HISTORISCHER DURCHBRUCH

Ja oder Nein? Am 2. Oktober wird die kolumbianische Bevölkerung über die Annahme des Friedensabkommens abstimmen, das Regierung und die Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) in vier Jahren in Havanna ausgehandelt haben. Die Kampagnen der Befürworter*innen und Gegner*innen reklamieren jeweils für sich, nur Frieden im Sinn zu haben, allerdings auf gänzlich verschiedene Weise.

Zumindest im links-alternativ geprägten Parque de los Hippies in Bogotá war es ein Freudentag. Menschen im Trikot des kolumbianischen Fußballteams und mit Friedensfähnchen feierten am 24. August die Veröffentlichung der Friedensverträge zwischen der Regierung und den Revolutionären Bewaffneten Streikkräften Kolumbiens, die live im Fernsehen übertragen wurde. „Man hatte vergessen, dass es auch anders geht“, sagte eine der Anwesenden. Rührende, aufmunternde, aber auch skeptische Kommentare überfluteten die Medien und sozialen Netzwerke. Ohne Zweifel war es ein historischer Tag. Wie so viele andere seit Beginn der Verhandlungen mit der ältesten Guerilla Lateinamerikas, die seit 1964 gegen den Staat kämpft.
Bereits 2012 saßen viele Kolumbianer*innen augenreibend vor dem Fernseher, als ausgerechnet der konservative Präsident Santos den Beginn des Friedensprozesses mit der Frage ankündigte: „Wie viele Kolumbianer*innen haben den Konflikt wohl hautnah erlebt, wie viele haben Verwandte und Bekannte, die Opfer der Gewalt wurden?“ Zwar sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung anfangs gegen diesen Schritt aus, doch bereits zwei Jahre später sicherten die laufenden Verhandlungen Santos die Wiederwahl. Trotz zahlreicher Krisen und Rückschläge wurde stets weiter verhandelt. Es gab somit viele historische Tage in einem Land, mit einer sehr langen Geschichte gescheiterter Friedensprozesse.
„Ich habe versprochen, dass ihr das letzte Wort haben werdet, und so wird es auch sein!“, sagte Santos am Tag der Veröffentlichung der Verträge und rief die Bevölkerung zum Referendum am 2.Oktober auf. Die Regierung hofft auf ein klares Ja, denn einen Plan B gibt es nicht. Das Bild der Guerilla unter der Bevölkerung hat sich zwar verbessert, doch für ein Ausbruch an Euphorie reicht es bei Weitem nicht. In der jüngsten Umfrage von Datexco für die Zeitung El Tiempo und den Radiosender La W wollen 55,2 Prozent der Befragten dem Abkommen zustimmen, 31 Prozent es ablehnen und zehn Prozent wussten es noch nicht. Allerdings variieren diese Ergebnisse erheblich in den verschiedenen Regionen und andere Umfragen ergaben andere Resultate.
Um eine möglichst breite Beteiligung am Referendum sowie dessen Anerkennung zu erreichen, finanziert die Regierung die Kampagne der Gegner*innen als auch die der Befürworter*innen. Angeführt werden diese jeweils von Ex-Präsidenten des Landes.

Hardliner Álvaro Uribe Vélez, Staatschef von 2002 bis 2010 und jetziger Senator der konservativen Centro Democratico, leitet mit Unterstürzung von Andrés Pastrana, der in seiner Amtszeit 1998-2002 mit der FARC verhandelte und scheiterte, die Nein-Kampagne. Das Ja-Lager führt César Gaviria an, der in seiner Amtszeit von 1990-1994 mit neoliberal geprägter Politik das Land wirtschaftlich öffnete. Dass sie verschiedene Auffassungen von Frieden haben, dürfte mittlerweile allen Kolumbianer*innen klar sein.
„Wir stimmen für den Frieden, indem wir Nein wählen“, erklärte Uribe beim Auftakt seiner Kampagne. ‚Nein zu Straflosigkeit, Nein zu Santos, Nein zu dem castro-chavistischen Terror‘ lauten die Slogans bei Veranstaltungen, auf Tweets und Flugblättern der Gegner*innen der Gespräche. Santos´ Unbeliebtheit in der Bevölkerung erreichte mit der Energiekrise, dem jüngsten Streik der Kleintransporter und der Erhöhung der Steuern, satte 66 Prozent. Innenpolitisch steht seine Politik auf dem Prüfstand und die Kritik seiner Gegner*innen wird bewusst gegen die Verhandlungen seiner Regierung mit der Guerilla eingesetzt.
Für César Gaviria gilt es hingegen, „ein Gefühl von Vergebung hervorzurufen, Halt zu machen und sich nicht für eine Gesellschaft zu entscheiden, die nur an Rache und militärische Lösungen denkt. Es gilt mit dieser Idee zu brechen, auch weil die Bemühungen der vergangenen Jahre außerordentlich groß waren.“ Seine Aufgabe als Leiter der Ja-Kampagne sei es, eine gemeinsame Botschaft zu formulieren, hinter der soziale Organisationen, die Kirche und Einzelaktivist*innen stehen können. „Wir haben bemerkt, dass auf dem Land, die kleinen und mittelgroßen Gemeinden dem Ja stärker zugeneigt sind, weil sie von Gewalt häufiger betroffen waren. Die Friedensbotschaft über das Ende des Krieges ist in ländlichen Gebieten stärker als in der Stadt. Man muss versuchen, den Menschen in der Stadt zu zeigen, wie Kolumbien ohne so viel Gewalt sein könnte“, sagte er in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País.

Über fünf zentrale Punkte haben Regierung und FARC im Laufe der letzten vier Jahre verhandelt. Sie lösen nicht alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Landes, die Einigungen bieten aber noch nie dagewesene Möglichkeiten, die Ursachen des bewaffneten Konfliktes mit den Aufständischen zu klären.
Der erste Punkt der Verträge zielt darauf, die Situation der rund 15 Millionen extrem marginalisierten Kolumbianer*innen in ländlichen Gebieten zu verbessern. Das ist ein großes Versprechen für ein Land, in dem ein Agrarkonflikt sich in einen blutigen Krieg verwandelte, der ein halbes Jahrhundert überzog. Die darin geplante Reform (Reforma Rural Integral – RRI) umfasst die Rückkehr von Vertriebenen in ihre Heimatorte, Landrückgabemaßnahmen an Kleinbauern- und bäuerinnen sowie die Neueinteilung landwirtschaftlicher Nutzflächen und von Naturschutzgebieten.
Doch damit ist die konservative Elite Kolumbiens nicht einverstanden. Das Gespenst des castrochavismo, eine ideologische Mischung der Politik Fidel Castros und Hugo Chávez‘, wird beschworen. „Santos ist zwar kein Chavist, aber seine Politik geht in diese Richtung“, sagte Uribe bei einer Konferenz in der Privatuniversität Sergio Arvoleda in Bogotá. „Im Abkommen wird unser gesamtes freiheitliches System in Frage gestellt und die Rechte der Privatunternehmer verletzt“. Im Hinblick auf Venezuela warnt er vor den Gefahren für die gesamte Wirtschaft, denn „die Kolumbianer*innen investieren nicht mehr. Entweder haben sie Angst vor dem Frieden oder vor den Steuern, um diesen zu finanzieren“. Derartige Bemerkungen sind oft zu hören, besonders in der Stadt.

Ein der Agrarreform sehr ähnliches Projekt, das die Eigentumsverhältnisse in ländlichen Gebieten verändern soll, ist Teil der Strategie, um die strukturelle Ungleichheit zwischen Land und Stadt zu beheben. Laut Vertrag verpflichtet sich die Regierung mit Fortbildungsangeboten, Krediten und Subventionen für kleinere Betriebe, die kommunale Produktion zu fördern. Straßen, Bewässerungssysteme und Stromnetze sollen in den historisch vernachlässigten Gebieten gebaut sowie in Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wesentlich investiert werden. Nur so, heißt es im Abkommen, kann das Ziel erreicht werden, in zehn Jahren die extreme Armut zu beseitigen und die Armut in ländlichen Gebieten um die Hälfte zu reduzieren. Im krassen Widerspruch hierzu stehen allerdings die anderen wirtschaftspolitischen Vorhaben der Regierung, nämlich weiterhin vor allem auf Extraktivismus und Monokulturen zu setzen. Auf jeden Fall wird die Inklusion der armen Bevölkerung die zentrale Herausforderung der Zeit Jubel bei historischer Geste Polit-Fanmeile in Bogotá nach Beendigung des bewaffneten Konflikts werden. Immerhin wandten sich sehr viele ländliche Gemeinden dem Schutz der Guerillas zu, weil sie vom Staat allein gelassen wurden. „Der Aufbau des Friedens bedarf der Stärkung der Demokratie“, hieß es in der Einigung zur politischen Partizipation. Darin verpflichtet sich die Regierung das Wahlsystem auf den Prüfstand zu stellen, die Rechte der politischen Opposition zu gewährleisten und ein Schutzprogramm für Ex-Guerillerxs zu errichten, die nach der Entwaffnung als Partei antreten und Politik machen wollen.
Jedoch reagieren große Teile der Bevölkerung und viele Politiker*innen empört auf die Vorstellung, dass die ehemalige Führungsspitze der FARC mit zehn Sitzen einen wahlunabhängigen Einzug ins Parlament bekommen soll, um die Umsetzung der Verträge zu verfolgen. Besorgt sind die konservativen Kräfte andererseits auch darüber, dass linke Ideen und Bewegungen salonfähig werden könnten und nicht wie bisher aufgrund einer ideologischen Nähe zu den Aufständischen leicht zu diskreditieren sind. Nicht völlig unbegründet –„Wir waren immer eine politische Organisation, eine kommunistische Partei (…). Noch ist es zu früh, um über die nächste Wahlperiode zu reden, aber wir streben eindeutig an, zu der Entstehung einer großen alternativen, politischen Bewegung beizutragen“, schreibt der politische Berater des Oberbefehlshabers der FARC, Gabriel Angel, in einem Fragebogen der mexikanischen Presseagentur Notimex.

Wie viele Kolumbianer*innen für solche Botschaften empfangsbereit sein werden, ist unklar. Es gilt, das grundsätzliche Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Guerilla zu überwinden, aber auch gegenüber der Politik, die an der Fortsetzung des Konflikts ebenfalls beteiligt war. 240.000 Personen wurden im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzungen ermordet. Der Ausbau der Luftwaffe, aber auch die Militarisierung von Teilen der Gesellschaft hatte zur Folge, dass nach offiziellen Zahlen 6.883.513 Kolumbianer*innen vertrieben wurden. Massaker, sexualisierte Gewalt und Folter waren hierbei Mittel aller bewaffneten Akteure. Laut Vertrag wird jetzt eine Wahrheitskommission gegründet, die den Paramilitarismus, die Rolle des Staates, die der kolumbianischen Armee und der FARC bei registrierten Menschenrechtsverletzungen des vergangenen halben Jahrhunderts aufklären soll.
Denn juristische Aufklärung, das Sorgen für Gerechtigkeit und die Entschädigung der Opfer sind für die meisten Kolumbianer*innen zentrale Bedingungen für ihre Akzeptanz eines Friedensabkommens, weshalb auch eine Übergangsjustiz verhandelt wurde. Ein Sondergericht für den Frieden soll Haftstrafen für Menschenrechtsverletzungen von acht Jahren für geständige Täter*innen verhängen. Täter*innen, die später überführt werden, müssen für 20 Jahre hinter Gitter. Des Weiteren erhalten die Guerillerxs für Delikte Amnestien, die mit der Finanzierung der Rebellion verbunden waren, wie beispielsweis dem Drogenhandel.
Die Formel „Gefängnis oder Tod“ für Guerillerxs, hinter der noch viele Kolumbianer*innen als Antwort zum Konflikt stehen, steht in direktem Widerspruch mit den Friedensgesprächen, mit dem ausgesprochenen Ziel, Politik ohne Waffen möglich zu machen. „Wird das Nein gewählt, werden beide Parteien vom Tisch aufstehen und das laufende Verfassungsprojekt für das Inkrafttreten des Friedens, wird nicht stattfinden“, sagt César Gaviria. „Wir wollen nicht sagen, dass derjenige der Nein wählt, Krieg will, aber derjenige soll wissen, dass wenn das Nein gewinnt, der Krieg weitergehen wird“
Im Anschluss an die zehnte und letzte Guerillakonferenz vom 17. bis 23. September, nach der die FARC sich auflösen will, werden sich die Aufständischen in 23 ländliche Kleingemeinden und acht Lagern in zwölf verschiedenen Verwaltungsbezirken versammeln und innerhalb von fünf Monaten die Waffen abgeben. Der militärische Rückzug der FARC aus ihren traditionellen Hoheitsgebieten ist bereits in Gang. Die Regierung hat mittlerweile 16.000 Polizist*innen und Soldat*innen für den Schutz von Ex-Kämpfer*innen eingestellt.
Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass zur Zeit diese Gebiete von der linken Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) und der rechten paramilitärischen Gaitanistischen Bürgerwehr Kolumbiens (AGC) eingenommen werden. In Nariño und Cauca zum Beispiel kämpfen sie im Moment um rund 18.000 Hektar Koka-Plantagen und weitere neue Gruppierungen sind dazu gekommen. Auch andere jüngste Ereignisse beunruhigen. Auf dem Grundstück der Friedensaktivistin Cecilia Colcué in Corintio Cauca sollten sich Guerillerxs für die Entwaffnung versammeln. Am 6. September wurde Cecilia Colcué tot aufgefunden. Egal wie das Referendum ausgeht, zu einem vollständigen Frieden ist es noch ein weiter Weg.

