindestens 54 Prozent der Urnen für einen Vergleich zwischen digitalen Ergebnissen und Papierbelegen hatte keine einzige abweichende Stimme ergeben.
Während sich die Regierungsseite in der Wahlnacht noch gesprächsbereit zeigte – Nicolás Maduro stimmte der verlangten Nachzählung sofort zu und erklärte, die Opposition solle ruhig noch einmal nachzählen, dass sie verloren habe – sind seit den Übergriffen nach dem Wahltag die Fronten zwischen beiden politischen Lagern vollkommen verhärtet. Parlamentspräsident Cabello verweigerte zunächst die Auszählung mit dem Hinweis, dass es keine Sonderrechte für die Opposition gebe; zudem handele es dabei sich nur um einen Zwischenschritt, um schließlich die Wahlen insgesamt für illegitim zu erklären. Genau diese Prognose bewahrheitete sich, nachdem der Nationale Wahlrat der verlangten Auszählung zustimmte. Sofort legte Henrique Capriles nach und forderte, nun sollten auch Fingerabdrücke und Fotos überprüft werden. Als der CNE dies unter Verweis auf die technische Undurchführbarkeit zurückwies, erklärte der Oppositionsführer, er werde vor internationalen Instanzen Neuwahlen verlangen.
Unterdessen verweigerte Parlamentspräsident Cabello allen oppositionellen Abgeordneten, die Nicolás Maduro nicht anerkennen, das Rederecht in der Nationalversammlung und stellte die Zahlung ihrer Bezüge ein. Er begründete diese umstrittene Maßnahme damit, dass die betroffenen Abgeordneten bei der zurückliegenden Parlamentswahl nach denselben Gesetzen, vom selben Wahlrat und mit den gleichen Wahlmaschinen gewählt wurden – teilweise sogar mit ähnlich knappen Ergebnissen –, wie sie bei der Wahl verwendet wurden, die sie nun in Frage stellten. Beim Versuch, ihr Rederecht zu erzwingen, zettelte die Opposition eine handfeste Schlägerei im Parlament an. Eigentlich sollte an diesem Tag über das Gesetz über die Entwaffnung debattiert werden. Politisch rüsten beide Seiten jedoch massiv auf.

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Wahlen in Venezuela

Die Wahlen in Venezuela werden vom Nationalen Wahlrat (CNE) organisiert und seit Dezember 1998 mit Wahlcomputern durchgeführt. Insgesamt besteht der Wahlprozess aus 18 organisatorischen Einzelschritten, von denen 16 unter Beteiligung der Opposition stattfinden. Nur der Hin- und Rücktransport der Maschinen zwischen CNE und Wahlbüros wird vom Militär organisiert.
Ein Kernstück des Wahlsystems ist die persönliche Identifizierung der Wähler_innen mithilfe eines separaten Gerätes. Nachdem der Monitor durch die Eingabe der biometrischen Informationen des Wählers_der Wählerin freigeschaltet wurde, kann die Person abstimmen. Sie enthält einen Papierbeleg mit dem Votum, der danach in eine Urne geworfen wird.
Nach Schließung der Wahllokale druckt der Wahlcomputer fünf Belege mit dem Ergebnis und den Unterschriften der Wahltischmitarbeiter_innen aus – einen Beleg für jede der anwesenden Parteien. Bis zu diesem Zeitpunkt kann jede_r Wahltischmitarbeiter_in die Abstimmung stoppen.
In jedem Wahlbüro werden mindestens 54 Prozent der Wahltische in einer öffentlichen Auszählung überprüft und mit dem digitalen Ergebnis abgeglichen. Die zu überprüfenden Geräte werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Jeder einzelne Beleg wird hochgehoben und laut vorgelesen, jede einzelne Stimme und das Auszählungsergebnis im Wahlheft vermerkt. In keinem einzigen Fall gab es bei diesen Wahlen einen Unterschied zwischen Belegen und Computerergebnis. Nach Auskunft der internationalen Wahlbeobachter_innen ist dies auch bei den vorhergegangen Wahlen niemals der Fall gewesen.
Der Wahlgang wurde von insgesamt 220.000 ehrenamtlichen Wahltischmitarbeiter_innen durchgeführt. Etwa die Hälfte davon gehört der Opposition an. Zudem waren bei den Wahlen insgesamt 120 internationale Wahlbeobachter_innen aus 47 Ländern präsent.

„Europa begeht die gleichen Fehler wie einst Lateinamerika“

Herr Präsident, hunderttausende Europäer_innen leiden derzeit unter den Folgen der Eurokrise, vor allem in den südlichen Staaten der EU: Griechenland, Zypern, Spanien. Während die EU an den alten Rezepten festhält, propagiert Ihre Regierung das Konzept des „Guten Lebens“. Diese Frage stellen sich wohl viele EU-Bürger gerade. Wie lebt man gut? Und vor allem: Wie kann eine Regierung das „Gute Leben“ garantieren?
Nun, garantieren kann es niemand, aber man kann die Grundlagen schaffen. Es ist aber übrigens kein Konzept meiner Regierung, sondern der Indigenen. Es stammt von den Aymara in Bolivien, wurde aber auch von den Angehörigen der Quichua in Ecuador angenommen. In dieser Sprache heißt es „Sumak Kawsay“. Es geht dabei darum, in Würde zu leben, ohne nach immer mehr Reichtum zu streben. Es geht darum, in Harmonie mit der Natur und den Mitmenschen zu leben. Aus dieser Position der Indigenen leitet sich die Kritik unserer Regierung am Konsummodell der westlichen Staaten ab.

Bei einer Konferenz in der Technischen Universität Berlin sagten Sie, Lateinamerika habe bereits zu Genüge erlitten, was Europa gerade durchlebt. Kann Europa von Ihnen lernen?
Es kommt darauf an, ob das Ziel darin besteht, die Krise schnell und mit minimalen Belastungen für die Menschen zu überwinden. In solch einer Situation geht es zunächst natürlich um die Fehler, die gemacht wurden. Etwa bei der Einführung des Euros oder bei der mangelnden Angleichung von Produktivität, Löhnen und Gehältern. Wenn aber der Wille besteht, diese Krise ohne große Folgen für die einfache Bevölkerung zu meistern, dann besteht die erste Lehre darin, nicht die gleichen Fehler zu begehen, die wir gemacht haben. Denn die Maßnahmen, die einst in Lateinamerika getroffen wurden, haben die Krise verlängert und verstärkt. Und eben die gleiche Politik sehen wir nun in Europa.

Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland und Europa ein offenes Ohr für die Lehren aus Lateinamerika haben?
Wissen Sie, ich gebe in der Regel keine Ratschläge, wenn ich nicht darum gebeten werde. Von der TU Berlin aber wurde uns das Thema „Wege aus der Krise“ vorgeschlagen. Wir haben dafür also einige der Krisen in Lateinamerika mit den aktuellen Problemen in Europa verglichen. Die Ähnlichkeiten sind beeindruckend. Anfang der 1980er Jahre hatten wir auch eine Schuldenkrise. Sie rührte daher, dass das internationale Finanzkapital uns Kredite geradezu aufgezwungen hatte. Und als die Krise kam, standen wir dem Problem des over-borrowing gegenüber. In vielen Fällen war dieses überflüssige Geld der Finanzmärkte zudem an Diktaturen ohne jedwede soziale Kontrolle oder demokratische Legitimation geflossen. Als dann die Krise einsetzte, kam der Internationale Währungsfonds mit seinen sogenannten Hilfspaketen. Ging es ihnen darum, diese Krise zu überwinden? Nein, es ging allein darum, die Rückzahlung der immensen Schulden zu gewährleisten. Deswegen hat sich die Lösung der Krise über zehn Jahre hinausgezögert. Heute ist von dem verlorenen Jahrzehnt für Lateinamerika die Rede. Ecuador etwa ist in die 1990er Jahre mit dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen gestartet wie es das Land schon 1976 hatte. Und all dies, weil die Interessen der Banken bedient und nicht die Interessen der Menschen beachtet wurden. Diesen Fehler sehen wir heute auch in Europa.

In Lateinamerika sind in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Bündnisse entstanden wie die Celac oder ALBA. Wie hat das die internationale Politik verändert?
Das kann sehr viel verändern. Wir entwickeln diese Projekte Schritt für Schritt und haben schon einiges erreicht. Etwa in der neuen regionalen Finanzarchitektur, die wir diskutieren und hoffentlich bald ausbauen. Was die Union südamerikanischer Staaten, die UNASUR, seit ihrer Gründung 2008 geleistet hat, geht weit über die Entwicklung der Europäischen Union im gleichen Zeitraum hinaus. Im Handel etwa. Es ist jedoch erstaunlich, wie sich 27 Länder mit verschiedenen Themen und politischen Kulturen, Religionen und Sprachen vereinen konnten. Und es ist ebenso erstaunlich, dass das den lateinamerikanischen Staaten mit einer einigermaßen gleichen Sprache, Kultur und einem politischen System in der Vergangenheit lange Zeit nicht gelungen ist.

Wie kann die Finanzarchitektur in Lateinamerika beeinflusst werden?
Wir schaffen ein neues System der Abrechnung. Wenn ich 500 Millionen US-Dollar aufwende und der regionale Handelspartner 400 Millionen US-Dollar, brauchen wir dann 900 Millionen? Nein, wir rechnen das gegenseitig auf und benötigen 100 Millionen. Das ist eine Sache.
Eine andere Absurdität ist die Politik der autonomen Zentralbanken, die die staatlichen Reserven außer Landes geschafft haben. In Ecuador haben wir das schon korrigiert. Wir sprechen hier von 400 Milliarden US-Dollar, mit denen wir reiche Länder finanziert haben. Für diese Reserven in ihren Banken haben wir lediglich 0,5 Prozent Zinsen bekommen, vielleicht bis zu ein Prozent. Im Gegenzug aber mussten wir uns für sechs bis sieben Prozent Zinsen Gelder leihen.

In Honduras und Paraguay wurden progressive Regierungen gestürzt. Gegen Ihre Regierung gab es einen Putschversuch, ebenso in Bolivien und Venezuela. Weshalb schaffen es die linken Regierungen in Lateinamerika nicht, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen?
Wie können wir einen Konsens erreichen, wenn wir gerade Jahrhunderte währende Strukturen zerschlagen? Sie haben fünf Versuche der Destabilisierung erwähnt, zwei davon erfolgreich. Alle fünf Putschversuche und Staatsstreiche richteten sich gegen progressive Regierungen. Keine einzige rechte Regierung war davon betroffen. Das zeigt doch ganz klar, was hier geschieht. Offenbar sind wir die Gefahr. Die Demokratie ist solange gut, wie sie nichts verändert. Aber mit den neuen Demokratien und den progressiven Regierungen gibt es eine Veränderung und das ruft mächtige Feinde auf den Plan.
Wenn es ihnen genehm ist, verteidigen sie die Demokratie, aber wenn wir die Gegebenheiten auf demokratische Weise reformieren, zögern sie nicht, Präsidenten zu stürzen und zu ermorden. Diesen Kräften müssen wir uns in unseren amerikanischen Staaten stellen und sie besiegen.
Wenn ich in den USA auf Konferenzen zu Gast bin, bitte ich die Zuhörer gemeinhin, sich an den Kampf um die Bürgerrechte in den 1960er Jahren zu erinnern, um die aktuelle Lage in Lateinamerika zu verstehen. Oder an den Kampf gegen die Sklaverei, durch den die USA in einen Bürgerkrieg geraten und fast zerbrochen sind. Das ist ein guter Vergleich und Kontext, um das aktuelle Geschehen in Lateinamerika zu verstehen.

Erklärt sich durch diese massiven Differenzen in den Gesellschaften auch der Konflikt nach den jüngsten Wahlen in Venezuela?
Ja. Die venezolanische Rechte hat immer versucht, ein knappes Ergebnis zu erreichen, um ihre Pläne der Destabilisierung in Gang zu setzen. Auch in der Ära von Hugo Chávez. Zum Glück sind während seiner Regierungszeit alle Wahlergebnisse sehr deutlich ausgefallen und das hat ihre Pläne durchkreuzt. Wenn Hugo Chávez mit nur wenigen Prozentpunkten Abstand gewonnen hätte, hätte die Opposition einen solchen Sieg bis heute nicht anerkannt.
Der nun unterlegene Oppositionskandidat Henrique Capriles hat sich bei den letzten Gouverneurswahlen selbst nur mit einigen zehntausend Stimmen Vorsprung durchgesetzt. Nach dem Argument, das er nun anführt, hätte er damals das Amt nicht antreten dürfen. Nicolás Maduro hat sich am vergangenen Sonntag mit über 200.000 Stimmen durchgesetzt. Das entspricht gut einem Prozent. Und das erlaubt ihnen wieder Unruhe zu stiften, was sie ja immer angestrebt haben.
Wir als ecuadorianische Regierung haben eine sehr klare Position. Nach der Wahl soll nachgeprüft werden, was nachgeprüft werden muss. Das ist die Entscheidung der Venezolaner und ihrer staatlichen Institutionen. Für uns aber ist und bleibt Nicolás Maduro der Gewinner dieser Wahl. Und wir müssen sehr deutlich den Versuchen der Destabilisierung entgegentreten.

Sprechen wir über das Verhältnis zu den Medien. Weshalb stehen die linken Reformregierungen ausnahmslos in ständigem Konflikt mit den Medien?
Wer, denken Sie, gehört zu den Gegnern der laufenden Prozesse, über die wir eben gesprochen haben? Zu denjenigen, die Chaos schaffen und putschen? Wer war zur Zeit der Regierung Salvador Allendes der größte Verschwörer? Die Tageszeitung El Mercurio! Davon wird heute nicht mehr gesprochen, weil es gleich heißt, das sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.
Wir unterscheiden sehr gut zwischen der Meinungsfreiheit und bestimmten korrupten Geschäften von Pressekonzernen, die in der Vergangenheit nichts als politische Instrumente waren, um den Status quo zu bewahren. Wie können wir die bürgerliche Presse nicht kritisieren, wenn sie zu den Vertretern der Kräfte gehört, die unser Land dominiert und ausgebeutet haben? Das ist doch nicht nur ein Problem unserer Staaten, sondern aller Menschen weltweit. Stellen Sie sich vor: Was wir wissen und was wir nicht wissen und was wir über Menschen denken, denen wir nie begegnet sind, das hängt von Privatkonzernen ab, die sich dem Geschäft mit der Information widmen. Konzernen, die sich, wenn es um das Recht auf Information und eigene Interessen geht, immer für mehr Gewinn entscheiden werden.

