KONTINENTALES BEBEN

Leviathan – das biblische Monster aus den Tiefen des Meeres: Einen besseren Namen für die Untersuchungsoperation hätten sich die Ermittler*innen kaum ausdenken können. Am 18. Februar dieses Jahres begann die brasilianische Bundespolizei erneut, Büros und Privatwohnungen von Politiker*innen zu untersuchen. Diesmal ging es um Schmiergeldzahlungen des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht im Zusammenhang mit dem Bau des umstrittenen Projekts Belo Monte. Das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt am Xingu-Fluss mitten in Amazonien wird von Kritiker*innen als „Belo Monstro“ – „Schönes Monster“ – bezeichnet. Und tatsächlich liegt das Bauwerk im Flusslauf des Xingu wie ein gestrandetes Meeresungeheuer.

Nach Aussagen der Ermittler*innen sollen ein Prozent der etwa 8,5 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten des Baus in die Kassen von Parteien geflossen sein. Um welche Parteien es sich handelte, wurde nicht erwähnt. Vermutlich handelt es sich aber um die rechtskonservative PMDB, der der aktuelle Präsident Michel Temer angehört, und um die linke Arbeiterpartei PT, an deren Vorgängerregierung Temer als Vizepräsident ebenfalls beteiligt war.

Leviathan ist die jüngste Ermittlung, die aus der Operation Lava Jato – deutsch für „Autowaschanlage“ – erwachsen ist. Lava Jato begann vor zwei Jahren und elf Monaten und brachte schon einigen Politiker*innen massive Probleme — wie im Fall des ehemaligen Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral. Unter anderem weil er Bestechungsgelder von Odebrecht im Zusammenhang mit der Renovierung des Fußballstadiums Maracanã angenommen hat, sitzt Cabral derzeit im Gefängnis. Die öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen trugen auch zur umstrittenen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff bei, obwohl ihr bislang keine Beteiligung an den kriminellen Machenschaften nachgewiesen werden konnte. Zunächst ging es bei Lava Jato nur um die Veruntreuung von Geldern des staatlichen brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras für die Wahlkampfkassen von brasilianische Parteien. Doch je weiter die Ermittler*innen bohrten, desto mehr kam zum Vorschein. Schnell ging es auch um den Baukonzern Odebrecht und der Skandal zog  internationale Kreise.
Da die Schmiergeldzahlungen unter anderem über die Schweiz und die USA liefen, klagten die beiden Länder vor einem New Yorker Gericht gegen Odebrecht. Im vergangenen Dezember stimmte das Unternehmen einer Strafe von 3,5 Milliarden Dollar zu, der höchsten Summe, die je in solch einem Fall gezahlt wurde. Odebrecht hatte vor  Gericht zugegeben, in den Jahren von 2001 bis 2014 etwa 788 Millionen US-Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Lateinamerikas und Afrikas gezahlt zu haben, um an öffentliche Aufträge zu kommen. Seitdem kommen die Ermittlungen nicht mehr zur Ruhe.

In der Dominikanischen Republik wurden die Büroräume von Odebrecht durchsucht. In Venezuela fror die Justiz Ende Februar die Konten des Unternehmens ein, auch hier hatten Militärs Büroräume durchsucht. Der Präsident Panamas, Juan Carlos Varela, soll ebenfalls Bestechungsgelder der Firma entgegengenommen haben. In Kolumbien wurde der ehemalige Vizeminister für Transportwesen, Gabriel García Morales, verhaftet, weil er gegen Schmiergelder den Auftrag für den Bau einer Überlandstraße an Odebrecht vergeben haben soll.
Viele Politiker*innen versuchen, die Odebrecht-Aussagen zu nutzen, um ihren politischen Gegner*innen zu schaden. In Ecuador, wo am 21. Februar die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfand, versuchte die Opposition die Anschuldigungen gegen die Regierung zu verwenden, um dem Kandidaten von Präsident Rafael Correa zu schaden. In Venezuela, wo die Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung sich in den letzten Monaten massiv zugespitzt hatten, versucht die Regierung den Skandal für sich zu nutzen. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro hatte Mitte Februar erklärt: „Ein Gouverneur hat Geld von Odebrecht angenommen und dafür wird er ins Gefängnis gehen!“ Die Anschuldigungen gingen in Richtung des Oppositionsführers und Gouverneurs des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, der die Vorwürfe von sich wies.

Tatsächlich erstrecken sich die Vorwürfe über alle politischen Lager hinweg. Offenbar zahlte Odebrecht in die Wahlkampfkassen sowohl linker als auch rechter Politiker*innen, um danach eine Bevorzugung bei der Vergabe von Aufträgen zu erhalten. In Argentinien gibt es Hinweise, dass Odebrecht korrupte Verbindungen sowohl zu den linken Ex-Präsidenten Néstor und Cristina Kirchner als auch zum rechten Präsidenten Marcelo Macri unterhielt.
Der spektakulärste Fall des Odebrecht-Skandals ist sicher Peru. Praktisch alle Präsidenten, die das Land von 2001 bis 2016 regiert haben, sollen von Odebrecht bestochen worden sein. Gegen den Ex-Präsidenten Alejandro Toledo (2001-2006) ist ein internationaler Haftbefehl ausgesetzt, er soll 20 Millionen Dollar erhalten haben und dafür den Auftrag für den Bau der „Interozeanischen Straße Süd“ zwischen Peru und Brasilien an Odebrecht vergeben haben. Toledos derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.

Um das ganze Ausmaß des Skandals zu erfassen, wollen die Staatsanwaltschaften der betroffenen Länder bei den Ermittlungen zusammenarbeiten. Am 18. und 19. Februar trafen sich in Brasília Generalstaatsanwält*innen aus 15 Ländern, mehrheitlich aus Lateinamerika und Afrika, um sich über ihren jeweiligen Untersuchungsstand auszutauschen. Zehn Staaten unterschrieben ein Abkommen, das unter anderem internationale Ermittler*innenteams vorsieht. Es ist die größte internationale juristische Kooperation, die je zu einem Korruptionsfall  in Lateinamerika stattfand.

Die Zusammenarbeit wird wohl auch nötig werden, denn das komplizierte Netz von Odebrechts Zahlungen zu entflechten, wird eine schwierige Aufgabe. Mehrere Briefkastenfirmen und Banken in Steuerparadiesen waren dabei involviert. Das Unternehmen ging so weit, eine Bank auf Antigua und Barbados aufzukaufen, um Zahlungen abzuwickeln. Die panamaischen Behörden ermitteln in diesem Zusammenhang auch gegen die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca, die schon bei der Veröffentlichung der Panama Papers eine Hauptrolle spielte.
Als Hauptplaner dieses kriminellen Netzwerks wird der Firmenchef und Gründererbe, Marcelo Odebrecht selbst, angesehen. Im vergangenen Jahr ist er in Brasilien zu 19 Jahren Haft wegen Bestechung, Geldwäsche und anderer Delikte verurteilt worden. Durch seine Kooperation mit der Justiz wird er seine Strafe vermutlich halbieren können, zudem wird wohl ein Teil in offenen Vollzug umgewandelt. Insgesamt haben 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht im Rahmen von Kronzeug*innenregelungen ausgesagt. Mehrere Medien warnen davor, die Anschuldigungen der Ex-Odebrecht Manager*innen zu ernst zu nehmen: Schließlich beschuldigten da Kriminelle andere, um ihre eigene Haut zu retten.

Bislang unterliegen die Aussagen der Ex-Manager*innen noch der Geheimhaltung, da es um laufende Ermittlungen geht. Nur tröpfchenweise kommen Gerüchte zutage. Viele Politiker*innen – insbesondere die von den Anschuldigungen betroffenen – verlangen nun, dass die Geheimhaltung aufgehoben wird: Die kleinen Nadelstiche schaden mehr, als die Explosion einer großen Bombe. Vor allem können sie wohl besser an ihrer Verteidigung arbeiten, wenn sie wissen, was ihnen vorgeworfen wird.

Die Opposition in Brasilien glaubt, dass die Regierung nun bei ihrer Verteidigung gegen ein drohendes Odebrechtbeben ein gutes Stück vorangekommen ist. Am 22. Februar wurde Alexandre de Moraes als neues Mitglied des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Michel Temer hat den ehemaligen Justizminister und Ex-Mitglied der PMDB als Nachfolger für den im Januar tödlich verunglückten obersten Richter Teori Zavasci bestimmt (siehe LN 512). Zavasci war für die Beurteilung der Aussagen der 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht zuständig. Nun glauben Regierungskritiker*innen, dass die Regierung mit Moraes einen Vertrauensmann in das Gericht gehievt hat, um der politischen Klasse die Schlinge aus dem Hals zu ziehen. Andererseits sind die Ermittlungen und Enthüllungen bereits so fortgeschritten, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass die alten Eliten so korrupt weiter regieren können wie bisher. In der Dominikanischen Republik gab es im Januar bereits Massenproteste, die ein Ende der Straflosigkeit in dem Korruptionsskandal verlangten.

Vielleicht hat der Fall des Bauriesen also positive Folgen für die Region. In einen Kommentar für die brasilianische Zeitung Estadão schrieb der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ironisch, man müsse vielleicht in ein paar Jahren ein Denkmal für Odebrecht errichten: Schließlich hätten die Aussagen der Manager*innen das in Lateinamerika so virulente System Korruption zu Fall gebracht.
Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob der Odebrecht-Skandal wirklich zu tiefgreifenden politischen Veränderungen führt. Aber der Skandal zeigt deutlich, wie die lateinamerikanischen Demokratien von finanziell potenten Privatinteressen untergraben werden.

Der peruanische Anthropologe und Amazonienexperte Alberto Chirif weist darauf hin, dass viele Bauprojekte, an denen Odebrecht und geschmierte Politiker*innen verdient haben, womöglich nur aufgrund der korrupten Machenschaften beschlossen wurden. Als Beispiel nennt er die erwähnte Interozeanische Straße-Süd in Peru. Als das Projekt 2005 beschlossen wurde, hieß es, es würde den Handel zwischen Brasilien und Peru beleben. Doch sechs Jahre nach der Eröffnung der Straße sieht die Realität anders aus: Kaum ein brasilianisches Unternehmen nutzt die relativ schmale Straße, die mehr als 5.000 Höhenmeter überwindet. Das Projekt war ein absoluter Fehlschlag. In einem Kommentar für das Nachrichtenportal SERVINDI schreibt Chirif, dass dies den politischen Entscheidungsträgern um Präsident Toledo schon vorher klar war. Sie hätten bewusst gelogen, weil sie von Odebrecht geschmiert wurden: „Das eigentliche Ziel, das mit der Straße erreicht werden sollte, war allein ihr Bau.“ Laut Chirif ging es von Anfang an nur darum, öffentliche Gelder zu privatisieren. Die beteiligten Politiker*innen machten sich zu Kompliz*innen, da ihre eigenen Wahlerfolge von den Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns abhingen.

Und auch beim Bau des „Schönen Monsters“ Belo Monte mag eine ähnliche Motivation eine Rolle gespielt haben. Gegen den Bau sind insgesamt 25 Klagen anhängig, zahlreiche Gesetze zum Schutz von indigenen Gemeinschaften und der Umwelt wurden missachtet. Doch der Bau wurde immer wieder von der Exekutive mit dem Verweis auf „nationale Interessen“ gegen die Judikative durchgesetzt. Das Ausmaß der Schmiergeldzahlungen wirft nun die Frage in den Raum, in wessen Interesse die Regierung damals agierte: in dem der Bevölkerung oder in dem der beteiligten Konzerne?


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KEINE LÖSUNG IN SICHT

Wer in Venezuela einkaufen geht, muss mittlerweile jede Menge Geduld mitbringen. Alternativen sind entweder, viel Zeit in einer Schlange zu verbringen oder rare Produkte zu horrenden Preisen auf dem informellen Markt zu erwerben. Schon um sich mit dem Nötigsten einzudecken, musste man zuletzt derart große Stapel an Geldscheinen auf den Tisch legen, dass laut Medienberichten manche Geschäfte bereits dazu übergegangen sind, das Papier zu wiegen, anstatt es zu zählen.
Für alle Venezolaner*innen, die mit Bargeld hantieren, ist es an sich also eine erfreuliche Nachricht, dass ab Mitte Dezember nach und nach neue Banknoten im Wert zwischen 500 und 20.000 Bolívares in Umlauf kommen sollen. Vor allem aber offenbaren die neuen Scheine den rasanten Wertverlust der Landeswährung. Nachdem sich der ohnehin schon hohe Schwarzmarktkurs in den vergangenen drei Monaten auf mehr als 4.100 Bolívares pro US-Dollar verdreifacht hat, entsprach die mit 100 Bolívares bisher höchste Banknote zuletzt umgerechnet gerade einmal noch 0,02 Dollar. Der niedrigste offizielle Kurs lag bei etwa 660 Bolívares pro Dollar.
Für das laufende Jahr rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einer Teuerungsrate von 700 Prozent und einer Schrumpfung der Wirtschaft um zehn Prozent. Selbst in den wirtschaftspolitisch neoliberalen und chaotischen 1990er Jahren hatte die Inflation in Venezuela nicht wesentlich über 100 Prozent gelegen. Eine Lösung für die strukturellen Probleme der venezolanischen Wirtschaft, ist durch die Ausgabe höherer Scheine aber ohnehin nicht zu erwarten: Sie hängt am Erdöltopf und ist durch festgelegte Wechselkurse und Preiskontrollen geprägt.
Laut Umfragen sieht die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile keinen anderen Ausweg aus der Krise als einen Regierungswechsel. Nachdem im Oktober das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum gegen Präsident Nicolás Maduro gerichtlich gestoppt wurde (siehe LN 510), setzten viele Venezolaner*innen ihre Hoffnungen in den Mitte November begonnenen Dialog zwischen Regierung und Opposition. Doch dieser liegt bereits nach wenigen Wochen schon wieder auf Eis. „Wir werden uns in keine weitere Sitzung begeben, bevor es nicht Ergebnisse gibt“, stellte Jesús Torrealba, der Generalsekretär des rechten Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) am 7. Dezember klar. Einen Tag zuvor hätten eigentlich weitere Gespräche stattfinden sollen.
Bei den beiden ersten Treffen am 11. und 12. November hatten Vertreter*innen der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und des MUD unter maßgeblicher Vermittlung des Vatikans eine Reihe von Übereinkünften erzielt. Demnach wollen die politischen Kontrahent*innen zusammenarbeiten, um die „Sabotage“ der venezolanischen Wirtschaft zu beenden und die Versorgungslage mit Lebensmitteln und Medikamenten zu verbessern. Die juristische Blockade der oppositionell dominierten Nationalversammlung soll überwunden werden. Dazu soll das Parlament die drei rechtswidrig vereidigten Abgeordneten, aus dem Bundesstaat Amazonas, wegen denen das Parlament nicht arbeiten kann, wieder ausgliedern. Ihnen war im Rahmen der Parlamentswahl im vergangenen Dezember Stimmenkauf vorgeworfen worden. Zudem wollen Regierung und Opposition sich gemeinsam über die Wahl von zwei der fünf Rektoren des Nationalen Wahlrates (CNE) verständigen, deren Amtszeit Anfang Dezember endete. Die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit in der Nationalver-*sammlung erreicht die Opposition ohne die drei Abgeordneten aus dem Staat Amazonas nicht. Laut dem MUD habe man sich zudem auf die Freilassung politischer Gefangener geeinigt und über die Forderung nach einem Abberufungsreferendum sowie möglichen Neuwahlen gesprochen. Beides streitet die Regierung allerdings ab.
Zwar haben die drei Abgeordneten mittlerweile tatsächlich zugestimmt, zurückzutreten. Das Oberste Gericht (TSJ) besteht aber auf die korrekte Einhaltung der Formalitäten innerhalb der Nationalversammlung, die für den Schritt vorgesehen sind. Somit bleibt es vorerst dabei, dass sich die politischen Gewalten gegenseitig nicht anerkennen. Auch die verbalen Angriffe dauern unvermindert an und lassen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Dialogs aufkommen.
Dass sich die Opposition so schnell wieder aus den Gesprächen zurückzieht, liegt aber auch daran, dass der Dialog intern hochumstritten ist. Voluntad Popular, die nach dem letzten Wahlergebnis viertgrößte Partei des MUD, lehnt jegliche Gespräche mit der Regierung ab. Unmittelbar nach Beginn des Dialogs bekräftigte die Partei des seit 2014 inhaftierten populären Politikers Leopoldo López, dass „einzig die Straßen und die Verteidigung der Verfassung durch die Nationalversammlung die Bedingungen schaffen werden, kurzfristig einen wirklichen Wandel zu erreichen“. Auch zahlreiche kleinere Parteien und Akteur*innen stellten sich gegen den Dialog und kritisierten, dass bei den ersten Treffen kein konkreter Wahltermin ausgehandelt wurde.
Offensichtlich krankt der Dialog schon an den unterschiedlichen Erwartungshaltung: Vielen der Regierungsgegner*innen geht es allein um einen baldigen Regierungswechsel. Die Regierung Maduro spielt hingegen auf Zeit, um sich bis zu den nächsten regulären Präsidentschaftswahlen im Dezember 2018 an der Macht zu halten. „Wir bleiben ganz 2017 und 2018 am Dialogtisch“, erklärte der Präsident Ende November.
Bisher hat die Opposition durch den Dialog tatsächlich nichts gewonnen. Solange die Regierungsgegner*innen in der Frage, wie ein Regierungswechsel zu erreichen ist, gespalten sind, hat die Regierung von dieser Seite keinen wachsenden Druck der Straße zu befürchten. Dabei reißen die schlechten Nachrichten nicht ab: Der Erdölpreis ist nach wie vor zu niedrig, um die staatlichen Ausgaben zu decken. Zwei Neffen von Cilia Flores, der Frau von Präsident Maduro, wurden im November in den USA wegen Drogenschmuggels schuldig gesprochen und belasten die venezolanische Regierung in Sachen Drogenhandel schwer. Und nicht zuletzt gerät die sogenannte Operation zur Befreiung der Bevölkerung (OLP), mit der die Regierung seit Mitte 2015 gegen das organisierte Verbrechen vorgeht, wegen extralegaler Tötungen immer wieder negativ in die Schlagzeilen. Zuletzt erschossen Militärs bei einem Einsatz in Barlovento im nördlichen Bundesstaat Miranda zwölf Jugendliche unter ungeklärten Umständen und verscharrten sie in Massengräbern.
Innerhalb Lateinamerikas ist die Regierung Maduro zudem immer isolierter. Der Gemeinsame Markt des Südens (Mercosur), dessen beide gewichtigste Mitgliedsstaaten Argentinien und Brasilien mittlerweile rechte Regierungen haben, schloss Venezuela Anfang Dezember vorläufig aus. Als Begründung hieß es, das Land habe bisher zu wenige der gemeinsamen Bestimmungen umgesetzt. Sollte der Dialog nun tatsächlich scheitern, könnte der rechte Flügel der Opposition Auftrieb erhalten. Für das Jahr 2017 verheißt das nichts Gutes für Venezuela.