HEISSER HERBST IN VENEZUELA

Im Internet verbreiteten sich die verwackelten Videoaufnahmen rasant. Im Dunkeln flüchtet Nicolás Maduro vor aufgebrachten Menschen, die ihn wild beschimpfen und dabei auf Kochtöpfe schlagen. Eigentlich war der venezolanische Präsident am 2. September nach Porlamar auf die Ferieninsel Margarita gekommen, um neu gebaute Sozialwohnungen einzuweihen. Warum er sich in der angespannten politischen Situation ausgerechnet in einer der Hochburgen der Opposition zeigte, ist nicht bekannt. Seine Gegner*innen wird die Symbolik aber gefreut haben. Denn wie in dem Video wollen sie Maduro so schnell wie möglich aus dem Präsidentenpalast jagen.
Der Vorfall ereignete sich nur einen Tag nach einer Großdemonstration in der venezolanischen Hauptstadt, die das Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) selbstbewusst unter das Motto „Einnahme von Caracas“ gestellt hatte. Letztlich gingen die Regierungsgegner*innen nur im Osten auf die Straße, während die Chavist*innen eine Kundgebung im Westen abhielten. Gemessen an der Hysterie, mit der beide politischen Lager den 1. September zu einem entscheidenden Tag hochstilisiert hatten, blieb es weitgehend friedlich. Abgesehen von kleineren gewaltbereiten Gruppen zogen sich die Regierungsgegner*innen nach wenigen Stunden wieder zurück. „Heute haben wir einen Staatsstreich verhindert“, rief Maduro seinen Anhänger*innen zu. Der Generalsekretär des MUD, Jesús Torrealba, sprach hingegen von einer „historischen“ Demonstration. „Wir haben der Welt die enorme Größe des Venezuelas gezeigt, das einen Wechsel will“. Laut eigenen Angaben mobilisierte die Opposition mehr als eine Million Menschen. Chavistische Politiker*innen zählten indes gerade einmal 30.000, was selbst in den eigenen Reihen teilweise für ungläubiges Kopfschütteln sorgte.
Knapp eine Woche später, am 7. September, mobilisierte die Opposition in allen 23 venezolanischen Staaten vor die Regionalbüros des Nationalen Wahlrates (CNE). Die Hauptforderung lautet, dass noch dieses Jahr ein Abberufungsreferendum gegen Maduro stattfinden müsse. Denn nach dem 10. Januar 2017 gäbe es keine Neuwahlen, sondern der von Maduro ernannte Vizepräsident würde die letzten zwei Jahre der Amtszeit zu Ende bringen. Die Opposition müsste in diesem Fall bis zu den nächsten regulären Präsidentschaftswahlen Ende 2018 warten. Zahlreiche chavistische Politiker*innen hatten seit Monaten betont, dass ein Referendum dieses Jahr nicht möglich sei, da der MUD den Antrag erst Anfang Mai anstatt bereits im Januar eingereicht hatte (siehe LN 505). Der frühere Vizepräsident und jetzige Abgeordnete der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Elías Jaua, stellte das Recht der Opposition auf ein Referendum im August gar grundsätzlich in Frage. Das Abberufungsreferendum, das eine der Errungenschaften der verfassunggebenden Versammlung von 1999 darstellt, sei schließlich nur in die Verfassung aufgenommen worden, „um oligarchische Regierungen abzuwählen“.
Nicht nur die chavistischen Politiker*innen, auch der bisher als integer geltende Wahlrat verspielen gerade das Vertrauen der Bevölkerung. Der CNE verbittet sich offiziell jegliche politische Einmischung, zieht den Prozess aber im Sinne der Regierung in die Länge. Auch für die Regionalwahlen, die eigentlich für Ende dieses Jahres vorgesehen sind, gibt es noch keinen Termin. Mitte August erkannte der Wahlrat 1,25 von 1,85 Millionen eingereichten Unterschriften für die Einleitung eines Abwahlreferendums als gültig an. Nötig gewesen wären dafür insgesamt nur 200.000 – ein Prozent der Wähler*innen in jedem Staat.
Damit das Referendum zu Stande kommt, müssen im nächsten Schritt nun 20 Prozent der Wähler*innen – derzeit etwa 3,9 Millionen – unterschreiben. Laut CNE wird die Unterschriftensammlung an drei aufeinanderfolgenden Tagen Ende Oktober stattfinden, einen genauen Zeitplan will der Wahlrat am 13. September veröffentlichen. Da weder die zeitliche noch organisatorische Durchführung rechtlich exakt geregelt sind, werden die Details mit Spannung erwartet. Unklar ist etwa die Anzahl der bereitgestellten Unterschriftenscanner und die Frage, ob die 20 Prozent der Stimmern proportional in jedem Staat und nur insgesamt landesweit eingeholt werden müssen. Für den 14. September hat die Opposition bereits neue Proteste angekündigt. Spätestens nach der Sammlung der 20 Prozent wollen die Regierungsgegner*innen dann erneut auf die Straße gehen.
Mit den größten Demonstrationen seit Jahren verlagert sich der Machtkampf zwischen chavistischer Regierung und rechter Opposition zunehmend auf die Straße. Die staatlichen Gewalten liegen seit dem Sieg des MUD bei dem Parlamentsahlen Ende 2015 miteinander im Clinch. Die oppositionelle Mehrheit in der Nationalversammlung arbeitet offen auf einen Regierungswechsel hin, während Maduro mit Dekreten regiert und das Oberste Gericht (TSJ) die parlamentarische Arbeit blockiert. Anfang September erreichte der Konflikt eine neue Eskalationsstufe. Das TSJ erklärte sämtliche Entscheidungen des Parlaments für nichtig, bis dieses die Ende Juli erfolgte Vereidigung von drei Abgeordneten aus dem Staat Amazonas zurücknimmt. Im Januar hatte das Gericht diese wegen vermeintlichen Stimmenkaufs suspendiert, ohne dass die Wahl bis heute wiederholt wurde. Parlamentspräsident Henry Ramos Allup stellte einmal mehr klar, dass die Nationalversammlung „kein einziges verfassungswidriges Urteil des Gerichts“ anerkennen werde.
Der Ausgang des Machtkampfes ist ungewiss. Die Regierung wirkt bei der Lösung der drängenden Probleme wie der Wirtschaftskrise und der Versorgungsmängel planlos und kriminalisiert den radikalen Flügel der Opposition. Der MUD wiederum kann seine internen Streitigkeiten derzeit nur notdürftig durch das übergeordnete Ziel eines Regierungswechsels übertünchen. Ein Dialog, wie ihn die Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) anstrebt, kommt nicht in Gang. Die Zeichen stehen auf weitere Konfrontation, auch ein größerer Gewaltausbruch scheint längst nicht mehr ausgeschlossen.
Jenseits des Machtkampfes bildet sich derweil ein kritischer Chavismus heraus, der sich der Polarisierung entziehen will. Gruppierungen wie die PSUV-Abspaltung Marea Socialista (Sozialistische Flut) sowie einige prominente Ex-Minister*innen und Akademiker*innen sprechen sich für ein Abberufungsreferendum aus, weil es in der Verfassung als Recht verankert ist. Eine Lösung für die Probleme des Landes sehen sie darin jedoch nicht. Vielmehr sei eine mögliche Abwahl Maduros „ein Sprung ins Lehre“, kritisiert etwa die frühere Umweltministerin Ana Elisa Osorio in einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP. Es müsse nach Wegen gesucht werden, „den Chavismus neu zu ordnen und Räume für Diskussionen zu öffnen, um kollektive Führungen aufzubauen“. Durch die starke Polarisierung gebe es für unzufriedene Chavist*innen bei Wahlen zurzeit jedoch keine realistischen Chancen.

KEINE ENTSPANNUNG IN VENEZUELA

Der Ton in Venezuela wird spürbar rauer. „Für die Streitkräfte ist die Stunde der Wahrheit gekommen“, ließ Mitte Mai der oppositionelle Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski verlauten. Das Militär müsse sich entscheiden, ob es auf der Seite der Verfassung oder der durch Nicolás Maduro hervorgerufenen Krise stehe. Der venezolanische Präsident hingegen sieht sich und seine Regierung in der Opferrolle. „Die Kampagne gegen Venezuela zielt darauf ab, Chaos und Gewalt zu schüren, um so eine Intervention der US-Regierung zu rechtfertigen“, sagte der Staatschef ebenfalls Mitte Mai auf einer Pressekonferenz vor internationalen Medien.
Wenige Tage zuvor hatte Maduro den bereits seit Januar geltenden Wirtschaftsnotstand für weitere 60 Tage verlängert und um einen Ausnahmezustand erweitert. Dieser ermöglicht es der Exekutive in mehreren Themenbereichen, per Dekret zu regieren. Das Militär und zivile Basisgruppen erhalten zudem weitreichende Befugnisse wie die Verteilung von Lebensmitteln und Überprüfung der Produktion von Privatunternehmen. Capriles, der innerhalb der Opposition zum moderaten Flügel zählt, rief die Bevölkerung dazu auf, „dieses verfassungswidrige Dekret nicht anzuerkennen“.
Ein halbes Jahr, nachdem das oppositionelle Wahlbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen zwei Drittel der Sitze gewonnen hat, tragen die staatlichen Gewalten einen offenen Konflikt aus, der zunehmend an Schärfe gewinnt: Die Opposition machte bereits Anfang Januar keinen Hehl daraus, dass der Hauptzweck ihrer parlamentarischen Arbeit darin liegt, einen zeitnahen Regierungswechsel herbeizuführen. Das Oberste Gericht (TSJ) blockiert oppositionelle Gesetzesinitiativen wie eine Amnestie für die als politische Gefangene angesehenen Personen und die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus. Maduro regiert derweil mit Billigung des TSJ am Parlament vorbei. Dieses wiederum spricht den anderen politischen Gewalten die Legitimität ab, da sie jeweils mehrheitlich von Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez kontrolliert werden.

Venezuela in Not - Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen
Venezuela in Not – Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen (Foto: Carlos Diaz – CC BY 2.0)