Sehen Sie darin einen Grund für das fehlende Verständnis für die progressiven Kräfte Lateinamerikas in der breiten Öffentlichkeit Europas?
Sicher, weil zwischen uns keine Information, sondern Propaganda steht. Und das sagen nicht nur wir. Sehen Sie, Mario Vargas Llosa, ein ausgemachter Rechter, hat seine Tätigkeit für das Blatt El Comercio in Lima während des letzten Wahlkampfes zwischen Ollanta Humala und Keiko Fujimori aus Protest beendet. Er tat das, weil die Redaktion die Wahrheit verdreht und andersdenkende Journalisten gefeuert hat. Eine Kritik an solchen Medien als Angriff auf die Pressefreiheit zu bezeichnen, ist ebenso absurd wie wenn wir Kritik am Präsidenten als Angriff auf die Demokratie ablehnen würden. Die Meinungsfreiheit ist ein Recht aller. Nicht nur derjenigen, die das Geld hatten, sich Druckmaschinen zu kaufen.

Wir sehen also, dass es zwei unterschiedliche Diskurse über Menschenrechte und die Meinungsfreiheit in Europa und Lateinamerika gibt. Spielt das auch im Fall Julian Assange eine Rolle?
Seltsam, nicht? Ein Verteidiger der Informations- und Pressefreiheit wählt ein Land als Zufluchtsort, das einigen Medien zufolge die freie Meinung einschränkt. Julian Assange wird weiter unter dem Schutz des ecuadorianischen Staates bleiben, den wir ihm in Ausübung unseres souveränen Rechtes gewährt haben. Die Lösung dieses Falls liegt in den Händen Europas.

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Rafael Correa
ist seit 2006 Präsident Ecuadors. 2009 und 2013 wurde er mit absoluter Mehrheit wiedergewählt. Der linksgerichtete Staatschef hatte vor seiner politischen Karriere an Universitäten in Ecuador und den USA als Dozent gearbeitet. Während seines Aufenthalts in Berlin war es ihm nach eigenen Angaben ein besonderes Anliegen, an der Technischen Universität einen Vortrag über die Eurokrise und die wirtschaftlichen Konzepte der Neues Linken in Lateinamerika zu halten.

Als Präsident unbesiegbar

Es seien „zwei grundverschiedene Männer“ gewesen, mit denen er sich unterhalten habe. „Der eine jemand, dem sein unverwüstliches Glück die Chance präsentiert hatte, sein Land zu retten; der andere ein Traumtänzer, der sehr wohl einmal als ein weiterer Despot in die Geschichte eingehen könnte.“
Im Jahr 2000 veröffentlichte der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez einen Text über Hugo Chávez, der die Ambivalenz des damals erst kurz amtierenden venezolanischen Präsidenten herausstellte. In dem Essay deutet sich bereits die gesellschaftliche Polarisierung an, die Venezuela in den 14 Jahren, die Chávez das Land regierte, prägen sollten. Die Mehrheit der ärmeren Bevölkerung verehrte ihren Präsidenten leidenschaftlich. Die Eliten des Landes, deren kulturelles Vorbild seit jeher die USA waren, hassten ihn hingegen inbrünstig. Für beide Seiten war Chávez spätestens seit seiner ersten Wahl 1998 der politische Fixpunkt. Dabei wurde Venezuela unter Chávez weder zu einem sozialistischen Paradies noch zu einer kommunistischen Diktatur, wohl aber zu einer Alternative zum Neoliberalismus in Lateinamerika. Es darf nicht vergessen werden, dass der Kontinent zu diesem Zeitpunkt eine lange Phase neoliberaler Umstrukturierung durchlebt hatte, in der selbst sozialdemokratische Positionen völlig an den Rand gedrängt waren. Die gesellschaftlich ohnehin bestehende Polarisierung bekam durch Chávez ein Gesicht, die Unterprivilegierten ein Sprachrohr.
Hugo Chávez Frías stammte selbst aus einfachen Verhältnissen. Geboren am 28. Juli 1954 in Sabaneta im südwestlich gelegenen Bundesstaat Barinas, konnte er dank seiner Militärausbildung studieren. Sein politischer Aufstieg ist eng mit dem Niedergang des paktierten venezolanischen Zweiparteiensystems verknüpft. Nach dem Sturz von Diktator Marco Pérez Jiménez 1958 hatten die christdemokratische Copei und die sozialdemokratische AD im Wechsel regiert. Gegenüber den Militärdiktaturen, die in in den meisten Ländern des Kontinents in den 1960er und 70er Jahren herrschten, stilisierte sich Venezuela als „Musterdemokratie“. Die vermeintliche politische Stabilität basierte auf dem elitären Pakt von Punto Fijo, den die großen Parteien, Unternehmerverbände und die Gewerkschaften 1958 unter Ausschluss der Kommunist_innen und linker Sozialdemokrat_innen eingingen. Dank der Erdöleinnahmen blieb in einem ausgeprägten Klientelsystem auch Geld für die Unter- und Mittelschichten übrig. Als der Ölpreis in den 1980er Jahren fiel, geriet Venezuela wie die übrigen Länder Lateinamerikas in die Schuldenkrise. Die Auswirkungen wälzten die Eliten auf die Unterschichten ab, massenhafte Verarmung war die Folge. Am 27. Februar 1989 kam es in Folge von Fahrpreiserhöhungen zu spontanen Plünderungen, dem so genannten Caracazo. Die erste große Revolte gegen den Neoliberalismus überraschte die politischen und wirtschaftlichen Eliten Venezuelas völlig und gilt als der eigentliche Beginn der bolivarianischen Bewegung.
Bereits 1983 hatte Chávez eine klandestine linke Gruppierung in den Reihen des Militärs gegründet. 1992 scheiterte Hugo Chávez mit einem Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, der die Niederschlagung des Caracazo politisch zu verantworten hatte. Nach seiner Festnahme reichte ihm eine knappe Minute, um ihn augenblicklich im ganzen Land bekannt zu machen. In seiner auf allen Kanälen übertragenen Ansprache übernahm er persönlich die Verantwortung für das Scheitern des Putsches und sagte, die Ziele seien „vorläufig“ nicht erreicht worden. Nach seiner Begnadigung 1994 arbeitete Chávez landesweit am Ausbau einer politischen Massenbewegung und gewann die Wahlen mit 56 Prozent der Stimmen. Er hatte es geschafft, als erster Politiker in Venezuela glaubhaft die Armut und Ausgrenzung der Mehrheit der Bevölkerung auf die politische Agenda zu setzen. Es folgte die Ausarbeitung einer progressiven Verfassung, die Ende 1999 per Referendum angenommen wurde. Diese stärkte die Position des Staatspräsidenten und baute gleichzeitig die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung aus.
Statt mit verfassungsgemäßen Mitteln Einfluss auf die Politik zu nehmen, sahen Opposition und private Medien ihre Rolle darin, Chávez um jeden Preis wieder aus dem Amt des Staatspräsidenten zu vertreiben. Im April 2002 scheiterten die Chávez-Gegner_innen mit einem kurzzeitigen Putsch. Chávez überstand auch einen zweimonatigen Unternehmer_innenstreik in der Erdölindustrie zum Jahreswechsel 2002/2003 und ein Abwahlreferendum 2004. Die wichtigsten Oppositionsparteien erklärten im Dezember 2005 drei Tage vor den Parlamentswahlen deren Boykott und waren in der Nationalversammlung für die darauf folgenden fünf Jahre nicht mehr vertreten. 2006 wurde Chávez mit 63 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Erst der Totalausfall der Opposition und die Übernahme der Kontrolle bei dem staatlichen Ölkonzern PDVSA nach der gescheiterten Erdölsabotage, ermöglichte es der bolivarianischen Regierung, umfassend Politik zu machen. Die als misiones bekannten Sozialprogramme, die vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich große Erfolge verzeichnen konnten, begannen erst 2003. Sie bauten die Grundversorgung der Bevölkerung merklich aus. Auch die meisten wirtschaftlichen Indikatoren verbesserten sich seit 2002, die Armutsrate ging deutlich zurück und Venezuela hat heute die niedrigste Ungleichheit in Südamerika. Die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung wurden ebenfalls rapide ausgeweitet. Seit 2005 entstehen landesweit Kommunale Räte als Bündelung der vielfältigen sozialen, kulturellen und politischen Basisinitiativen. Die Räte entscheiden basisdemokratisch über die Verwendung von staatlichen Geldern und können sich zu einer höheren Ebene, der Comuna , zusammenschließen.
Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wird in Venezuela als Schlagwort seit 2005 debattiert, ohne dass daraus bis heute ein konkretes Ziel erwachsen ist. Neben der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien experimentierte die Regierung mit der Förderung unterschiedlicher Unternehmensformen wie Kooperativen oder selbst- und mitverwalteten Betrieben. Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft bleibt das Öl. Eine mögliche Abkehr vom extraktivistischen Wirtschaftsmodell, das auf der Förderung von Rohstoffen basiert, ist derzeit schwer vorstellbar. Der offiziell niedrig gehaltene Wechselkurs sorgt dafür, dass die Importe bezahlbar bleiben, die heimische Produktion wird jedoch kaum ausgebaut, da sie auch auf dem Binnenmarkt nicht wettbewerbsfähig ist.
Außenpolitisch hat sich Chávez vor allem für eine stärkere lateinamerikanische Integration, multipolare Weltordnung und die Stärkung der Organisation erdölexportierender Staaten (Opec) eingesetzt. Die antikoloniale und antiimperialistische Außenpolitik trug unter Chávez jedoch auch kritikwürdige Züge. Die realpolitisch motivierte Annäherung an Weißrussland oder Iran ist mit den innenpolitischen Debatten in Venezuela kaum vereinbar, spielte dort aber auch nie eine größere Rolle. In Europa oder USA hingegen reduzierten viele, nicht zuletzt innerhalb der deutschen Linken, Chávez schlicht auf diese außenpolitischen Bündnisse. Dabei wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass Venezuela in den vergangenen Jahren mit den unterschiedlichsten Ländern außerhalb Lateinamerikas rein interessengeleitete Beziehungen eingegangen ist, darunter Russland, China oder Portugal.
Selbstverständlich sind Chávez Verdienste ambivalent. Sein eigenwilliger Politikstil, seine langen Reden und teils aggressive Wortwahl, sein Messianismus und die Nähe zur ärmeren Bevölkerung, all das mag durch eine europäische Brille betrachtet befremdlich erscheinen. In Venezuela jedoch sind dies Gründe dafür, warum Chávez in den letzten 14 Jahren vor seinem Tod fast alle Wahlen und Abstimmungen gewonnen hat. Einzig das Referendum über eine umfangreiche Verfassungsreform konnte die Opposition 2007 knapp für sich entscheiden. Chávez hat keine technokratische Politik für eine Minderheit vertreten, sondern die arme Bevölkerungsmehrheit in den Mittelpunkt gestellt. Entgegen verbreiteten und medial inszenierten Ansichten ist Venezuela unter ihm demokratischer geworden. Beim parallelen Bestehen von Transformationsstrategien von oben und unten, sowie einer teilweise offen undemokratischen Opposition, muss die Demokratie jedoch ständig neu erkämpft werden.
Am 5.März erlag Chávez seiner Krebserkrankung, gegen die er sich mehr als anderthalb Jahre lang zu Wehr gesetzt hatte. Nachdem er erst im vergangenen Oktober wiedergewählt worden war, wird er als unbesiegter Präsident in die Geschichte eingehen. Er hinterlässt ein verändertes Venezuela und einen veränderten Kontinent. Trotz aller bevorstehenden Probleme wird es wahrscheinlich kein Zurück in alte, neoliberale Zeiten geben. Denn die venezolanische Bevölkerung ist auch dank Chávez heute politisierter und organisierter als je zuvor. Die starke Fixierung auf seine Person stellt nun sowohl seine Anhänger_innen als auch die Opposition vor Herausforderungen. Eine kollektive Führung des bolivarianischen Prozesses wurde nie aufgebaut. Chávez war stets ein wichtiger Garant dafür, dass Positionen von unten nach oben durchdringen. Sein Wunschnachfolger Nicolás Maduro verfügt nicht annäherend über Chávez‘ Charisma, wird die Neuwahlen am 14.April aber höchstwahrscheinlich für sich entscheiden. Es ist absehbar, dass die Politik in Venezuela in allen politischen Lagern noch eine ganze Weile um die Person des comandante kreisen wird. Eine Zersplitterung des bolivarianischen Lagers in Gruppierungen und Parteien, die alle etwas anderes unter Chavismus verstehen, ist mittelfristig durchaus möglich. Ebenso könnten sich die neuen, als boliburgues bekannten Eliten den alten Eliten annähern, um radikaldemokratische Ideen zurückzudrängen. Der Chavismus als politische Option wird voraussichtlich lange überdauern. Die Frage ist, in welcher Form.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Viel hätte im Dezember letzten Jahres nicht gefehlt, und Evo Morales hätte die bolivianische Bevölkerung öffentlich dazu aufgerufen, für das Leben von Hugo Chávez zu beten. Auch Uruguays atheistischer Präsident, Pepe Mujica, ließ vorsichtshalber eine Messe für dessen Gesundheit verlesen. Denn dass Lateinamerika plötzlich ohne Chávez dastünde, war für viele Menschen in der Region unvorstellbar.
Um zu ermessen, wie ein Lateinamerika ohne Hugo Chávez aussieht, schaut man sich zunächst am besten an, wie es mit ihm aussah. Venezuelas Außenpolitik der letzten 14 Jahre hat sich maßgeblich auf die Region konzentriert und verfolgte dabei vor allem zwei Hauptanliegen: den Kontinent im Sinne Simon Bolívars, dem „Befreier“ Südamerikas, in Solidarität und Selbstbestimmung zu vereinen und den imperialistischen Einfluss der USA in der Region zu beenden.
In der Praxis bedeutete das etwa, den Aufbau regionaler Integrationsstrukturen zu fördern, die unter Ausschluss der USA als Gegengewicht zu von Washington gegründeten regionalen Organisationen agieren sollten. Darunter fallen beispielsweise die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) oder die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC), in der erstmals alle Länder Amerikas außer den USA und Kanada vertreten sind. Auch der Aufbau einer Südamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank des Südens, wurde von Chávez angestoßen. Weiterhin gründete er die Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA), ein regionales Wirtschaftsabkommen mit den engsten Verbündeten Venezuelas. Dieses stellte ursprünglich eine Alternative zur von den USA propagierten Gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) dar, die auch durch Venezuelas Ablehnung 2005 scheiterte. Bisweilen trieb die Regierung in Caracas ihr anti-imperialistisches Prinzip bis zur Absurdität, übersetzte sie es doch mit einer Politik, die all das gut zu heißen schien, was Washington für schlecht befand. Getreu dem Motto, der Feind meines Feindes ist mein Freund, sorgte Chávez durch seine Freundschaften zu von der westlichen Welt geächteten Despoten für internationale Aufregung.
Waren solche Aktionen hauptsächlich als Provokationen mit symbolischem Charakter zu verstehen, trieb Chávez mit seiner Politik jedoch auch einen aktiven, spürbaren Wandel in der Region voran. Ausgestattet mit einem praktisch nie versiegenden Fluss an Öleinnahmen verbreitete er seine Revolution durch ostentative Einmischung in die politischen und wirtschaftlichen Geschehnisse anderer Länder. So begünstigten die finanziellen Mittel Venezuelas die Wahlerfolge linker Regierungen in Ländern wie Bolivien, Nicaragua und Ecuador. Boliviens Evo Morales etwa finanzierte große Teile seines staatlichen Sozialprogramms mit venezolanischen Geldern, was in den turbulenten ersten Jahren seiner Amtszeit maßgeblich zur Stabilisierung der Regierung beitrug. Selbst Kolumbien, das stets als enger Verbündeter Washingtons galt, hat durch Druck Venezuelas seine Position ein wenig von den USA weggerückt. Chávez hatte nicht zuletzt eine wichtige Rolle als Wegbereiter der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der linksradikalen Guerillaorganisation Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) gespielt.
Durch Petrocaribe verbündete sich Venezuela auch mit der Karibik. Insgesamt 18 Mitgliedsstaaten haben diese Hilfe bisher genossen, allen voran Kuba und Nicaragua. Als Gegenleistung für verbilligtes Öl schickt Kuba Ärzte und Lehrer nach Venezuela, die anderen karibischen Länder liefern Güter wie Kaffee, Zucker, Reis und Getreide ebenso wie Geld, was daran erinnert, dass die Hilfe nicht völlig umsonst kommt. Aber Venezuela hat sich stets großzügig gezeigt und stark vereinfachte Zahlungsbedingungen mit niedrigen Zinsen und langen Laufzeiten ermöglicht. Würde diese Hilfeleistung aufhören, träfe das die karibischen Partnerländer hart.
Es bleibt also außer Frage, dass Chávez einen deutlichen Abdruck in der Region hinterlassen hat. Wie tief dieser Abdruck ist und wie es nun ohne ihn weitergeht, ist hingegen ungewiss. Viel hängt ab von dem zukünftigen Präsidenten Venezuelas, der am 14. April gewählt wird. In aktuellen Umfragen liegt Chávez’ Wunschnachfolger, Nicolás Maduro, weit vorne. Als ehemaliger Außenminister Venezuelas kennt er die internationalen Gefilde von Chávez’ Politik wie kein zweiter. Aber ob er als neuer Präsident die Fußstapfen seines Vorgängers ausfüllen kann, ist fraglich. Oft wird bemängelt, es fehle ihm dazu an Charisma und Führungsentschlossenheit, mit denen der verstorbene Präsident so vieles bewegt habe.
Dabei hätte Maduro auch so genug Gründe, die außenpolitische Präsenz Venezuelas in Lateinamerika einzudämmen. Denn die nächsten Monate werden für ihn besonders durch innenpolitische Herausforderungen geprägt sein. Neben der Frage um politische Legitimität des Chavismus ohne Chávez, hat das Land interne Probleme, wie etwa eine verbreitete Gewaltkriminalität. Auch die wirtschaftliche Produktivität ist gering, die Ökonomie vom Ölexport dominiert. Dass Maduro angesichts solcher Probleme auf die Idee kommen könnte, die großzügige Vergabe finanzieller Mittel an ausländische Verbündete zu reduzieren, ist daher nicht unwahrscheinlich.
Trotz allem zeigen sich lateinamerikanische Beobachter_innen angesichts der Aussichten recht gelassen. Zwar ist abzusehen, dass mit einer reduzierten politischen und wirtschaftlichen Präsenz Venezuelas das Kräfteverhältnis in Lateinamerika verschoben wird. So erwarten manche, dass Evo Morales mit Rafael Correa und Nicolás Maduro Chávez’ politisches Vakuum auffüllen wird. Andere wiederum zweifeln an deren politischem Gewicht und erwarten eine Verschiebung der regionalen Machtverhältnisse zugunsten Brasiliens.
Auch innenpolitisch stehen Venezuelas Verbündete ohne Chávez nicht zwangsläufig verloren da. Ecuador und Bolivien beispielsweise haben ihren politischen und wirtschaftlichen Horizont mittlerweile gefestigt und sind nicht mehr so stark auf Venezuelas Unterstützung angewiesen, wie noch in den ersten Jahren. Weniger gut ist es um Länder wie Kuba und Nicaragua bestellt, denn sie sind auf die großzügigen Öllieferungen Venezuelas dringend angewiesen.
So gesehen zeichnet sich zwar ein Bild ab, in dem sich die Kräfteverhältnisse in Lateinamerika insgesamt verschieben werden. Jedoch scheint der Tod von Hugo Chávez noch lange nicht das zwangsläufige Ende seiner Revolution in Lateinamerika einzuläuten. Wie und in welchem Umfang sich sein Projekt jedoch fortsetzt, hängt zu großen Teilen von der zukünftigen Regierung in Caracas ab.