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EIN SONNTAG WIE JEDER ANDERE

Es ist der sechste November, Präsidentschaftswahlen in Nicaragua: Die Straßen Nueva Guineas, der kleinen Bauernprovinz im Osten des Landes, sind wie jeden Sonntag nahezu leer gefegt. Am Morgen sieht man hier und da fein angezogene Menschen auf dem Weg zum Gottesdienst. Man verbringt den Tag zu Hause, lässt die Woche gemütlich im Kreise der Familie ausklingen, erledigt Hausarbeiten. Zur Wahl gehen? Lohnt nicht des Gangs; das Ergebnis ist schon lange bekannt.
Und wenige Tage später ist es dann Gewissheit. Der 70-jährige Ex-Guerillero Daniel Ortega wird seine dritte Amtszeit in Folge antreten: gewählt mit 71,3Prozent der Stimmen. Die eigentliche Nachricht ist eine andere. Die Wahlbeteiligung ist mit knapp über 65 Prozent eine der niedrigsten seit Jahrzehnten – und das selbst nach den offiziellen Zahlen des Wahlrates. Ob diese stimmen, darf angezweifelt werden. Die Wahllokale waren in den meisten Teilen des Landes ebenso leer wie in Nueva Guinea, das konnten selbst die staatlichen Medien nicht verbergen. Wie viele der 3,8 Millionen Wahlberechtigten wirklich ihre Stimme abgegeben haben, bleibt ungewiss; die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien schätzten gerade einmal 28 Prozent.

Revolutionsmüdes Nicaragua: Zur Wahl gehen lohnt sich nicht (Foto: Hermann Kuemmel)

Es scheint, als habe die Opposition, die im Vorhinein von den Wahlen ausgeschlossen worden war (s. LN 507/508), mit der Kampagne “¡No hay por quien – ni para que – votar! – es gibt niemanden und für nichts zu wählen!” Erfolg gehabt.
Dabei hatte die Regierung die Anzahl der Wahlurnen gekürzt, sodass sich Schlangen vor den Lokalen bilden würden. Nicht einmal dafür reichte die Beteiligung. Internationale Beobachter*innen wurden von der Wahl verbannt. Verschiedene Organisationen allerdings, unter anderem  der einzige regierungskritische Fernsehkanal Kanal 12 schickte eigene „Wahlbeobachter“ ins Rennen, die versuchten, verdeckt mit Fotos und Videos vom Geschehen in den Wahlkammern und auf der Straße zu berichten.
„Man gab mir 200 Córdoba für Benzin, damit ich den Tag durch die Stadt fahren kann. Mein Bruder wurde gebeten, reinzugehen und die Situation drinnen festzuhalten”, berichtet Danny Rivera, erklärter Nichtwähler und am Wahltag im Auftrag von Kanal 12 unterwegs. Er will die Farce dokumentieren.
Andere Töne schlug währenddessen Ex-Präsident Paraguays, Fernando Lugo, an, der sich zu Zeit der Wahl in Nicaragua aufhielt: „Ich kenne keine Wahl, bei der man mit einer Wahlbeteiligung von 100 Prozent rechnet. Wir sehen, die Wahlen in Nicaragua sind demokratisch und legitim. Sechs Kandidaten zur Präsidentschaft, das spricht von einer pluralistischen Demokratie.” Lugo bezog sich auf die verbliebenen Parteien, die allesamt mit Ortega paktieren.
Was Lugo nicht sieht, ist offensichtlich: Die Demokratie in Nicaragua scheint schwer angeschlagen. Dabei war es sogar ein Erfolg, dass dieses Jahr überhaupt fristgerecht gewählt wurde. Im Frühjahr machten Gerüchte die Runde, Ortega wolle gar keine Wahlen durchführen – aufgrund der Unruhen wegen des geplanten Kanals. Als sich im Mai des Wahljahres die Einleitung der Wahlkampagne des Präsidenten verzögerte, mehrten sich die Befürchtungen. Um den stockenden Kanalbau wurde es ruhiger – Wahlen fanden statt.
Und damit gibt es eine zweite Gewissheit. Der Ortega-Clan wird weiter an der Macht bleiben, Ende unabsehbar. Von Daniel Ortega heißt es, er sei mittlerweile schwer krank. Sollte er die Amtszeit nicht überstehen, übernimmt seine Frau das Ruder. Rosario Murillo ist nun Vizepräsidentin.
Damit ist das Land längst tief im Orteguismus angekommen – der einstige Sandinismus ist längst verblasst. Seit der Wahlniederlage Ortegas 1990 haben sich die meisten der alten Weggefährten abgewandt. Prominente Namen wie Ernesto Cardenal, Sergio Ramirez oder auch die Schriftstellerin Gioconda Belli.
Auch breite Bevölkerungsschichten kehrten Ortegas FSLN den Rücken. Geblieben ist eine stabile Wählerbasis von ungefähr 35 Prozent. Die Zahl ist in Nicaragua zu einem Symbol der politischen Wendigkeit Ortegas geworden.
Sein größter Schachzug war sein Pakt mit dem Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán (1997-2002). Im Jahr 1999 einigten sich die Chefs der eigentlich konkurrierenden Parteien darauf, die Posten im obersten Gericht und dem Wahlrat unter ihren Leuten aufzuteilen. Durch eine Verfassungsänderung reichten fortan eine Mehrheit von 35 Prozent der Stimmen, um das Amt des Präsidenten zu übernehmen. Im gleichen Zug wurde dem scheidenden Präsidenten ein Sitz im Parlament garantiert – damit war die Immunität gesichert, ein wichtiger Punkt für Alemán, dessen Korruption allseits bekannt war.
2006 kehrte Ortega schließlich mit 37,9 Prozent in das wichtigste Amt des Landes zurück. Seitdem hat er alle Vorkehrungen getroffen, um nicht noch einmal vom Thron gestoßen zu werden. Mit der katholischen Kirche und ihrem wichtigsten Vertreter im Land, dem Erzbischof von Managua Miguel Obando y Bravo, versöhnte sich Ortega. Für die politische Unterstützung der Kirche gab es im Gegenzug eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze des Kontinents.
Nach der umstrittenen Wahl 2011 änderte Ortegas FSLN mit einer Zweidrittelmehrheit die Verfassung, so dass die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Wahlperioden aufgehoben wurde. Ortegas Machtbasis ist noch viel weiter gestrickt. Seine Söhne Maurice, Daniel und Juan Carlos kontrollieren den staatlichen TV-Kanal 6 und mehrere Privatsender. Sein Sohn Rafael ist Vorsitzender der staatlichen Erdölgesellschaft und Laureano, ebenfalls ein Sohn des Präsidenten, leitet die Behörde ProNicaragua, über die alle ausländischen Investitionen laufen. Als Präsidentenberaterinnen fungieren die Töchter Luciana und Camila.
„Es ist, als wäre die Zeit nicht vorangeschritten; die Szenerie ist dieselbe, das was sich änderte sind die Namen der Figuren, aber das Spektakel bleibt dasselbe”, sagt Luis Sánchez Sancho, Mitglied der antiautoritären „Gruppe der 27″, die sich 1974 gegen Diktator Somoza, 2016 gegen Präsident Ortega stellen.
Für Ortegas Anhänger*innen sind stabile 4,5 Prozent Wirtschaftswachstum gute Argumente. Ebenso wie Sozialprogramme für das Land: Ortega verschenkt Traktoren oder auch mal Kühe und Schweine, darüber hinaus gewährt er billige Kredite. Günstiges Erdöl aus Venezuela, sowie Lehrer*innen und Ärzt*innen aus Kuba sichern die Macht ebenso wie die Hoffnung, dass Ortega Errungenschaften wie das kostenlose Bildungs- und Gesundheitssystem bewahren wird.
Trotzdem bleibt die soziale Ungerechtigkeit in Nicaragua enorm, mit 2.000 US-Dollar pro Kopf ist das durchschnittliche Jahreseinkommen das niedrigste Mittelamerikas.
Drei von zehn Nicaraguaner*innen sind zwischen 19 und 25 Jahre alt. Das Durchschnittsalter beträgt 22 Jahre, in Deutschland ist es doppelt so hoch. Ortegas Ehefrau Murillo wusste um das Potenzial der Jugend und gründete im Zuge ihrer Politpropaganda die Sandinistische Jugend. Ein Zentrum für Freizeitangebote, Spiel und Spaß. All das unter dem Dach und Kontrolle der amtierenden Partei. Viele Jugendliche haben keine Chance auf Bildung, müssen schon im frühen Alter Geld verdienen. Freizeit ist ein Privileg. So wird den Jugendlichen durch die Sandinistische Jugend dieser Raum geschaffen; ihnen das Gefühl gegeben, mitentscheiden zu können, eine Stimme zu haben. Zur Wahl zu gehen. Dazu unterhält Ortega einen üppigen Staatsapparat, in dem die FSLN-Mitgliedschaft einen Karrierevorteil bedeuten kann.
In vielen Teilen der Bevölkerung wiederum herrscht Resignation. “Wenn Gott will” und “Was sollen wir schon tun” sind die Credos eines revolutionsmüden Nicaraguas. Und trotzdem hob Ortega nach der Wahl hervor, dass diese „ohne Hass, ohne Konfrontation und ohne Tote“ von Statten gegangen sei.
Doch unter der Fassade brodelt es. Gerüchte nehmen in einer Gesellschaft, in der große Teile der Medien gleichgeschaltet sind, an Bedeutung zu. In den Wochen der Kampagne vor der Wahl haben viele Menschen ihren Pass erneuern lassen, um bei einer Eskalation schnellstmöglich nach Costa Rica zu desertieren, heißt es.  Schon länger machen unbestätigte Nachrichten von organisierten und bewaffneten Bauernaufständen, die sich in den beiden östlichen Regionen gegen den Kanalbau formieren, die Runde.
Ein weiterer Machtfaktor Ortegas droht zu kippen. Seit dem Tod von Obando wendet sich die katholische Kirche der Opposition zu. Teile der Bischofskonferenz riefen ebenfalls zum Wahlboykott auf. Die von Intellektuellen getragene ortegakritische Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) scheint langsam aus ihrer Schattenexistenz hervorzutreten. Auch die USA wendeten sich vor der Wahl von Ortega ab, der Kongress beschloss den NicaAct, um die Kreditvergabe für Ortegas Nicaragua zu blockieren.
In den Tagen nach der Wahl blieb es ruhig in Nicaragua. Ganz im Sinne von Daniel Ortega. Der alte Revolutionär hat eine neue Domäne: Der politische Stillstand.


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VERSPIELTE CHANCE?

Das ‚Nein‘ zu dem Friedensvertrag zwischen der Regierung und den bewaffneten Streikkräften Kolumbiens (FARC-EP) löste weltweit Bestürzung aus. Und angesichts des unerwarteten Ausgangs herrscht in Kolumbien jetzt vor allem Unsicherheit: Ist der Friedensprozess gescheitert oder bietet das ‚Nein‘ eine neue Chance für einen breiteren nationalen Konsens? In der kolumbianischen Bevölkerung gehen die Meinungen auseinander.