Im März hatte sich der MUD nach internen Unstimmigkeiten über die Strategie für einen Regierungswechsel darauf geeinigt, drei Mechanismen in Gang zu setzen. Durch Straßenproteste soll Maduro demnach zum Rücktritt bewegt werden, während das Parlament einen Verfassungszusatz beschließen solle, der die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre begrenze. Einen Rücktritt schloss Maduro mehrmals kategorisch aus. Das TSJ hat klar gestellt, das eine mögliche Verfassungsänderung nicht für die laufende Amtszeit gelten könne. Als dritter Mechanismus bleibt ein Abberufungsreferendum. Seit Inkrafttreten der Verfassung von 1999 ist es möglich, alle Mandatsträger*innen nach Ablauf der Hälfte ihrer Amtszeit per Referendum abzuwählen. Um die Formalitäten und den zeitlichen Ablauf streiten sich nun Regierung, Nationaler Wahlrat (CNE) und Opposition.
Am 11. und 18. Mai mobilisierte die Opposition in allen Bundesstaaten vor die Büros des CNE, um ein baldiges Referendum zu fordern. Vor den Hauptsitz des Wahlrates in Caracas durften die Regierungsgegner*innen jedoch nicht ziehen. Denn im chavistisch dominierten Westen der Hauptstadt fanden zeitgleich regierungsfreundliche Demonstrationen statt. Nachdem es am 18. Mai auf der oppositionellen Kundgebung im Stadtzentrum zu Ausschreitungen gekommen war, untersagte das Oberste Gericht bis auf weiteres Demonstrationen, die den CNE als Ziel haben.
Die Opposition drängt auf einen Wahltermin in diesem Jahr und wirft dem chavistisch dominierten Wahlrat vor, auf Zeit zu spielen. Sollte Maduros mögliche Abwahl erst nach dem 10. Januar 2017 erfolgen, gäbe es keine Neuwahlen. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident dessen Amtszeit beenden. Für die Anhänger*innen der Regierung steht eine Menge auf dem Spiel. Sie fürchten einen Rückfall in neoliberale Zeiten, wenn die Opposition wieder an die Macht kommt.
Damit ein Referendum stattfinden kann, muss dies zunächst ein Prozent der Wahlberechtigten aus allen Bundesstaaten per Unterschrift einfordern. Bereits wenige Tage nachdem der Wahlrat die gültigen Vordrucke ausgegeben hatte, reichte die Opposition statt der erforderlichen 195.000 Unterschriften 1,85 Millionen ein. Laut Gesetz sind dazu 30 Tage Zeit. Der Wahlrat pocht auf die penible Einhaltung der Fristen und will den Prozess nicht beschleunigen, nur weil die Opposition dies fordert. Erkennt der CNE diese Hürde nach genauer Prüfung der Unterschriften als gemeistert an, müssen nochmal 20 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten unterschreiben, damit das Referendum stattfindet. Um dann Erfolg zu haben, muss bei einer Mindestwahlbeteiligung von 25 Prozent nicht nur die Mehrheit der Wahlberechtigten für Maduros Abberufung votieren. Denn für ein erfolgreiches Abberufungsreferendum schreibt die Verfassung als zusätzliche Hürde vor, dass mehr Menschen für die Abwahl der betreffenden Person stimmen müssen, als sie zuvor ins Amt gewählt haben. Maduro erhielt bei der Präsidentschaftswahl 2013 knapp 7,6 Millionen Stimmen. Bei den Parlamentswahlen im Dezember vergangenen Jahres votierten mehr als 7,7 Millionen Menschen für die Opposition.
Mehrere Mitglieder des Wahlrates deuteten bereits öffentlich an, dass die Opposition zahlreiche ungültige Unterschriften und teilweise leere Listen eingereicht habe. Der oppositionsnahe CNE-Rektor Luis Emilio Rondón zeigt sich hingegen davon überzeugt, dass das Referendum bis Ende Oktober stattfinden könne. „Es gibt weder einen technischen noch juristischen Aspekt, der verhindert, ein Abberufungsreferendum abzuhalten“.
Aus dem chavistischen Lager werden indes zunehmend Stimmen laut, die vor gefälschten Unterschriften warnen und ein Referendum in diesem Jahr allein aus logistischen Gründen ablehnen, da bis Ende des Jahres auch noch Gouverneur*innen- und Bürgermeister*innen-wahlen stattfinden müssen. „Sie wissen, dass es kein Referendum geben wird, weil sie es erstens zu spät begonnen, es zweitens schlecht gemacht und drittens Betrug begangen haben“, sagte der amtierende Vizepräsident Aristóbulo Isturiz Mitte Mai. Maduro betonte, Referenden seien nicht vorgeschrieben, sondern „eine wunderbare Option, aber um Realität zu werden, müssen das Gesetz und die Anforderungen befolgt werden“. Laut dem Abgeordneten Diosdado Cabello, den viele als den mächtigsten chavistischen Politiker neben Maduro ansehen, verschleiere das Referendum schlicht einen Putschplan der Opposition.
Tatsächlich hatten die Gegner*innen des Chavismus seit jeher ein rein strategisches Verhältnis zu demokratischen Prozessen. Ihnen deswegen ein Referendum zu verweigern, wäre allerdings absurd. Vor dem erfolglosen Versuch, Maduros Vorgänger Hugo Chávez 2004 per Referendum aus dem Amt zu drängen, hatte die Opposition zwei Jahre lang ebenso erfolglos versucht, den damaligen Präsidenten durch einen Putsch und eine Sabotage der Erdölindustrie zu stürzen. Auch damals war es im Vorfeld zu heftigen Diskussionen gekommen. Die Regierung warf der Opposition vor, Datenbanken geplündert zu haben, um auf die nötige Zahl an Unterschriften zu kommen. Die Opposition wiederum hat nicht vergessen, dass ein Abgeordneter der Regierungspartei die Unterschriftenlisten im Internet mit der Begründung veröffentlichte, auf Unregelmäßigkeiten hinzuweisen. Dennoch fand das Referendum letztlich statt – und führte dazu, dass die Opposition auf Jahre hinweg in der politischen Bedeutungslosigkeit versank.
Im Gegensatz zu Chávez wird es Maduro allerdings schwer haben, die Mehrheit der Bevölkerung bei einem möglichen Referendum hinter sich zu bringen. Dass die Regierungsgegner*innen trotz äußerst dürftiger politischer Performance nach anderthalb Jahrzehnten regelmäßiger Wahlniederlagen plötzlich derart an Rückhalt gewinnen konnten, liegt vor allem an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Seit Chávez‘ Tod im März 2013 hat sich die Lage stetig verschlechtert, ohne dass die Regierung Maduro adäquate Mittel gegen die Krise finden konnte. Sie lastet die dreistelligen Inflationsraten und die Knappheit bestimmter Lebensmittel vor allem einem Wirtschaftskrieg oppositioneller Gruppen und der Privatwirtschaft an. Der verhängte Wirtschaftsnotstand und zaghafte Reformen zeigen keine merklichen Erfolge. Durch den niedrigen Weltmarktpreis des Erdöls, dem zentralen venezolanischen Exportgut, hat die Regierung kaum mehr finanziellen Spielraum. Spätestens nun rächt sich, dass es Chávez trotz ambitionierter Pläne nie gelungen ist, die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern.
Als wäre dies nicht genug, steht die Elektrizitätsversorgung des Landes nach der schlimmsten Dürreperiode seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Der venezolanische Strom wird zu 70 Prozent aus Wasserkraft erzeugt. Der Pegel des Guri-Stausees im südöstlichen Bundesstaat Bolívar liegt seit Wochen nur noch knapp über dem notwendigen Level, um die Turbinen des mit Abstand wichtigsten venezolanischen Kraftwerkes am Laufen zu halten. Die Regierung versucht sich durch Einsparungsmaßnahmen in die beginnende Regenzeit zu retten und hofft auf ergiebige Niederschläge im Süden des Landes. Seit Ende April wird in fast allen Landesteilen der Strom rationiert, was in einigen Städten zu Ausschreitungen und Plünderungen geführt hat. Angestellte des öffentlichen Sektors arbeiten seit dem 27. April bis mindestens Ende Mai zudem nur noch montags und dienstags.
Die politische Krise in Venezuela wird auch international mit Sorge verfolgt. Die Opposition drängt auf eine Aktivierung der Interamerikanischen Demokratiecharta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), was im äußersten Fall zu einem Ausschluss Venezuelas aus der von den USA dominierten Regionalorganisation führen könnte. Unterstützung erhält sie dabei unter anderem von OAS-Generalsekretär Luis Almagro, der US-Regierung und der neuen argentinischen Regierung von Mauricio Macri. Andere Akteure wie Papst Franziskus oder die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) bemühen sich derweil um einen Dialog zwischen Regierung und Opposition. Die Rhetorik in beiden politischen Lagern deutet zurzeit allerdings eher auf eine weitere Eskalation hin.

GUTE HAARE, SCHLECHTE HAARE

Venezuela, in einer ärmlichen Vorstadt von Caracas. Es ist eine Welt, in der man nicht Kind sein darf. Eigentlich wollte der neunjährige Junior seiner verwitweten Mutter Marta nur bei der Arbeit helfen, beim Putzen des Hauses einer weißen, reichen Familie. Als er sich daran macht, die Badewanne zu schrubben, kann er der Versuchung nicht widerstehen und lässt sich in die vollgelaufene Wanne gleiten, bis alle Anspannung von ihm weicht, er rücklings den Kopf ins Wasser taucht, und nur noch sein Gesicht mit träumerisch geschlossenen Augen daraus hervorschaut. Als die Hausherrin ihn dabei erwischt, ist der Traum schlagartig vorbei. Ein ganz normaler Kinderstreich kostet Juniors Mutter den Job. Die hat wenig Verständnis für die Verspieltheit ihres Sohnes – dafür aber umso mehr Verbitterung gegen ihn übrig.
Diese Anfangsszene gibt den Ton an für Mariana Rondóns preisgekrönten Film Pelo Malo, auf Deutsch: Schlechtes Haar. Mit seinem dunklen, gelockten Haar und der etwas dunkleren Haut hat der kleine Junior in einer von weißen Schönheitsidealen geprägten Klassengesellschaft zu kämpfen. Zusammen mit dem Nachbarsmädchen sieht er auf Fotos und im Fernsehen weiße Popsänger mit glatten Haaren und Schönheitswettbewerbe mit schlanken Frauen an. Wenn der Fernseher nicht läuft, hören sie abends die Schüsse von der Straße und spielen mit Figuren Schießereien und die Flucht vor einer Vergewaltigung nach. Juniors einzige Oase, das Tanzen oder Singen zu Musik, wird von Marta missbilligt oder sogar untersagt.
Das belastete Verhältnis zwischen Mutter (Samantha Castillo) und Sohn (Samuel Lange Zambrano) wird in Rondóns Film mit schmerzhafter Präzision dargestellt und schauspielerisch auf die Spitze getrieben. Böswillige Blicke, Momente des Schweigens und stichelnde Kommentare erzeugen eine angespannte Stimmung – die auch manchmal kippt: Etwa als die Mutter scheinbar wohlwollend mit ihm tanzt, und ihr Lied auf einmal zu einem aggressiven Gesang wird, in dem sie Junior anschreit und ihre angestaute Wut auf ihn herauslässt.
Die psychologische Tiefe dieser sozialkritischen Erzählung legt die rassistischen und gleichzeitig die sexistischen Strukturen der venezolanischen Gesellschaft offen. Während Marta Junior bei jeder Berührung gereizt von sich schiebt, sieht man sie mit ihrem jüngsten Sohn zärtlich und verträumt. Der wiederum hat glatte Haare, weiße Haut und scheinbar einen anderen Vater als Junior. Während Marta sich daran stört, dass der Neunjährige nicht männlich genug ist, muss sie selbst sich ihren Job durch Sex mit dem Chef erkämpfen, und ist der frauenfeindlichen Gesellschaft in ihrer Position als alleinerziehende Mutter ausgeliefert. Doch auch Junior selbst verinnerlicht den gegen ihn gerichteten Rassismus und beleidigt etwa seine Großmutter väterlicherseits – die immerhin noch schwärzer ist als er – mit „du stinkst“. Auch mit dem Nachbarsmädchen, seiner einzigen Komplizin im Film, kommt es immer wieder zu Sticheleien, die klassistische und rassistische Beleidigungen aufgreifen. Beide bereiten sich auf das Foto vor, das für den Schulbeginn von ihnen gemacht werden soll. Sie träumen von einem anderen Bild ihrer selbst – was von kindlicher Fantasie, aber auch von gesesllschaftlichem Druck zeugt.
Trotz dieses trostlosen Themas gelingt es der Regisseurin, einen Film mit Witz zu verwirklichen, der durch eine ästhetische Kameraführung und die psychologische Tiefe der Charaktere bereichert wird. Für Außenstehende mag diese Momentaufnahme der venezolanischen Vorstadt zum Teil romantisiert oder dramatisiert wirken – aber der dort herrschende Rassismus ist real. Rondón selbst weiß das als Venezolanerin nur zu gut und erzählt mit viel Feingefühl von den geselllschaftlichen Widersprüchen in ihrem Land.

Steilvorlage für Maduro

Es klingt so martialisch wie paranoid: Anfang März stellte Barack Obama in einem offiziellen Dekret besorgt fest, dass „die Situation Venezuelas eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“ darstelle. Als hätte die venezolanische Luftwaffe gerade die ersten Angriffe auf das Weiße Haus gestartet, rief der US-Präsident „einen nationalen Notstand“ aus, „um mit dieser Bedrohung umgehen“ zu können. Doch weder hat sein venezolanischer Amtskollege Nicolás Maduro zum antiimperialistischen Erstschlag ausgeholt, noch Obama die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt. Vielmehr werfen die USA Maduros Regierung vor, Menschenrechte zu verletzen und oppositionelle Kritiker*innen gewaltsam zu verfolgen. In Caracas wurde die wenig schmeichelhafte Einstufung als Affront wahrgenommen. Maduro wirft der US-Regierung – angesichts der langen Tradition US-amerikanischer Einmischung in Lateinamerika nicht unbegründet – vor, die Opposition zu unterstützen, um ihn stürzen zu können (siehe Artikel S. 34).

Oberflächlich betrachtet hat die Obama-Administration zunächst „nur“ ihren Job gemacht. Bereits Ende letzten Jahres hatte der Kongress Sanktionen gegen ranghohe Militärs und Regierungsmitglieder Venezuelas beschlossen. Um die Sanktionen rechtskonform umzusetzen, muss Obama aber erst eine Bedrohung der nationalen Sicherheit feststellen. Verständlicherweise löste diese Formulierung nicht nur auf diplomatischem Parkett Unverständnis aus, auch wenn das Weiße Haus beteuert, „missverstanden“ worden zu sein.

Obamas verbale Attacke kam dem innenpolitisch angeschlagenen venezolanischen Präsidenten ziemlich gelegen. Sie lieferte ihm eine unverhoffte Steilvorlage, um von den eigenen Problemen ablenken und seine Bündnispartner*innen hinter sich gegen die „imperialistische Aggression“ aus dem Norden versammeln zu können. Neben der üblichen Rhetorik auf schnell organisierten Demonstrationen und einer Twitter- und Unterschriftenkampagne gegen die Sanktionen wandte sich Maduro in einem offenen Brief auch an die US-amerikanische Öffentlichkeit. In der New York Times klärte er in einer Anzeige darüber auf, dass Venezuela „in zwei Jahrhunderten Unabhängigkeit nie eine andere Nation angegriffen“ habe und auch weiterhin friedlich und ohne Massenvernichtungswaffen (sic!) auskommen möchte.

Was auch immer Obama genau mit seinen Drohungen erreichen wollte, bewirkt haben sie vor allem eins: Lateinamerika und die Karibik stehen nun geschlossener denn je hinter Maduro. Umgehend bekräftigen die Castro-Brüder auf Kuba ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit der Regierung in Caracas. Dilma Rousseff, Daniel Ortega und Evo Morales folgten gerne Maduros Aufruf, ihm den Rücken zu stärken und Obamas Dekret in einer gemeinsamen Reaktion zu verurteilen. Aber nicht nur die üblichen Verdächtigen der links regierten Länder des ALBA-Bündnisses reagierten pikiert auf die semantische Schärfe Washingtons. Von der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), über die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), bis hin zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierten alle regionalen Bündnisse das Vorgehen der US-Regierung.

Die regionale Integration Lateinamerikas hat ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den USA hervorgebracht. Das zeigt sich nicht nur an Worten: Kuba nimmt im April zum ersten Mal seit 1962 an einem OAS-Gipfel teil – auf Einladung des Gastgebers Panama und auf ausdücklichen Wunsch der Lateinamerikaner*innen. Alle diplomatischen Versuche der USA vergangenen Herbst, diese Aufwertung der sozialistischen Karibikin-sel abzuwenden, schlugen fehl. Amerika verändert sich.