Der Bus hat schon einen Fahrer

Es brauchte nur einen Satz, mit dem Nicolás Maduro das Unken über seine berufliche Vergangenheit zum Schweigen brachte: „Der Bus hat schon einen Fahrer“. Der bekennende ehemalige Busfahrer und nun aussichtsreichste Kandidat auf die Nachfolge des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez, hatte nicht nur der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem Aufstiegsversprechen den Spiegel vorgehalten. Er hat mit nur einem grandiosen Einfall die gesamte Wahlkampagne seines Kontrahenten Henrique Capriles Radonski demontiert. Dieser hatte im vergangenen Jahr mit einer Wahlkampfsymbolik rund um den „Omnibus des Fortschritts“ die erfolgversprechende Strategie einer Grassrootskampagne für sich entdeckt. Von der venezolanischen Linken hatte er das einst erfolgreich geführte (Wahl-)Versprechen eines „Venezuela für alle“ annektiert, in absoluten Wählerstimmen ein für die venezolanische Opposition einmaliges Ergebnis eingefahren und am Ende doch gegen den übermächtigen Hugo Chávez das Rennen um die Präsidentschaft verloren.
Die letzte Wahlniederlage kaum verarbeitet und nun auch noch der erprobten Symbolik beraubt, fällt es der venezolanischen Opposition auch angesichts des offiziell nur zweiwöchigen Wahlkampfes schwer, sich erneut zu mobilisieren. Auf der Gegenseite prangt derselbe – nun auf alle Ewigkeit – unbesiegbare Hugo Chávez von den Wahlplakaten. Dessen verbrieftem letztem „Herzenswunsch“, die Wahl von Nicolás Maduro, kann derzeit in Venezuela wohl niemand etwas entgegensetzen. Selbst das andere nationale Denkmal, der Unabhängigkeitsheld Simon Bolívar, den Capriles als Kampagnenname vor seinen Wahlkampf gespannt hat, scheint – zumindest für den Moment- als Gründungsmythos der venezolanischen Nation und selbst der „bolivarianischen Bewegung“ ausgedient zu haben.
Unterschiedliche venezolanische Umfrageinstitute sagen Maduro einen Vorsprung von mindestens zehn bis 15 Prozent voraus. Zu allem Überfluss – aus Sicht des Capriles Lager– wird die Präsidentschaftswahl auch noch an einem symbolträchtigen Datum stattfinden, das für die venezolanische Opposition alles andere als positiv zu deuten ist. Zwischen dem 11. und 13. April des Jahres 2002 hatte die Opposition den Präsidentenpalast besetzt und damit das Gegenteil des ursprünglich Beabsichtigten bewirkt: Die Konsolidierung der Macht des politischen Außenseiters Hugo Chávez und die Selbstdelegitimierung seiner Herausforderer für den demokratischen Wettbewerb.
Der Kampf des Capriles Radonski scheint angesichts der symbolischen Übermacht dieser unverrückbaren Erzählung der jüngeren Geschichte des Landes aussichtslos. Dass er sich trotzdem von seiner Vergangenheit als rechtsliberaler Heißsporn verabschiedet hat und in seinen Wahlkampfreden die Sozialpolitik der Chávez-Ära lobte, hatte ihm nicht nur in den städtischen Mittelschichten einige Anerkennung und vor allem viele neue Wähler_innen eingebracht. Mit der Ernennung des populären Henry Falcon, dem ehemaligen Chávez-Unterstützer und Governeur des Bundestaates Lara zum aktuellen Kampagnenchef bewegt sich Capriles nun sogar noch weiter nach Mitte-Links. Und trotzdem stößt er bei seinem Versuch, sich in einer in Venezuela stark nach Links verschobenen politischen Kultur als der bessere Chávez zu profilieren, an Grenzen. Der im Wahlkampf selbst forcierte inhaltliche und persönliche Vergleich mit dem nordbrasilianischen Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva kommt für den Sohn der erfolgreichen (Medien-)Unternehmerfamilie Capriles einer Demontage der eigenen Glaubwürdigkeit gleich.
Um also die Wahlen am 14. April zu gewinnen braucht Capriles ein politisches Wunder. Möglich würde dies, wenn auch sein Kontrahent die eigene Glaubwürdigkeit mit unnötigen Selbstvergleichen aufs Spiel setzen würde. Nicolás Maduro, der im Wahlkampf nicht nur stets vom Konterfei des Hugo Chávez begleitet wird, sondern seit geraumer Zeit selbst versucht seinen Vorgänger bestmöglich zu imitieren, könnte also nochmal für unerwartete Spannung sorgen. Das als Außenminister hart erarbeitete Bild eines national wie international angesehenen Staatsmannes und Vermittlers hat sich Maduro jedenfalls innerhalb kürzester Zeit ramponiert. Was bei Chávez noch als Ausdruck politischer Authentizität, Spontanität und vor allem Originalität verstanden werden konnte, erscheint abgelesen vom Teleprompter allzu oft als Dampfplauderei. Die ewige Beschwörung des inneren und äußeren Feindes mag beim längeren Zuhören auch nicht so recht darüber hinwegtäuschen, dass eine Kopie einfach nie so gut sein kann wie das Original. Der vor allem von Maduro vorangetriebene Vorschlag die Überreste dieses Originals auf alle Ewigkeit zu konservieren, löste zudem nicht nur im katholischen Venezuela Kopfschütteln aus. Chávez selbst hatte in einem von ihm verfassten Buch im Dezember letzten Jahres den Wunsch geäußert in einem einfachen Grab, neben seiner Großmutter in seinem Geburtsort Sabaneta beerdigt zu werden.
Zudem zeigt sich Maduro trotz des komfortablen Vorsprungs in den Umfragewerten überraschend unsicher. Eine von Capriles vorgeschlagene Fernsehdebatte verweigert er bisher standhaft. Ein humoristisches Internetprojekt, das begonnen hatte die Erwähnung von „Chávez“ in den Äußerungen Maduros zu zählen, beschimpfte er als „Diffamierungskampagne von Drogenhändlern“. Eine Twitter-Userin, die behauptet hatte, Chávez sei aufgrund des Zustandes seines Körpers bereits vor der offiziellen Aufbahrung beerdigt worden, wurde gar vorübergehend festgenommen. Die Kritik der Opposition am Einfluss Kubas in Venezuela, verglich Maduro jüngst mit der Hetze Hitlers gegen die Juden.
Sollte er trotzdem und erwartungsgemäß zum nächsten Präsidenten Venezuelas gewählt werden, so steht vor allem die venezolanische Linke vor vielen Ungewissheiten. Mit dem Tod der großen Identifikations- und Integrationsfigur Hugo Chávez wird das Fehlen eines gemeinsamen politischen Projektes im heterogenen Lager des Chavismus-Bolivarianismus eher früher als später zu Widersprüchen führen.
Zwar ist nicht davon auszugehen, dass der aus der maoistischen Liga Socialista stammende, ehemals Bus fahrende Ex-Außenminister in naher Zukunft Beraterverträge bei multinationalen Energie- und Autokonzernen unterschreibt. Davor dürfte ihn allein schon seine Zeit als Gewerkschafter bei der U-Bahn-Gesellschaft von Caracas und der Einfluss aus Havana bewahren. Die folgenreichen Grenzen der Umverteilung der Erdölrente an untere Einkommensgruppen und Importunternehmer gleichermaßen haben in Venezuela jedoch schon mehrmals für überraschende politische Wendungen gesorgt.