Der drohende erneute Griff zu den Waffen scheint zunächst abgewendet. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat die Waffenruhe mit der FARC-EP bis zum Ende des Jahres verlängert. Sowohl die Regierung als auch die Delegation der Guerilla in Havanna bemühen sich weiterhin um ein Gelingen des Friedensprozesses. Dazu sollen die Bedingungen des Vertrags neu verhandelt werden, um einen breiteren Rückhalt in der Bevölkerung zu erreichen.
Die zentrale Figur der Kampagne gegen den Friedensvertrag, jetziger Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, soll nun an den Verhandlungen beteiligt werden. Zudem hat die Regierung wenige Tage nach dem Plebiszit auch offizielle Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN), der zweitgrößten Guerilla im Land, aufgenommen. Dies wird als wichtiger Schritt hin zu einem dauerhaften Friedensprozess gewertet. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn der Verhandlungen zwischen FARC-EP und Regierung kritisiert, dass ein nachhaltiger Frieden und ein Ende der Gewalt ohne die Einbindung der ELN in die Verhandlungen nicht zu erreichen ist.
Jedoch birgt die Einbindung Uribes auch eine neue Bedrohung für den Erfolg des Friedensprozesses. Gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen wie den konservativen Eliten aus den ländlichen Gebieten Kolumbiens und den evangelikalen Bewegungen führte er einen regelrechten Propagandafeldzug gegen den Friedensvertrag. Zu den Argumenten gehörten neben der durchaus nachvollziehbaren Kritik an der Sonderjustiz für Ex-Kombattant*innen auch fragwürdige Behauptungen bis hin zu eklatanten Lügen. So machten besonders die evangelikalen Kirchen Stimmung gegen die im Vertrag verankerte Gleichstellung der LGBTI-Gemeinschaft und stilisierten den Gender-Diskurs zu einer Ideologie, der sich das kolumbianische Volk zu unterwerfen habe.
Uribe selbst beschwor ebenso immer wieder das Gespenst des drohenden „Chavismus“ herauf und mahnte, die Kolumbianer*innen würden venezolanische Verhältnisse erwarten, sollte die linksgerichtete FARC-EP das im Friedensvertrag zugesicherte Recht auf politische Partizipation erhalten. Der Ex-Präsident zielte damit auf die Angst vor politischer und ökonomischer Instabilität in der Bevölkerung, da Kolumbiens Nachbar Venezuela seit Monaten eine der schwersten Krisen seiner Geschichte erlebt.
Angesichts der Polarisierung im Land und der Unsicherheit gegenüber der weiteren Entwicklung des Friedensprozesses stellt sich die Frage, wie die Bevölkerung auf das ‚Nein‘ reagiert und welche Hoffnungen und Ängste die Kolumbianer*innen mit den aktuellen Entwicklungen verbinden. Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Unsicherheit im Land wird deutlich, wenn man mit Aktivist*innen spricht, die in den größeren Städten die Kampagne für den Friedensvertrag unterstützten. Da in den urbanen Zentren im Land mit Ausnahme der Hauptstadt Bogotá das ‚Nein‘ gewonnen hatte, sehen sie sich teilweise massiven Anfeindungen ausgesetzt. Eine Studentin in Bogotá, deren Familie in Medellín über Wochen für das ‚Ja‘ geworben hat, ist seit dem Plebiszit am Boden zerstört – nicht nur aufgrund der „vergebenen historischen Chance auf Frieden“, sondern auch, weil sie und ihre Familie seit dem Morddrohungen erhalten. Aus diesem Grund will sie ihren Namen in keiner Zeitung lesen.
Die indigenen Minderheiten im Land sind ebenso um die Sicherheit in ihren Gemeinden besorgt. Die häufig in Selbstverwaltung lebenden Gemeinschaften waren in der Vergangenheit immer wieder zwischen die Fronten geraten. Um die Menschen in ihren Gebieten vor den Auseinandersetzungen zwischen Guerilla, Paramilitärs und Militär zu schützen, versuchten sogenannte Guardias Indigenas (Indigene Wachen) im Konfliktfall die Kampfhandlungen von den bewohnten Gebieten fernzuhalten und die Menschen in Schulen oder Kirchen in Sicherheit zu bringen. In den letzten Monaten mussten sie dieser lebensbedrohlichen und extrem komplizierten Aufgabe nicht mehr nachkommen. Jetzt herrscht  die Angst, dass sie bald wieder ihr Leben für ihre Gemeinschaft aufs Spiel setzen müssen.
Dieser asymmetrische Charakter des Konflikts, dem in großer Zahl unbeteiligte Zivilist*innen, Aktivist*innen und auch Politiker*innen zum Opfer fallen, ist auch ein essentieller Teil der traumatischen Geschichte der Unión Patriótica (UP). Die Partei wurde 1985 als politische Exit-Option von demobilisierten Guerillakämpfer*innen gegründet. Die zu Beginn beachtlichen politischen Erfolge der Partei gingen jedoch in einem regelrechten Massenmord an ihren Mitgliedern unter. Zwischen 3.000 und 5.000 Personen wurden von paramilitärischen Todesschwadronen, Drogenhändlern und vom Militär selbst ermordet, teilweise im Rahmen blutiger Massaker mit bis zu 43 Toten.
Dementsprechend präsent waren die aktuellen Entwicklungen rund um den Friedensprozess auf dem jährlichen Treffen der Opfer am 21. Oktober in Bogotá. Dabei äußerte sich die Sorge um die Fortdauer des Prozesses in einem klaren Appell von allen Sprecher*innen an die Regierung Santos, die Friedensverhandlungen fortzusetzen und  die Sicherheit der demobilisierten Kämpfer*innen zu garantieren. Ex-Präsident Uribe, der zwischen 2003 und 2006 die Demobilisierung der hauptsächlich für die Massaker an den UP-Mitgliedern verantwortlichen Paramilitärs verhandelte, wurde dabei die Torpedierung des Friedens und seine auf Falschinformationen beruhende Kampagne vorgeworfen.
Viel Lob dagegen fand die „besonnene und dem Frieden zugewandte Reaktion der Unterhändler*innen in Havanna“. Eric Sottas, Direktor der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) wies darauf hin, dass man „die kleine Minderheit des ‚Nein‘-Lagers, die einen ohnehin unmöglichen militärischen Sieg verfolgt, isolieren und durch die Annäherung an die übrigen Vertreter*innen dieses Lagers die Chance auf einen besseren Friedensvertrag realisieren muss“.
Eine ähnliche positive Perspektive vertritt auch Eduardo Pizarro Leon Gómez, heute kolumbianischer Botschafter in den Niederlanden. Pizarro war von 2005 bis 2009 Vorsitzender der Nationalen Kommission für Reparation und Aussöhnung, die die rechtliche Aufarbeitung des Paramilitarismus in Kolumbien überwachte. Zwei seiner Brüder kämpften für die Guerilla und waren von Paramilitärs ermordet worden, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. „Das mit 50.000 Stimmen Vorsprung denkbar knappe ‚Nein‘ zum Friedensabkommen war zwar nicht der optimale Ausgang, stellt aber dennoch eine neue Chance dar“, so der Botschafter. „Dieses suboptimale Ergebnis zwingt uns dazu, einen nationalen Konsens zu finden. Hätte das ‚Ja‘ so knapp gesiegt, wäre dies dagegen ein katastrophaler Ausgang gewesen, da der Friedensvertrag so keine breite Legitimierung gehabt hätte, diese aber auch nicht durch Neuverhandlungen hätte erreicht werden können.“
Seine Deutung der geringen Wahlbeteiligung von knapp über 37 Prozent unterscheidet sich auch von der zahlreicher anderer Beobachter*innen: „Die Wahlbeteiligung war außerordentlich hoch. Da Kolumbien historisch ein enthaltsames Land ist, was Wahlen betrifft, war der Plebiszit geradezu dramatisch. Mit dieser Wahl wurde nicht über politische Ämter abgestimmt, weswegen es kaum zu einer Mobilisierung der Wählerschaft seitens der Politiker kam. Es war vielmehr eine reine Meinungswahl, bei der die Zukunft der Politiker nicht auf dem Spiel stand. Das war ein außerordentlicher Tag und ein Triumph für die kolumbianische Demokratie, der das Land mitten in einer politisierten Debatte zurückgelassen hat.“ Seine Einschätzung für die Zukunft des Landes ist ähnlich positiv. Er verweist auf das Potenzial, das mit dem Freiwerden von Kapazitäten im Sicherheitsapparat verbunden ist, sobald dieser nicht mehr durch den Konflikt mit FARC-EP und ELN gebunden ist. Kolumbien verfügt dank der cirka 6 Milliarden Dollar US-Militärhilfe, die im Rahmen des Plan Colombia ins Land geflossen sind, mit über 600.000 Mann über den größten Militärapparat Lateinamerikas.
Eine andere Position vertritt Jorge Gómez, einer der Gründer der Menschenrechtsorganisation Reiniciar, die unter anderem den jährlichen Kongress der UP-Opfer organisiert. Seiner Meinung nach birgt die Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft durch die aggressive Propaganda des ‚Nein‘-Lagers die Gefahr neuer Gewalt. „Aufgrund der Geschichte des Landes, die seit Jahrzehnten von politischer Gewalt geprägt wird, ist Kolumbien anfällig für Gewaltdynamiken, die aus politischen Disputen erwachsen sind“, so Gómez.
Darüber hinaus sieht er noch eine weitere Gefahr, die mit dem Friedensprozess verbunden ist: Seit dem offiziellen Ende der Demobilisierung der Paramilitärs im August 2006 haben sich zahlreiche neue bewaffnete Gruppen im Land gebildet und den zuvor von den Paramilitärs kontrollierten Drogenhandel unter sich aufgeteilt. Die Gruppen ständen bereits in den Startlöchern, um das Vakuum zu füllen, das eine Demobilisierung der FARC-EP hinterlässt. „Diese Gruppen dringen in die ehemals von der FARC-EP kontrollieren Gemeinden vor, mit den Worten ‚Wir sind gekommen, um zu bleiben‘“, warnt der Menschenrechtsaktivist.
Genau diese Befürchtung bestätigen auch Vertreter*innen der UP aus Urabá. Die für den Drogenhandel strategisch wichtige Region im Nordwesten des Landes liegt an der Grenze zu Panama. In der früheren Hochburg der Vereinten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) herrscht heute mit den Urabeños eine Gruppe, die sich nur im Namen von den früheren AUC-Gruppen in der Region unterscheidet. Sie kontrolliert die Bevölkerung und so gut wie jede ökonomische Aktivität. Ihre Mitglieder haben wichtige Positionen in der Gemeinschaft besetzt und pflegen enge Beziehungen zu den dortigen Eliten. Diese sind häufig Großgrundbesitzer*innen, Drogenbosse und lokale Politiker*innen, die durch die im Friedensvertrag verankerten politischen und sozialen Veränderungen nur verlieren würden.
„Polizei, Militär, Politiker, Großgrundbesitzer – sie alle stecken unter einer Decke mit den Urabeños.“  – so eine Aktivistin, die wegen der gefährlichen Sicherheitslage anonym bleiben möchte. „Ein Frieden mit der FARC-EP hat keine Bedeutung für uns, da er nichts an den bestehenden Verhältnissen in unseren Gemeinden verändern würde. Die Urabeños warten bereits darauf, in die Gebiete vordringen zu können, die zurzeit noch von der Guerilla kontrolliert werden“.
Und darin liegt das tragische der Ablehnung des Friedensvertrags: Ein offizielles Ende des Konfliktes zwischen FARC-EP und Regierung würde bestenfalls einen Teil der Gewaltdynamik in Kolumbien zum Stillstand bringen. Viel dramatischer ist die verpasste Chance auf einen politischen und sozialen Wandel im Land, den der Friedensvertrag in seiner ursprünglichen Form festschrieb.
Durch die Neuverhandlung des Vertrages und die Einbeziehung der konservativen Kräfte um Ex-Präsidenten Uribe sind zahlreiche Projekte wie die dringend notwendige Landreform, die Öffnung des politischen Systems für linke Positionen und die Ausdehnung der Versorgung mit öffentlichen Gütern in die ländlichen Gebiete in Gefahr. Ohne diesen Wandel werden Gruppen wie die Urabeños weiterhin in der Lage sein, gemeinsam mit den lokalen Eliten die Bevölkerung durch Gewalt zu kontrollieren.
Auch die Perspektive, dass sich der gesamte Sicherheitsapparat nach der Demobilisierung von FARC-EP und ELN auf die Verfolgung von Gruppen wie den Urabeños konzentrieren kann, scheint wenig Hoffnung auf eine Verringerung der Gewalt im Land zu geben. Zwar können kriminelle Gruppen im Gegensatz zur politisch motivierten Guerilla durch eine strafrechtliche Verfolgung bekämpft werden. Die militarisierten Strategien des kolumbianischen Sicherheitsapparates in Kombination mit der grassierenden Korruption und den engen Verbindungen zwischen Drogenhändler*innen, lokalen Eliten und Politiker*innen werden aber bestenfalls nur zu einer kurzfristigen Verdrängung von Gruppen wie den Urabeños in den Untergrund führen.
Während die Guerilla uniformiert und vor allem in dünn besiedelten Gebieten aktiv ist, sind die Mitglieder der neuen bewaffneten Gruppen nur schwer von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden und in beinahe allen Teilen des Landes aktiv. Sollte das Militär und die militarisierten Polizeieinheiten gegen diese Gruppen vorgehen, wird die asymmetrische Gewalt des Konfliktes um ein Vielfaches zunehmen und erneut besonders Zivilbevölkerung und Aktivist*innen treffen.
Wo also steht Kolumbien nach dem gescheiterten Versuch, einige der grundlegenden Ursachen für den bewaffneten Konflikt im Land durch einen Friedensvertrag und soziale wie politische Veränderungen zu neutralisieren? Präsident Santos hat trotz des ‚Neins‘ im Plebiszits den Friedensnobelpreis erhalten, die Verhandlungen in Havanna gehen weiter und mit dem ELN und Ex-Präsident Uribe werden nun weitere wichtige Partner in den Prozess mit eingebunden.
Gleichzeitig hat US-Außenminister John Kerry am 7. Oktober Uribe per Telefon wissen lassen, dass die USA weiterhin auf dessen Dialogbereitschaft und Engagement für den Frieden zählen. Dies deutet darauf hin, dass die Regierung von US-Präsident Barack Obama hinter den Kulissen Druck auf Uribe aufbaut um zu verhindern, dass dieser den Friedensprozess blockiert. Immerhin ist Kolumbien seit dem Beginn von Plan Colombia 2000 und den Milliarden von Dollar an Militärhilfe ein enger Verbündeter der USA im „War on Drugs“ und im „War on Terror“. Dass die USA mit dem Ende des bewaffneten Konflikts mit der FARC-EP zumindest formell einen partiellen „Erfolg“ ihrer Strategien verbuchen können, ist für den angeschlagenen Ruf der Weltmacht natürlich von großem Interesse. Ob dieser Druck von internationaler Seite ausreicht, um den dringend notwendigen politischen und sozialen Wandel in Kolumbien umzusetzen, bleibt abzuwarten. Gleiches gilt auch für die Hoffnungen, die viele in die Ausdehnung der Verhandlungen setzen. Sicher ist aber, dass solange paramilitärische Nachfolgeorganisationen wie die Urabeños weiterhin große Teile des kolumbianischen Territoriums kontrollieren und mit Gewalt gegen jeden gesellschaftlichen Wandel vorgehen, das Land nicht zur Ruhe kommen wird.


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HISTORISCHER DURCHBRUCH

Ja oder Nein? Am 2. Oktober wird die kolumbianische Bevölkerung über die Annahme des Friedensabkommens abstimmen, das Regierung und die Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) in vier Jahren in Havanna ausgehandelt haben. Die Kampagnen der Befürworter*innen und Gegner*innen reklamieren jeweils für sich, nur Frieden im Sinn zu haben, allerdings auf gänzlich verschiedene Weise.

Zumindest im links-alternativ geprägten Parque de los Hippies in Bogotá war es ein Freudentag. Menschen im Trikot des kolumbianischen Fußballteams und mit Friedensfähnchen feierten am 24. August die Veröffentlichung der Friedensverträge zwischen der Regierung und den Revolutionären Bewaffneten Streikkräften Kolumbiens, die live im Fernsehen übertragen wurde. „Man hatte vergessen, dass es auch anders geht“, sagte eine der Anwesenden. Rührende, aufmunternde, aber auch skeptische Kommentare überfluteten die Medien und sozialen Netzwerke. Ohne Zweifel war es ein historischer Tag. Wie so viele andere seit Beginn der Verhandlungen mit der ältesten Guerilla Lateinamerikas, die seit 1964 gegen den Staat kämpft.
Bereits 2012 saßen viele Kolumbianer*innen augenreibend vor dem Fernseher, als ausgerechnet der konservative Präsident Santos den Beginn des Friedensprozesses mit der Frage ankündigte: „Wie viele Kolumbianer*innen haben den Konflikt wohl hautnah erlebt, wie viele haben Verwandte und Bekannte, die Opfer der Gewalt wurden?“ Zwar sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung anfangs gegen diesen Schritt aus, doch bereits zwei Jahre später sicherten die laufenden Verhandlungen Santos die Wiederwahl. Trotz zahlreicher Krisen und Rückschläge wurde stets weiter verhandelt. Es gab somit viele historische Tage in einem Land, mit einer sehr langen Geschichte gescheiterter Friedensprozesse.
„Ich habe versprochen, dass ihr das letzte Wort haben werdet, und so wird es auch sein!“, sagte Santos am Tag der Veröffentlichung der Verträge und rief die Bevölkerung zum Referendum am 2.Oktober auf. Die Regierung hofft auf ein klares Ja, denn einen Plan B gibt es nicht. Das Bild der Guerilla unter der Bevölkerung hat sich zwar verbessert, doch für ein Ausbruch an Euphorie reicht es bei Weitem nicht. In der jüngsten Umfrage von Datexco für die Zeitung El Tiempo und den Radiosender La W wollen 55,2 Prozent der Befragten dem Abkommen zustimmen, 31 Prozent es ablehnen und zehn Prozent wussten es noch nicht. Allerdings variieren diese Ergebnisse erheblich in den verschiedenen Regionen und andere Umfragen ergaben andere Resultate.
Um eine möglichst breite Beteiligung am Referendum sowie dessen Anerkennung zu erreichen, finanziert die Regierung die Kampagne der Gegner*innen als auch die der Befürworter*innen. Angeführt werden diese jeweils von Ex-Präsidenten des Landes.