Obama isoliert im Hinterhof

Die USA fühlen sich bedroht. Dies allein wäre kaum eine Meldung mit Neuigkeitswert, doch lauert die Gefahr dieses Mal direkt vor der eigenen Haustür, im häufig als Hinterhof der USA bezeichneten Lateinamerika. Am 9. März erklärte US-Präsident Barack Obama die Situation in Venezuela zur „außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“. Zugleich verhängte er Sanktionen gegen sieben venezolanische Funktionär*innen. Die US-Regierung wirft ihnen Verletzung von Menschenrechten bei der Unterdrückung oppositioneller Proteste sowie Korruption vor. Die venezolanische Regierung sieht sich hingegen von dem US-Vorgehen bedroht, das sie als Vorbereitung auf eine militärische Invasion wertet. Es sei „der aggressivste Schritt“, den „die USA jemals gegen Venezuela unternommen haben“, sagte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Obama werde „wie Präsident Nixon in Erinnerung bleiben“, warnte er in Anspielung auf den gewaltsamen Sturz Salvador Allendes in Chile 1973.
Obamas Bedrohungsvokabular entspringt dem International Emergency Economic Powers Act, einem US-Gesetz aus dem Jahre 1977, mit dem der Präsident im Falle einer erklärten Bedrohung ohne Zustimmung des Kongresses Sanktionen verhängen kann. Neben Venezuela gelten derzeit unter anderem Iran, Syrien, Nordkorea und Russland als „außergewöhnliche Bedrohung“. Der US-Kongress selbst hatte bereits im vergangenen Dezember Sanktionen gegen venezolanische Funktionär*innen beschlossen. Ende Februar konterte Venezuela mit Gegensanktionen, nachdem Maduro die US-Regierung bezichtigt hatte, in einen kürzlich aufgedeckten mutmaßlichen Putschplan verwickelt zu sein. Es kam zur Verhaftung mehrerer Militärs und des Bürgermeisters des Großraums Caracas, Antonio Ledezma. Über gegenseitige Botschafter*innen verfügen beide Länder bereits seit eines Streits über den designierten US-Botschafter im Jahr 2010 nicht mehr.
Sollte Obama sich im Zuge der politischen Annäherung an Kuba erhofft haben, Venezuela in Lateinamerika isolieren zu können, ging der Schuss nach hinten los. Für die innerhalb wie außerhalb Venezuelas stark in der Kritik stehende Regierung Maduro wirken die Sanktionen aus Washington fast wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur die Linke Lateinamerikas stellt sich in dem Konflikt kategorisch hinter Venezuela. Keine einzige Regierung des Subkontinents unterstützt das einseitige Vorgehen der USA. Die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) forderte die Aufhebung des Dekretes, sprach sich deutlich gegen „äußere Einmischung“ sowie „einseitige Maßnahmen“ aus und mahnte zum Dialog. UNASUR-Generalsekretär Ernesto Samper warnte, die Sanktionen könnten in „der bereits polarisierten Situation“ dazu beitragen, „die Gemüter zu radikalisieren“. Die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), der alle lateinamerikanischen und karibischen Länder des Kontinents, nicht jedoch Kanada und die USA angehören, hatte im Februar bereits die Sanktionen des US-Kongresses zurückgewiesen. Die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) forderte Obama ebenfalls dazu auf, die Maßnahmen zurückzunehmen und sprach sich für einen Dialog aus. Auch José Miguel Insulza, scheidender Generalsekretär der US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bezeichnete Obamas präsidiale Verfügung als „sehr hart“. Selbst aus den Reihen des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) kamen vereinzelt kritische Töne. Der Gouverneur des Bundesstaates Lara, Henri Falcón, sprach von einem „schlechten Dienst für die venezolanische Opposition“.
Maduro selbst ging in die Offensive und beantragte in der Nationalversammlung umgehend legislative Vollmachten, um „den Frieden zu sichern“. Bereits sechs Tage nach Obamas Verfügung bewilligte das Parlament das thematisch breit formulierte „antiimperialistische“ Bevollmächtigungsgesetz. Bis Ende Dezember kann Maduro nun Dekrete mit Gesetzesrang in den Bereichen „Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Immunität, territoriale Integrität, nationale Selbstbestimmung und Frieden“ erlassen.
Es ist bereits das zweite Mal, dass Maduro mit Vollmachten regiert, die das Parlament dem Präsidenten laut venezolanischer Verfassung verleihen kann. Ende 2013 hatte ihm die Nationalversammlung für zwölf Monate Vollmachten in den Bereichen Wirtschaft und Korruption erteilt, die er für insgesamt 50 Dekrete und Gesetzesänderungen nutzte. Spürbare positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage oder die Korruption konnten dadurch bisher nicht erreicht werden. Bereits auf Grundlage der alten Verfassung von 1961 nutzten verschiedene Präsidenten die Möglichkeit, sich zeitlich begrenzte gesetzgeberische Vollmachten erteilen zu lassen. Maduros Vorgänger Hugo Chávez ließ sich zwischen 1999 und 2013 viermal bevollmächtigen. Wenngleich das gewählte Parlament über präsidiale Dekrete nicht debattiert, könnte die Bevölkerung laut der Verfassung von 1999 sogenannte Aufhebungsreferenden über einzelne Gesetze und Dekrete erzwingen. Bei Gesetzen, die durch Präsidialdekrete zustande gekommen sind, müssten dies fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler*innen per Unterschrift einfordern. Gebrauch gemacht wurde von diesem direktdemokratischen Recht bisher allerdings noch nie.
Für Maduro könnten es vorerst die letzten Vollmachten sein. Voraussichtlich Ende des Jahres wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt. Auch wenn noch nicht absehbar ist, ob die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten ihre Mehrheit verlieren, so ist es zumindest wahrscheinlich, dass sie die zur Erteilung von Vollmachten nötigen drei Fünftel der Abgeordneten nicht erreichen werden.
Die Opposition wirft Maduro vor, mit den Vollmachten gegen kritische Stimmen vorgehen zu wollen und die Konfrontation mit den USA dazu zu nutzen, von internen Problemen abzulenken. Seit dem Tod des damaligen Präsidenten Hugo Chávez vor gut zwei Jahren steckt Venezuela in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Die gesellschaftliche Polarisierung führt immer wieder zu gewalttätigen Protesten und harten Reaktionen seitens der Sicherheitskräfte. Wenngleich die Grundversorgung mit Lebensmitteln in Venezuela weiterhin sichergestellt ist, sind einige Produkte wie Milch, Kaffee, Maismehl sowie verschiedene Hygieneartikel rar und sorgen für lange Schlangen vor den Supermärkten. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr gut 64 Prozent und bedroht mittlerweile die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära. Das auf mehreren parallelen Kursen basierende Wechselkurssystem und die Devisenkontrollen begünstigen kleine wie große Betrügereien. Der zurzeit niedrige Erdölpreis trägt zu einer Verschärfung der Situation bei, indem die Staatseinnahmen sinken und die für Importe nötigen Devisen weiter verknappt werden. Dringend notwendige, aber aufgrund der direkten sozialen Folgen schwierig durchsetzbare Reformen schiebt die Regierung hingegen immer wieder auf. Dazu zählt etwa eine Preisanhebung des innerhalb Venezuelas bisher beinahe gratis verteilten Benzins und eine grundlegende Überarbeitung des Wechselkurssystems (siehe LN 487). Die Regierung wirft oppositionellen Kreisen und privaten Unternehmer*innen vor, einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung zu führen und das Warenangebot gezielt zu verknappen. Dass viele Unternehmen die mit staatlichen Petrodollars erworbenen Produkte horten oder mit deutlich höherer Gewinnspanne über die Grenze nach Kolumbien schmuggeln, ist tatsächlich kein Geheimnis. Doch das allein kann die Krise nicht erklären. Das erdölbasierte Wirtschaftsmodell Venezuelas bleibt auch mit sozialistischem Anstrich weiterhin kapitalistisch und die extrem unterschiedlichen Wechselkurse bieten enorme Anreize für krumme Geschäfte. Wer für den Import von Lebensmitteln etwa Devisen im Wert von 6,30 Bolívares pro US-Dollar erhält, fährt durch den Verkauf zumindest eines Teils der US-Dollar auf dem Schwarzmarkt gigantische Gewinne ein. Mitte März lag der Schwarzmarktkurs mit um die 250 Bolívares pro Dollar etwa bei dem 40-fachen des günstigsten offiziellen Kurses.
In diesem Kontext scheint Obamas Schritt, Venezuela zur „Bedrohung“ zu erklären, allein dazu zu dienen, die venezolanische Krise anzuheizen. Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 sind die Beziehungen zwischen den USA und ihrem zuvor engen Partner Venezuela angespannt. Den gescheiterten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 unterstützte die US-Regierung logistisch und finanziell. Immer wieder lieferte sich der frühere venezolanische Präsident mit der US-Regierung rhetorische Auseinandersetzungen, bezeichnete Obamas Vorgänger George W. Bush öffentlich als „Esel“, „Teufel“ und „Mr. Danger“. Gleichzeitig gelang es ihm, den US-Einfluss in der Region deutlich zurückzudrängen. Die von den USA propagierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheiterte 2005. 2004 gründete sich als solidarischer Gegenentwurf das Staatenbündnis ALBA. Im Jahr 2008 folgte UNASUR und 2011 CELAC.
Bei allen politischen Differenzen bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen jedoch intakt; mit keinem Land treibt Venezuela mehr Handel als mit den USA. Wenngleich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen ist, bleibt Venezuela innerhalb Lateinamerikas nach Mexiko und Brasilien der drittgrößte Handelspartner der USA. Im Jahr 2014 flossen täglich 740.000 Barrel in den Norden. Nach China gingen 536.000 Barrel pro Tag. Nach dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 hatte es zwischen den USA und Venezuela zunächst nach Entspannung ausgesehen. Der US-Präsident versprach Lateinamerika eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Es blieb allerdings bei der Rhetorik. Heute scheint Obama in Lateinamerika isolierter zu sein, als es sein Vorgänger Bush je war. Nun liegt es an den Bemühungen der unterschiedlichen regionalen Integrationsbündnisse auf dem amerikanischen Kontinent, einen ernsthaften Dialog in Gang zu bringen. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño erklärte sich auf Maduros Vorschlag hin dazu bereit, eine Vermittlungsgruppe zu koordinieren. Ecuador hat zurzeit die temporäre Präsidentschaft der CELAC inne. Spätestens auf dem kommenden Amerika-Gipfel am 10. April in Panama könnten sich Vertreter*innen der US-amerikanischen und venezolanischen Regierung direkt begegnen. Den wichtigsten Beitrag zu einem Dialog müsste Obama wohl selbst leisten, indem er seine umstrittene Verfügung zurücknimmt. Die venezolanische Regierung will nun zehn Millionen Unterschriften sammeln, um ihn davon zu überzeugen. Das US-Außenministerium zeigte sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich bereit zu einem Dialog. Dieser könne jedoch „nicht die Probleme in Venezuela lösen“. Dafür sei ein Dialog innerhalb Venezuelas nötig.

Medienmärchen Nisman

Eine schweigende Masse für Wahrheit und Gerechtigkeit. Es sind hunderttausende empörte Bürger*innen, die „die Gewalt satt haben“ und am 18. Februar protestierend durch Buenos Aires ziehen, um dem verstorbenen Staatsanwalt Alberto Nisman eine letzte Ehre zu erweisen. Sie fordern die Aufklärung seines zweifelhaften Ablebens und „Gerechtigkeit für einen armen Mann, der sein Leben der Wahrheit geopfert hat“. All dies klingt, als müsste man sich direkt in den Schweigemarsch einreihen – wer ist nicht für Wahrheit und Gerechtigkeit? Eine Regierung, die im Verdacht steht, ihre eigenen Staatsanwält*innen zu ermorden: Wem wird nicht unheimlich bei diesem Gedanken?

Genau dieses Bild beschreibt und bezeugt die deutsche Berichterstattung zu Nisman. Wie so oft wird darin unkritisch die Erzählung der großen Medienmonopole in Lateinamerika übernommen und somit ein verzerrtes Bild der politischen Lage vermittelt. Denn zur Demonstration hat die rechte Opposition aufgerufen.
Tatsächlich haben wir es mit venezolanischen Verhältnissen zu tun: Eine Propagandafeldzug, angeführt von einer Gruppe aus Industriellen, rechten Politiker*innen, Großkapital und Medienmacht, die eine progressive Regierung unter Berufung auf Menschenrechtsverletzungen angreift. Dabei beanspruchen sie die Werte sozialer Bewegungen, während sich ihre Macht und ihr Reichtum gerade auf den Gegensätzen zu diesen Werten begründet. Es entsteht ein absurder, fast ironischer Diskurs, verkauft und propagiert von den großen Medienkonzernen in Lateinamerika. Die Demonstration im Februar erinnert an vergleichbare Szenarien der Geschichte, von den Kochtopfdemonstrationen der wohlgenährten Oberschicht in Chile Anfang der 1970er-Jahre bis hin zu den, in deutschen Medien als „soziale Proteste“ dargestellten, gewaltsamen Demonstrationen des antichavistischen Fanatismus in Venezuela 2014.