Humanitäre Krise in Kolumbiens Kohleabbaugebieten

„Erst nachdem einige Dorfbewohner beinahe verhungert oder an Krankheiten gestorben sind, haben die Unternehmen gehandelt. Und jetzt fällt ihnen nichts Besseres ein, als uns ein Hühnerzuchtprojekt zu präsentieren, von dem sie wissen, dass wir es gar nicht wollen!“, drückt José Suarez* die allgemein herrschende Unzufriedenheit aus. Und setzt gleich noch einen drauf: „Wir befürchten, dass die Projekte nicht oder nur mit viel Verzögerung anlaufen, und in drei Monaten, wenn die Nothilfe zu Ende geht, unsere Nahrungsmittelsicherheit erneut bedroht sein wird.“
Im Jahr 2010 hat der kolumbianische Staat die internationalen Bergbauunternehmen Glencore, Drummond, Columbian Natural Ressources (CNR) und Vale beauftragt, die drei unter den negativen Auswirkungen des Bergbaus leidenden Gemeinden El Hatillo, El Boquerón und Plan Bonito umzusiedeln. Doch das Umsiedlungsverfahren kommt nur schleppend voran. Die ursprünglich auf Ende 2012 festgesetzte Frist lief ab, ohne dass konkrete Schritte umgesetzt werden konnten. Da es bis zum Umzug ins neue Dorf noch Jahre dauern wird, pocht die Gemeinde El Hatillo seit längerem darauf, dass die Umsiedlung einen Übergangsplan enthält, der ihnen Nahrungsmittel und medizinische Grundversorgung gewährleistet. Zwar haben die Unternehmen vor sechs Monaten entsprechenden Massnahmen zugestimmt, diese aber bisher nicht ausgeführt.
„Früher lebten die Menschen von der Landwirtschaft, Viehzucht und Baumwollproduktion, heute sind alle direkt oder indirekt vom Bergbau abhängig“, erklärt Mariana Suarez*. Wie die restlichen Dörfer im Umfeld der Bergwerke hat sich auch El Hatillo in einen Ort verwandelt, wo Landlose darauf warten, einen der begehrten Posten im Bergbau zu ergattern. Meist vergebens. Die Unternehmen stellen bevorzugt gut ausgebildete und von aussen kommende Arbeiter_innen ein. Einer Mehrheit der Dorfbewohner_innen bleibt nichts anderes übrig, als sich mit Tätigkeiten im informellen Sektor durchzuschlagen oder eine viel schlechter entlohnte Anstellung auf der nahen Palmölplantage anzunehmen.
In den ersten Wochen dieses Jahres hat sich die Ernährungsnot vieler Familien dramatisch zugespitzt. „Dorfbewohner, die Wert darauf legen, eigenständig zu leben, sahen sich dazu gezwungen, die Nachbarn um Reis oder Mais zu bitten. So etwas hat es hier noch nie gegeben!“, kommentiert Suarez*. Der aussergewöhnlich lange Sommer – vier Monate ohne einen einzigen Tropfen Regen – hat dazu geführt, dass die ohnehin schon geringe Ernte noch dürftiger ausgefallen ist. Nachdem Mitte Januar zehn Mitarbeiter aus El Hatillo entlassen wurden, haben aktuell nur noch Angehörige von 13 der 130 Familien eine Stelle im Bergbau inne. Gloria Holguín von der die Gemeinde begleitenden NGO „Pensamiento y Acción Social“ erklärt: „Krank und unter Hunger leidend ist es unmöglich, sich auf das Ausarbeiten eines Umsiedlungsplanes zu konzentrieren! Du musst gegessen haben und gesund sein, damit du dich für mittel- und langfristige Anliegen interessieren kannst.“
El Hatillo liegt fünf Fahrminuten von der heute 22.000 Einwohner_innen zählenden Stadt La Loma entfernt. Vor 15 Jahren noch ein Weiler mit drei Häuserblocks, ist La Loma seither explosionsartig gewachsen und hat sich dementsprechend gewandelt: Prostitution, Drogenkonsum sowie unzählige Bars und Nachtclubs für die Tausenden von Minenarbeiter_innen prägen das Leben der Kleinstadt. El Hatillo und La Loma, auf Deutsch „die kleine Finca“ und „der Hügel“, sind heute von viel grösseren Hügeln, gar Bergen umgeben. Unmittelbar hinter den letzten Häusern erhebt sich die erste mehrerer Abraumhalden, auf denen das Aushubmaterial der Bergwerke gelagert wird. Diese sind in der Regel mehrere Kilometer lang, 200 bis 500 Meter breit und 60 Meter hoch. Riesige Staubwolken entstehen, wenn der aus Nordosten kommende Wind über das lose Gesteinsmaterial weht. Die Folgen sind fatal: Die äusserst gefährlichen Kohlepartikel werden von den Menschen eingeatmet und setzen sich in der Lunge fest. Die ganze Landschaft ist mit Staub überzogen. Dieser verschmutzt das Trinkwasser und in den Flüssen sterben die Fische. Tonio Alvear*, ein älterer Mann aus El Hatillo bringt die Problematik auf den Punkt: „Ich bin Fischer. Es gibt keine Fische mehr. Wie soll ich überleben?“
Padre Wilson, der drei Tage die Woche in der katholischen Kirche von La Loma und die restliche Zeit in den umliegenden Weilern arbeitet, fügt hinzu: „Die Auswirkungen des Bergbaus sind verhängnisvoll: Wir töten uns hier gegenseitig für ein bisschen Geld.“
Selbst Alfonso Coronado, staatlicher Beamter der Departementsverwaltung in Valledupar, gibt zu, dass „es ein Fehler des Staates war, die Situation der sich im Bergbaugebiet befindenden Dörfer nicht im Voraus geregelt zu haben.“ Stattdessen habe man frohlockend Lizenzen verteilt und mit dem Kohleabbau losgelegt.
Der Staat muss per Gesetz die Einhaltung der an die Bergbaulizenzen gebundenen Umweltschutzvorlagen überprüfen und notfalls Maßnahmen ergreifen. Doch die staatlichen Institutionen fallen überwiegend durch ihre Abwesenheit auf. Dominique Rothen von der „Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien“ sagt dazu: „Der von Präsident Santos als Entwicklungsmotor gepriesene Bergbau erweist sich für eine Mehrheit der lokalen Anwohner als Bumerang. Und anstatt die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, nimmt sich der Staat wie im Fall von El Hatillo vollends aus der Pflicht und verweist auf die Verantwortung der Unternehmen. Schlussendlich bleibt die Bevölkerung sich selber überlassen.“
Wie die Bergbauunternehmen reagieren, wenn ihr Fehlverhalten vom Staat einmal sanktioniert wird, zeigt folgendes Beispiel: Vor wenigen Wochen sind in einem der Glencore-Bergwerke mehrere Abbaulizenzen suspendiert worden, da das Unternehmen jahrelang die Umweltschutzvorschriften verletzt hatte. Die Antwort von Glencore kam postwendend: 700 Arbeiter_innen wurden entlassen. Mit dieser Massnahme versucht Glencore den Staat zu erpressen, damit dieser seine Sanktionen rückgängig macht. Das Unternehmen nimmt dabei in Kauf, dass sich die sowieso schon angespannte Lage in den Werken weiter zuspitzt. Glencore – in der Branche bekannt für seine Risikoinvestitionen in Konfliktgebieten – ist mit ihrer Filiale Prodeco in zwei Kohlebergwerken in der Region tätig. Entgegen der gesetzlichen Pflicht hat es das grösste Rohstoffunternehmen der Welt lange Zeit unterlassen, sich in Kolumbien als Firmengruppe zu deklarieren. Glencore gehören 40 Prozent der bis an die Küste führenden Eisenbahnlinie sowie zwei Häfen nahe Santa Marta. Aktuell baut der Schweizer Konzern im Cesar jährlich geschätzte 18 Millionen Tonnen Steinkohle ab. Zusammen mit den 11 Millionen Tonnen der Firma Xstrata – Glencore und Xstrata haben im November 2012 fusioniert – resultieren aus dem Bergwerk Cerrejón beinahe 30 Millionen Tonnen Steinkohle. Glencore ist damit der grösste Kohleexporteur Kolumbiens.
In der Provinz Cesar, wo heute auf einer Fläche von rund 30-40 Kilometern die mit Abstand grösste Steinkohletagbaumine der Welt entsteht, wird seit langem Bergbau betrieben, früher jedoch ausschließlich für den lokalen Verbrauch. Dies änderte sich in den achtziger Jahren, als der Vorsitzende des US-Amerikanischen Familienunternehmens Drummond, Garry Drummond, höchstpersönlich die Region aufsuchte. Die Ankunft des Gringos mit dem klangvollen Namen und ausgezeichneten Kontakten zu Valledupars reichen Familien, Großgrundbesitzer_innen und Paramilitärs läutete den exportorientierten Steinkohletagbau transnationaler Unternehmen ein. Im Jahr 1995 nahm die erste Drummond-Mine ihren Betrieb auf, weitere Bergbauunternehmen folgten. Die qualitativ hochwertige Steinkohle wird per Eisenbahn ins nur 150 Kilometer entfernte Santa Marta transportiert und von dort nach Europa und Asien verschifft. 1994 machte die im Cesar gewonnene Kohle 8 Prozent der nationalen Produktion aus, zehn Jahre später waren es bereits 46 Prozent. Im Jahr 2010 wurden in der Region 36 Millionen Tonnen Steinkohle abgebaut, 95 Prozent davon für den Export.
Zum Zeitpunkt konstanter Zunahme des zum Kohleabbau bestimmten Gebiets wurde jeglicher sozialer Widerstand mit brutaler Waffengewalt niedergeschlagen. Der Cesar gilt seit den achtziger Jahren als eine der landesweit am stärksten umkämpften Regionen. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zur Serranía del Perijá, ein strategisch wichtiger Punkt für den Schmuggel von Waffen und Drogen von und nach Venezuela, aber auch die Tatsache, dass die weiten und fruchtbaren Ebenen praktisch ausschliesslich Eigentum von Großgrundbesitzer_innen waren – und auch heute noch sind – hat die Guerilla der Farc ihre Präsenz in dem Gebiet intensiviert. Die Antwort des Staates ließ nicht lange auf sich warten: Mit Hilfe der Paramilitärs unter der Führung von alias „Jorge 40“ wurden unzählige Syndikalist_innen, Menschenrechtsaktivist_innen und linke Politiker_innen umgebracht. Der auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragene Konflikt hat Wunden hinterlassen, die auch heute noch spürbar sind. So zum Beispiel in der Gemeinde El Hatillo, wo sich im Verlauf der blutigen Auseinandersetzungen Mitglieder verschiedener Familien gegenseitig umgebracht haben. Die Feindseligkeiten und Spannungen innerhalb der Gemeinde erschweren ein einheitliches Auftreten in den Verhandlungen mit den Bergbauunternehmen und damit eine erfolgreiche Umsiedlung im Interesse der 130 Familien.

*Namen vom Autor aus Sicherheitsgründen geändert.

Wer steht auf der Leitung?