Hardliner Álvaro Uribe Vélez, Staatschef von 2002 bis 2010 und jetziger Senator der konservativen Centro Democratico, leitet mit Unterstürzung von Andrés Pastrana, der in seiner Amtszeit 1998-2002 mit der FARC verhandelte und scheiterte, die Nein-Kampagne. Das Ja-Lager führt César Gaviria an, der in seiner Amtszeit von 1990-1994 mit neoliberal geprägter Politik das Land wirtschaftlich öffnete. Dass sie verschiedene Auffassungen von Frieden haben, dürfte mittlerweile allen Kolumbianer*innen klar sein.
„Wir stimmen für den Frieden, indem wir Nein wählen“, erklärte Uribe beim Auftakt seiner Kampagne. ‚Nein zu Straflosigkeit, Nein zu Santos, Nein zu dem castro-chavistischen Terror‘ lauten die Slogans bei Veranstaltungen, auf Tweets und Flugblättern der Gegner*innen der Gespräche. Santos´ Unbeliebtheit in der Bevölkerung erreichte mit der Energiekrise, dem jüngsten Streik der Kleintransporter und der Erhöhung der Steuern, satte 66 Prozent. Innenpolitisch steht seine Politik auf dem Prüfstand und die Kritik seiner Gegner*innen wird bewusst gegen die Verhandlungen seiner Regierung mit der Guerilla eingesetzt.
Für César Gaviria gilt es hingegen, „ein Gefühl von Vergebung hervorzurufen, Halt zu machen und sich nicht für eine Gesellschaft zu entscheiden, die nur an Rache und militärische Lösungen denkt. Es gilt mit dieser Idee zu brechen, auch weil die Bemühungen der vergangenen Jahre außerordentlich groß waren.“ Seine Aufgabe als Leiter der Ja-Kampagne sei es, eine gemeinsame Botschaft zu formulieren, hinter der soziale Organisationen, die Kirche und Einzelaktivist*innen stehen können. „Wir haben bemerkt, dass auf dem Land, die kleinen und mittelgroßen Gemeinden dem Ja stärker zugeneigt sind, weil sie von Gewalt häufiger betroffen waren. Die Friedensbotschaft über das Ende des Krieges ist in ländlichen Gebieten stärker als in der Stadt. Man muss versuchen, den Menschen in der Stadt zu zeigen, wie Kolumbien ohne so viel Gewalt sein könnte“, sagte er in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País.

Über fünf zentrale Punkte haben Regierung und FARC im Laufe der letzten vier Jahre verhandelt. Sie lösen nicht alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Landes, die Einigungen bieten aber noch nie dagewesene Möglichkeiten, die Ursachen des bewaffneten Konfliktes mit den Aufständischen zu klären.
Der erste Punkt der Verträge zielt darauf, die Situation der rund 15 Millionen extrem marginalisierten Kolumbianer*innen in ländlichen Gebieten zu verbessern. Das ist ein großes Versprechen für ein Land, in dem ein Agrarkonflikt sich in einen blutigen Krieg verwandelte, der ein halbes Jahrhundert überzog. Die darin geplante Reform (Reforma Rural Integral – RRI) umfasst die Rückkehr von Vertriebenen in ihre Heimatorte, Landrückgabemaßnahmen an Kleinbauern- und bäuerinnen sowie die Neueinteilung landwirtschaftlicher Nutzflächen und von Naturschutzgebieten.
Doch damit ist die konservative Elite Kolumbiens nicht einverstanden. Das Gespenst des castrochavismo, eine ideologische Mischung der Politik Fidel Castros und Hugo Chávez‘, wird beschworen. „Santos ist zwar kein Chavist, aber seine Politik geht in diese Richtung“, sagte Uribe bei einer Konferenz in der Privatuniversität Sergio Arvoleda in Bogotá. „Im Abkommen wird unser gesamtes freiheitliches System in Frage gestellt und die Rechte der Privatunternehmer verletzt“. Im Hinblick auf Venezuela warnt er vor den Gefahren für die gesamte Wirtschaft, denn „die Kolumbianer*innen investieren nicht mehr. Entweder haben sie Angst vor dem Frieden oder vor den Steuern, um diesen zu finanzieren“. Derartige Bemerkungen sind oft zu hören, besonders in der Stadt.

Ein der Agrarreform sehr ähnliches Projekt, das die Eigentumsverhältnisse in ländlichen Gebieten verändern soll, ist Teil der Strategie, um die strukturelle Ungleichheit zwischen Land und Stadt zu beheben. Laut Vertrag verpflichtet sich die Regierung mit Fortbildungsangeboten, Krediten und Subventionen für kleinere Betriebe, die kommunale Produktion zu fördern. Straßen, Bewässerungssysteme und Stromnetze sollen in den historisch vernachlässigten Gebieten gebaut sowie in Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wesentlich investiert werden. Nur so, heißt es im Abkommen, kann das Ziel erreicht werden, in zehn Jahren die extreme Armut zu beseitigen und die Armut in ländlichen Gebieten um die Hälfte zu reduzieren. Im krassen Widerspruch hierzu stehen allerdings die anderen wirtschaftspolitischen Vorhaben der Regierung, nämlich weiterhin vor allem auf Extraktivismus und Monokulturen zu setzen. Auf jeden Fall wird die Inklusion der armen Bevölkerung die zentrale Herausforderung der Zeit Jubel bei historischer Geste Polit-Fanmeile in Bogotá nach Beendigung des bewaffneten Konflikts werden. Immerhin wandten sich sehr viele ländliche Gemeinden dem Schutz der Guerillas zu, weil sie vom Staat allein gelassen wurden. „Der Aufbau des Friedens bedarf der Stärkung der Demokratie“, hieß es in der Einigung zur politischen Partizipation. Darin verpflichtet sich die Regierung das Wahlsystem auf den Prüfstand zu stellen, die Rechte der politischen Opposition zu gewährleisten und ein Schutzprogramm für Ex-Guerillerxs zu errichten, die nach der Entwaffnung als Partei antreten und Politik machen wollen.
Jedoch reagieren große Teile der Bevölkerung und viele Politiker*innen empört auf die Vorstellung, dass die ehemalige Führungsspitze der FARC mit zehn Sitzen einen wahlunabhängigen Einzug ins Parlament bekommen soll, um die Umsetzung der Verträge zu verfolgen. Besorgt sind die konservativen Kräfte andererseits auch darüber, dass linke Ideen und Bewegungen salonfähig werden könnten und nicht wie bisher aufgrund einer ideologischen Nähe zu den Aufständischen leicht zu diskreditieren sind. Nicht völlig unbegründet –„Wir waren immer eine politische Organisation, eine kommunistische Partei (…). Noch ist es zu früh, um über die nächste Wahlperiode zu reden, aber wir streben eindeutig an, zu der Entstehung einer großen alternativen, politischen Bewegung beizutragen“, schreibt der politische Berater des Oberbefehlshabers der FARC, Gabriel Angel, in einem Fragebogen der mexikanischen Presseagentur Notimex.

Wie viele Kolumbianer*innen für solche Botschaften empfangsbereit sein werden, ist unklar. Es gilt, das grundsätzliche Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Guerilla zu überwinden, aber auch gegenüber der Politik, die an der Fortsetzung des Konflikts ebenfalls beteiligt war. 240.000 Personen wurden im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzungen ermordet. Der Ausbau der Luftwaffe, aber auch die Militarisierung von Teilen der Gesellschaft hatte zur Folge, dass nach offiziellen Zahlen 6.883.513 Kolumbianer*innen vertrieben wurden. Massaker, sexualisierte Gewalt und Folter waren hierbei Mittel aller bewaffneten Akteure. Laut Vertrag wird jetzt eine Wahrheitskommission gegründet, die den Paramilitarismus, die Rolle des Staates, die der kolumbianischen Armee und der FARC bei registrierten Menschenrechtsverletzungen des vergangenen halben Jahrhunderts aufklären soll.
Denn juristische Aufklärung, das Sorgen für Gerechtigkeit und die Entschädigung der Opfer sind für die meisten Kolumbianer*innen zentrale Bedingungen für ihre Akzeptanz eines Friedensabkommens, weshalb auch eine Übergangsjustiz verhandelt wurde. Ein Sondergericht für den Frieden soll Haftstrafen für Menschenrechtsverletzungen von acht Jahren für geständige Täter*innen verhängen. Täter*innen, die später überführt werden, müssen für 20 Jahre hinter Gitter. Des Weiteren erhalten die Guerillerxs für Delikte Amnestien, die mit der Finanzierung der Rebellion verbunden waren, wie beispielsweis dem Drogenhandel.
Die Formel „Gefängnis oder Tod“ für Guerillerxs, hinter der noch viele Kolumbianer*innen als Antwort zum Konflikt stehen, steht in direktem Widerspruch mit den Friedensgesprächen, mit dem ausgesprochenen Ziel, Politik ohne Waffen möglich zu machen. „Wird das Nein gewählt, werden beide Parteien vom Tisch aufstehen und das laufende Verfassungsprojekt für das Inkrafttreten des Friedens, wird nicht stattfinden“, sagt César Gaviria. „Wir wollen nicht sagen, dass derjenige der Nein wählt, Krieg will, aber derjenige soll wissen, dass wenn das Nein gewinnt, der Krieg weitergehen wird“
Im Anschluss an die zehnte und letzte Guerillakonferenz vom 17. bis 23. September, nach der die FARC sich auflösen will, werden sich die Aufständischen in 23 ländliche Kleingemeinden und acht Lagern in zwölf verschiedenen Verwaltungsbezirken versammeln und innerhalb von fünf Monaten die Waffen abgeben. Der militärische Rückzug der FARC aus ihren traditionellen Hoheitsgebieten ist bereits in Gang. Die Regierung hat mittlerweile 16.000 Polizist*innen und Soldat*innen für den Schutz von Ex-Kämpfer*innen eingestellt.
Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass zur Zeit diese Gebiete von der linken Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) und der rechten paramilitärischen Gaitanistischen Bürgerwehr Kolumbiens (AGC) eingenommen werden. In Nariño und Cauca zum Beispiel kämpfen sie im Moment um rund 18.000 Hektar Koka-Plantagen und weitere neue Gruppierungen sind dazu gekommen. Auch andere jüngste Ereignisse beunruhigen. Auf dem Grundstück der Friedensaktivistin Cecilia Colcué in Corintio Cauca sollten sich Guerillerxs für die Entwaffnung versammeln. Am 6. September wurde Cecilia Colcué tot aufgefunden. Egal wie das Referendum ausgeht, zu einem vollständigen Frieden ist es noch ein weiter Weg.


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HEISSER HERBST IN VENEZUELA

Im Internet verbreiteten sich die verwackelten Videoaufnahmen rasant. Im Dunkeln flüchtet Nicolás Maduro vor aufgebrachten Menschen, die ihn wild beschimpfen und dabei auf Kochtöpfe schlagen. Eigentlich war der venezolanische Präsident am 2. September nach Porlamar auf die Ferieninsel Margarita gekommen, um neu gebaute Sozialwohnungen einzuweihen. Warum er sich in der angespannten politischen Situation ausgerechnet in einer der Hochburgen der Opposition zeigte, ist nicht bekannt. Seine Gegner*innen wird die Symbolik aber gefreut haben. Denn wie in dem Video wollen sie Maduro so schnell wie möglich aus dem Präsidentenpalast jagen.
Der Vorfall ereignete sich nur einen Tag nach einer Großdemonstration in der venezolanischen Hauptstadt, die das Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) selbstbewusst unter das Motto „Einnahme von Caracas“ gestellt hatte. Letztlich gingen die Regierungsgegner*innen nur im Osten auf die Straße, während die Chavist*innen eine Kundgebung im Westen abhielten. Gemessen an der Hysterie, mit der beide politischen Lager den 1. September zu einem entscheidenden Tag hochstilisiert hatten, blieb es weitgehend friedlich. Abgesehen von kleineren gewaltbereiten Gruppen zogen sich die Regierungsgegner*innen nach wenigen Stunden wieder zurück. „Heute haben wir einen Staatsstreich verhindert“, rief Maduro seinen Anhänger*innen zu. Der Generalsekretär des MUD, Jesús Torrealba, sprach hingegen von einer „historischen“ Demonstration. „Wir haben der Welt die enorme Größe des Venezuelas gezeigt, das einen Wechsel will“. Laut eigenen Angaben mobilisierte die Opposition mehr als eine Million Menschen. Chavistische Politiker*innen zählten indes gerade einmal 30.000, was selbst in den eigenen Reihen teilweise für ungläubiges Kopfschütteln sorgte.
Knapp eine Woche später, am 7. September, mobilisierte die Opposition in allen 23 venezolanischen Staaten vor die Regionalbüros des Nationalen Wahlrates (CNE). Die Hauptforderung lautet, dass noch dieses Jahr ein Abberufungsreferendum gegen Maduro stattfinden müsse. Denn nach dem 10. Januar 2017 gäbe es keine Neuwahlen, sondern der von Maduro ernannte Vizepräsident würde die letzten zwei Jahre der Amtszeit zu Ende bringen. Die Opposition müsste in diesem Fall bis zu den nächsten regulären Präsidentschaftswahlen Ende 2018 warten. Zahlreiche chavistische Politiker*innen hatten seit Monaten betont, dass ein Referendum dieses Jahr nicht möglich sei, da der MUD den Antrag erst Anfang Mai anstatt bereits im Januar eingereicht hatte (siehe LN 505). Der frühere Vizepräsident und jetzige Abgeordnete der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Elías Jaua, stellte das Recht der Opposition auf ein Referendum im August gar grundsätzlich in Frage. Das Abberufungsreferendum, das eine der Errungenschaften der verfassunggebenden Versammlung von 1999 darstellt, sei schließlich nur in die Verfassung aufgenommen worden, „um oligarchische Regierungen abzuwählen“.
Nicht nur die chavistischen Politiker*innen, auch der bisher als integer geltende Wahlrat verspielen gerade das Vertrauen der Bevölkerung. Der CNE verbittet sich offiziell jegliche politische Einmischung, zieht den Prozess aber im Sinne der Regierung in die Länge. Auch für die Regionalwahlen, die eigentlich für Ende dieses Jahres vorgesehen sind, gibt es noch keinen Termin. Mitte August erkannte der Wahlrat 1,25 von 1,85 Millionen eingereichten Unterschriften für die Einleitung eines Abwahlreferendums als gültig an. Nötig gewesen wären dafür insgesamt nur 200.000 – ein Prozent der Wähler*innen in jedem Staat.
Damit das Referendum zu Stande kommt, müssen im nächsten Schritt nun 20 Prozent der Wähler*innen – derzeit etwa 3,9 Millionen – unterschreiben. Laut CNE wird die Unterschriftensammlung an drei aufeinanderfolgenden Tagen Ende Oktober stattfinden, einen genauen Zeitplan will der Wahlrat am 13. September veröffentlichen. Da weder die zeitliche noch organisatorische Durchführung rechtlich exakt geregelt sind, werden die Details mit Spannung erwartet. Unklar ist etwa die Anzahl der bereitgestellten Unterschriftenscanner und die Frage, ob die 20 Prozent der Stimmern proportional in jedem Staat und nur insgesamt landesweit eingeholt werden müssen. Für den 14. September hat die Opposition bereits neue Proteste angekündigt. Spätestens nach der Sammlung der 20 Prozent wollen die Regierungsgegner*innen dann erneut auf die Straße gehen.
Mit den größten Demonstrationen seit Jahren verlagert sich der Machtkampf zwischen chavistischer Regierung und rechter Opposition zunehmend auf die Straße. Die staatlichen Gewalten liegen seit dem Sieg des MUD bei dem Parlamentsahlen Ende 2015 miteinander im Clinch. Die oppositionelle Mehrheit in der Nationalversammlung arbeitet offen auf einen Regierungswechsel hin, während Maduro mit Dekreten regiert und das Oberste Gericht (TSJ) die parlamentarische Arbeit blockiert. Anfang September erreichte der Konflikt eine neue Eskalationsstufe. Das TSJ erklärte sämtliche Entscheidungen des Parlaments für nichtig, bis dieses die Ende Juli erfolgte Vereidigung von drei Abgeordneten aus dem Staat Amazonas zurücknimmt. Im Januar hatte das Gericht diese wegen vermeintlichen Stimmenkaufs suspendiert, ohne dass die Wahl bis heute wiederholt wurde. Parlamentspräsident Henry Ramos Allup stellte einmal mehr klar, dass die Nationalversammlung „kein einziges verfassungswidriges Urteil des Gerichts“ anerkennen werde.
Der Ausgang des Machtkampfes ist ungewiss. Die Regierung wirkt bei der Lösung der drängenden Probleme wie der Wirtschaftskrise und der Versorgungsmängel planlos und kriminalisiert den radikalen Flügel der Opposition. Der MUD wiederum kann seine internen Streitigkeiten derzeit nur notdürftig durch das übergeordnete Ziel eines Regierungswechsels übertünchen. Ein Dialog, wie ihn die Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) anstrebt, kommt nicht in Gang. Die Zeichen stehen auf weitere Konfrontation, auch ein größerer Gewaltausbruch scheint längst nicht mehr ausgeschlossen.
Jenseits des Machtkampfes bildet sich derweil ein kritischer Chavismus heraus, der sich der Polarisierung entziehen will. Gruppierungen wie die PSUV-Abspaltung Marea Socialista (Sozialistische Flut) sowie einige prominente Ex-Minister*innen und Akademiker*innen sprechen sich für ein Abberufungsreferendum aus, weil es in der Verfassung als Recht verankert ist. Eine Lösung für die Probleme des Landes sehen sie darin jedoch nicht. Vielmehr sei eine mögliche Abwahl Maduros „ein Sprung ins Lehre“, kritisiert etwa die frühere Umweltministerin Ana Elisa Osorio in einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP. Es müsse nach Wegen gesucht werden, „den Chavismus neu zu ordnen und Räume für Diskussionen zu öffnen, um kollektive Führungen aufzubauen“. Durch die starke Polarisierung gebe es für unzufriedene Chavist*innen bei Wahlen zurzeit jedoch keine realistischen Chancen.