Der konkrete Fall Nisman wird von der rechten Opposition instrumentalisiert, nicht nur um die aktuelle Regierung zu torpedieren, sondern vor allem um deren potenzielles Erbe zu diskreditieren. Opposition und Medien destabilisieren den eingeleiteten Demokratisierungsprozess, indem seine Werte von Wahrheit und Gerechtigkeit verdreht, entfremdet und verhöhnt werden. Indes gibt es sehr wohl viele Dinge an der Regierung Kirchner zu kritisieren: das Versäumnis Justiz- und Sicherheitssystem strukturell zu reformieren, die Kriminalisierung sozialer Bewegungen, die Staats- und Polizeigewalt in Argentinien und die damit einhergehende, zum Himmel schreiende Straflosigkeit.
Aber diese Straflosigkeit betrifft nicht die demonstrierenden Menschen aus der Ober- und Mittelschicht der Metropolen, sondern vor allem Familien aus den Armenvierteln. Keine*r derjenigen, die zum Schweigemarsch aufgerufen haben und sich Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben, geht auf die Straße, wenn tagtäglich Menschen aus den Armenvierteln entführt, erschossen, ohne Anklage weggesperrt oder in Gefängnissen gefoltert werden. Nismans Kolleg*innen, die die institutionelle Kriminalisierung sozialer Proteste und die systematische Straflosigkeit garantieren, skandieren jetzt: „Schluss mit der Straflosigkeit!“. Daher verkommt der Protest des 18. Februars zu einer Farce. Die Figur Nisman in ein Flaggschiff der Demokratie verwandeln zu wollen, ist – so bedauerlich sein Fall auch sein mag – im besten Fall unglaubwürdig.

Die berechtigte Kritik an den lateinamerikanischen Linksregierungen müsste von anderer Seite kommen und davon sprechen, dass trotz progressiver Diskurse weiterhin Menschenrechte verletzt und tiefgreifende Veränderungen nicht nachhaltig und vehement genug vorangetrieben werden. Die Kritik aus den Reihen der Mächtigen, die ihre partikularen ökonomischen Interessen beeinflusst oder gefährdet sehen und sich dabei auf die Einhaltung der Menschenrechte berufen, ist nicht nur scheinheilig, sondern zynisch und wird aktiv von den Medienmonopolen unterstützt. Für die Medien hier sollte es eine selbstverständliche Verantwortung sein, diese einseitige Meinungsmache zu hinterfragen, anstatt sie blind zu reproduzieren.

You can always stop and choose

„Ich schaue zurück und sehe auf ein Leben ständiger Kämpfe“, erinnert sich die alte Frau Dauna zu Beginn des Films Lo que lleva el río, der uns auf eine Reise ins Orinocodelta mitnimmt. Die kleine Warao-Gemeinde Janoko im Bundesstaat Delta Amacuro im Osten Venezuelas ist Schauplatz des Films, der von dem Leben einer starken Frau erzählt.

Der Film erzählt die Geschichte von Dauna und ihrer Entschlossenheit. Er erzählt von einem Kapuzinerpriester, der an seinem eigenen Glauben zweifelt und Gott jenseits der Kirche wiederfindet. Er erzählt von einem Leben, das sich uns zugleich vorwärts und rückwärts erschließt, von einer Liebe, die an einem Dilemma zerbricht. Er erzählt von der Kultur der Warao, ihren Mythen. Über die Wolken, wie wichtig es ist, sie zu kennen und sie lesen zu können. Über die Sterne, den Spirit des Ozelots, die Mutter des Sonnenaufgangs. Und über das Dilemma zwischen Tradition und Aufbruch, dem ständigen Hin- und Hergerissensein zwischen Gehen und Bleiben und der Kunst beides zu vereinen.

Der Beginn des Films ist das Ende ihres Lebens. Dauna ist eine alte Frau, die zurückblickt. Langsam erfahren wir ihre Lebensgeschichte, beginnend vom Jetzt in die Vergangenheit. Gleichzeitig sehen wir in einem gegenläufigen Handlungsstrang, wie sie heranwächst. Wir begleiten sie in ihrer kindlichen Neugier, ihrem besonnenen Wissensdurst und sind Zeug*innen, wie sie ihrer Berufung zu lernen und zu lehren folgt, ihrer Idee, den Warao, „ihren Leuten“, Sichtbarkeit zu geben.

Die eigentliche Geschichte der heranwachsenden Dauna wird immer wieder von kurzen Einblendungen aus ihrem Leben als Erwachsene unterbrochen. Retrospektiv erfahren wir etwas über ihr Leben außerhalb des Dorfes, über eine Ehrung für ihr Lebenswerk, eine Entlassung aus dem Gefängnis, ihren Universitätsabschluss in Gefangenschaft, ihre Verhaftung – bis beide Geschichtsstränge, der rückwärts und der vorwärts erzählte, aufeinandertreffen. Durch diese Erzählstruktur wird ein großer Spannungsbogen aufgebaut. Gerne würde man noch mehr über die Geschichte der erwachsenen Dauna erfahren, aber hier beschränkt sich der Film auf kurze Einblendungen, die sich langsam, wie Puzzlestücke zu einem Gesamtbild fügen. In die Tiefe gehen sie jedoch nicht, der Fokus liegt auf dem Leben im Dorf im Orinocodelta – dort, wo all das ist, was Dauna wichtig ist.

Das verbindende Thema von Lo que lleva el río ist der ständige Konflikt zwischen Traditionen und Verpflichtungen einerseits und dem Aufbruch und Wunsch nach Veränderung andererseits. „Ich habe immer riskiert und immer gewählt“, sagt Dauna über sich selbst. Sie hat ihren Preis dafür gezahlt, hat die Verantwortung für ihre Triumphe und ihr Versagen übernehmen müssen. Der Kapuzinerpriester Padre Julio, der in der Mission in Daunas Gemeinde stationiert ist, wird ihr Lehrer und Mentor. Auch Dauna wird Lehrerin in der Nonnenschule, aber sie hat ihre eigene Art und Weise zu lehren, die bei den Nonnen der Mission auf Ablehnung stößt. Sie hat auch ihre eigene Art und Weise zu leben, die ihr Konflikte mit ihrem Mann Tarsicio und Teilen der Dorfgemeinschaft einbringt. „Dauna ist anders“, sagt ihr Vater in einem Gespräch mit Padre Julio: „Am Ende wird sie ihre eigenen Entscheidung treffen.“

Daunas Vater ist eine der schönsten Figuren der Geschichte, in seiner sanften Ruhe und Gelassenheit akzeptiert er seine Tochter und all ihre Entscheidungen gegen Konventionen, hält zu ihr, während andere glauben, sie bringe Unglück über das Dorf. Padre Julio, gleichzeitig mit ethnologischer Forschung in der Warao-Gemeinde beschäftigt, hat seine eigenen Konflikte mit seinem Glauben, seinem Orden, mit seinen Vorstellungen, was Dauna aus ihrem Talent machen soll und seinen Gefühlen für sie. „Wenn wir verzweifelt nach einem Wandel suchen, rennen wir vor etwas davon“, ist die Weisheit, die Daunas Vater ihr mit auf den Weg gibt.

Lo que lleva el río ist das Spielfilmdebüt des kubanischen Dokumentarfilmers Mario Crespo und der erste venezolanische Film in der Sprache der Warao, der zweitgrößten indigenen Ethnie des Landes. Behutsam und in langer liebevoller und respektvoller Recherche hat sich Crespo, der selbst in Venezuela lebt, seinem Thema und den Protagonist*innen seines Filmes, den Warao, gewidmet. Die Personen im Film und die Art, über sie zu erzählen, haben eine schlichte Ehrlichkeit. Crespos Film gelingt es, unaufdringlich und doch nah zu sein, und meist widersteht er der Gefahr, in kitschige Romantisierungen abzugleiten.

So fließt Lo que lleva el río dahin wie ein ruhiger Fluss. Nicht umsonst kommt der Fluss im Titel vor, denn das Wasser ist allgegenwärtig im Orinocodelta. Es ist ein leiser Film mit einer sanften und nahen, fast zärtlichen Kamera. Er gibt Zeit für eine Kindheit, ein Erwachsenwerden, Träumen, Kämpfen, Leiden, Trauern und Versöhnung. Zeit für die Entstehungsmythen und Kosmovisionen der Warao, die von einer Generationen zur nächsten übertragen werden. „Es ist gut die Wolken zu kennen und sie zu lesen“, lernt Dauna als kleines Kind und so auch ihre Tochter Waniku.

Der Film zeigt, dass es immer eine Möglichkeit gibt zu wählen. Es geht mehr um eine Frau an sich, als um eine indigene Frau, erklärt Mario Crespo. Das persönlich beschriebene Dilemma zwischen der Liebe zu ihrer Kultur und dem Festhalten an Traditionen und dem Wunsch, sich zu verändern, zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film. Er zeigt, dass es nicht darum geht, eine Kultur zu konservieren. Es geht um das Recht sich zu verändern und zu wachsen, ohne deshalb das „Fortwährende“ aufgeben zu müssen. Es geht Dauna darum, das zu Vergessene und das Ewige zu vereinen. „Ich bin froh zu sehen, dass dich nichts gestoppt hat“, sagt Daunas Vater bei ihrer Rückkehr ins Dorf.

Kampf mit den Marktkräften

Es war der vorletzte Tag der Sondervollmachten, die das Parlament dem venezolanischen Präsidenten für ein Jahr verliehen hatte, und er nutzte ihn fulminant: Ende November unterzeichnete Nicolás Maduro eine ganze Reihe von Gesetzen, die in erster Linie auf die krisenhafte wirtschaftliche Situation reagieren. Insgesamt 45 Gesetzesänderungen und Dekrete, deren Inhalt die Regierung erst in den Wochen nach der Unterzeichnung bekannt gab, befassen sich unter anderem mit einer Steuerreform, der Kontrolle und Ankurbelung der Wirtschaft, Korruptionsbekämpfung, Bürokratieabbau, Währungspolitik und Tourismus.

Die spürbarsten Merkmale der Krise in Venezuela sind derzeit Inflation und Warenknappheit. Zwar ist eine hohe Inflationsrate in der venezolanischen Rentenökonomie keine Neuheit – in den 1990er Jahren lag sie teilweise bei Jahreswerten von über 100 Prozent und auch in der Chávez-Ära betrug sie im Durchschnitt über 20 Prozent. Seit dem Tod des Präsidenten 2012 hat sie sich allerdings stark beschleunigt und wies zuletzt Jahreswerte von mehr als 60 Prozent auf. Die Preissteigerung bei Lebensmitteln liegt mit mehr als 90 Prozent sogar noch deutlich darüber. Zugleich sind viele Waren des täglichen Bedarfs nur schwer oder gar nicht zu bekommen, was zu langen Schlangen, stundenlangem Warten und Wucher führt.

Durch eine Mindestlohnsteigerung von knapp 65 Prozent hat die Regierung als Reaktion auf die steigenden Preise einen Inflationsausgleich für die untersten Lohngruppen verordnet und glaubt man ihren Aussagen, dann hat die Sozialpolitik bislang ein Durchschlagen der Krise auf die ärmeren Bevölkerungsteile verhindern können. So versicherte Präsident Maduro im November, dass im Gegensatz zu den 1980er und 90er Jahren die Armut in Zeiten hoher Inflation nicht gestiegen sei. Die Arbeitslosenquote verharrt nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts (INE) bei etwa sieben Prozent. Zumindest in der subjektiven Wahrnehmung ist die aktuelle Situation aber für immer mehr Menschen unerträglich, frisst die Preissteigerung doch die allermeisten Lohnanpassungen unverzüglich auf.

Hinzu kommt ein wachsendes Loch im staatlichen Haushalt. Aktuell wird es auf 15 bis 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt, was in den vergangenen zwei Jahren zu einem deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung geführt hat, durch die sich Venezuela vor allem in die Abhängigkeit von China begibt. Ursache waren die expansiven staatlichen Ausgaben der vergangenen Jahre, mit denen unter anderem die zahlreichen Sozialprogramme, vor allem aber auch die Importe finanziert wurden von denen der Konsum weitgehend abhängt. Waren die hohen Ausgaben schon zuvor ein Problem, so stellt der Verfall des Erdölpreises um 30 bis 40 Prozent im Herbst 2014 die venezolanische Regierung vor eine besonders schwierige Situation.

Das von Maduro verkündete Reformpaket wirkt auf den ersten Blick wie der Versuch eines Befreiungsschlags, der zeigen soll, dass die Regierung das Heft in der Hand hält und angesichts der unbefriedigenden Situation nicht untätig bleibt. Doch ist zu bezweifeln, dass die neuen Maßnahmen ernsthaft dazu beitragen werden, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen.

So adressiert eine kleine Steuerreform zwar das Haushaltsdefizit und versucht über eine Steuererhöhung für Luxusgüter, Tabak und Alkohol sowie Ausgabenkürzungen bei den Gehältern hoher Regierungsbeamter – allen voran des Präsidenten selbst – und bei „Luxusausgaben“ die Neuverschuldung zu drosseln. Die seit etwa einem Jahr diskutierte Kürzung der Subventionierung des Benzins, das in Venezuela praktisch kostenlos ist und den Staat Jahr für Jahr Milliarden kostet, wird aber immer weiter verschoben.