Einen ungewöhnlich intensiven Datenverkehr haben die Web-Vermesser_innen des US-amerikanischen Unternehmens Renesys seit Anfang Januar registriert. Offenbar habe die staatliche Telekommunikationsgesellschaft ETECSA das bereits im Februar 2011 installierte Untersee-Glasfaserkabel nun endlich in Betrieb genommen, berichteten die IT-Spezialist_innen. Das deckt sich mit Informationen aus Kuba. Dort veröffentlichte die von der kommunistischen Partei verantwortete Tageszeitung Granma eine Pressemeldung von ETECSA, wonach „das Telekommunikationssystem Alba-1 seit August 2012 im Einsatz ist“. Seitdem werde über das Fieberglaskabel, welches Kuba und Venezuela verbindet und das Herzstück von Alba-1 ist, telefoniert. Zudem werde seit dem 10. Januar getestet, ob das Kabel den Qualitätsanforderungen entspreche. Die Meldung deckt sich mit den Messungen der US-Expert_innen, die allerdings ein ungewöhnliches Phänomen feststellten: Der Datenfluss sei deutlich schneller auf die Insel als umgekehrt.
Warum das so ist, darüber wird kräftig spekuliert. Die IT-Fachkräfte von Renesys vermuten auf ihrem Blog, dass die ETECSA das Kabel asymmetrisch nutze. Das könne auf eine physikalische Begrenzung hindeuten, schließlich hatte es nach der Verlegung des Kabels viele Gerüchte in Kuba gegeben, dass minderwertiges Material verlegt worden sei. Diesbezüglich wurde im Sommer 2011 gleich gegen zwei Vizeminister des Telekommunikationsministeriums ermittelt und später gegen Dutzende von Mitarbeiter_innen des Ministeriums und von ETECSA. „Den Informationen zufolge, die von Mitarbeitern der ETECSA stammen, wird gegen fünfzig bis siebzig Mitarbeiter ermittelt. Sie sollen mehrere Millionen US-Dollar beiseite geschafft haben“, so der unabhängige Journalist Iván García Quintero. Bis zu 15 Millionen US-Dollar der insgesamt angeblich rund 70 Millionen US-Dollar teuren Leitung sollen versickert sein. Dabei war das nicht nur national sondern auch international viel beachtete Projekt, welches Kuba einen Quantensprung bei der Geschwindigkeit des www-Zugangs bringen sollte, deutlich teurer als international üblich. Warum, darüber lässt sich nur spekulieren. Fest steht, dass die Inbetriebnahme der Leitung, die von Siboney, einem Fischerdorf nahe Santiago de Cuba bis ans andere Ende der Insel führt, mehr als zwanzig Monate auf Eis lag. Für die Kubaner_innen änderte sich somit nichts. Der Zugang ins Internet erfolgte wie zuvor über die kostspieligen, latent überlasteten und überaus langsamen Satellitenleitungen. Eine Studie der Internationalen Fernmeldeunion vom Sommer 2012 befand Kuba als nahezu komplett abgehängt vom World Wide Web.
Gerade drei Prozent der kubanischen Haushalte haben laut der Studie Zugang zum Internet. Den Daten zufolge, die wiederum auf offiziellen kubanischen Statistiken beruhen, befindet sich Kuba auf einem Niveau mit Ländern wie Haiti, Ruanda, Mali oder Eritrea. Besonders gravierend sei die Situation bei Breitbandverbindungen von der Insel in den Rest der Welt. Die seien de facto inexistent. Weder per Computer noch per Mobiltelefon gebe es schnelle Datenverbindungen von der Insel in die Außenwelt.
Geduld, aber auch das nötige Kleingeld ist daher gefragt, wenn man online gehen will. „Es kann schon mal ein paar Minuten dauern bis sich eine Seite aufbaut“, berichtet der private Zimmervermieter Oscar Almiñaque, der über ein altes Modem auf die Datenautobahn auffährt. E-Mails mit Fotoanhängen sind deshalb bei ihm verpönt, denn sie verstopfen die Leitung für Minuten, wenn nicht für Stunden. 64 Kilobit (KB) transportieren die in der Regel pro Sekunde, das höchste der Gefühle auf der Insel ist eine 512 KB-Leitung. „Die kostet allerdings schon 3.000 US-Dollar im Monat und das ist der Grund, weshalb die meisten Unternehmen mit einer 64 KB-Leitung arbeiten“, so erklärt ein Schweizer Touristikunternehmer, der ein Büro auf der Insel unterhält. Größere Datenpakete schicken seine Mitarbeiter_innen nur nachts und intern gilt die Order, Fotos auf ein Minimum zu komprimieren: kein Wunder angesichts eines Netzes, das in etwa so schnell ist wie jenes zur Zeit der fiependen Telefon-Modems.
Genau das kann sich Kuba aber nicht mehr leisten. In absehbarer Zeit soll ein moderner Containerhafen bei Mariel, rund vierzig Kilometer von Havanna entfernt, eingeweiht werden. „Ohne einen modernen Breitbandzugang ins Internet ist so ein Hafen gar nicht zu betreiben“, erklärt Lenardo Padura, Kubas international populärster Schriftsteller, der die gesellschaftliche Entwicklung auf der Insel sehr genau beobachtet. „Wir verlieren den Anschluss an den Rest der Welt und an viele technologische Entwicklungen“, mahnt der 57-Jährige, der anders als viele seiner Landsleute ganz legal über Internet in seinem Haus in Havannas Stadtteil Mantilla verfügt. Ohne High-Speed-Datentransfer droht Kuba auch in der Wissenschaft den Anschluss zu verlieren, so zum Beispiel im medizinisch-pharmazeutischen Bereich, wo die Insel zu den wichtigsten Forschungsnationen auf der Südhalbkugel gehört. Ein Dilemma, das man am Platz der Revolution lange den USA in die Schuhe schob, denn schließlich läuft die Telekommunikation über die Großmacht im Norden. Trotzdem hatten es die Kubaner_innen auch nicht eilig mit der Suche nach Alternativen, denn den neuen Medien stand man ebenfalls skeptisch gegenüber. Gleichwohl ist man in den letzten Jahren in die Offensive gegangen. So existiert mit EcuRed eine eigene Wikipedia Cubana, die im Dezember 2010 mit 20.000 Seiten online ging. Darin wird Kubas Welt und die Welt aus Kubas Perspektive dargestellt. Selbst Dissidenten, ansonsten meist totgeschwiegen im kubanischen Alltag, finden hier Erwähnung. Und auch ein kubanisches Facebook haben die alternden Revolutionäre um Staatschef Raúl Castro an den Start gebracht. Red Social (Soziales Netz) heißt das Pendant, welches eine Alternative bieten soll. Doch auch da hakt es am Zugang zum Netz, der das eigentliche Dilemma ist. Ohne leidlich fixe Verbindungen sind auch die Online-Alternativen vom Platz der Revolution nicht sonderlich interessant.
Ohnehin ist der Netzzugang in Kuba ausgesprochen kostspielig. Die einstündige Visite in der virtuellen Welt kostet in einem internationalen Hotel, wo die Datenleitungen meist etwas schneller sind, zwischen acht und sechzehn Peso convertible (CUC). Kubas landesweit geltende Hartwährung ist im Verhältnis 1:1 an den US-Dollar gekoppelt. Das können sich nur wengie Kubaner_innen leisten, weshalb es einen schwunghaften Handel mit Zugangscodes gibt. Angestellte von Ministerien, Krankenhäusern und anderen staatlichen Einrichtungen erwirtschaften auf diesem Weg den einen oder anderen CUC extra. Das ist schon lange Alltag in Kuba. Unabhängige Journalist_innen etwa geben rund zwanzig CUC im Monat aus, um einen leidlich stabilen und kontinuierlichen Internetzugang zu haben.
Ob das in Zukunft anders sein wird, steht in den Sternen. Zwar funktioniert das Kabel mit einer Kapazität von 320 Gigabit pro Sekunde, aber wie es genutzt werden soll, ist vollkommen unklar. Blogger_innen wie Yoani Sánchez oder Antonio Rodiles, Direktor des kritischen Internetfernsehsenders Estado de Sats glauben ohnehin nicht daran, dass es in absehbarer Zeit Highspeed-Internet für alle geben wird. Eine Einschätzung, die auch Iván García, einer der aktivsten unabhängigen Journalisten auf der Insel, teilt: „Das ist keine technische, sondern eine politische Entscheidung, und die wird am Platz der Revolution gefällt“, so García. Dessen Nachbarn wurden erst vor ein paar Tagen wieder einmal befragt nach dem großen, kräftigen Kubaner, dessen Reportagen aus der sozialen Realität der Insel unter anderem in der spanischen El Mundo, im Diario Las Americas, aber auch auf der regierungskritischen Internetplattform Diario de Cuba erscheinen.
Auch Außenminister Bruno Rodríguez hat bereits im November 2011 darauf hingewiesen, dass sich Kuba Internet für alle schlicht nicht leisten könne. Dafür könnte es auch noch einen anderen Grund geben: Seit der Handy-Revolution in Ägypten soll der Respekt in Kubas revolutionärer Führung gegenüber Twitter, Facebook und Co. merklich gestiegen sein. Die wären natürlich auch in Kuba theoretisch per Mobiltelefon nutzbar und Mobiltelefone hat mittlerweile rund die Hälfte der Bevölkerung.
Wie die Online-Zukunft der Kubaner_innen aussehen wird, scheinen auch die ETECSA-Expert_innen noch nicht zu wissen. In der Meldung von Mitte Januar in der Granma heißt es, dass zusätzliche Investitionen nötig seien und es keinen automatischen Zugang zum Netz geben werde. Aus Exilkreisen ist hingegen zu hören, dass Kuba mit chinesischer Hilfe ein modernes Rechen- und Kontrollsystem aufgebaut habe, um das zu kontrollieren, was von der Insel nach draußen geht und was aus dem Ausland reinkommt. Das soll angeblich bald seine Arbeit aufnehmen. In der virtuellen Kuba-Gemeinde wird hingegen längst darüber spekuliert, ob die einseitige Kabelauslastung nicht etwas mit diesem Kontrollzentrum zu tun habe. Hat es eventuell bereits seine Arbeit aufgenommen und ist deshalb der Ausgang von E-Mails und Daten langsamer als der Eingang? Eine These, die nicht von allen Fachmännern und -frauen geteilt wird. Zensurbestrebungen seien nur eine Möglichkeit, aber die Netzaktivitäten entsprechen nicht den andernorts üblichen Zensurmustern. Da ist es spannend wie es zukünftig weitergehen wird mit dem Kabel, das einst als Schritt in die Cyber-Ära gefeiert wurde – auch von Fidel Castro.

Tausche Lenin gegen Hello Kitty

Als sie in ihr neues Heimatland kommen, sind viele Dinge ungewohnt für Antonia und Claudia. Die neue Wohnung, das sonderbare Verhalten ihrer Eltern und die neuen Mitschülerinnen, die von ihren Lieblingsliedern und -tänzen nie gehört haben. Für beide ist das nicht leicht zu begreifen. Denn beim Überschreiten der Grenze von Nicaragua nach Costa Rica haben die Mädchen nicht nur den Staat, sondern auch das politische System gewechselt.
Antonias und Claudias Eltern sind costa-ricanische Staatsbürger_innen, die in den 1970er Jahren für die sandinistische Befreiungsfront FSLN in Nicaragua kämpften. Als die Region, in der sie leben, vom gegnerischen Militär besetzt wird, müssen sie nach Costa Rica zurückkehren und ihr Leben im Untergrund fortsetzen. Problematisch ist das vor allem für ihre Kinder, deren Alltag dadurch ins Wanken gerät. Während Antonia zu jung ist, um die Vorgänge um sie herum zu verstehen, ist die neunjährige Claudia bereits von den politischen Einflüssen aus Kuba und der Sowjetunion geprägt. In ihren Träumen sind sie und ihre Schwester „rote“, sozialistische Prinzessinnen. Als aktives Mitglied bei den Jungpionier_innen in Nicaragua träumt sie, in Costa Rica eine Geheimorganisation aufzubauen. Dabei stößt sie in ihrer neuen Umgebung aber auf Verwunderung und Ablehnung. Denn ihre reichen Verwandten in Costa Rica orientieren sich eher am US-amerikanischen Lebensstil. So tauschen die beiden Lenin-Pins gegen Hello-Kitty-Abziehbilder. Die Stimmung im Elternhaus ist derweil von steigender Angst und Nervosität geprägt. Immer stärker dringen der politische Konflikt und die Gewalt in Nicaragua in die Familienstrukturen ein.
Der costa-ricanischen Regisseurin Laura Astorga Carrera ist mit Princesas Rojas ein kleines Meisterwerk geglückt. Unter Ausblendung direkter Kampfhandlungen, gelingt es dem Film, die Auswirkungen des Krieges auf den sozialen Mikrokosmos Familie zu übertragen. Selbst in Szenen, in denen die Mädchen ausgelassen spielen, ist eine bedrohliche Atmosphäre zu spüren. Interessant ist die filmische Inszenierung aus der Perspektive der jungen Mädchen. So werden die Zuschauenden in die ahnungs- und hilflose Lage der Kinder versetzt. Die geraten als Spielbälle in einen Interessenskonflikt, den sie nur wenig begreifen. Ihre Hoffnungen und Träume sind für die Erwachsenen Nebensache. Es berührt, wie Claudia trotz ständiger Umzüge und häufiger Abwesenheiten für ihre Teilnahme im Schulchor kämpft und Antonia den Glauben an die heile Welt Familie bis zum Schluss nicht verliert. Der Film wirkt dabei trotz aller Emotionalität nie kitschig, was vor allem an der Leistung der jungen Darstellerinnen liegt. Die Verwendung von Motiven wie Vertrauen und Verrat kann zwar als Parabel auf die politischen Verhältnisse verstanden werden. Im Vordergrund stehen aber die nachvollziehbaren Gefühle der Kinder. Deren Sehnsucht nach dem Ausleben spielerischer Freude und einem normalen Leben wird zunichte gemacht. Diese Zutaten machen Princesas Rojas zu einem sehenswerten Film.

Princesas Rojas // Laura Astorga Carrera (Regie) // Costa Rica/Venezuela 2013 // 100 Min.

Big Brother in der Lehmhütte

„Angst habe ich nicht“, sagt Pili zu Beginn des Films. Obwohl sie vorbereitet ist, steht sie doch vor zwölf Monaten Ungewissheit. Denn sie unterzieht sich einem Ritual, das die Frauen der Gemeinschaft der Wayúu auf der Halbinsel Guajira, zwischen Kolumbien und Venezuela, seit Jahrhunderten begehen: Um die Zeit der ersten Menstruation schließen sie sich in eine Lehmhütte in ihrem Dorf ein, die sie für zwölf Monde (sprich: Monate) nicht mehr verlassen. Nur ihre engsten weiblichen Verwandten dürfen sie in dieser Zeit sehen, jeglicher Kontakt mit Männern ist tabu. Der Ritus soll Pili einen hohen sozialen Status verschaffen. Frauen, die eine lange Zeit in der Abschottung verbringen, gelten bei den Wayúu als ehrenhaft und erzielen einen hohen Brautpreis bei zukünftigen Ehemännern. In der Hütte bekommen sie in dieser Zeit von ihren weiblichen Verwandten all das gelehrt, was sie später zu guten Müttern und Ehefrauen werden lassen soll.
Was zunächst wie das klassische Muster einer patriarchalen Gesellschaft wirkt, weckt im Laufe des Films immer mehr gemischte Gefühle. Denn zum einen erkennt die bzw. der Zuschauer_in, dass die Zeit in der Hütte für Pili eine schwere Prüfung ist. Sie fühlt sich einsam, vermisst ihre Schulfreundinnen und hat damit zu kämpfen, dass ihr während ihrer Abschottung sogar das Lachen verboten ist. Außerdem kann ihre Mutter, die von Pilis Vater getrennt lebt, sie nicht unterstützen, da ihr neuer Mann ihr verbietet, der Tochter beizustehen. Andererseits wird aber auch deutlich, dass das Ritual bei den Wayúu keine Unterwerfung unter männlich dominierte Sozialstrukturen darstellt. Die Wayúu sind matrilinear organisiert, weitergegeben wird also der Name der Mutter, Frauen haben in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen großen Einfluss. Und so sind sie es auch, die Pilis Werdegang entscheidend mitbestimmen.
Der Abschottung unterzieht sie sich nach eigener Aussage, da ihre Großmutter es so wollte. Und ein Heiratsangebot, das ein wohlhabender Mann während ihrer Zeit in der Hütte vorbringt, lehnen ihre weiblichen Verwandten freundlich, aber bestimmt ab -– Pili soll erst einmal „Karriere machen“, bevor sie mit einem Mann zusammenlebt. In vertrautem Gespräch wird sie dann sogar davor gewarnt, dass viele Männer nur betrunken in der Hängematte liegen und sie herumkommandieren wollen -– sie solle erst einmal ihre schulische Laufbahn beenden, studieren und einen Beruf ergreifen.
Der Regisseurin Priscila Padilla Farfan ist ein eindrucksvoller Film gelungen, der Bilder zeigt, die selbst den Augen der meisten Wayúu bisher verborgen gewesen sein dürften. Das Vertrauensverhältnis, das die Filmemacherin dafür gewonnen haben muss, ist dabei hoch einzuschätzen. Denn sie hat die Gemeinschaft von einem Konzept überzeugt, das vordergründig an Reality Shows wie Big Brother erinnert. Dass die Gemeinde der Idee gegenüber aufgeschlossen war, zeigt sich beispielsweise in der Szene, als Pilis Tante mit sichtlicher Begeisterung die Kamera in der Hütte befestigt und freudig erklärt, sie sei in nächster Zeit für das Filmen verantwortlich. Trotz der intimen Einblicke in das Leben der Wayúu-Frauen bewahrt der Film stets respektvollen Abstand zu den Dorfbewohnern und Dorfbewohnerinnen. Die Regisseurin drängt sich nicht mit provokanten Fragen auf und zeigt immer wieder das unaufgeregte Alltagsleben der Dorfgemeinschaft. Da der Film auf Kommentare verzichtet, entsteht eine angenehm wertfreie Atmosphäre, in der den Zuschauer_innen selbst das Urteil über die häufig ambivalenten Situationen und Aussagen überlassen bleibt. Es wäre wünschenswert gewesen, die Beweggründe von Wayúu-Frauen, die sich nicht (mehr) dem Übergangsritus unterziehen möchten, genauer zu beleuchten. So hinterlässt der Film mehr Fragen als Antworten. Aber dafür, dass er eine Thematik behandelt, zu der allzu leicht vorgefertigte Urteile gesprochen werden, ist das fast schon eine Auszeichnung.