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KEINE ENTSPANNUNG IN VENEZUELA

Der Ton in Venezuela wird spürbar rauer. „Für die Streitkräfte ist die Stunde der Wahrheit gekommen“, ließ Mitte Mai der oppositionelle Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski verlauten. Das Militär müsse sich entscheiden, ob es auf der Seite der Verfassung oder der durch Nicolás Maduro hervorgerufenen Krise stehe. Der venezolanische Präsident hingegen sieht sich und seine Regierung in der Opferrolle. „Die Kampagne gegen Venezuela zielt darauf ab, Chaos und Gewalt zu schüren, um so eine Intervention der US-Regierung zu rechtfertigen“, sagte der Staatschef ebenfalls Mitte Mai auf einer Pressekonferenz vor internationalen Medien.
Wenige Tage zuvor hatte Maduro den bereits seit Januar geltenden Wirtschaftsnotstand für weitere 60 Tage verlängert und um einen Ausnahmezustand erweitert. Dieser ermöglicht es der Exekutive in mehreren Themenbereichen, per Dekret zu regieren. Das Militär und zivile Basisgruppen erhalten zudem weitreichende Befugnisse wie die Verteilung von Lebensmitteln und Überprüfung der Produktion von Privatunternehmen. Capriles, der innerhalb der Opposition zum moderaten Flügel zählt, rief die Bevölkerung dazu auf, „dieses verfassungswidrige Dekret nicht anzuerkennen“.
Ein halbes Jahr, nachdem das oppositionelle Wahlbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen zwei Drittel der Sitze gewonnen hat, tragen die staatlichen Gewalten einen offenen Konflikt aus, der zunehmend an Schärfe gewinnt: Die Opposition machte bereits Anfang Januar keinen Hehl daraus, dass der Hauptzweck ihrer parlamentarischen Arbeit darin liegt, einen zeitnahen Regierungswechsel herbeizuführen. Das Oberste Gericht (TSJ) blockiert oppositionelle Gesetzesinitiativen wie eine Amnestie für die als politische Gefangene angesehenen Personen und die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus. Maduro regiert derweil mit Billigung des TSJ am Parlament vorbei. Dieses wiederum spricht den anderen politischen Gewalten die Legitimität ab, da sie jeweils mehrheitlich von Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez kontrolliert werden.

Venezuela in Not - Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen
Venezuela in Not – Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen (Foto: Carlos Diaz – CC BY 2.0)

Im März hatte sich der MUD nach internen Unstimmigkeiten über die Strategie für einen Regierungswechsel darauf geeinigt, drei Mechanismen in Gang zu setzen. Durch Straßenproteste soll Maduro demnach zum Rücktritt bewegt werden, während das Parlament einen Verfassungszusatz beschließen solle, der die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre begrenze. Einen Rücktritt schloss Maduro mehrmals kategorisch aus. Das TSJ hat klar gestellt, das eine mögliche Verfassungsänderung nicht für die laufende Amtszeit gelten könne. Als dritter Mechanismus bleibt ein Abberufungsreferendum. Seit Inkrafttreten der Verfassung von 1999 ist es möglich, alle Mandatsträger*innen nach Ablauf der Hälfte ihrer Amtszeit per Referendum abzuwählen. Um die Formalitäten und den zeitlichen Ablauf streiten sich nun Regierung, Nationaler Wahlrat (CNE) und Opposition.
Am 11. und 18. Mai mobilisierte die Opposition in allen Bundesstaaten vor die Büros des CNE, um ein baldiges Referendum zu fordern. Vor den Hauptsitz des Wahlrates in Caracas durften die Regierungsgegner*innen jedoch nicht ziehen. Denn im chavistisch dominierten Westen der Hauptstadt fanden zeitgleich regierungsfreundliche Demonstrationen statt. Nachdem es am 18. Mai auf der oppositionellen Kundgebung im Stadtzentrum zu Ausschreitungen gekommen war, untersagte das Oberste Gericht bis auf weiteres Demonstrationen, die den CNE als Ziel haben.
Die Opposition drängt auf einen Wahltermin in diesem Jahr und wirft dem chavistisch dominierten Wahlrat vor, auf Zeit zu spielen. Sollte Maduros mögliche Abwahl erst nach dem 10. Januar 2017 erfolgen, gäbe es keine Neuwahlen. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident dessen Amtszeit beenden. Für die Anhänger*innen der Regierung steht eine Menge auf dem Spiel. Sie fürchten einen Rückfall in neoliberale Zeiten, wenn die Opposition wieder an die Macht kommt.
Damit ein Referendum stattfinden kann, muss dies zunächst ein Prozent der Wahlberechtigten aus allen Bundesstaaten per Unterschrift einfordern. Bereits wenige Tage nachdem der Wahlrat die gültigen Vordrucke ausgegeben hatte, reichte die Opposition statt der erforderlichen 195.000 Unterschriften 1,85 Millionen ein. Laut Gesetz sind dazu 30 Tage Zeit. Der Wahlrat pocht auf die penible Einhaltung der Fristen und will den Prozess nicht beschleunigen, nur weil die Opposition dies fordert. Erkennt der CNE diese Hürde nach genauer Prüfung der Unterschriften als gemeistert an, müssen nochmal 20 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten unterschreiben, damit das Referendum stattfindet. Um dann Erfolg zu haben, muss bei einer Mindestwahlbeteiligung von 25 Prozent nicht nur die Mehrheit der Wahlberechtigten für Maduros Abberufung votieren. Denn für ein erfolgreiches Abberufungsreferendum schreibt die Verfassung als zusätzliche Hürde vor, dass mehr Menschen für die Abwahl der betreffenden Person stimmen müssen, als sie zuvor ins Amt gewählt haben. Maduro erhielt bei der Präsidentschaftswahl 2013 knapp 7,6 Millionen Stimmen. Bei den Parlamentswahlen im Dezember vergangenen Jahres votierten mehr als 7,7 Millionen Menschen für die Opposition.
Mehrere Mitglieder des Wahlrates deuteten bereits öffentlich an, dass die Opposition zahlreiche ungültige Unterschriften und teilweise leere Listen eingereicht habe. Der oppositionsnahe CNE-Rektor Luis Emilio Rondón zeigt sich hingegen davon überzeugt, dass das Referendum bis Ende Oktober stattfinden könne. „Es gibt weder einen technischen noch juristischen Aspekt, der verhindert, ein Abberufungsreferendum abzuhalten“.
Aus dem chavistischen Lager werden indes zunehmend Stimmen laut, die vor gefälschten Unterschriften warnen und ein Referendum in diesem Jahr allein aus logistischen Gründen ablehnen, da bis Ende des Jahres auch noch Gouverneur*innen- und Bürgermeister*innen-wahlen stattfinden müssen. „Sie wissen, dass es kein Referendum geben wird, weil sie es erstens zu spät begonnen, es zweitens schlecht gemacht und drittens Betrug begangen haben“, sagte der amtierende Vizepräsident Aristóbulo Isturiz Mitte Mai. Maduro betonte, Referenden seien nicht vorgeschrieben, sondern „eine wunderbare Option, aber um Realität zu werden, müssen das Gesetz und die Anforderungen befolgt werden“. Laut dem Abgeordneten Diosdado Cabello, den viele als den mächtigsten chavistischen Politiker neben Maduro ansehen, verschleiere das Referendum schlicht einen Putschplan der Opposition.
Tatsächlich hatten die Gegner*innen des Chavismus seit jeher ein rein strategisches Verhältnis zu demokratischen Prozessen. Ihnen deswegen ein Referendum zu verweigern, wäre allerdings absurd. Vor dem erfolglosen Versuch, Maduros Vorgänger Hugo Chávez 2004 per Referendum aus dem Amt zu drängen, hatte die Opposition zwei Jahre lang ebenso erfolglos versucht, den damaligen Präsidenten durch einen Putsch und eine Sabotage der Erdölindustrie zu stürzen. Auch damals war es im Vorfeld zu heftigen Diskussionen gekommen. Die Regierung warf der Opposition vor, Datenbanken geplündert zu haben, um auf die nötige Zahl an Unterschriften zu kommen. Die Opposition wiederum hat nicht vergessen, dass ein Abgeordneter der Regierungspartei die Unterschriftenlisten im Internet mit der Begründung veröffentlichte, auf Unregelmäßigkeiten hinzuweisen. Dennoch fand das Referendum letztlich statt – und führte dazu, dass die Opposition auf Jahre hinweg in der politischen Bedeutungslosigkeit versank.
Im Gegensatz zu Chávez wird es Maduro allerdings schwer haben, die Mehrheit der Bevölkerung bei einem möglichen Referendum hinter sich zu bringen. Dass die Regierungsgegner*innen trotz äußerst dürftiger politischer Performance nach anderthalb Jahrzehnten regelmäßiger Wahlniederlagen plötzlich derart an Rückhalt gewinnen konnten, liegt vor allem an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Seit Chávez‘ Tod im März 2013 hat sich die Lage stetig verschlechtert, ohne dass die Regierung Maduro adäquate Mittel gegen die Krise finden konnte. Sie lastet die dreistelligen Inflationsraten und die Knappheit bestimmter Lebensmittel vor allem einem Wirtschaftskrieg oppositioneller Gruppen und der Privatwirtschaft an. Der verhängte Wirtschaftsnotstand und zaghafte Reformen zeigen keine merklichen Erfolge. Durch den niedrigen Weltmarktpreis des Erdöls, dem zentralen venezolanischen Exportgut, hat die Regierung kaum mehr finanziellen Spielraum. Spätestens nun rächt sich, dass es Chávez trotz ambitionierter Pläne nie gelungen ist, die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern.
Als wäre dies nicht genug, steht die Elektrizitätsversorgung des Landes nach der schlimmsten Dürreperiode seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Der venezolanische Strom wird zu 70 Prozent aus Wasserkraft erzeugt. Der Pegel des Guri-Stausees im südöstlichen Bundesstaat Bolívar liegt seit Wochen nur noch knapp über dem notwendigen Level, um die Turbinen des mit Abstand wichtigsten venezolanischen Kraftwerkes am Laufen zu halten. Die Regierung versucht sich durch Einsparungsmaßnahmen in die beginnende Regenzeit zu retten und hofft auf ergiebige Niederschläge im Süden des Landes. Seit Ende April wird in fast allen Landesteilen der Strom rationiert, was in einigen Städten zu Ausschreitungen und Plünderungen geführt hat. Angestellte des öffentlichen Sektors arbeiten seit dem 27. April bis mindestens Ende Mai zudem nur noch montags und dienstags.
Die politische Krise in Venezuela wird auch international mit Sorge verfolgt. Die Opposition drängt auf eine Aktivierung der Interamerikanischen Demokratiecharta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), was im äußersten Fall zu einem Ausschluss Venezuelas aus der von den USA dominierten Regionalorganisation führen könnte. Unterstützung erhält sie dabei unter anderem von OAS-Generalsekretär Luis Almagro, der US-Regierung und der neuen argentinischen Regierung von Mauricio Macri. Andere Akteure wie Papst Franziskus oder die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) bemühen sich derweil um einen Dialog zwischen Regierung und Opposition. Die Rhetorik in beiden politischen Lagern deutet zurzeit allerdings eher auf eine weitere Eskalation hin.