Darüber hinaus soll eine Kommission weitere überflüssige Ausgaben ausmachen, um den Staatshaushalt zu verschlanken – ohne jedoch die Sozialausgaben zu kürzen, versicherte Maduro. Hinzu kommen Versuche, durch weitere Kontrollen die Einhaltung bestehender Gesetze zu verbessern und beispielsweise Gewinnspannen über 30 Prozent zu verhindern. Angesichts grassierender Preisspekulation, Wucher und traditionell schwach ausgeprägter und ineffizienter staatlicher Behörden ist das ein hehres Ziel. Denn Die meisten Preise orientieren sich trotz diverser gesetzlicher Obergrenzen ohnehin am explodierenden Schwarzmarktkurs statt an tatsächlichen Einkaufspreisen.
Die Reformen greifen jedoch zu kurz und ignorieren weitgehend die wichtigste Ursache der krisenhaften Situation, die in einem völlig unfunktionalen Wechselkursregime liegt. Seit den Unternehmerstreiks 2003 herrschen in Venezuela strikte Devisenkontrollen und festgesetzte Wechselkurse, die mit dem Ziel eingeführt wurden, Kapitalflucht zu unterbinden und Spekulationsangriffe auf die Landeswährung Bolívar zu verhindern. Dieses Ziel erfüllten sie zeitweise auch tatsächlich. Seit einigen Jahren hat sich das System jedoch zu einem bürokratischen Monstrum mit verheerenden Effekten für die Wirtschaft des Landes entwickelt. Denn der deutlich überbewertete Wechselkurs verbilligte die Importe enorm, während die ohnehin schon geringe Produktion des Landes jeder Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt beraubt wurde. Zugleich muss der Staat alle Devisen, die für das Funktionieren der Volkswirtschaft benötigt werden, zur Verfügung stellen, da die Privatwirtschaft lediglich etwa vier Prozent der Devisen selbst erwirtschaftet. Angesichts der großen Menge an Importen war dies in Zeiten eines Erdölpreises von etwa 100 US-Dollar zwar zu bewerkstelligen, es beraubte den Staat aber teilweise der Möglichkeit, die enormen Gewinne des Erdölexports in die Entwicklung des Landes zu investieren.

Hinzu kommt derzeit aber ein noch größeres Problem. Denn weil die Erdöl-Dollars offenbar nicht ausreichen, um die Nachfrage nach Devisen zu befriedigen und möglicherweise befeuert durch Spekulationsattacken, ist der Schwarzmarktkurs in extreme Höhen geschossen. Anfang Dezember wurde er mit über 170 Bolívares gehandelt, was dem 27-fachen des günstigsten offiziellen Wechselkurses von 6,3 Bolívares entspricht. Hinzu kommen zwei weitere legale Wechselkurse von etwa 12 beziehungsweise 50 Bolívares pro US-Dollar, die je nach Zweck der Verwendung gewährt werden. Diese Differenzen machen für diejenigen, die Zugang zu den staatlich kontrollierten Devisen haben, unglaubliche Spekulationsgewinne möglich. So stehen Importunternehmer, denen US-Dollar zum Präferenzkurs von 6,3 bewilligt wurden beispielsweise vor der Wahl, die Waren legal mit einer erlaubten Gewinnmarge von 30 Prozent zu verkaufen, oder aber die erhaltenen Dollars zum Schwarzmarktkurs zu tauschen und dabei Gewinne von 2.000 bis 3.000 Prozent zu erzielen.

So ist durch die Währungspolitik ein völlig undurchschaubarer Markt von Devisenspekulationen entstanden, der gigantische Gewinne abwirft und es ist davon auszugehen, dass auch zahllose Mitglieder der staatlichen Verwaltung und der Regierung in ihn involviert sind. So bemängelte im Frühjahr 2013 die Kurzzeit-Präsidentin der Zentralbank, Edmée Betancourt, dass dem Staat allein im Jahr 2012 etwa 20 Milliarden US-Dollar (!) verloren gegangen seien – durch Briefkastenfirmen geschleust und dann verschwunden. Nach nur drei Monaten im Amt musste sie ihren Posten räumen. Bereits Anfang desselben Jahres hatte der damalige Planungsminister Jorge Giordani öffentlich beklagt, dass durch das staatliche Devisensystem bis zu 25 Milliarden US-Dollar abhanden gekommen seien.

Seitdem geistert die Zahl der 20 Milliarden verschwundenen Dollar durch kritische Debatten an der chavistischen Basis. Inspiriert von den Aussagen Betancourts errechneten Aktivist*innen von Marea Socialista, einer Strömung der sozialistischen Regierungspartei PSUV, für den Zeitraum von 1998 bis 2013 eine Kapitalflucht in Höhe von 259 Milliarden Dollar. Der marxistische Ökonom Manuel Sutherland rechnete dann auch gleich vor, mit welchen Methoden dies möglich ist. Denn tatsächlich werde nur ein Bruchteil der Waren importiert, für die Devisen bewilligt wurden. Durch Leerkäufe und künstlich überhöhte Importpreise existierten viele Waren nur auf dem Papier, die Dollars aber, mit denen sie tatsächlich oder vorgeblich gekauft wurden, strichen die Importunternehmen ein. Und ein nicht unwesentlicher Teil der Waren, die tatsächlich in Venezuela ankommen, landen statt in den Supermarktregalen entweder bei informellen Händler*innen, die ein Vielfaches der teilweise regulierten Preise verlangen oder über Schmugglerrouten in Kolumbien – die Regierung spricht von etwa 30 Prozent.

Die Maduro-Regierung sieht diese Entwicklung einzig als einen „Wirtschaftskrieg“ der alten Eliten gegen das Projekt der bolivarianischen Revolution, spricht von einer „induzierten“ Inflation und gibt der Bourgeoisie die Schuld an den Versorgungsengpässen, weil diese die Waren horte oder aus dem Land bringe, um die Gewinnmargen in die Höhe zu treiben. Nun ist diese Beschreibung zwar nicht gänzlich falsch; sie übergeht aber geflissentlich, dass die Anreize zu diesen Handlungen durch das gigantische Wechselkursdifferential künstlich ins Unermessliche getrieben werden. In einer kapitalistischen Wirtschaft von den Marktteilnehmer*innen zu erwarten, dass sie nicht danach streben, ihre Profite zu maximieren, ist im besten Fall gutgläubig. Und dass sie es angesichts zwar zahlreicher aber doch laxer Kontrollen durch einen von schwacher Institutionalität geprägten Staatsapparat dann auch jenseits des engen gesetzlichen Rahmens tun, ist zwar verurteilenswert, aber kaum überraschend.

So zeigt sich deutlich, dass die Regierung für eine ernst gemeinte Lösung der Krise nicht darum herum kommt, die Währungspolitik anzugehen und die Wechselkurse zumindest in die Nähe ihres Marktwertes zu bringen. Wirtschaftswissenschaftler wie der ehemalige Industrieminister unter Chávez, Víctor Álvarez, geben als Referenzwert eines auf diese Weise vereinheitlichen Wechselkurses mindestens 35 Bolívares pro Dollar an. Zu ähnlichen Schätzungen kommen der Analyst der Bank of America, Francisco Rodríguez, oder der US-Ökonom Mark Weisbrot, während andere einen deutlich höheren Kurs veranschlagen. Dies würde die Dollararmut zu beenden helfen und zugleich dem Staat enorme Einnahmen in der Landeswährung verschaffen, die er wiederum einsetzen könnte, um die sozialen Effekte eines solchen Schrittes abzufedern. Andernfalls dürfte es nicht mehr lange möglich sein, die enormen Staatsausgaben zu schultern, die sich neben den üblichen Ausgabenposten durch die Importe, Subventionen und die große Zahl öffentlicher Angestellter ergeben.

Unabhängig von der Frage, welcher Lösungsansatz der richtige ist, sind sich die meisten unabhängigen Analyst*innen rechts wie links einig darin, dass der Status Quo untragbar ist. Die Regierung bleibt dennoch bislang weitgehend untätig, doktert bestenfalls an Symptomen herum und scheint wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Auch wenn davon auszugehen ist, dass spätestens – und viel zu spät – Anfang 2015 Schritte in Richtung einer Reform der Währungspolitik unternommen werden, drängt sich der Eindruck auf, dass die Regierung nicht Willens oder nicht fähig ist, die aktuelle Situation zu lösen. Mögliche Gründe für diese Passivität gibt es viele; zwei stechen allerdings besonders hervor.

Einerseits befindet sich die Regierung in einer Zwickmühle, denn sie hat mit einer Art „Demokratieproblem“ zu kämpfen: Die notwendigen Maßnahmen zur Korrektur des Wechselkursdilemmas können je nach Umsetzung vorübergehend schmerzhaft sein und so befürchtet die politische Führung womöglich, dass die Ergebnisse der im kommenden Herbst anstehenden Parlamentswahlen gefährdet sind.

Andererseits – und das wäre die wesentlich unangenehmere Erklärung – ist allgemein bekannt, dass Teile des Staatsapparates und der Regierung in die Korruption und den Devisenbetrug verwickelt sind. Dies war auch in der Regierungszeit von Hugo Chávez nicht anders, der allerdings zumindest den Eindruck erweckte, das Ausmaß der Korruption in gewissen Grenzen halten zu können. In der aktuellen Situation scheint hingegen, als ob der „korrupte Teil“ der Regierung so viel Macht gewonnen hat, dass er verhindern kann, den absurden Status Quo zu überwinden.

Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.

Chávez spukt in Spanien

Es war etwas still geworden um die Indignados. Nachdem im Jahr 2008 die Immobilienblase in Spanien geplatzt war, hatte sich eine vielbeachtete Protestbewegung der Empörten gebildet, die als 15M-Bewegung für Furore sorgte. Ihre Wut trugen die vorwiegend jungen Menschen von der Plaza del Sol in Madrid aus auf die Plätze und Straßen Spaniens. Wut angesichts einer Krise, die viele Menschen in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohte und Familien knallhart aus ihren Wohnungen rausschmiss.

Diese Wut schien im verkrusteten spanischen Parteiensystem zu verpuffen. Die Regierungspolitik unterwarf sich den Vorgaben der EU-Troika, rettete Banken und ignorierte die Probleme der vielen Millionen Menschen, die in Spanien der Verelendung entgegensahen. In dieser unerträglichen Situation zeigte sich für viele Spanier*innen, auch jene, die nicht der Linken nahe standen, wie wenig die Souveränität in einer kapitalistischen Demokratie tatsächlich vom Volke ausgeht. In diesem politischen Klima kombinierten die Indignados treffend Kapitalismuskritik mit Forderungen nach demokratischer Teilhabe. Doch trotz allem saßen die sozialdemokratische PSOE und die rechtskonservative PP scheinbar so fest im Sattel wie eh und je.

Scheinbar. Denn neben den öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen widmeten sich die Indignados der Basisarbeit, die zwar weniger sichtbar, aber dafür um so wirksamer und nachhaltiger war. Sie bildeten Nachbarschaftsvereine, die gegen Zwangsräumungen protestierten und diese bisweilen verhinderten, die Hilfe organisierten und die sich Gedanken über eine andere politische Ordnung machte. Diese Graswurzelbewegung trägt nun politische Früchte. In Form der Parteigründung Podemos erreichte die Wut der Indignados Anfang 2014 erstmals die politische Bühne der parlamentarischen Demokratie. Die neue Partei erzielte bei den Europawahlen im Mai mit acht Prozent bereits einen Achtungserfolg. Laut aktuellen Umfragen hat Podemos sogar Chancen, die Parlamentswahlen im Jahr 2015 zu gewinnen. Der Parteichef, der charismatische Politikdozent Pablo Iglesias, hat vor allem ein Ziel: Die Neugründung Spaniens mittels einer verfassungsgebenden Versammlung. Das neue Spanien soll das Erbe des postfrankistischen Kompromisses beseitigen und die Regierungspolitik in die Interessen der Bevölkerung und nicht des Kapitals stellen. Intern macht Podemos bereits vor, wie Demokratie funktionieren kann. Landesweit haben sich 900 Basisgruppen der Partei gebildet, über das Internet arbeiten Tausende Unterstützer*innen am Parteiprogramm mit. Der scheinbare Dornröschenschlaf der Indignados ist beendet, sie sind in der Politik angekommen, um zu bleiben.

Denn Podemos ist als Ausdruck einer landesweiten sozialen Bewegung weit mehr als eine der Protestparteien, wie sie sich in Europa häufig eher am rechten Rand herausbilden. Die Vorbilder oder Vorläufer der neuen Partei sind weniger auf dem europäischen Kontinent zu suchen, sondern in den linken Transformationsprojekten Lateinamerikas. Die sichtbarsten Politiker*innen von Podemos beziehen sich ausdrücklich positiv auf Venezuela oder Bolivien, haben in diesen Ländern in den vergangenen Jahren gearbeitet und die linken Regierungen und Bewegungen aus nächster Nähe verfolgt.

Auch in den lateinamerikanischen Ländern vergingen zwischen der Repräsentationskrise der parlamentarischen Demokratie, ausgelöst durch die neoliberale Regierungspolitik der 1980er und 1990er Jahre, und der Herausbildung eines konkreten Gegenprojektes mehrere Jahre. In Venezuela, Bolivien und Ecuador waren verfassungsgebende Versammlungen unter breiter Bevölkerungsbeteiligung der erste Hebel, um die festgefahrenen politischen Systeme auf demokratischem Wege zu transformieren.

Die Vergleiche zwischen Podemos und Chávez, zwischen Stadtteilbewegungen in Caracas und Madrid sind freilich begrenzt, egal, ob sie zustimmend oder ablehnend formuliert werden. Doch die Indignados haben durchaus die venezolanischen Erfahrungen mitbedacht und daraus gelernt. Das zeigt, dass die lateinamerikanischen Transformationsprojekte der letzten Jahrzehnte kein regionales Phänomen bleiben müssen. Denn Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus ist gewiss nicht nur in Lateinamerika verbreitet.