La eterna noch de las doce lunas // Priscila Padilla Farfan (Regie) // Kolumbien 2013 // 87 Min.

// DOSSIER: MEDIEN UND MACHT IN LATEINAMERIKA

 

(Download des gesamten Dossiers)

Cristina Fernández de Kirchner „begann die privaten Medien zu bekämpfen“, kritisierte die FAZ am 19. Februar 2013 in einem Porträt der argentinischen Präsidentin. Am selben Tag konnte die bekannte Bloggerin Yoani Sánchez aus Kuba nach Brasilien reisen und sorgte damit nicht nur für internationale Berichterstattung, sondern bei ihrer Ankunft auch für Demonstrationen in Recife. Nur einen Tag zuvor hatte die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen per Pressemitteilung den wiedergewählten ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa aufgefordert, „kritische Journalisten nicht länger zu diffamieren und restriktive Mediengesetze zurückzunehmen“. Das Verhältnis zwischen Medienkonzernen, Medienmacher*innen und staatlicher Macht in Lateinamerika scheint aktueller und brisanter denn je. Doch warum?

 

                   Streetart aus San José, Costa Rica  (Foto: Benjamin Keuffel)

 

Medien und Macht – in den meisten lateinamerikanischen Ländern ist das Verhältnis zwischen der „Vierten Gewalt“ und dem Staat seit Jahrzehnten von großer Nähe zwischen den Medienkonzernen, von denen sich viele seit mehreren Generationen in der Hand einiger weniger Familien befinden, und den Mächtigen geprägt. Im medialen Alltag Lateinamerikas produzieren die großen Mediengesellschaften in unterschiedlichen Formaten immer dieselben Inhalte. Crossmedial werden beispielsweise die Themen und Protagonist*innen der Feierabendserien in eigenen Zeitschriften und Internetseiten, bei Talkshows und Veranstaltungen immer neu aufbereitet und an die Frau, den Mann oder das Kind gebracht. Und in fast allen Ländern wird die privatwirtschaftlich organisierte Berichterstattung nicht durch ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem ergänzt oder „ausgewogen“ gestaltet.

Ökonomisch und juristisch liegen die Wurzeln dieser Medienkonzentration meist in der Zeit der Militärdiktaturen. Roberto Marinho, Gründer des brasilianischen Medienimperiums Globo, sendete sein erstes TV-Programm zu Beginn der Diktatur. Am Ende der Militärherrschaft war seine Macht größer als die der Generäle. Von Tancredo Neves, dem ersten wieder demokratisch gewählten Präsidenten, ist die Aussage überliefert: „Ich lege mich mit dem Papst an, ich streite mich mit der katholischen Kirche, mit meiner Partei PMDB, mit aller Welt, aber ich streite mich nicht mit dem Doktor Roberto Marinho!“. Auch in Chile beruht das faktische Duopol in den Printmedien auf der guten Zusammenarbeit der beiden größten Medienkonzerne mit den Machthabern der Militärdiktatur. Und innerhalb des mexikanischen TV-Duopols ist die Marktmacht von Televisa untrennbar mit der 71-jährigen Herrschaft der PRI, der Revolutionären Institutionellen Partei, verbunden.

Heute treffen mehr Mitte-Links-Regierungen als jemals zuvor die politischen Entscheidungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, was auch die Medienpolitik einschließt. Sie stoßen dabei auf ein Mediensystem, das nicht der ausgewogenen Berichterstattung und der Beachtung journalistischer Standards verpflichtet ist, sondern die politischen Interessen ihrer Eigentümer*innen vertritt. Auch Reporter ohne Grenzen kritisiert Brasilien in einem Bericht als „das Land der 30 Berlusconis“. Politische Reformen der Mediengesetzgebung im Sinne einer Demokratisierung von Frequenzen und Inhalten oder einer Einführung von öffentlich-rechtlichen Medien erzeugen aber erbitterten Widerstand der betroffenen Medienkonzerne. Venezuela, Argentinien und Brasilien sind nur drei aktuelle Beispiele, in denen neue Mediengesetze von großen politischen Auseinandersetzungen begleitet wurden und werden.

Dabei sind die traditionellen Medienkonzerne eigenständige politische Akteure, die aktiv in innenpolitische Auseinandersetzungen eingreifen oder „ihre“ politischen Kandidat*innen lancieren. Hier sind die Wahlwerbung des mexikanischen Senders Televisa im Präsidentschaftswahlkampf 2012 oder die Unterstützung des Putsches in Honduras durch Fernsehsender und Zeitungen im Jahr 2009 gute Beispiele.

In Deutschland wiederum ist – unter anderem durch die Zeitungskrise – die Zahl der Auslandskorrespondent*innen seit Jahren rückläufig und Beiträge lateinamerikanischer Medien werden oft unkritisch übernommen. Dieses Medien-Dossier der LN will deshalb über die Hintergründe der lateinamerikanischen Berichterstattung informieren und gleichzeitig alternative Medien bekannter machen.
Denn so stark die geballte Medienmacht auch ist, so vielfältig sind auch die Versuche, die immer gleichen Botschaften der Medienkonzerne durch eigene zu ersetzen. Die „Empfänger*innen“ haben längst begonnen, das Menschenrecht auf Kommunikation einzufordern und kritische Fragen zu stellen: Warum spielen in meiner Lieblingsfernsehsendung eigentlich so wenige Menschen eine Rolle, die so aussehen wie ich? Und wenn, warum dann nur als Täter*innen oder Opfer von Gewalt? Warum kommt das, was in meinem Stadtteil mit tausenden von Bewohner*innen passiert, eigentlich nie in den Nachrichten vor? Warum erfahre ich so viel über das Leben der reichen und schönen Weißen, aber nichts, was mir im Alltag weiterhilft? Wieso haben wir als Indigene keine eigenen Medien in unserer Sprache, die uns die ILO-Konvention 169 garantiert?

Das Menschenrecht auf Kommunikation, das allen nicht nur das theoretische Recht auf Meinungsäußerung, sondern tatsächlichen Zugang zu Medien garantiert, wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von vielen sozialen Bewegungen gefordert. In Venezuela garantiert es die neue Verfassung von 1999, die eine Fülle von Neugründungen alternativer Medien auslöste. Viele Bewegungen befürworten auch den Aufbau öffentlich-rechtlicher Medien, auch wenn diese allein keine „Ausgewogenheit“ der Berichterstattung garantieren.

Ob in den Favelas der Maré in Rio de Janeiro, in ländlichen indigenen Gemeinden oder auf den Wänden des jamaikanischen Kingston – überall versuchen Menschen ihre eigene Sicht auf ihre Wirklichkeit auszudrücken und zu verbreiten. Die Ernsthaftigkeit und der Spaß, den sie dabei empfinden, vermitteln sich live on air, über Fotoausstellungen, Texte oder über coole Sprüche an rauen Wänden. Hilfreich ist dabei die zunehmende Verbreitung des Internets: Blogs und Internet- radios, selbst Internet-TV, sind kostengünstig zu produzieren und haben ein immer größeres Publikum – auch wenn in vielen Gegenden Radio-wellen oder bedrucktes Papier noch die meisten Menschen erreichen.

Dass kritischer Journalismus auch gefährlich ist, zeigt sich aktuell besonders in Mexiko und in Honduras. Im vergangenen Jahr wurden sechs mexikanische Journalist*innen ermordet, seit dem Jahr 2000 waren es mindestens 66, weitere zwölf werden vermisst. Und nach den Recherchen der Journalist*innen-Organisation Artikel 19 sind es nur in jedem zweiten Fall die Drogenkartelle, die mexikanische Journalist*innen bedrohen. In allen anderen Fällen sind es staatliche Stellen. Auch in Honduras wurden 2012 zwei Journalisten Opfer einer Ermordung, die in direktem Zusammenhang mit ihren Recherchen stand. In den vergangenen drei Jahren sind dort mindestens 29 Journalist*innen ermordet worden.

Aus der Fülle dieser Themen haben wir für dieses Dossier eine Auswahl von sechs Ländern getroffen: Mexiko, Honduras, Jamaica, Venezuela, Brasilien und Chile. Zu fünf der Länder thematisiert ein Beitrag das Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Medien. Ergänzt wird dies durch ein Interview oder ein Feature über ein Projekt kritischer Gegenöffentlichkeit. Dabei war uns wichtig, dass die Beiträge möglichst unterschiedliche Medienformate vorstellen: Eine alternative Nachrichtenagentur in Mexiko, kommunales indigenes Radio in Honduras, Streetart in Jamaica, einen alternativen Fernsehsender in Venezuela, verschiedene Favela-Medien in Brasilien und ein Radioprojekt in Chile sollen ein möglichst vielfältiges Bild von lateinamerikanischer Gegenöffentlichkeit skizzieren.

Begleitet werden die Texte von Streetart-Fotos aus der Länderauswahl sowie aus Argentinien, Guatemala und Costa Rica. An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Fotograf*innen sowie das Goethe-Institut in Mexiko, das uns viele Fotos zur Verfügung stellte.

 