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GUTE HAARE, SCHLECHTE HAARE

Venezuela, in einer ärmlichen Vorstadt von Caracas. Es ist eine Welt, in der man nicht Kind sein darf. Eigentlich wollte der neunjährige Junior seiner verwitweten Mutter Marta nur bei der Arbeit helfen, beim Putzen des Hauses einer weißen, reichen Familie. Als er sich daran macht, die Badewanne zu schrubben, kann er der Versuchung nicht widerstehen und lässt sich in die vollgelaufene Wanne gleiten, bis alle Anspannung von ihm weicht, er rücklings den Kopf ins Wasser taucht, und nur noch sein Gesicht mit träumerisch geschlossenen Augen daraus hervorschaut. Als die Hausherrin ihn dabei erwischt, ist der Traum schlagartig vorbei. Ein ganz normaler Kinderstreich kostet Juniors Mutter den Job. Die hat wenig Verständnis für die Verspieltheit ihres Sohnes – dafür aber umso mehr Verbitterung gegen ihn übrig.
Diese Anfangsszene gibt den Ton an für Mariana Rondóns preisgekrönten Film Pelo Malo, auf Deutsch: Schlechtes Haar. Mit seinem dunklen, gelockten Haar und der etwas dunkleren Haut hat der kleine Junior in einer von weißen Schönheitsidealen geprägten Klassengesellschaft zu kämpfen. Zusammen mit dem Nachbarsmädchen sieht er auf Fotos und im Fernsehen weiße Popsänger mit glatten Haaren und Schönheitswettbewerbe mit schlanken Frauen an. Wenn der Fernseher nicht läuft, hören sie abends die Schüsse von der Straße und spielen mit Figuren Schießereien und die Flucht vor einer Vergewaltigung nach. Juniors einzige Oase, das Tanzen oder Singen zu Musik, wird von Marta missbilligt oder sogar untersagt.
Das belastete Verhältnis zwischen Mutter (Samantha Castillo) und Sohn (Samuel Lange Zambrano) wird in Rondóns Film mit schmerzhafter Präzision dargestellt und schauspielerisch auf die Spitze getrieben. Böswillige Blicke, Momente des Schweigens und stichelnde Kommentare erzeugen eine angespannte Stimmung – die auch manchmal kippt: Etwa als die Mutter scheinbar wohlwollend mit ihm tanzt, und ihr Lied auf einmal zu einem aggressiven Gesang wird, in dem sie Junior anschreit und ihre angestaute Wut auf ihn herauslässt.
Die psychologische Tiefe dieser sozialkritischen Erzählung legt die rassistischen und gleichzeitig die sexistischen Strukturen der venezolanischen Gesellschaft offen. Während Marta Junior bei jeder Berührung gereizt von sich schiebt, sieht man sie mit ihrem jüngsten Sohn zärtlich und verträumt. Der wiederum hat glatte Haare, weiße Haut und scheinbar einen anderen Vater als Junior. Während Marta sich daran stört, dass der Neunjährige nicht männlich genug ist, muss sie selbst sich ihren Job durch Sex mit dem Chef erkämpfen, und ist der frauenfeindlichen Gesellschaft in ihrer Position als alleinerziehende Mutter ausgeliefert. Doch auch Junior selbst verinnerlicht den gegen ihn gerichteten Rassismus und beleidigt etwa seine Großmutter väterlicherseits – die immerhin noch schwärzer ist als er – mit „du stinkst“. Auch mit dem Nachbarsmädchen, seiner einzigen Komplizin im Film, kommt es immer wieder zu Sticheleien, die klassistische und rassistische Beleidigungen aufgreifen. Beide bereiten sich auf das Foto vor, das für den Schulbeginn von ihnen gemacht werden soll. Sie träumen von einem anderen Bild ihrer selbst – was von kindlicher Fantasie, aber auch von gesesllschaftlichem Druck zeugt.
Trotz dieses trostlosen Themas gelingt es der Regisseurin, einen Film mit Witz zu verwirklichen, der durch eine ästhetische Kameraführung und die psychologische Tiefe der Charaktere bereichert wird. Für Außenstehende mag diese Momentaufnahme der venezolanischen Vorstadt zum Teil romantisiert oder dramatisiert wirken – aber der dort herrschende Rassismus ist real. Rondón selbst weiß das als Venezolanerin nur zu gut und erzählt mit viel Feingefühl von den geselllschaftlichen Widersprüchen in ihrem Land.


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Steilvorlage für Maduro

Es klingt so martialisch wie paranoid: Anfang März stellte Barack Obama in einem offiziellen Dekret besorgt fest, dass „die Situation Venezuelas eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“ darstelle. Als hätte die venezolanische Luftwaffe gerade die ersten Angriffe auf das Weiße Haus gestartet, rief der US-Präsident „einen nationalen Notstand“ aus, „um mit dieser Bedrohung umgehen“ zu können. Doch weder hat sein venezolanischer Amtskollege Nicolás Maduro zum antiimperialistischen Erstschlag ausgeholt, noch Obama die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt. Vielmehr werfen die USA Maduros Regierung vor, Menschenrechte zu verletzen und oppositionelle Kritiker*innen gewaltsam zu verfolgen. In Caracas wurde die wenig schmeichelhafte Einstufung als Affront wahrgenommen. Maduro wirft der US-Regierung – angesichts der langen Tradition US-amerikanischer Einmischung in Lateinamerika nicht unbegründet – vor, die Opposition zu unterstützen, um ihn stürzen zu können (siehe Artikel S. 34).

Oberflächlich betrachtet hat die Obama-Administration zunächst „nur“ ihren Job gemacht. Bereits Ende letzten Jahres hatte der Kongress Sanktionen gegen ranghohe Militärs und Regierungsmitglieder Venezuelas beschlossen. Um die Sanktionen rechtskonform umzusetzen, muss Obama aber erst eine Bedrohung der nationalen Sicherheit feststellen. Verständlicherweise löste diese Formulierung nicht nur auf diplomatischem Parkett Unverständnis aus, auch wenn das Weiße Haus beteuert, „missverstanden“ worden zu sein.

Obamas verbale Attacke kam dem innenpolitisch angeschlagenen venezolanischen Präsidenten ziemlich gelegen. Sie lieferte ihm eine unverhoffte Steilvorlage, um von den eigenen Problemen ablenken und seine Bündnispartner*innen hinter sich gegen die „imperialistische Aggression“ aus dem Norden versammeln zu können. Neben der üblichen Rhetorik auf schnell organisierten Demonstrationen und einer Twitter- und Unterschriftenkampagne gegen die Sanktionen wandte sich Maduro in einem offenen Brief auch an die US-amerikanische Öffentlichkeit. In der New York Times klärte er in einer Anzeige darüber auf, dass Venezuela „in zwei Jahrhunderten Unabhängigkeit nie eine andere Nation angegriffen“ habe und auch weiterhin friedlich und ohne Massenvernichtungswaffen (sic!) auskommen möchte.

Was auch immer Obama genau mit seinen Drohungen erreichen wollte, bewirkt haben sie vor allem eins: Lateinamerika und die Karibik stehen nun geschlossener denn je hinter Maduro. Umgehend bekräftigen die Castro-Brüder auf Kuba ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit der Regierung in Caracas. Dilma Rousseff, Daniel Ortega und Evo Morales folgten gerne Maduros Aufruf, ihm den Rücken zu stärken und Obamas Dekret in einer gemeinsamen Reaktion zu verurteilen. Aber nicht nur die üblichen Verdächtigen der links regierten Länder des ALBA-Bündnisses reagierten pikiert auf die semantische Schärfe Washingtons. Von der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), über die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), bis hin zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierten alle regionalen Bündnisse das Vorgehen der US-Regierung.

Die regionale Integration Lateinamerikas hat ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den USA hervorgebracht. Das zeigt sich nicht nur an Worten: Kuba nimmt im April zum ersten Mal seit 1962 an einem OAS-Gipfel teil – auf Einladung des Gastgebers Panama und auf ausdücklichen Wunsch der Lateinamerikaner*innen. Alle diplomatischen Versuche der USA vergangenen Herbst, diese Aufwertung der sozialistischen Karibikin-sel abzuwenden, schlugen fehl. Amerika verändert sich.


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Obama isoliert im Hinterhof

Die USA fühlen sich bedroht. Dies allein wäre kaum eine Meldung mit Neuigkeitswert, doch lauert die Gefahr dieses Mal direkt vor der eigenen Haustür, im häufig als Hinterhof der USA bezeichneten Lateinamerika. Am 9. März erklärte US-Präsident Barack Obama die Situation in Venezuela zur „außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“. Zugleich verhängte er Sanktionen gegen sieben venezolanische Funktionär*innen. Die US-Regierung wirft ihnen Verletzung von Menschenrechten bei der Unterdrückung oppositioneller Proteste sowie Korruption vor. Die venezolanische Regierung sieht sich hingegen von dem US-Vorgehen bedroht, das sie als Vorbereitung auf eine militärische Invasion wertet. Es sei „der aggressivste Schritt“, den „die USA jemals gegen Venezuela unternommen haben“, sagte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Obama werde „wie Präsident Nixon in Erinnerung bleiben“, warnte er in Anspielung auf den gewaltsamen Sturz Salvador Allendes in Chile 1973.
Obamas Bedrohungsvokabular entspringt dem International Emergency Economic Powers Act, einem US-Gesetz aus dem Jahre 1977, mit dem der Präsident im Falle einer erklärten Bedrohung ohne Zustimmung des Kongresses Sanktionen verhängen kann. Neben Venezuela gelten derzeit unter anderem Iran, Syrien, Nordkorea und Russland als „außergewöhnliche Bedrohung“. Der US-Kongress selbst hatte bereits im vergangenen Dezember Sanktionen gegen venezolanische Funktionär*innen beschlossen. Ende Februar konterte Venezuela mit Gegensanktionen, nachdem Maduro die US-Regierung bezichtigt hatte, in einen kürzlich aufgedeckten mutmaßlichen Putschplan verwickelt zu sein. Es kam zur Verhaftung mehrerer Militärs und des Bürgermeisters des Großraums Caracas, Antonio Ledezma. Über gegenseitige Botschafter*innen verfügen beide Länder bereits seit eines Streits über den designierten US-Botschafter im Jahr 2010 nicht mehr.
Sollte Obama sich im Zuge der politischen Annäherung an Kuba erhofft haben, Venezuela in Lateinamerika isolieren zu können, ging der Schuss nach hinten los. Für die innerhalb wie außerhalb Venezuelas stark in der Kritik stehende Regierung Maduro wirken die Sanktionen aus Washington fast wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur die Linke Lateinamerikas stellt sich in dem Konflikt kategorisch hinter Venezuela. Keine einzige Regierung des Subkontinents unterstützt das einseitige Vorgehen der USA. Die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) forderte die Aufhebung des Dekretes, sprach sich deutlich gegen „äußere Einmischung“ sowie „einseitige Maßnahmen“ aus und mahnte zum Dialog. UNASUR-Generalsekretär Ernesto Samper warnte, die Sanktionen könnten in „der bereits polarisierten Situation“ dazu beitragen, „die Gemüter zu radikalisieren“. Die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), der alle lateinamerikanischen und karibischen Länder des Kontinents, nicht jedoch Kanada und die USA angehören, hatte im Februar bereits die Sanktionen des US-Kongresses zurückgewiesen. Die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) forderte Obama ebenfalls dazu auf, die Maßnahmen zurückzunehmen und sprach sich für einen Dialog aus. Auch José Miguel Insulza, scheidender Generalsekretär der US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bezeichnete Obamas präsidiale Verfügung als „sehr hart“. Selbst aus den Reihen des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) kamen vereinzelt kritische Töne. Der Gouverneur des Bundesstaates Lara, Henri Falcón, sprach von einem „schlechten Dienst für die venezolanische Opposition“.
Maduro selbst ging in die Offensive und beantragte in der Nationalversammlung umgehend legislative Vollmachten, um „den Frieden zu sichern“. Bereits sechs Tage nach Obamas Verfügung bewilligte das Parlament das thematisch breit formulierte „antiimperialistische“ Bevollmächtigungsgesetz. Bis Ende Dezember kann Maduro nun Dekrete mit Gesetzesrang in den Bereichen „Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Immunität, territoriale Integrität, nationale Selbstbestimmung und Frieden“ erlassen.
Es ist bereits das zweite Mal, dass Maduro mit Vollmachten regiert, die das Parlament dem Präsidenten laut venezolanischer Verfassung verleihen kann. Ende 2013 hatte ihm die Nationalversammlung für zwölf Monate Vollmachten in den Bereichen Wirtschaft und Korruption erteilt, die er für insgesamt 50 Dekrete und Gesetzesänderungen nutzte. Spürbare positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage oder die Korruption konnten dadurch bisher nicht erreicht werden. Bereits auf Grundlage der alten Verfassung von 1961 nutzten verschiedene Präsidenten die Möglichkeit, sich zeitlich begrenzte gesetzgeberische Vollmachten erteilen zu lassen. Maduros Vorgänger Hugo Chávez ließ sich zwischen 1999 und 2013 viermal bevollmächtigen. Wenngleich das gewählte Parlament über präsidiale Dekrete nicht debattiert, könnte die Bevölkerung laut der Verfassung von 1999 sogenannte Aufhebungsreferenden über einzelne Gesetze und Dekrete erzwingen. Bei Gesetzen, die durch Präsidialdekrete zustande gekommen sind, müssten dies fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler*innen per Unterschrift einfordern. Gebrauch gemacht wurde von diesem direktdemokratischen Recht bisher allerdings noch nie.
Für Maduro könnten es vorerst die letzten Vollmachten sein. Voraussichtlich Ende des Jahres wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt. Auch wenn noch nicht absehbar ist, ob die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten ihre Mehrheit verlieren, so ist es zumindest wahrscheinlich, dass sie die zur Erteilung von Vollmachten nötigen drei Fünftel der Abgeordneten nicht erreichen werden.
Die Opposition wirft Maduro vor, mit den Vollmachten gegen kritische Stimmen vorgehen zu wollen und die Konfrontation mit den USA dazu zu nutzen, von internen Problemen abzulenken. Seit dem Tod des damaligen Präsidenten Hugo Chávez vor gut zwei Jahren steckt Venezuela in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Die gesellschaftliche Polarisierung führt immer wieder zu gewalttätigen Protesten und harten Reaktionen seitens der Sicherheitskräfte. Wenngleich die Grundversorgung mit Lebensmitteln in Venezuela weiterhin sichergestellt ist, sind einige Produkte wie Milch, Kaffee, Maismehl sowie verschiedene Hygieneartikel rar und sorgen für lange Schlangen vor den Supermärkten. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr gut 64 Prozent und bedroht mittlerweile die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära. Das auf mehreren parallelen Kursen basierende Wechselkurssystem und die Devisenkontrollen begünstigen kleine wie große Betrügereien. Der zurzeit niedrige Erdölpreis trägt zu einer Verschärfung der Situation bei, indem die Staatseinnahmen sinken und die für Importe nötigen Devisen weiter verknappt werden. Dringend notwendige, aber aufgrund der direkten sozialen Folgen schwierig durchsetzbare Reformen schiebt die Regierung hingegen immer wieder auf. Dazu zählt etwa eine Preisanhebung des innerhalb Venezuelas bisher beinahe gratis verteilten Benzins und eine grundlegende Überarbeitung des Wechselkurssystems (siehe LN 487). Die Regierung wirft oppositionellen Kreisen und privaten Unternehmer*innen vor, einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung zu führen und das Warenangebot gezielt zu verknappen. Dass viele Unternehmen die mit staatlichen Petrodollars erworbenen Produkte horten oder mit deutlich höherer Gewinnspanne über die Grenze nach Kolumbien schmuggeln, ist tatsächlich kein Geheimnis. Doch das allein kann die Krise nicht erklären. Das erdölbasierte Wirtschaftsmodell Venezuelas bleibt auch mit sozialistischem Anstrich weiterhin kapitalistisch und die extrem unterschiedlichen Wechselkurse bieten enorme Anreize für krumme Geschäfte. Wer für den Import von Lebensmitteln etwa Devisen im Wert von 6,30 Bolívares pro US-Dollar erhält, fährt durch den Verkauf zumindest eines Teils der US-Dollar auf dem Schwarzmarkt gigantische Gewinne ein. Mitte März lag der Schwarzmarktkurs mit um die 250 Bolívares pro Dollar etwa bei dem 40-fachen des günstigsten offiziellen Kurses.
In diesem Kontext scheint Obamas Schritt, Venezuela zur „Bedrohung“ zu erklären, allein dazu zu dienen, die venezolanische Krise anzuheizen. Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 sind die Beziehungen zwischen den USA und ihrem zuvor engen Partner Venezuela angespannt. Den gescheiterten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 unterstützte die US-Regierung logistisch und finanziell. Immer wieder lieferte sich der frühere venezolanische Präsident mit der US-Regierung rhetorische Auseinandersetzungen, bezeichnete Obamas Vorgänger George W. Bush öffentlich als „Esel“, „Teufel“ und „Mr. Danger“. Gleichzeitig gelang es ihm, den US-Einfluss in der Region deutlich zurückzudrängen. Die von den USA propagierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheiterte 2005. 2004 gründete sich als solidarischer Gegenentwurf das Staatenbündnis ALBA. Im Jahr 2008 folgte UNASUR und 2011 CELAC.
Bei allen politischen Differenzen bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen jedoch intakt; mit keinem Land treibt Venezuela mehr Handel als mit den USA. Wenngleich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen ist, bleibt Venezuela innerhalb Lateinamerikas nach Mexiko und Brasilien der drittgrößte Handelspartner der USA. Im Jahr 2014 flossen täglich 740.000 Barrel in den Norden. Nach China gingen 536.000 Barrel pro Tag. Nach dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 hatte es zwischen den USA und Venezuela zunächst nach Entspannung ausgesehen. Der US-Präsident versprach Lateinamerika eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Es blieb allerdings bei der Rhetorik. Heute scheint Obama in Lateinamerika isolierter zu sein, als es sein Vorgänger Bush je war. Nun liegt es an den Bemühungen der unterschiedlichen regionalen Integrationsbündnisse auf dem amerikanischen Kontinent, einen ernsthaften Dialog in Gang zu bringen. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño erklärte sich auf Maduros Vorschlag hin dazu bereit, eine Vermittlungsgruppe zu koordinieren. Ecuador hat zurzeit die temporäre Präsidentschaft der CELAC inne. Spätestens auf dem kommenden Amerika-Gipfel am 10. April in Panama könnten sich Vertreter*innen der US-amerikanischen und venezolanischen Regierung direkt begegnen. Den wichtigsten Beitrag zu einem Dialog müsste Obama wohl selbst leisten, indem er seine umstrittene Verfügung zurücknimmt. Die venezolanische Regierung will nun zehn Millionen Unterschriften sammeln, um ihn davon zu überzeugen. Das US-Außenministerium zeigte sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich bereit zu einem Dialog. Dieser könne jedoch „nicht die Probleme in Venezuela lösen“. Dafür sei ein Dialog innerhalb Venezuelas nötig.