„Des Weltfriedens wegen“

Mitte Oktober reisten Vertreter_innen aus 32 Ländern, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie diverser regionaler Organisationen nach Havanna. In der kubanischen Hauptstadt nahmen sie an einem Treffen der Staaten der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) zur Prävention von Ebola in der Region teil. Verabschiedet wurden auf der zweitägigen Konferenz eine Reihe von Maßnahmen, um eine Ausbreitung des Ebola-Virus auf dem amerikanischen Kontinent zu verhindern. Unter anderem sollen nationale Zentren zur Bekämpfung von Ebola geschaffen werden, um die Präventionsmaßnahmen zu koordinieren und den Informationsaustausch zu verbessern; die Zusammenarbeit bei der Entwicklung neuer Impfstoffe und Medikamente soll ausgebaut, die Informationspolitik verbessert sowie einheitliche Standards zum Schutz des medizinischen Personals geschaffen werden.
Mehr als die Ergebnisse des Treffens aber machte allein die Anwesenheit zweier US-Regierungsbeamter Schlagzeilen. Nun handelte es sich bei den Herren zwar keineswegs um Top-Diplomaten, trotzdem: US-Vertreter auf einem Treffen des von Venezuela und Kuba ins Leben gerufenen Staatenbundes ALBA – das schien bisher undenkbar. Vereinzelte Empörung, etwa des kubanischstämmigen republikanischen US-Kongressabgeordneten Mario Diáz-Balart ging jedoch in den allgemein wohlwollenden Kommentaren unter. Sowohl US-Außenminister John Kerry als auch die US-amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen (UN), Samantha Power, lobten das Engagement Kubas im Kampf gegen Ebola als vorbildlich.
Nachdem zunächst vor allem die USA und Großbritannien auf den Ruf nach internationaler Hilfe für die betroffenen Länder reagierten hatten, treffen mittlerweile auch chinesische, schwedische und deutsche Ärzt_innen in der Krisenregion ein. Doch die westlichen Regierungen scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, die Epidemie von den eigenen Grenzen fernzuhalten, als die Seuche in Westafrika direkt zu bekämpfen. So waren in den USA wie in Europa Forderungen zu hören, Direktflüge aus Westafrika zu streichen und keine Menschen aus der Region mehr einreisen zu lassen. Es war dagegen das kleine Kuba, das mit gutem Beispiel voranging. Dabei ist die Karibikinsel alles andere als ein wohlhabendes Land. Das Bruttoinlandsprodukt bewegt sich nach Zahlen der Weltbank in etwa auf dem Niveau von Weißrussland. Und doch stellt Kuba in der von der Epidemie betroffenen Region mehr Ärzt_innen als Großbritannien und Australien zusammen. Seit Anfang Oktober helfen 256 kubanische Mediziner_innen und Krankenpfleger_innen in Sierra Leone, Liberia und Guinea bei der Eindämmung des Ebola-Virus – nach Angaben der WHO das größte Kontingent an medizinischem Personal eines einzelnen Landes. Ca. 200 weitere Hilfskräfte sollen folgen. „Hoffen wir, dass das Beispiel Kubas hilft, die Furcht vor der Arbeit in Westafrika zu beseitigen. Vielleicht würden die Leute, wenn sie weniger Angst hätten, eher die Herausforderung annehmen und der afrikanischen Bevölkerung medizinische Hilfe leisten“, sagte Dr. José Luis Di Fabio von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (Organización Panamericana de la Salud, OPS).
Sowohl Kubas Präsident Raúl Castro als auch Fidel Castro haben die Bereitschaft ihres Landes zur Zusammenarbeit mit den USA bei der Bekämpfung von Ebola geäußert. „Gern kooperieren wir mit dem US-amerikanischen Personal bei dieser Aufgabe – und das nicht im Bemühen um Frieden zwischen zwei Staaten, die so viele Jahre Kontrahenten gewesen sind, sondern in jedem Fall des Weltfriedens wegen, ein Ziel, das angestrebt werden kann und sollte“, schrieb der mittlerweile 88-jährige Fidel Castro in einer Kolumne, die von der kubanischen Tageszeitung Granma veröffentlicht wurde. Die USA und Kuba unterhalten seit 1961 keine diplomatischen Beziehungen mehr. In dem Artikel versicherte Castro, dass durch die Kooperation mit den Vereinigten Staaten die Ausbreitung des gefährlichen Virus in Lateinamerika verhindert werden könne. Die USA hatten Mitte September entschieden, 4.000 Soldat_innen nach Westafrika zu entsenden, die dort Krankenstationen errichten sollen. Die Vereinigten Staaten waren nach Spanien das zweite nicht-afrikanische Land, in dem Fälle einer Ansteckung mit Ebola bekannt wurden.
Castros Angebot war keineswegs das erste dieser Art. Bereits nach dem Hurricane Katrina, der 2005 New Orleans verwüstete, hatte Kuba den USA angeboten, medizinisches Personal zu schicken. Das war von der damaligen US-Regierung abgelehnt worden. Bei der Bekämpfung der Cholera-Epidemie nach dem Erdbeben in Haiti 2010 haben kubanische und US-amerikanische Teams dann zusammengearbeitet.
Nun bietet ausgerechnet die Ebola-Krise der US-Regierung einen Vorwand für einen pragmatischeren Umgang mit Kuba. Und nach anfänglichem Zögern scheint sie sich genau dazu durchgerungen zu haben. „Wir sind bereit, mit allen zu kooperieren, die in der Region arbeiten, um sicher zu gehen, dass wir auf globaler Ebene eine effiziente Antwort auf das Virus haben“, erklärte Arboleda, Zentralamerika-Direktor der US-Regierungsbehörde „Zentren zur Kontrolle und Prävention von Krankheiten“ (Centers for Disease Control and Prevention, CDC) bei seinem Auftritt in Havanna. „Die Ebola-Epidemie ist von weltweiter Dringlichkeit, daher sind wir bereit unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet mit den kubanischen Missionen und Brigaden und der internationalen Gemeinschaft zu koordinieren“.
Kuba hat eine lange Tradition in ärztlicher und humanitärer Hilfe in Afrika und anderen Teilen der Welt. Seit den 1960er Jahren haben knapp 80.000 kubanische Mediziner_innen in 39 afrikanischen Staaten geholfen. Darüber hinaus exportiert das Land medizinische Dienstleistungen in alle Welt. Mehr als 50.000 kubanische Ärzt_innen und medizinisches Personal arbeiten derzeit in 66 Ländern weltweit, davon knapp die Hälfte in Venezuela. Im Gegenzug liefert Caracas Erdöl nach Kuba. Brasilien wiederum hat mehr als 11.000 kubanische Mediziner_nnen für sein Programm „Mais Médicos“ (Mehr Ärzte) angeworben. Im Rahmen der „Operación Milagro“ (Operation Wunder) führen kubanische Ärzte kostenlose Augenoperationen für Menschen aus Entwicklungsländern durch. Geschädigte des Reaktorunfalls in Tschernobyl werden in Kuba kostenlos behandelt.
Die WHO hat Kubas langfristig angelegtes Engagement wiederholt gelobt und die beeindruckenden Fortschritte Kubas im Gesundheitssektor seit der Revolution herausgestellt. Vor der Revolution im Jahre 1959 gab es auf Kuba kaum 6.000 Ärzt_innen, von denen die Hälfte nach dem Triumph der Revolution das Land verließ. Heute ist die medizinische Versorgung in Kuba kostenlos und die Lebenserwartung sowie die Kindersterblichkeit haben trotz aller Engpässe europäisches Niveau. Das staatliche Gesundheitswesen verfügt nach offiziellen Angaben über rund 77.000 Ärzt_innen, 15.000 Zahnärzt_innen und mehr als 88.000 Krankenpfleger_innen – und das bei einer Bevölkerung von knapp elf Millionen. Kuba gehört damit zu den fünf führenden Staaten mit der höchsten Ärzt_innen-pro-Kopf-Ratio weltweit. Zum Vergleich: In Liberia, das von Ebola am schlimmsten betroffen ist, gab es vor dem Ausbruch der Epidemie gerade einmal 51 Ärzt_innen für mehr als fünf Millionen Menschen.

Ausgleich statt Radikalität

Der 12. Oktober könnte ein Sieg für die Geschichtsbücher gewesen sein. Sollte Evo Morales seine nunmehr dritte Amtszeit zu Ende bringen, wird er 14 Jahre an der Spitze des bolivianischen Staates gestanden haben, länger als jeder Präsident vor ihm. Dazu passend plant Morales ein neues Gebäude für die Inszenierung seiner Macht. Das auf 29 Stockwerke angelegte „Volkshaus“ soll den aktuellen Regierungspalast ersetzen. Dieser wird sich dann in ein „Museum des kolonialen Staats“ verwandeln, ein Beispiel für die üble Vergangenheit, für das alte Bolivien. Die Geschichte des Landes und seines Volkes wird unter der Regierung von Morales neu geschrieben.
Laut der offiziellen Interpretation der historischen Verhältnisse hat Bolivien seit dem ersten Wahlsieg der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Jahr 2006 einen Neuanfang erlebt. Der koloniale Staat liegt in der Vergangenheit. Der „plurinationale“ Staat hat sich durchgesetzt und zwar mit einer Verfassung, die zum ersten Mal seit der spanischen Eroberung die indigenen Völker als gleichberechtigte Subjekte anerkennt und in politische Entscheidungsprozesse mit einbezieht. Morales Alleinstellungsmerkmal in der Geschichte der politischen Repräsentation beruht nicht nur auf seiner ethnischen Identität, sondern auch auf der Tatsache, dass er als erster Präsident aus der Arbeiterklasse kommt.
1982 gelang der bolivianischen Linken erstmals ein Sieg an den Urnen. Begleitet von einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen des 20.Jahrhunderts endete diese Erfahrung schon nach drei Jahren. Damals kontrollierte die Kommunistische Partei drei Ministerien, trotz des Widerstands der amerikanischen Botschaft. Im Kontext des Kalten Krieges war es das Ziel der bolivianischen Linken, das Militär in die Kasernen zurück zu drängen und auf diese Weise die demokratische Grundordnung des Landes wieder herzustellen. Damals war keine Rede vom Sozialismus.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die bolivianische Linke an der Regierungsmacht etabliert. Evo Morales wurde mit einer Wahlbeteiligung von 89 Prozent zum zweiten Mal wiedergewählt. Laut offiziellen Angaben konnte sich seine Partei MAS mit 61 Prozent der Stimmen auch in der kommenden Legislaturperiode 2015 bis 2020 eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses sichern. Die Regierung kann weiterhin jedes ihrer Vorhaben mit den eigenen Stimmen verabschieden. Die beiden stärksten Oppositionsparteien schnitten hingegen wesentlich schlechter ab, die Demokratische Union (UD) erhielt 24 Prozent und die Christdemokraten (PDC) 9 Prozent der Stimmen.
Bereits in ihrem Parteinamen propagiert die Regierungspartei MAS den Weg zum Sozialismus.Der Vizepräsident des Landes, Álvaro García Linera, ist ein ehemaliger Guerrillero, der sich selbst als Kommunist versteht. Porträts von Che Guevara säumen die Wände des Regierungsgebäudes und die Beziehungen zu Kuba und Venezuela sind enger denn je. Ist Boliviens Regierung seit 2006 auf dem Weg, ein sozialistisches Modell zu implementieren?
Nach Meinung der aktuellen Zentren des Kapitalismus ist die klare Antwort ein Nein. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds, ehemalige Erzfeinde Morales‘, haben ihre Sympathie für das bisherige bolivianische Wachstumsmodell gezeigt. Die konservativen Meinungszirkel der USA, vertreten durch die New York Times oder das Wall Street Journal, applaudieren der Politik Morales. Sie sehen durch dessen Form des Sozialismus keine kapitalistischen Interessen gefährdet.
In Bolivien fällt die Antwort auf diese Frage jedoch wesentlich komplexer aus. An den Ergebnissen der letzten Wahl wird die eindeutige Unterstützung der Bevölkerung deutlich, die MAS gewann acht der neun großen Wahlbezirke des Landes. Ihre Wähler_innen konstituieren sich jedoch nicht nur aus den prekarisierten oder indigenen Teilen der Bevölkerung, sondern kommen auch aus den konservativen Regionen des Flachlandes wie Santa Cruz oder Tarija. Die dort ansässigen Großunternehmer_innen machen Gewinne und stabilisieren so die Macht der Regierung, die dabei ist, ein Machtmonopol in der Politik zu etablieren. Vor fünf Jahren war die Opposition der Meinung, die Regierung würde eine kommunistische Revolution in Gang bringen. Heute besteht die Erkenntnis, dass dies in keiner Weise die Absicht ist.
Tatsache ist, dass die Bewegung zum Sozialismus ihren eigenen Weg zur Modernisierung gefunden hat. Anfangs versprach sie, Großgrundbesitz zu enteignen und an die armen Landarbeiter_innen zu verteilen. Auch die Marktreformen der neunziger Jahre sollten rückgängig gemacht werden. Viele fürchteten die Radikalisierung des Klassenkampfes in einem Land, in dessen Geschichte die Gegensätze zwischen Arm und Reich tief verwurzelt sind. Um den damals radikalen Protest abzuschmälern, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte , entschloss sich die Regierung dazu, die Armut zu reduzieren, ohne die Vermögen und Privilegien der Reichen anzurühren. Eine umfangreiche Sozialpolitik hat in den letzten Jahren die Revolution ersetzt. Das hat klare Folgen für die Wahlergebnisse gehabt.
Die zweite große Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, ob die MAS ihre Ideale verraten hat. Hat sie sich an die Machtverhältnisse in der Welt einfach angepasst? Hat sie das Ziel des Sozialismus gegen Stabilität eingetauscht?
Eine der möglichen Antworten ist, dass der durch die positive wirtschaftliche Lage bedingte finanzielle Handlungsspielraum von der Regierung sinnvoll genutzt werden konnte, um soziale Spannungen abzuschwächen. Die neue Mittelschicht, aus der Verteilungspolitik des letzten Jahrzehntes entstanden, wird zunehmend konservativ. In einigen Ländern des Kontinents mit Linksregierung, wie Brasilien, hat sich die neue Mittelschicht von der Regierung distanziert. In Bolivien ist das Gegenteil geschehen, die Ausrichtung der Regierung hat sich geändert. Geschickt hat die bolivianische Linke, ähnlich wie in Uruguay, den veränderten gesellschaftlichen Grundkonsens begleitet und ist mit einem Teil der Bevölkerung zur politischen Mitte gewechselt.
Die bolivianische Gesellschaft wünscht sich den Sozialismus nicht mehr und und die Regierunghat dies rechtzeitig erkannt. Basierend auf dieser Grundstimmung in der Bevölkerung hat sie dann die Wahlkampagne initiiert. Keine Veränderungen mehr, das war die Parole während der aktuellen Wahlperiode. Eine verblüffende Entwicklung, die nur in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie möglich ist.