Mythen über Medien

Zu den Allgemeinplätzen über Venezuela gehört, dass es in dem südamerikanischen Land um die Meinungsfreiheit schlecht bestellt ist. Die Berichterstattung erwähnt Venezuela zumeist in Verbindung mit seinem Präsidenten Hugo Chávez, von der Springer-Presse gerne als „Tropen-Caudillo“ betitelt. Seine Regierung wird dafür kritisiert, die Medienlandschaft des Landes zum eigenen Vorteil zu zensieren. Bereits als politisch interessierte Besucher_in des Landes drängt sich eine gewisse Dissonanz zu diesen Einschätzungen auf: Bis in die abgelegensten Orte sind die Zeitungskioske mit unterschiedlichsten Zeitungen gefüllt; wer das Radio oder den Fernseher einschaltet, findet die Frequenzbänder dicht belegt mit venezolanischen, aber auch internationalen Kanälen.
Auch die Inhalte scheinen sich auf den ersten Blick nicht besonders von denen anderer lateinamerikanischer Länder zu unterscheiden: viele Telenovelas, viel Werbung. Die Darsteller_innen sind gegenüber dem Landesdurchschnitt auffällig hellhäutig und extrem schlank. Einzige Ausnahme sind die Nachrichtensendungen: Sie bestehen zum großen Teil aus Berichten über Kriminalität und hier finden auch gewöhnliche Menschen ihren Platz – als mutmaßliche Verbrecher_innen oder deren Opfer. Für die Kommunikationswissenschaftlerin Annette Massmann ist dies ein typisches Phänomen in der lateinamerikanischen Medienlandschaft. Die Bevölkerung mit geringerem Einkommen hat nicht nur schlechteren Zugang zu Medienangeboten, sie selbst, ihre Kultur und Lebenswelt kommen in den etablierten Medien einfach nicht vor. Ist Venezuela also ein ganz normaler Vertreter der lateinamerikanischen Medienkultur?
In wissenschaftlichen Beiträgen wird Venezuela eher als ein positives Beispiel für Medien- und Meinungsvielfalt diskutiert. So kommen Jairo Lugo-Ocando und Andrés Cañizales, letzterer ein nachdrücklicher Kritiker der aktuellen wie auch vorheriger Regierungen, zu der Einschätzung: „Verglichen mit anderen Ländern der Region nutzen prozentual mehr Menschen Radio- und Fernsehangebote. Medienkonsum ist in Venezuela hoch differenziert und Medienkompetenz in der Bevölkerung weit verbreitet.“ Ein Blick auf die Zahlen bestätigt, dass das Land eine moderne und vielfältige Medienlandschaft besitzt. Täglich erscheinen etwa einhundert Zeitungen, von denen immerhin acht landesweite Ausgaben veröffentlichen. Mehr als ein Drittel der Haushalte nutzen Kabel- oder Satellitenempfang, aber auch die Infrastruktur für offenes Fernsehen und Radio kann für Lateinamerika als luxuriös gelten: Im Jahr 2008 verfügte das Land über 108 Sendestationen für Fernsehen, 794 Radiosender im UKW-Bereich und weitere 210 Sender auf Mittelwelle.
Bei dem Thema Frequenzvergabe fallen öffentliche Beschreibung und tatsächliche Entwicklung besonders drastisch auseinander. Dass die Regierung im Jahr 2007 einem der größten Fernsehsender, RCTV, die Sendelizenz nicht verlängerte, führte international zu heftigen Polemiken: Von taz bis FAZ hieß es, das Land befinde sich vor dem journalistischen Blackout. Eine Überprüfung der vergebenen Lizenzen – alle Zahlen lassen sich problemlos online recherchieren – zeigt, dass die privaten Fernsehsender die Anzahl ihrer Frequenzen seit dem Amtsantritt der Regierung Chávez tatsächlich mehr als verdoppelt haben: nämlich von 29 Stationen im Jahr 1998 auf 65 im Jahr 2008. Im selben Zeitraum wurden 181 neue Lizenzen an private Radiobetreiber vergeben. In beiden Bereichen nutzen private Unternehmen 60 Prozent der vergebenen Ressourcen – die von der venezolanischen Opposition beschworene „Diktatur“ sieht anders aus.
Tatsächlich wird das venezolanische Mediensystem bis heute von kommerziellen Unternehmen geprägt. Dabei dominieren besonders einzelne transnational agierende Medienkonzerne. In Venezuela sind das vor allem die Gruppe Cisneros, die mit Venevisión den Fernsehmarkt sowie mit FM Center den Radiomarkt bestimmt, aber auch das Unternehmen 1BC mit Fernseh- und Filmproduktionen oder der spanische Medienkonzern Prisa mit seinen zahlreichen Radiosendern (Unión Radio). Daneben halten sich mehrere starke Einzelnunternehmen, wie etwa Cadena Capriles, die mit Últimas Noticias die größte Tageszeitung des Landes herausgibt.
Einen Eindruck von der politischen Linie der Medien bietet der Umstand, dass drei der wichtigsten Unternehmen – die Cisneros-Gruppe, Cadena Capriles und der Verlag Bloque de Armas – nach 1958 von Exil-Kubaner_innen gegründet wurden. So überraschte es nicht, dass am 11. April 2002, beim Putsch gegen Hugo Chávez, ausgerechnet Miguel Ángel Capriles, der Gründer von Cadena Capriles, das totalitäre Dekret des Putschpräsidenten Pedro Carmona mit unterzeichnete. Bereits in der Vorbereitung nahmen die privaten Medien eine sehr aktive Rolle ein. Später gestand Eleazar Díaz Rangel, Leiter von Últimas Noticias: „Die mächtigste Kraft bei der Durchführung des Putsches waren die Medien.“
Auch zehn Jahre nach diesen Ereignissen hat sich an der aktiven politischen Einflussnahme der Medienunternehmen grundsätzlich nichts geändert. Miguel Ángel Capriles etwa ist der Onkel von Henrique Capriles, dem Präsidentschaftskandidaten der venezolanischen Opposition bei den Wahlen im Oktober 2012. Seine Tageszeitung Últimas Noticias, die vergleichsweise ausgewogen berichtet, erhielt während des Wahlkampfes eine Rüge vom Wahlrat, weil sie ihrem Kandidaten unverhältnismäßig viele Nachrichten und Werbeplätze einräumte. Dieses Capriles-Phänomen geht zurück auf die Zeit der Vierten Republik, die von 1958 bis 1998 andauerte. Praktisch alle privaten Medienunternehmen des Landes weisen enge persönliche Verbindungen zur alten politischen Klasse und jetzigen Opposition auf. Diese Symbiose zwischen alten wirtschaftlichen und politischen Eliten und den Medienunternehmen, der so genannte politische Parallelismus, ist ein in Lateinamerika weit verbreitetes Phänomen und tritt gemeinsam mit einer äußerst parteiischen Journalismuskultur auf.
In dem politisch polarisierten Land führte die Konfrontation der etablierten Medien mit der neu gewählten Regierung von Hugo Chávez dazu, dass zahlreiche Journalist_innen die privaten Medien verließen. „Damals wurden nur parteiische Nachrichten gesendet, die Medien kamen ihrer Informationspflicht nicht nach“, sagt etwa Silvia Cabreras zu ihrer Entscheidung, den Sender Venevisión zu verlassen. Zudem erreichte die Glaubwürdigkeitskrise, unter der das etablierte Parteiensystem in den 1990er Jahren zerbröselt war, auch die Medien: Die Auflagen der führenden Tageszeitungen haben sich seitdem halbiert. Präsident Hugo Chávez nutzte seinerseits die bereits vorhandenen staatlichen Medien, den Fernsehkanal VTV und den Radiosender RNV, um direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Zum einen begann er eine eigene Fernsehsendung, Aló Presidente. Um seine Politik auch über private Medien zu verbreiten, verwendete er die Nationale Kettenschaltung, die Cadena Nacional, bei der zu bestimmten Zeiten auf allen Kanälen dieselben Nachrichten gesendet werden. Beide Formate wirken in Europa befremdlich, sind aber in Lateinamerika nichts Besonderes: Viele Präsident_innen betreiben eigene Sendungen, auch die Cadena Nacional existiert in fast allen lateinamerikanischen Mediensystemen.
Beide Formate spielten eine wichtige Rolle im verfassunggebenden Prozess im Jahr 1999, der eine zentrale Änderung der Medienpolitik anstieß. Der Paragraph 57 der neuen Verfassung enthält das Recht „von jedwedem Medium Gebrauch zu machen, um das Recht auf freie Meinungsäußerung auszuüben“. Das „Recht auf Kommunikation“ soll somit den allgemeinen Zugang zu medialen Verbreitungskanälen sicherstellen.
Im Jahr 2000 wurde daraufhin die Gründung von Bürger- beziehungsweise Nachbarschaftsmedien verbindlich geregelt. Die Folge war ein historisch einmaliger Boom an neuen Alternativmedien. Bis heute entstanden landesweit etwa 500 neue Radio- und Fernsehsender. Alleine in Caracas senden gegenwärtig über 20 Radios und drei alternative Fernsehsender. Oft haben die Projekte eine lokale Reichweite und werden von der unmittelbaren Nachbarschaft genutzt. Einige Projekte wie Al son del 23 sind in der gesamten Stadt zu empfangen, letzterer gilt als einer der populärsten Sender in Caracas.
Zusätzlich zu diesem Boom an selbstverwalteten Medien entstanden ab 2003 mehrere öffentliche Medien. Sie sind anders als der Staatssender VTV unabhängiger gegenüber der Regierung. So können die Mitarbeiter_innen des Kulturkanals ViveTv teilweise selbst über die Inhalte der Sendungen entscheiden. Der internationale Nachrichtenkanal TeleSur und der Unterhaltungssender Tves werden durch einen Beirat beziehungsweise eine Stiftung verwaltet, wo neben Vertreter_innen des Ministeriums auch andere gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind.
Durch diese verschiedenen Initiativen für öffentliche Medien können die Venezolaner_innen sich heute aus unterschiedlichen Quellen informieren. Die Dominanz der privaten Medien wurde schwächer – nicht etwa durch Verbote und Einschränkungen, sondern indem zusätzliche Frequenzen vergeben wurden. Kritiker_innen monieren, teilweise zu Recht, dass sich an der Journalismuskultur des Landes kaum etwas geändert habe, auch die neuen öffentlichen Medien würden parteiisch berichten. Doch private, staatliche und alternative Medien stellen immerhin unterschiedliche Per­spektiven dar, auch wenn diese überwiegend einheitlich berichten. Besonders die privaten Medien sind heute weniger „Kampfpresse“, auch wenn sie weiterhin im Sinne der Opposition berichten. Gegenüber früheren Jahren sind jedoch gewisse Qualitätsstandards eingezogen.
Die wesentlichste Errungenschaft der letzten Jahre ist allerdings, dass über alternative Medien erstmals Bevölkerungsgruppen ihr Recht auf Kommunikation wahrnehmen können, die früher Opfer der von Annette Massmann festgestellten „Exklusion entlang ökonomischer Merkmale“ waren.

Warten auf Chávez

Gerüchte kursierten bereits seit Langem. Am 8. Dezember trat der venezolanische Präsident Hugo Chávez vor die Kamera, bestätigte, dass seine Krebserkrankung wieder aufgetreten sei und kündigte eine weitere Operation in Kuba an. Bis zu seiner Wiederwahl am 7. Oktober 2012 galt seine Erkrankung als vorerst überwunden. Die rigide Informationspolitik der Regierung hatte jedoch stets Raum für Spekulationen gelassen. Daran, dass der Eingriff dieses Mal komplizierter sein könnte als bei den drei Operationen zuvor, ließ Chávez keinen Zweifel. Erstmals äußerte er sich öffentlich zu seiner möglichen Nachfolge: „Die Revolution hängt nicht von einer Person ab“, versicherte Chávez in seiner Fernsehansprache und bat die venezolanische Bevölkerung darum, falls nötig, den derzeitigen Vizepräsidenten Nicolás Maduro als seinen Nachfolger zu unterstützen.
Der frühere Busfahrer und Gewerkschafter wurde 1998 als Abgeordneter von Chávez‘ Wahlplattform Bewegung für die Fünfte Republik (MVR) in die Nationalversammlung gewählt. Zwischen 2005 und 2006 war der heute 50-Jährige Parlamentspräsident, bevor Chavez ihn zum Außenminister machte. Während Chávez die meisten Minister_innen regelmäßig austauschte, übte Maduro, der mit Generalstaatsanwältin Cilia Flores verheiratet ist, das Amt bis vor kurzem aus. Kurz nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober hatte Chávez ihn zu seinem Vizepräsidenten ernannt.
Die medizinische Behandlung in Kuba genehmigte die Nationalversammlung mit den Stimmen der Opposition. Am 11. Dezember wurde Chávez operiert. Der Eingriff sei „kompliziert“ gewesen, ließ die Regierung verlauten. Die Anhänger_innen des Präsidenten reagierten mit Solidaritätsbekundungen und öffentlichen Massengebeten, die Chávez einmal mehr die Aura eines Heiligen verliehen. Die Regionalwahlen vom 16. Dezember, bei denen sich die Opposition gute Chancen ausgerechnet hatte, gewann das Regierungslager bei einer vergleichsweise geringen Wahlbeteiligung von etwa 54 Prozent überaus deutlich. 20 der 23 Gouverneursposten gingen an die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), die somit mehrere bisher von der Opposition regierte Staaten zurückgewinnen konnte. Einen wichtigen Erfolg konnte die Opposition jedoch im zentralen Staat Miranda erzielen. Hier setzte sich Henríque Capriles Radonski, der bei den Präsidentschaftswahlen gegen Chávez unterlegene Oppositionskandidat, gegen den ehemaligen Vizepräsidenten Elías Jaua durch. Die Regionalwahlen verschwanden aufgrund von Chávez‘ Erkrankung jedoch rasch wieder aus den Schlagzeilen. Dessen Gesundheitszustand verschlechterte sich nach der erfolgreichen Operation offenbar. Wie die Regierung mitteilte, leide Chávez an Atemwegsproblemen, sein Zustand sei aber stabil. Die Abwesenheit des Präsidenten sorgte für hitzige Diskussionen darüber, ob es Neuwahlen geben müsse oder nicht. Denn laut venezolanischer Verfassung ist die Vereidigung eines gewählten Präsidenten immer für den 10. Januar nach den Präsidentschaftswahlen vorgesehen. Es zeichnete sich bereits Ende Dezember ab, dass Chávez zu diesem Termin nicht würde anreisen können. Die Position des Chavismus war eindeutig: Der Präsident könne sich die Zeit nehmen, die zu seiner Genesung nötig sei. Die Vereidigung sei eine „reine Formalität“ und könne zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Obersten Gericht (TSJ) nachgeholt werden, erklärte Vizepräsident Maduro. Die Option einer späteren Vereidigung hatte Parlamentspräsident Diosdado Cabello bereits im Dezember ins Spiel gebracht. Generalstaatsanwältin Cilia Flores beteuerte, eine Vereidigung sei nicht zwingend am 10. Januar nötig, da Chávez ja bereits Präsident sei.
Artikel 231 der venezolanischen Verfassung sieht vor, dass die Vereidigung an diesem Datum vor der Nationalversammlung erfolgen soll. Im gleichen Artikel wird jedoch die Vereidigung vor dem TSJ als Möglichkeit genannt, sollte diese vor dem Parlament wegen eines „plötzlich auftretenden Grundes“ nicht möglich sein. Ein konkretes Datum wird für diesen Fall nicht genannt.
Führende Politiker der Opposition pochen jedoch darauf, dass es innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen geben müsste, da Chávez am 10. Januar nicht vereidigt wurde.
Die Opposition beruft sich mehrheitlich auf Artikel 233 der Verfassung. Demnach müssen innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen abgehalten werden, sollte ein Präsident vor der Vereidigung oder innerhalb der ersten vier Jahre seiner Amtszeit versterben oder aus anderen Gründen dauerhaft ausfallen. Tritt dieser Fall bereits vor der Vereidigung ein, übernimmt der Parlamentspräsident die Amtsgeschäfte bis zu den Wahlen. Als Grund für eine „absolute Abwesenheit“ wird unter anderem die „dauerhafte physische oder mentale Geschäftsunfähigkeit“ genannt. Diese muss aber von einem Ärzteteam festgestellt werden, das vom Obersten Gericht ausgewählt wird. Eine temporäre Abwesenheit ist dem Präsidenten nach Erlaubnis durch die Nationalversammlung für 90 Tage gestattet, mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um weitere 90 Tage.
Es gibt aber auch Stimmen innerhalb der Opposition, die den Regierungsdiskurs stützen. Der Verfassungsrechtler Hermann Escarrá etwa bezeichnete es als „gravierenden Fehler“, von einer absoluten Abwesenheit zu sprechen. Auch der im Oktober unterlegene Präsidentschaftskandidat der Opposition, Henrique Capriles Radonski, sprach sich nicht grundsätzlich gegen eine spätere Vereidigung aus. Das TSJ folgte am 9. Januar der chavistischen Interpretation der umstrittenen Verfassungsartikel. Aufgrund der internen Mehrheitsverhältnisse hatte das Oberste Gericht in den vergangenen Jahren stets die Positionen der Regierung vertreten. In Lateinamerika wurde das Vorgehen von praktisch allen Regierungen und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) abgenickt. Am Tag der eigentlich vorgesehenen Vereidigung rief die PSUV zu einer massiven Kundgebung in Solidarität zu Chávez auf. Mehrere Staatschefs reisten an, darunter Pepe Mujíca aus Uruguay, Evo Morales aus Bolivien und Daniel Ortega aus Nicaragua. Andere Länder schickten hochrangige Vertreter_innen.
Die Entscheidung, wie es in Venezuela politisch weitergehen wird, könnte sich noch einige Monate hinziehen. Die internen Spannungen, die den unterschiedlichen Strömungen des Chavismus nachgesagt werden, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum seriös einzuschätzen. Maduro und Cabello, die innerhalb der PSUV jeweils für den linken und rechten Flügel stehen, üben in der Öffentlichkeit demonstrative Geschlossenheit. Nüchtern betrachtet kann die Opposition mit der Situation gut leben, auch wenn sie gegen Chávez‘ Verbleib im Amt mobilisiert und kritisiert, dass die wichtigen Entscheidungen nun in Havanna getroffen würden. Bei kurzfristigen Präsidentschaftswahlen wäre sie aufgrund schwacher Inhalte und der starken Mobilisierung, die Chávez‘ schwere Erkrankung auslöst, aller Voraussicht nach auch gegen Maduro chancenlos. Laut Darstellung der Regierung trifft Chávez auch am Krankenbett noch Entscheidungen. So ernannte er etwa Mitte Januar Elías Jaua zum neuen Außenminister. Zuletzt äußerte sich Maduro wieder optimistischer über Chávez‘ Gesundheitszustand. Er rechne damit, dass dieser innerhalb von ein paar Wochen nach Venezuela zurückkehre.