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Medienmärchen Nisman

Eine schweigende Masse für Wahrheit und Gerechtigkeit. Es sind hunderttausende empörte Bürger*innen, die „die Gewalt satt haben“ und am 18. Februar protestierend durch Buenos Aires ziehen, um dem verstorbenen Staatsanwalt Alberto Nisman eine letzte Ehre zu erweisen. Sie fordern die Aufklärung seines zweifelhaften Ablebens und „Gerechtigkeit für einen armen Mann, der sein Leben der Wahrheit geopfert hat“. All dies klingt, als müsste man sich direkt in den Schweigemarsch einreihen – wer ist nicht für Wahrheit und Gerechtigkeit? Eine Regierung, die im Verdacht steht, ihre eigenen Staatsanwält*innen zu ermorden: Wem wird nicht unheimlich bei diesem Gedanken?

Genau dieses Bild beschreibt und bezeugt die deutsche Berichterstattung zu Nisman. Wie so oft wird darin unkritisch die Erzählung der großen Medienmonopole in Lateinamerika übernommen und somit ein verzerrtes Bild der politischen Lage vermittelt. Denn zur Demonstration hat die rechte Opposition aufgerufen.
Tatsächlich haben wir es mit venezolanischen Verhältnissen zu tun: Eine Propagandafeldzug, angeführt von einer Gruppe aus Industriellen, rechten Politiker*innen, Großkapital und Medienmacht, die eine progressive Regierung unter Berufung auf Menschenrechtsverletzungen angreift. Dabei beanspruchen sie die Werte sozialer Bewegungen, während sich ihre Macht und ihr Reichtum gerade auf den Gegensätzen zu diesen Werten begründet. Es entsteht ein absurder, fast ironischer Diskurs, verkauft und propagiert von den großen Medienkonzernen in Lateinamerika. Die Demonstration im Februar erinnert an vergleichbare Szenarien der Geschichte, von den Kochtopfdemonstrationen der wohlgenährten Oberschicht in Chile Anfang der 1970er-Jahre bis hin zu den, in deutschen Medien als „soziale Proteste“ dargestellten, gewaltsamen Demonstrationen des antichavistischen Fanatismus in Venezuela 2014.

Der konkrete Fall Nisman wird von der rechten Opposition instrumentalisiert, nicht nur um die aktuelle Regierung zu torpedieren, sondern vor allem um deren potenzielles Erbe zu diskreditieren. Opposition und Medien destabilisieren den eingeleiteten Demokratisierungsprozess, indem seine Werte von Wahrheit und Gerechtigkeit verdreht, entfremdet und verhöhnt werden. Indes gibt es sehr wohl viele Dinge an der Regierung Kirchner zu kritisieren: das Versäumnis Justiz- und Sicherheitssystem strukturell zu reformieren, die Kriminalisierung sozialer Bewegungen, die Staats- und Polizeigewalt in Argentinien und die damit einhergehende, zum Himmel schreiende Straflosigkeit.
Aber diese Straflosigkeit betrifft nicht die demonstrierenden Menschen aus der Ober- und Mittelschicht der Metropolen, sondern vor allem Familien aus den Armenvierteln. Keine*r derjenigen, die zum Schweigemarsch aufgerufen haben und sich Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben, geht auf die Straße, wenn tagtäglich Menschen aus den Armenvierteln entführt, erschossen, ohne Anklage weggesperrt oder in Gefängnissen gefoltert werden. Nismans Kolleg*innen, die die institutionelle Kriminalisierung sozialer Proteste und die systematische Straflosigkeit garantieren, skandieren jetzt: „Schluss mit der Straflosigkeit!“. Daher verkommt der Protest des 18. Februars zu einer Farce. Die Figur Nisman in ein Flaggschiff der Demokratie verwandeln zu wollen, ist – so bedauerlich sein Fall auch sein mag – im besten Fall unglaubwürdig.

Die berechtigte Kritik an den lateinamerikanischen Linksregierungen müsste von anderer Seite kommen und davon sprechen, dass trotz progressiver Diskurse weiterhin Menschenrechte verletzt und tiefgreifende Veränderungen nicht nachhaltig und vehement genug vorangetrieben werden. Die Kritik aus den Reihen der Mächtigen, die ihre partikularen ökonomischen Interessen beeinflusst oder gefährdet sehen und sich dabei auf die Einhaltung der Menschenrechte berufen, ist nicht nur scheinheilig, sondern zynisch und wird aktiv von den Medienmonopolen unterstützt. Für die Medien hier sollte es eine selbstverständliche Verantwortung sein, diese einseitige Meinungsmache zu hinterfragen, anstatt sie blind zu reproduzieren.


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You can always stop and choose

„Ich schaue zurück und sehe auf ein Leben ständiger Kämpfe“, erinnert sich die alte Frau Dauna zu Beginn des Films Lo que lleva el río, der uns auf eine Reise ins Orinocodelta mitnimmt. Die kleine Warao-Gemeinde Janoko im Bundesstaat Delta Amacuro im Osten Venezuelas ist Schauplatz des Films, der von dem Leben einer starken Frau erzählt.

Der Film erzählt die Geschichte von Dauna und ihrer Entschlossenheit. Er erzählt von einem Kapuzinerpriester, der an seinem eigenen Glauben zweifelt und Gott jenseits der Kirche wiederfindet. Er erzählt von einem Leben, das sich uns zugleich vorwärts und rückwärts erschließt, von einer Liebe, die an einem Dilemma zerbricht. Er erzählt von der Kultur der Warao, ihren Mythen. Über die Wolken, wie wichtig es ist, sie zu kennen und sie lesen zu können. Über die Sterne, den Spirit des Ozelots, die Mutter des Sonnenaufgangs. Und über das Dilemma zwischen Tradition und Aufbruch, dem ständigen Hin- und Hergerissensein zwischen Gehen und Bleiben und der Kunst beides zu vereinen.

Der Beginn des Films ist das Ende ihres Lebens. Dauna ist eine alte Frau, die zurückblickt. Langsam erfahren wir ihre Lebensgeschichte, beginnend vom Jetzt in die Vergangenheit. Gleichzeitig sehen wir in einem gegenläufigen Handlungsstrang, wie sie heranwächst. Wir begleiten sie in ihrer kindlichen Neugier, ihrem besonnenen Wissensdurst und sind Zeug*innen, wie sie ihrer Berufung zu lernen und zu lehren folgt, ihrer Idee, den Warao, „ihren Leuten“, Sichtbarkeit zu geben.

Die eigentliche Geschichte der heranwachsenden Dauna wird immer wieder von kurzen Einblendungen aus ihrem Leben als Erwachsene unterbrochen. Retrospektiv erfahren wir etwas über ihr Leben außerhalb des Dorfes, über eine Ehrung für ihr Lebenswerk, eine Entlassung aus dem Gefängnis, ihren Universitätsabschluss in Gefangenschaft, ihre Verhaftung – bis beide Geschichtsstränge, der rückwärts und der vorwärts erzählte, aufeinandertreffen. Durch diese Erzählstruktur wird ein großer Spannungsbogen aufgebaut. Gerne würde man noch mehr über die Geschichte der erwachsenen Dauna erfahren, aber hier beschränkt sich der Film auf kurze Einblendungen, die sich langsam, wie Puzzlestücke zu einem Gesamtbild fügen. In die Tiefe gehen sie jedoch nicht, der Fokus liegt auf dem Leben im Dorf im Orinocodelta – dort, wo all das ist, was Dauna wichtig ist.

Das verbindende Thema von Lo que lleva el río ist der ständige Konflikt zwischen Traditionen und Verpflichtungen einerseits und dem Aufbruch und Wunsch nach Veränderung andererseits. „Ich habe immer riskiert und immer gewählt“, sagt Dauna über sich selbst. Sie hat ihren Preis dafür gezahlt, hat die Verantwortung für ihre Triumphe und ihr Versagen übernehmen müssen. Der Kapuzinerpriester Padre Julio, der in der Mission in Daunas Gemeinde stationiert ist, wird ihr Lehrer und Mentor. Auch Dauna wird Lehrerin in der Nonnenschule, aber sie hat ihre eigene Art und Weise zu lehren, die bei den Nonnen der Mission auf Ablehnung stößt. Sie hat auch ihre eigene Art und Weise zu leben, die ihr Konflikte mit ihrem Mann Tarsicio und Teilen der Dorfgemeinschaft einbringt. „Dauna ist anders“, sagt ihr Vater in einem Gespräch mit Padre Julio: „Am Ende wird sie ihre eigenen Entscheidung treffen.“

Daunas Vater ist eine der schönsten Figuren der Geschichte, in seiner sanften Ruhe und Gelassenheit akzeptiert er seine Tochter und all ihre Entscheidungen gegen Konventionen, hält zu ihr, während andere glauben, sie bringe Unglück über das Dorf. Padre Julio, gleichzeitig mit ethnologischer Forschung in der Warao-Gemeinde beschäftigt, hat seine eigenen Konflikte mit seinem Glauben, seinem Orden, mit seinen Vorstellungen, was Dauna aus ihrem Talent machen soll und seinen Gefühlen für sie. „Wenn wir verzweifelt nach einem Wandel suchen, rennen wir vor etwas davon“, ist die Weisheit, die Daunas Vater ihr mit auf den Weg gibt.

Lo que lleva el río ist das Spielfilmdebüt des kubanischen Dokumentarfilmers Mario Crespo und der erste venezolanische Film in der Sprache der Warao, der zweitgrößten indigenen Ethnie des Landes. Behutsam und in langer liebevoller und respektvoller Recherche hat sich Crespo, der selbst in Venezuela lebt, seinem Thema und den Protagonist*innen seines Filmes, den Warao, gewidmet. Die Personen im Film und die Art, über sie zu erzählen, haben eine schlichte Ehrlichkeit. Crespos Film gelingt es, unaufdringlich und doch nah zu sein, und meist widersteht er der Gefahr, in kitschige Romantisierungen abzugleiten.

So fließt Lo que lleva el río dahin wie ein ruhiger Fluss. Nicht umsonst kommt der Fluss im Titel vor, denn das Wasser ist allgegenwärtig im Orinocodelta. Es ist ein leiser Film mit einer sanften und nahen, fast zärtlichen Kamera. Er gibt Zeit für eine Kindheit, ein Erwachsenwerden, Träumen, Kämpfen, Leiden, Trauern und Versöhnung. Zeit für die Entstehungsmythen und Kosmovisionen der Warao, die von einer Generationen zur nächsten übertragen werden. „Es ist gut die Wolken zu kennen und sie zu lesen“, lernt Dauna als kleines Kind und so auch ihre Tochter Waniku.

Der Film zeigt, dass es immer eine Möglichkeit gibt zu wählen. Es geht mehr um eine Frau an sich, als um eine indigene Frau, erklärt Mario Crespo. Das persönlich beschriebene Dilemma zwischen der Liebe zu ihrer Kultur und dem Festhalten an Traditionen und dem Wunsch, sich zu verändern, zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film. Er zeigt, dass es nicht darum geht, eine Kultur zu konservieren. Es geht um das Recht sich zu verändern und zu wachsen, ohne deshalb das „Fortwährende“ aufgeben zu müssen. Es geht Dauna darum, das zu Vergessene und das Ewige zu vereinen. „Ich bin froh zu sehen, dass dich nichts gestoppt hat“, sagt Daunas Vater bei ihrer Rückkehr ins Dorf.


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Kampf mit den Marktkräften

Es war der vorletzte Tag der Sondervollmachten, die das Parlament dem venezolanischen Präsidenten für ein Jahr verliehen hatte, und er nutzte ihn fulminant: Ende November unterzeichnete Nicolás Maduro eine ganze Reihe von Gesetzen, die in erster Linie auf die krisenhafte wirtschaftliche Situation reagieren. Insgesamt 45 Gesetzesänderungen und Dekrete, deren Inhalt die Regierung erst in den Wochen nach der Unterzeichnung bekannt gab, befassen sich unter anderem mit einer Steuerreform, der Kontrolle und Ankurbelung der Wirtschaft, Korruptionsbekämpfung, Bürokratieabbau, Währungspolitik und Tourismus.

Die spürbarsten Merkmale der Krise in Venezuela sind derzeit Inflation und Warenknappheit. Zwar ist eine hohe Inflationsrate in der venezolanischen Rentenökonomie keine Neuheit – in den 1990er Jahren lag sie teilweise bei Jahreswerten von über 100 Prozent und auch in der Chávez-Ära betrug sie im Durchschnitt über 20 Prozent. Seit dem Tod des Präsidenten 2012 hat sie sich allerdings stark beschleunigt und wies zuletzt Jahreswerte von mehr als 60 Prozent auf. Die Preissteigerung bei Lebensmitteln liegt mit mehr als 90 Prozent sogar noch deutlich darüber. Zugleich sind viele Waren des täglichen Bedarfs nur schwer oder gar nicht zu bekommen, was zu langen Schlangen, stundenlangem Warten und Wucher führt.

Durch eine Mindestlohnsteigerung von knapp 65 Prozent hat die Regierung als Reaktion auf die steigenden Preise einen Inflationsausgleich für die untersten Lohngruppen verordnet und glaubt man ihren Aussagen, dann hat die Sozialpolitik bislang ein Durchschlagen der Krise auf die ärmeren Bevölkerungsteile verhindern können. So versicherte Präsident Maduro im November, dass im Gegensatz zu den 1980er und 90er Jahren die Armut in Zeiten hoher Inflation nicht gestiegen sei. Die Arbeitslosenquote verharrt nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts (INE) bei etwa sieben Prozent. Zumindest in der subjektiven Wahrnehmung ist die aktuelle Situation aber für immer mehr Menschen unerträglich, frisst die Preissteigerung doch die allermeisten Lohnanpassungen unverzüglich auf.