Abkehr vom Neoliberalismus

Lateinamerika war die erste Region, in der neoliberale Ökonom_innen ihre Patentrezepte vom Rückzug des Staates aus der Wirtschaft durchsetzten. Nach dem Putsch gegen die sozialistische Regierung unter Salvador Allende in Chile 1973 breitete sich die neoliberale Politik bis in die 1980er Jahre in fast allen Ländern des Subkontinents aus. Bekanntlich brachte dieses Experiment nur vergleichsweise wenigen Menschen Reichtum und Wohlstand. Seit der Jahrtausendwende wählten die Bevölkerungen in den meisten lateinamerikanischen Ländern neoliberale Regierungen wieder ab. Dabei wurden sie häufig von sozialen Bewegungen unterstützt. Einen neoliberalen Rollback gab es bisher nur in vereinzelten Fällen, zum Beispiel in Honduras nach dem Putsch 2009.
Dieter Boris ist hierzulande einer der profiliertesten Lateinamerikaexperten. Er sieht im Aufschwung linker Regierungen „eine einmalige historische Konstellation, die es in Lateinamerika seit der politischen Unabhängigkeit vor circa 200 Jahren noch nicht gegeben hat“. Erstaunlich genug, dass sich Publikationen im deutschsprachigen Raum zwar häufig mit einzelnen Ländern, jedoch kaum mit übergreifenden Fragestellungen beschäftigen.
Mit Bolívars Erben legt der emeritierte Marburger Soziologie-Professor nun einen Überblick über Linksregierungen in Lateinamerika vor. Dabei geht es ihm nicht darum, die politische Situation der einzelnen Länder, denen trotz gehöriger Unterschiede jeweils das Label „Linksregierung“ anhaftet, nacheinander zu diskutieren. Vielmehr widmet er sich den größeren Zusammenhängen und bezieht die südliche Region Cono Sur sowie die am weitesten links stehenden Länder Bolivien, Ecuador und Venezuela verstärkt in die Analyse mit ein. Boris beschreibt in mehreren Aufsätzen die Bedingungen und den politischen Kontext für die Abwahl neoliberaler Regierungen, die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Veränderungen der Sozialstrukturen und den Kampf um Hegemonie am Beispiel der Medienpolitik. Grundlegende theoretische Fragestellungen diskutiert er in einem Kapitel über die Rolle des Staates in Transformationsprozessen.
Wie erfolgreich die von den neuen Regierungen propagierte Abkehr vom Neoliberalismus ist und wie sinnvoll die Ansätze in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind, darüber herrscht auch innerhalb der linken Debatte Uneinigkeit. Man muss nicht im Einzelnen mit Boris´Positionen einverstanden sein, etwa wie er staatskritische Ansätze wie jene der mexikanischen Zapatistas als einigermaßen naiv abtut. Auch wendet sich Boris gegen linke Regierungskritiker_innen, die die anhaltende Fokussierung auf Rohstoffexporte in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen.
Aber der Autor argumentiert von einigen Spitzen abgesehen klug und legt die Errungenschaften und Grenzen der linken Projekte seriös dar. Ihm unterläuft nicht der verbreitete Fehler, die progressiven Diskurse mancher Regierungen von deren konkreter Politik losgelöst zu betrachten und hochzujubeln. Ebenso wenig erklärt er deren Politiken für gescheitert, nur weil sie bisher kein grundlegend anderes Wirtschaftsmodell etabliert haben. Mit seinem Buch leistet Dieter Boris einen wichtigen Beitrag zu der Frage, wie linke Politik in der Praxis aussehen kann und welchen Herausforderungen sie gegenübersteht. Für die weitere Debatte ist das ein großer Gewinn.

Dieter Boris // Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika // PappyRossa Verlag // Köln 2014 // 204 Seiten // 14,90 Euro // www.papyrossa.de

„Wir sind es, die die Stadt erbauen“

„Und dann haben wir das Büro des Zentrum Simón Bolívar (städtisches Unternehmen für Stadtentwicklung; Anm. d. Red.) besetzt, bis wir den Besitztitel für das Gelände bekommen haben!“ Die 26-jährige Nathaly Lemus hat eine Tochter, arbeitet und macht eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Zusammen mit 80 anderen Familien baut sie kollektiv ein Haus. Nathaly ist Mitglied des Movimiento de Pioner@s (Bewegung der Pioniere), der Teil des Movimiento de Pobladores (Bewegung der Bevölkernden) ist. Dieser wurde 2002 als Plattform von verschiedenen Recht-auf-Stadt-Bewegungen in Venezuela gegründet. „Die Menschen wohnten zur Miete, wurden zwangsgeräumt und es gab kein Gesetz, das sie schützte. Deshalb wurde die Bewegung der Bevölkernden gegründet“, erklärt Nathaly. An diese Plattform angebunden ist die Bewegung der Pioniere, in der sich an den Stadtrand Verdrängte und Landlose organisieren, um sich städtischen Raum wieder anzueignen.
Das Ziel der Bewegung der Pioniere ist, selbstverwalteten Wohnraum in kollektivem Besitz zu schaffen – so wie im Campamento Kai Kashi in der Hauptstadt Caracas. Nathaly beschreibt, wie es zur Besetzung des Geländes im Viertel La Vega im Jahr 2011 kam: „Wir haben im Katasteramt nachgeguckt, dass das Gelände der Stadt gehörte und der vermeintliche Besitzer das Gelände sehr billig gemietet hat.“ Eigentlich gab es einen Bebauungsplan, aber das Gelände wurde als Depot und als Parkplatz für Lieferwagen genutzt. Zunächst besetzte die Bewegung der Pioniere das Gelände und suchte für die Lieferwagen einen anderen Parkplatz. Daraufhin folgte die Besetzung des städtischen Zentrum Bolívar. „Es war kein leichter Kampf“ zwischen vulnerabler Bevölkerung auf der einen und dem Mieter und der Stadt auf der anderen Seite.
Der Besitz kollektiver Eigentumstitel ist der große Erfolg, davor baut die Bewegung nicht. Denn nur so ist sicherer Wohnraum garantiert. Niemand kann mehr geräumt werden und alle sind verantwortlich für die Wohnungen. In Venezuela gibt es ein Gesetz, dass die Vergesellschaftung von schlecht genutzten oder brachliegenden Flächen ermöglicht. Unter Beteiligung der Nachbarschaft kann kommerziell genutztes Gelände kollektiviert und für soziale Zwecke genutzt werden. Solche Flächen können enteignet werden, sogar ohne dass der Staat Entschädigungen zahlen muss.
Auch das Campamento Kai Kashi wurde so enteignet, auf dem auch Jorge Sierra Machado wohnt. Der 23-Jährige ist Vater von zwei Söhnen, studiert Politik- und Verwaltungswissenschaften und ist wie Nathaly ebenfalls Pionier von Kai Kashi. Kai Kashi bedeutet in der Sprache der Wayúu (Indigene in Kolumbien und Venezuela; Anm. der Red.) „Sonne und Mond“. 80 Familien, etwa 450 Personen, werden gemeinsam in diesem zukünftigen Wohnkomplex leben. „Wir sind keine Wohnungsbewegung. Wir konstruieren Bewusstsein, Gemeinschaft, Organisation und Sozialismus!“, erklärt Jorge das Projekt.
In Caracas gibt es insgesamt 15, auf nationaler Ebene 46 Campamentos. Noch mehr warten auf Genehmigung, erst eines der Projekte ist komplett abgeschlossen. Alle anderen befinden sich noch im Bau, auch wenn einige Häuser teilweise schon bewohnt werden. „Der staatliche Fond für Territorien leiht uns das für den Bau notwendige Geld. Später zahlen wir es zurück, damit auch andere Familien davon profitieren können“, so Jorge, und nennt als Ziel: „eine sozialistische Gemeinschaft“. Dazu gehört, dass die Bewegung der Bevölkernden selbstverwaltet ihre Stadt aufbaut. Laut Jorge lässt der Staat Häuser von schlechter Qualität bauen. Es werde viel Geld an private Unternehmen gegeben: „Wir haben schlechte Häuser, die Unternehmen das Geld“, resümiert er. Das staatliche Programm Große Mission des Wohnungsbaus sei eine Politik des Assistenzialismus, also eine Politik kurzfristiger, karitativer Leistungen statt langfristieger, emanzipatorischer Alternativen für die armen Bevölkerungsgruppen. Aber immerhin habe die alltägliche Politik von Chávez die Bevölkerung ermutigt, für ihre Rechte einzutreten. „Wir sind es, die die Stadt erbauen. Es ist notwendig, für das Recht auf Stadt zu kämpfen“, sagt Jorge.
Die Menschen kommen aber in der Regel nicht politisiert zur Bewegung der Pioniere, sondern weil sie eine Wohnung brauchen. Jeden Samstag findet ein Plenum statt, das die Beteiligten zu einer Gruppe zusammenwachsen lässt. Außerdem gibt es Versammlungen mit Delegierten aus jeder Familie zur Selbstorganisierung und auch politische Treffen. „Die größte Politisierung findet in der Bewegung statt, durch die Versammlungen“, meint Jorge. Nathaly erklärt zum Umgang mit Konflikten: „Zentral ist, die Unterschiede beiseite zu lassen und uns wegen dem zu treffen, was uns verbindet“.
So entstehen im Campamento Kai Kashi nicht nur Wohnungen. Am anliegenden Hang gibt es auch eine Anbaufläche. Durch die eigene Produktion von Lebensmitteln wollen die Bewohner_innen unabhängiger von Marken sein, zudem ist es günstiger. „So können wir entscheiden, was unsere Grundbedürfnisse sind, was wir brauchen und konsumieren nicht das, was uns die Firmen vorsetzen“, erläutert Nathaly. In Kai Kashi sollen später zum Beispiel auch Geschäfte und ein Kindergarten entstehen.
Ein weiterer Bewusstseinswandel lässt sich mit Hinblick auf die Geschlechterrollen beobachten: „Wenn es an die Arbeit auf der Baustelle geht, arbeiten wir genauso wie die Männer!“meint Nathaly. „Durch die Arbeit im Campamento haben die Leute gelernt, die kämpferische Frau wertzuschätzen.“ Jorge ergänzt: „In der Bewegung lernen Männer, die Frauen für andere Fähigkeiten anzuerkennen.“ Wenn die Männer sähen, dass eine Frau auch Ziegelsteine tragen könne, würden sie merken, dass sie selbst auch Geschirr spülen könnten. Das gemeinsame Essen kochen jetzt auch Männer. „Es gibt einen kleinen Wettbewerb zwischen den Frauen und den Männern, wer leckereres Essen zubereitet. Aber es ist ein gesundes Wettstreiten“, findet Jorge.
Nathaly und Jorge haben den Eindruck, dass in Deutschland die Menschen darauf warten, dass die Regierung die Straßen in Stand setzt. In Venezuela sei das anders, dort seien die Menschen politisiert. In den 15 Jahren Bolivarischer Revolution habe sich in der Stadt schon viel verändert, wie Jorge erläutert. „Früher gab es im Zentrum nur private Parks, es gab keine öffentlichen Plätze. Jetzt gehen wir Armen ins Zentrum von Caracas, wir sind überall, fordern das Recht auf Stadt. Und es gibt immer mehr Zugang!“
Deshalb wollen die Aktivist_innen, dass das, was die Bewegung der Pioniere durchführt, nicht eine persönliche Erfahrung bleibt. Sie verbinden es mit der politischen Forderung, dass es Gesetze gibt, die die erkämpfte Sicherheit garantieren und der Staat eine entsprechende Politik macht. Die Aktivist_innen wünschen sich, dass die Nachbar_innen des Campamentos Kai Kashi und der anderen Campamentos in Venezuela sehen, was sie durch die Selbstorganisation erreicht haben. Dass es bislang unpolitische Nachbar_innen motiviert, sich auch zu organisieren und sich so Stück für Stück die Stadt verändert.

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