Das Herz des Volkes

„Das Herz des Volkes“ weht am Fahnenmast der bolivarianischen Grundschule des Dorfes Gavidia in den venezolanischen Anden. Eine gute halbe Stunde hat sich der gut besetzte Jeep der Ko-operative Valle Encantado die schmale Bergstraße von der Kleinstadt Muchuchies in das kleine Andendorf hinaufgewunden. Bevor die Straße vor gut zwei Jahren mit Mitteln des Kommunalen Rates Gavidias restauriert worden ist, dauerte die Fahrt mehr als eine Stunde, erzählt der Fahrer. Und beklagt gleichzeitig, dass seine Kooperative durch die Anschaffung eines eigenen Transportmittels durch den kommunalen Dorfrat, dem „Taxi Comunal“, nur noch sechs (rund 0,90 Euro) statt wie bisher achtzehn Bolivares für die Fahrt fordern kann.
Auch auf 3.327 Meter über dem Meeresspiegel ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts angekommen. Wir passieren die „Chavéz-Brücke“ und halten in der Dorfmitte gegenüber der Schule vor dem Sitz der Näherinnenkooperative. 2001 noch maßgeblich unter der Initiative der Jesuiten gegründet, produziert die Cooperativa de Mujeres Tejedoras De Gavidia vor allem Kleinkunst, die sie in der von Tourist_innen viel besuchten Bergregion im Bundesstaat Mérida über das Netzwerk der Produzenten des Paramos (PRIONPA) verkauft.
Auch einen vom staatlichen Kulturministerium betriebenen Laden für lokales Kleinkunsthandwerk im Zentrum der Provinzhaupstadt Mérida beliefert die Kooperative. „Natürlich hat sich hier mit Chávez vieles verändert“, erklärt Berónica Zerpa de Villareal, die zu den neun Gründungsmitgliedern der Kooperative zählt. Mit Mitteln staatlicher Institutionen habe man im Jahr 2005 das zerfallene Gebäude im Dorfzentrum wieder herrichten können. Auch die Posada nebenan sei durch das staatliche Programm zur Förderung von Kooperativen entstanden. Gescheitert sei nur die Schafzüchterkooperative, die den Näherinnen als Rohstofflieferant hätte dienen sollen.
Geschlossene lokale Produktionsketten hatte die venezolanische Regierung in den Jahren 2004 bis 2006 zum Ziel ihres Modells der „endogenen Entwicklung“ erklärt und zehntausende Kooperativen bei ihrer Gründung unterstützt. In der Näherinnenkooperative arbeiten heute noch drei der neun Gründerinnen. Außer Berónica sind das ihre Schwester und eine Cousine. Es habe in der Gründungsphase sehr viel Streit gegeben, erzählt Berónica und schweigt zu den Details. „Wenn der Präsident nicht mehr kann, betrifft uns das nicht so sehr, weil er seit Langem nichts mehr für die Kooperativen tut“, so schätzt sie die Folgen eines möglichen Rückzugs von Chávez ein.
Loyo, Sprecher des kommunalen Rates im Ortsteil Micarache, sieht das anders: „Die Kooperativen haben nie für das Wohl der ganzen Gemeinde produziert. Sie waren kapitalistisch.“ Der kommunale Rat habe deshalb die Forellenzucht übernommen, die 2005 von der Kooperative „Valle Encantado“ aufgebaut worden war. Jeder im Dorf könne nun umsonst Forellen essen, die Einnahmen aus dem Verkauf gehen in den kommunalen Rat. „Das ist Sozialismus“, begeistert sich Loyo . Auf die Frage, ob es diesen Sozialismus auch ohne Chávez geben könne, meint er:. „Chávez ist ein Kämpfer und er wird für immer unser Präsident sein – Chávez sind wir alle“.
Mit dem Slogan „Chávez sind wir alle“ hat die bolivarianische Welle, die Kampagne des Regierungslager, nicht nur die Präsidentschaftswahlen klar für sich entschieden, auch 20 von 23 Governeursposten gingen bei den Wahlen im Dezember an die Parteigänger des „Herz des Volkes“. Als dieses hatte sich Hugo Chávez auf tausenden Wahlplakaten im Land präsentiert. Seine Kandidaten waren folgerichtig „Kandidaten des Herzens“. Emotionen bewegen mehr Wähler_innen als Inhalte, dies gilt nicht nur für das Regierungslager in Venezuela.
In Barquisimeto, Hauptstadt des oppositionell regierten Bundesstaates Lara, treffe ich den ehemaligen Guerillero Hernán Vargas Calles. „Die wahre Waffe der Revolution ist Liebe“, rechtfertigt er die Symbolik des Wahlkampfes. Auch als er damals in den Bergen Laras und Trujillos und später in der Stadtguerilla in Caracas kämpfte, habe er dies vor allem aus Liebe getan. Ich frage, ob für ihn als Linker die religiöse Symbolik nicht zumindest befremdlich sei. „Natürlich war der bewaffnete Kampf auch ein Kampf gegen die katholische Kirche, der größten Unterstützerin der herrschenden Klasse. Aber für mich war, wenn ich heute zurückschaue, Jesus genauso wichtig wie Karl Marx. Und das sage ich als Kommunist“, erklärt er. Aus dem gescheiterten Kampf der Guerilla in den 60er Jahren habe er gelernt, dass in einem Land mit einem tief verwurzelten Antikommunismus eine Anknüpfung an christliche Werte eine erfolgreichere Strategie sei, um „die Massen“ für ein revolutionäres Projekt zu gewinnen.
Auch die zunehmende religiöse Verehrung von Chávez seit seiner Krebserkrankung sieht er nicht als Gefahr für das politische Projekt: „Seit 500 Jahren werden wir hier unterdrückt und ausgebeutet. Dies ändert man nicht in 14 Jahren. Die kommende Zeit wird zeigen, ob wir dem revolutionären Weg weiter folgen, ob die Transition katalysiert wird oder ob wir einen fatalen Rückschritt machen. Mit oder ohne Chávez müssen wir nach vorne gehen. Chávez ist endlich und eine Revolution kann nicht von einer Person abhängen – es ist ein Projekt. Chávez selbst hat es oft gesagt: dieses Projekt ist ausgesät worden.“ Hernán bittet mich der Welt mitzuteilen, dass die alten Guerilleros trotz ihres Alters bereit sind, ihre Revolution gegen jede imperialistische Agression erneut mit der Waffe zu verteidigen.
In einem Café in Barquisimeto treffe ich den Architekten und Städtepläner Lino Alvarez. Politisiert in der studentischen Bewegung der späten 1960er Jahre war er lange Aktivist der Bewegung zum Sozialismus (MAS). Später unterstützte er Chávez‘ frühere Partei Bewegung für die Fünfte Republik (MVR), die 2007 in der neu gegründeten Vereinigten Sozialisten Partei Venezuelas (PSUV) aufging. Vor zehn Jahren hatte ich Lino zu zwei staatlichen Entwicklungsprojekten in prekarisierten Siedlungen in den Kleinstädten Carora und Siquesique begleitet. Finanziert durch die Regierung des Bundesstaates Lara sollten neben der Kartographierung und der dadurch ermöglichten Ausstellung von Landtiteln zusammen mit den Bewohner_innen Anschlüsse an die öffentlichen Netze für Wasser, Strom und Abwässer gelegt werden. Eine Grundschule und die Errichtung eines Gemeindehauses waren ebenso geplant wie die im Sinne der endogenen Entwicklung liegende Bepflanzung eines kollektiven Gemüsegartens. „Der Streit zwischen den unterschiedlichen politischen Ebenen in Lara hat das Projekt im Sande verlaufen lassen“, erzählt Lino. Als nach zwei Jahren endlich Mittel für den ersten Projektabschnitt des Anschlusses an die öffentliche Infrastruktur in Carora freigegeben wurden, hatte die Inflation die Umsetzungskosten bereits verdoppelt. „Immerhin haben wir damit Drainage verlegen und das Abwasserproblem lösen können. Bei Wasser- und Stromanschluss haben die Bewohner kreative Lösungen gefunden“, berichtet er. Die Asphaltierung der Zufahrtsstraße, der Bau von Schule, Gemeindezentrum und Gemüsegarten als zweiten Projektabschnitt konnte er nicht mehr umsetzen. Mit dem Streit zwischen dem ehemals zur Regierungspartei zählenden Gouverneurs Henry Falcón und dem Präsidenten Hugo Chávez habe die Landesregierung alle Programme zur partizipativen Entwicklung prekärer Stadtteile eingestellt. Der wiedergewählte Henry Falcón rechtfertigte sich im Wahlkampf damit, ihm seien von der Zentralregierung nach seinem Übertritt zur Opposition die Haushaltsmittel für den Bundesstaat Lara gekürzt worden. Ob dies stimmt, kann auch Lino nicht sagen.
Von der MVR hat er sich trotzdem distanziert. Beziehungsweise, Chávez habe sich von der Bewegung distanziert. „1998 hat Chávez die Wahlen gewonnen, weil ihn die Intelligenz des Landes, die gebildeten und fortschrittlichen Teile der Mittelschicht unterstützt haben. Zusammen mit der Mittelschicht hätte Chávez das Land modernisieren können. Stattdessen beginnt er ab 2005 mit einer Kampagne gegen die Universitäten und einem dümmlichen Antiakademismus“. Auf die Frage, ob Chávez nicht immerhin die soziale Ungleichheit beim Zugang zu Bildung deutlich habe verringern können, ment er: „Ja, aber mit denselben Mitteln wie es die Sozialdemokratische Partei AD es vorher auch gemacht hat. Als paternalistischer Erdölstaat, der Geschenke verteilt und sich damit politische Loyalität erkauft“, macht Lino seinen Bruch mit der Regierung deutlich.
Einen Block weiter treffe ich Milagro Furiati. Sie ist ebenfalls ehemalige MAS-Aktivistin und hat vor zehn Jahren als pensionierte Lehrerin begonnen, sich in den Bildungsmissionen zu engagieren. Sie kritisiert, dass an den Kursen der Bildungsmission kaum noch Menschen teilnähmen. Die meisten seien nur immatrikuliert, um die Ministipendien zu erhalten. Zwar gäbe es große Erfolge und viele Absolventen hätten durch die Bildungsmissionen sogar Zugang zu den Universitäten gefunden, das Stipendiensystem diene jedoch zur Alimentierung der eigenen politischen Basis. Von Nicolás Maduro, designierter Präsidentschaftskandidat sollte Chávez den Kampf gegen den Krebs verlieren, erwartet Milagro keine großen Veränderungen. „Umso länger Menschen an der Macht sind, umso weniger scheinen sie Interesse an Veränderungen zu haben.“ Man dürfe trotzdem nicht vergessen, dass in den ersten Regierungsjahren viel Positives passiert sei. Zumindest sei ihre Pension gestiegen.

Ein nachdenklicher Badespaß

Ein sanftes Plätschern. Eine leichte Brise. Dazu das gleichmäßige Rauschen des Meeres. Das sind die Geräusche, die einen während des gesamten Films begleiten. Gemeinsam mit dem Drehbuchautor Abel Arcos setzt der Regisseur Carlos M. Quintela die Zuschauer_innen an den Rand des Schwimmbeckens, um den gemütlichen Sommertag gemeinsam mit Esteban (Raúl Capote) und seinen Schwimmschüler_innen zu verbringen. Diese haben es inmitten ihrer Pubertät sowieso schon nicht leicht: Diana (Mónica Molinet) fehlt ein Bein, Rodrigo (Felipe García) ist gehbehindert, Oscar (Carlos Javier Martínez) weigert sich schlichtweg zu sprechen und Dani (Marcos Costa) hat das Down-Syndrom. Trotzdem treffen sie sich jeden Tag am Pool, schwimmen und verleben so ihre Sommerferien.
La Piscina erzählt keine dramatische oder atemberaubende Geschichte. Ihre Held_innen müssen weder gefährliche Abenteuer überstehen noch packende Extremsituationen meistern. Nein. In etwas mehr als einer Stunde wird lediglich der Alltag dieser gesellschaftlichen Außenseiter_innen gezeigt. Eigentlich ist das auch schon genug. Sie müssen schließlich mit nichts Geringerem als ihren eigenen Schwächen und Unsicherheiten, Sehnsüchten und Träumen fertig werden. Gerade in dieser Natürlichkeit und Einfachheit liegt der Reiz und die Genialität des Filmes.
Diana ist innerhalb der kleinen Truppe die beste Schwimmerin und drängt sich stets in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch bei Anwesenheit der anderen Jugendlichen ohne Behinderung wird sie plötzlich ganz still. Merklich eingeschüchtert, fast ängstlich, beobachtet sie sie. Trotzdem setzt sie sich nach einer Weile fast demonstrativ an den Beckenrand. Zusammen mit Rodrigo tuschelt sie über Oscar und macht sich offen über seine Stummheit lustig. Dafür steht Dani Oscar treu zur Seite und tröstet ihn, als Diana es mal so richtig übertreibt. Esteban beobachtet sie, mischt sich nur selten ein. Was er wohl denken mag? Während der langen Porträtaufnahmen bleibt dem Publikum viel Zeit und Raum zur Interpretation von Blicken, Gesten und Mimik. Es werden viele Fragen aufgeworfen, die nie beantwortet werden. Denn die Zuschauer_innen sind nur Beobachter_innen und lernen die Jugendlichen nur in dem Maße kennen, wie sie es innerhalb eines Tages auch tun würden.
Die Zuschauer_innen werden dazu angeregt, einen näheren Blick auf diese fünf unterschiedlichen Persönlichkeiten zu werfen. So simpel es von außen scheinen mag, herrscht in der kleinen Gruppe eine komplexe Dynamik: Sie verlieben sich, necken sich, wollen sich messen und sind neidisch – genau wie andere Jugendliche in ihrem Alter. Sie suchen Zuneigung und Verständnis. Vor allem aber brauchen sie einen geborgenen Raum, der ihnen Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Das Schwimmbad ist der Ort, der sie zusammenbringt und wo sie schwerelos lachen und genießen können. Hier ist Diana die schnellste und begehrteste. Hier ist Dani ein Meister an und für sich, unabhängig von seiner Mutter. Rodrigo findet hier Nähe und Akzeptanz. Genau wie Oscar hat er in seinem Trainer einen Verbündeten, der ihn versteht.
Quintelas erster Langspielfilm ist voller Ruhe und atmosphärischer Gelassenheit. Man verlässt den Kinosaal, als ob man gerade selbst einen ganzen Tag am Pool verbracht hätte. Wer gerne Action, Spannung, Drama oder lautes Gelächter mag, der sollte sich lieber etwas anderes suchen. Wer aber gerne still und leise beobachtet und sich aus Blicken, wenigen Worten und kurzen Gesten sein ganz eigenes Bild machen will, für den ist der Film genau das Richtige.

La Piscina („Das Schwimmbad“) // Carlos M. Quintela // 65 Minuten Kuba/Spanien/Venezuela // Sektion Panorama // Spanisch mt englischen Untertiteln

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