Hinzu kommt ein wachsendes Loch im staatlichen Haushalt. Aktuell wird es auf 15 bis 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt, was in den vergangenen zwei Jahren zu einem deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung geführt hat, durch die sich Venezuela vor allem in die Abhängigkeit von China begibt. Ursache waren die expansiven staatlichen Ausgaben der vergangenen Jahre, mit denen unter anderem die zahlreichen Sozialprogramme, vor allem aber auch die Importe finanziert wurden von denen der Konsum weitgehend abhängt. Waren die hohen Ausgaben schon zuvor ein Problem, so stellt der Verfall des Erdölpreises um 30 bis 40 Prozent im Herbst 2014 die venezolanische Regierung vor eine besonders schwierige Situation.

Das von Maduro verkündete Reformpaket wirkt auf den ersten Blick wie der Versuch eines Befreiungsschlags, der zeigen soll, dass die Regierung das Heft in der Hand hält und angesichts der unbefriedigenden Situation nicht untätig bleibt. Doch ist zu bezweifeln, dass die neuen Maßnahmen ernsthaft dazu beitragen werden, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen.

So adressiert eine kleine Steuerreform zwar das Haushaltsdefizit und versucht über eine Steuererhöhung für Luxusgüter, Tabak und Alkohol sowie Ausgabenkürzungen bei den Gehältern hoher Regierungsbeamter – allen voran des Präsidenten selbst – und bei „Luxusausgaben“ die Neuverschuldung zu drosseln. Die seit etwa einem Jahr diskutierte Kürzung der Subventionierung des Benzins, das in Venezuela praktisch kostenlos ist und den Staat Jahr für Jahr Milliarden kostet, wird aber immer weiter verschoben.

Darüber hinaus soll eine Kommission weitere überflüssige Ausgaben ausmachen, um den Staatshaushalt zu verschlanken – ohne jedoch die Sozialausgaben zu kürzen, versicherte Maduro. Hinzu kommen Versuche, durch weitere Kontrollen die Einhaltung bestehender Gesetze zu verbessern und beispielsweise Gewinnspannen über 30 Prozent zu verhindern. Angesichts grassierender Preisspekulation, Wucher und traditionell schwach ausgeprägter und ineffizienter staatlicher Behörden ist das ein hehres Ziel. Denn Die meisten Preise orientieren sich trotz diverser gesetzlicher Obergrenzen ohnehin am explodierenden Schwarzmarktkurs statt an tatsächlichen Einkaufspreisen.
Die Reformen greifen jedoch zu kurz und ignorieren weitgehend die wichtigste Ursache der krisenhaften Situation, die in einem völlig unfunktionalen Wechselkursregime liegt. Seit den Unternehmerstreiks 2003 herrschen in Venezuela strikte Devisenkontrollen und festgesetzte Wechselkurse, die mit dem Ziel eingeführt wurden, Kapitalflucht zu unterbinden und Spekulationsangriffe auf die Landeswährung Bolívar zu verhindern. Dieses Ziel erfüllten sie zeitweise auch tatsächlich. Seit einigen Jahren hat sich das System jedoch zu einem bürokratischen Monstrum mit verheerenden Effekten für die Wirtschaft des Landes entwickelt. Denn der deutlich überbewertete Wechselkurs verbilligte die Importe enorm, während die ohnehin schon geringe Produktion des Landes jeder Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt beraubt wurde. Zugleich muss der Staat alle Devisen, die für das Funktionieren der Volkswirtschaft benötigt werden, zur Verfügung stellen, da die Privatwirtschaft lediglich etwa vier Prozent der Devisen selbst erwirtschaftet. Angesichts der großen Menge an Importen war dies in Zeiten eines Erdölpreises von etwa 100 US-Dollar zwar zu bewerkstelligen, es beraubte den Staat aber teilweise der Möglichkeit, die enormen Gewinne des Erdölexports in die Entwicklung des Landes zu investieren.

Hinzu kommt derzeit aber ein noch größeres Problem. Denn weil die Erdöl-Dollars offenbar nicht ausreichen, um die Nachfrage nach Devisen zu befriedigen und möglicherweise befeuert durch Spekulationsattacken, ist der Schwarzmarktkurs in extreme Höhen geschossen. Anfang Dezember wurde er mit über 170 Bolívares gehandelt, was dem 27-fachen des günstigsten offiziellen Wechselkurses von 6,3 Bolívares entspricht. Hinzu kommen zwei weitere legale Wechselkurse von etwa 12 beziehungsweise 50 Bolívares pro US-Dollar, die je nach Zweck der Verwendung gewährt werden. Diese Differenzen machen für diejenigen, die Zugang zu den staatlich kontrollierten Devisen haben, unglaubliche Spekulationsgewinne möglich. So stehen Importunternehmer, denen US-Dollar zum Präferenzkurs von 6,3 bewilligt wurden beispielsweise vor der Wahl, die Waren legal mit einer erlaubten Gewinnmarge von 30 Prozent zu verkaufen, oder aber die erhaltenen Dollars zum Schwarzmarktkurs zu tauschen und dabei Gewinne von 2.000 bis 3.000 Prozent zu erzielen.

So ist durch die Währungspolitik ein völlig undurchschaubarer Markt von Devisenspekulationen entstanden, der gigantische Gewinne abwirft und es ist davon auszugehen, dass auch zahllose Mitglieder der staatlichen Verwaltung und der Regierung in ihn involviert sind. So bemängelte im Frühjahr 2013 die Kurzzeit-Präsidentin der Zentralbank, Edmée Betancourt, dass dem Staat allein im Jahr 2012 etwa 20 Milliarden US-Dollar (!) verloren gegangen seien – durch Briefkastenfirmen geschleust und dann verschwunden. Nach nur drei Monaten im Amt musste sie ihren Posten räumen. Bereits Anfang desselben Jahres hatte der damalige Planungsminister Jorge Giordani öffentlich beklagt, dass durch das staatliche Devisensystem bis zu 25 Milliarden US-Dollar abhanden gekommen seien.

Seitdem geistert die Zahl der 20 Milliarden verschwundenen Dollar durch kritische Debatten an der chavistischen Basis. Inspiriert von den Aussagen Betancourts errechneten Aktivist*innen von Marea Socialista, einer Strömung der sozialistischen Regierungspartei PSUV, für den Zeitraum von 1998 bis 2013 eine Kapitalflucht in Höhe von 259 Milliarden Dollar. Der marxistische Ökonom Manuel Sutherland rechnete dann auch gleich vor, mit welchen Methoden dies möglich ist. Denn tatsächlich werde nur ein Bruchteil der Waren importiert, für die Devisen bewilligt wurden. Durch Leerkäufe und künstlich überhöhte Importpreise existierten viele Waren nur auf dem Papier, die Dollars aber, mit denen sie tatsächlich oder vorgeblich gekauft wurden, strichen die Importunternehmen ein. Und ein nicht unwesentlicher Teil der Waren, die tatsächlich in Venezuela ankommen, landen statt in den Supermarktregalen entweder bei informellen Händler*innen, die ein Vielfaches der teilweise regulierten Preise verlangen oder über Schmugglerrouten in Kolumbien – die Regierung spricht von etwa 30 Prozent.

Die Maduro-Regierung sieht diese Entwicklung einzig als einen „Wirtschaftskrieg“ der alten Eliten gegen das Projekt der bolivarianischen Revolution, spricht von einer „induzierten“ Inflation und gibt der Bourgeoisie die Schuld an den Versorgungsengpässen, weil diese die Waren horte oder aus dem Land bringe, um die Gewinnmargen in die Höhe zu treiben. Nun ist diese Beschreibung zwar nicht gänzlich falsch; sie übergeht aber geflissentlich, dass die Anreize zu diesen Handlungen durch das gigantische Wechselkursdifferential künstlich ins Unermessliche getrieben werden. In einer kapitalistischen Wirtschaft von den Marktteilnehmer*innen zu erwarten, dass sie nicht danach streben, ihre Profite zu maximieren, ist im besten Fall gutgläubig. Und dass sie es angesichts zwar zahlreicher aber doch laxer Kontrollen durch einen von schwacher Institutionalität geprägten Staatsapparat dann auch jenseits des engen gesetzlichen Rahmens tun, ist zwar verurteilenswert, aber kaum überraschend.

So zeigt sich deutlich, dass die Regierung für eine ernst gemeinte Lösung der Krise nicht darum herum kommt, die Währungspolitik anzugehen und die Wechselkurse zumindest in die Nähe ihres Marktwertes zu bringen. Wirtschaftswissenschaftler wie der ehemalige Industrieminister unter Chávez, Víctor Álvarez, geben als Referenzwert eines auf diese Weise vereinheitlichen Wechselkurses mindestens 35 Bolívares pro Dollar an. Zu ähnlichen Schätzungen kommen der Analyst der Bank of America, Francisco Rodríguez, oder der US-Ökonom Mark Weisbrot, während andere einen deutlich höheren Kurs veranschlagen. Dies würde die Dollararmut zu beenden helfen und zugleich dem Staat enorme Einnahmen in der Landeswährung verschaffen, die er wiederum einsetzen könnte, um die sozialen Effekte eines solchen Schrittes abzufedern. Andernfalls dürfte es nicht mehr lange möglich sein, die enormen Staatsausgaben zu schultern, die sich neben den üblichen Ausgabenposten durch die Importe, Subventionen und die große Zahl öffentlicher Angestellter ergeben.

Unabhängig von der Frage, welcher Lösungsansatz der richtige ist, sind sich die meisten unabhängigen Analyst*innen rechts wie links einig darin, dass der Status Quo untragbar ist. Die Regierung bleibt dennoch bislang weitgehend untätig, doktert bestenfalls an Symptomen herum und scheint wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Auch wenn davon auszugehen ist, dass spätestens – und viel zu spät – Anfang 2015 Schritte in Richtung einer Reform der Währungspolitik unternommen werden, drängt sich der Eindruck auf, dass die Regierung nicht Willens oder nicht fähig ist, die aktuelle Situation zu lösen. Mögliche Gründe für diese Passivität gibt es viele; zwei stechen allerdings besonders hervor.

Einerseits befindet sich die Regierung in einer Zwickmühle, denn sie hat mit einer Art „Demokratieproblem“ zu kämpfen: Die notwendigen Maßnahmen zur Korrektur des Wechselkursdilemmas können je nach Umsetzung vorübergehend schmerzhaft sein und so befürchtet die politische Führung womöglich, dass die Ergebnisse der im kommenden Herbst anstehenden Parlamentswahlen gefährdet sind.

Andererseits – und das wäre die wesentlich unangenehmere Erklärung – ist allgemein bekannt, dass Teile des Staatsapparates und der Regierung in die Korruption und den Devisenbetrug verwickelt sind. Dies war auch in der Regierungszeit von Hugo Chávez nicht anders, der allerdings zumindest den Eindruck erweckte, das Ausmaß der Korruption in gewissen Grenzen halten zu können. In der aktuellen Situation scheint hingegen, als ob der „korrupte Teil“ der Regierung so viel Macht gewonnen hat, dass er verhindern kann, den absurden Status Quo zu überwinden.


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Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.


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Chávez spukt in Spanien

Es war etwas still geworden um die Indignados. Nachdem im Jahr 2008 die Immobilienblase in Spanien geplatzt war, hatte sich eine vielbeachtete Protestbewegung der Empörten gebildet, die als 15M-Bewegung für Furore sorgte. Ihre Wut trugen die vorwiegend jungen Menschen von der Plaza del Sol in Madrid aus auf die Plätze und Straßen Spaniens. Wut angesichts einer Krise, die viele Menschen in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohte und Familien knallhart aus ihren Wohnungen rausschmiss.

Diese Wut schien im verkrusteten spanischen Parteiensystem zu verpuffen. Die Regierungspolitik unterwarf sich den Vorgaben der EU-Troika, rettete Banken und ignorierte die Probleme der vielen Millionen Menschen, die in Spanien der Verelendung entgegensahen. In dieser unerträglichen Situation zeigte sich für viele Spanier*innen, auch jene, die nicht der Linken nahe standen, wie wenig die Souveränität in einer kapitalistischen Demokratie tatsächlich vom Volke ausgeht. In diesem politischen Klima kombinierten die Indignados treffend Kapitalismuskritik mit Forderungen nach demokratischer Teilhabe. Doch trotz allem saßen die sozialdemokratische PSOE und die rechtskonservative PP scheinbar so fest im Sattel wie eh und je.

Scheinbar. Denn neben den öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen widmeten sich die Indignados der Basisarbeit, die zwar weniger sichtbar, aber dafür um so wirksamer und nachhaltiger war. Sie bildeten Nachbarschaftsvereine, die gegen Zwangsräumungen protestierten und diese bisweilen verhinderten, die Hilfe organisierten und die sich Gedanken über eine andere politische Ordnung machte. Diese Graswurzelbewegung trägt nun politische Früchte. In Form der Parteigründung Podemos erreichte die Wut der Indignados Anfang 2014 erstmals die politische Bühne der parlamentarischen Demokratie. Die neue Partei erzielte bei den Europawahlen im Mai mit acht Prozent bereits einen Achtungserfolg. Laut aktuellen Umfragen hat Podemos sogar Chancen, die Parlamentswahlen im Jahr 2015 zu gewinnen. Der Parteichef, der charismatische Politikdozent Pablo Iglesias, hat vor allem ein Ziel: Die Neugründung Spaniens mittels einer verfassungsgebenden Versammlung. Das neue Spanien soll das Erbe des postfrankistischen Kompromisses beseitigen und die Regierungspolitik in die Interessen der Bevölkerung und nicht des Kapitals stellen. Intern macht Podemos bereits vor, wie Demokratie funktionieren kann. Landesweit haben sich 900 Basisgruppen der Partei gebildet, über das Internet arbeiten Tausende Unterstützer*innen am Parteiprogramm mit. Der scheinbare Dornröschenschlaf der Indignados ist beendet, sie sind in der Politik angekommen, um zu bleiben.

Denn Podemos ist als Ausdruck einer landesweiten sozialen Bewegung weit mehr als eine der Protestparteien, wie sie sich in Europa häufig eher am rechten Rand herausbilden. Die Vorbilder oder Vorläufer der neuen Partei sind weniger auf dem europäischen Kontinent zu suchen, sondern in den linken Transformationsprojekten Lateinamerikas. Die sichtbarsten Politiker*innen von Podemos beziehen sich ausdrücklich positiv auf Venezuela oder Bolivien, haben in diesen Ländern in den vergangenen Jahren gearbeitet und die linken Regierungen und Bewegungen aus nächster Nähe verfolgt.

Auch in den lateinamerikanischen Ländern vergingen zwischen der Repräsentationskrise der parlamentarischen Demokratie, ausgelöst durch die neoliberale Regierungspolitik der 1980er und 1990er Jahre, und der Herausbildung eines konkreten Gegenprojektes mehrere Jahre. In Venezuela, Bolivien und Ecuador waren verfassungsgebende Versammlungen unter breiter Bevölkerungsbeteiligung der erste Hebel, um die festgefahrenen politischen Systeme auf demokratischem Wege zu transformieren.

Die Vergleiche zwischen Podemos und Chávez, zwischen Stadtteilbewegungen in Caracas und Madrid sind freilich begrenzt, egal, ob sie zustimmend oder ablehnend formuliert werden. Doch die Indignados haben durchaus die venezolanischen Erfahrungen mitbedacht und daraus gelernt. Das zeigt, dass die lateinamerikanischen Transformationsprojekte der letzten Jahrzehnte kein regionales Phänomen bleiben müssen. Denn Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus ist gewiss nicht nur in Lateinamerika verbreitet.


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