KRYPTISCHER SCHULDENPOKER

Die Aussagen sind kryptisch: In seiner fünfstündigen Fernsehsendung sagte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro am 3. Dezember, das digitale Geld mit dem Namen Petro werde das Land ins 21. Jahrhundert führen: “Damit werden wir unsere Währungshoheit zurückerlangen. Der Petro wird uns gegen die US-Finanzsanktionen helfen. Wir können neue Formen der internationalen Finanzierung schaffen, die der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unseres Landes dienen. Gestützt wird der Petro durch unsere Reserven an Gold, Erdöl, Gas und Diamanten.” Dabei ließ Maduro offen, wie mit dem Petro Finanzsanktionen umgangen werden sollen. Die USA haben im Sommer Sanktionen gegen Venezuela verhängt. Unter anderem ist der Handel mit venezolanischen Staatsanleihen untersagt.

Was aus dem Petro wird, bleibt vorerst ein Rätsel, die Schuldenproblematik Venezuelas ist indes akut. Die Bedienung der drückenden Schuldenlast verschlingt durch Zins- und Tilgungszahlungen zig Milliarden Dollar, die dann nicht für Importe zur Verbesserung der teils desaströsen Versorgungslage zur Verfügung stehen. Venezuela ist mit geschätzten 155 Milliarden Dollar (133 Milliarden Euro) bei ausländischen Gläubiger*innen verschuldet und derzeit müssen mindestens zehn Milliarden Dollar pro Jahr für den Schuldendienst aufgebracht werden.

Anfang November kündigte Maduro an, zu den laufenden Konditionen keine Schuldenzahlungen mehr leisten zu wollen, und forderte die Anleihegläubiger*innen auf, über eine Refinan­zierung oder eine Restrukturierung der Schulden zu verhandeln. Dabei geht es nicht um die gesamten Schulden, sondern ausschließlich um die Auslandsschulden Venezuelas und die internationalen Schulden der staatlichen Erdölfirma PDVSA: rund 66 Milliarden Dollar.

Einen ersten Erfolg kann Maduro vorweisen: Mit Russland gab es Mitte November eine Einigung. Caracas bekommt demnach mehr Zeit, um einen Kredit aus dem Jahr 2011 zurückzuzahlen. Gemäß der neuen Vereinbarung können die 3,15 Milliarden Dollar in den kommenden zehn Jahren getilgt werden. Zwar ist China mit 21 Milliarden Dollar Forderungen ein größerer Gläubiger als Moskau, doch Russland ist stärker direkt verflochten: Russlands Ölkonzern Rosneft gewährte seinem Pendant PDVSA von 2015 bis 2017 Vorauszahlungen für Rohöllieferungen über fast 6 Milliarden Dollar. Die sollen bis Ende 2019 durch Öllieferungen beglichen werden. Zudem hat Rosneft sich in Venezuela in fünf Förder- und Explorationsprojekte von PDVSA eingekauft.

Die Sicherheitsleistungen von PDVSA entbehren nicht einer gewissen Pikanterie: PDVSA hinterlegte bei Rosneft unter anderem einen Anteil von 49,9 Prozent an Citgo, einem großen Raffinerie- und Tankstellenbetreiber in den USA, den PDVSA seit 1990 mehrheitlich kontrolliert. Die USA haben deswegen ein Eigeninteresse, dass PDVSA nicht zahlungsunfähig wird: Denn dann könnte sich Rosneft bevorzugt aus der Konkursmasse bedienen und durch die Hintertür in den US-Markt einsteigen.

Die USA sind der wichtigste Abnehmer venezolanischer Ölexporte. Von den täglich zwei Millionen Barrel, die in Venezuela noch gefördert werden, gehen rund 700 000 in die USA. Dafür fließen derzeit täglich rund 30 Millionen US-Dollar nach Caracas, was die schwindsüchtige Staatskasse gut gebrauchen kann. 96 Prozent der Exporterlöse und 60 Prozent der Staatseinnahmen Venezuelas kommen aus der Ölindustrie. Der Ölpreisverfall seit 2014 belastet die Zahlungsfähigkeit schwer und der Poker ist noch nicht zu Ende.

 


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DREI STÜCKE SEIFE FÜR EINEN MINDESTLOHN

Drei Stücke Seife legt Jonathan auf das Kassenband und erklärt: „Das hier, das entspricht einer Woche Mindestlohn.“ Wir stehen in einer der Markthallen von Cecosesola in der Millionenstadt Barquisimeto, im Nordwesten von Venezuela. Trotz der regelmäßigen Anpassungen des Mindestlohns durch die Regierung hat die Hyperinflation die Kaufkraft eines Großteils der Bevölkerung längst geschluckt. 50 Prozent Inflation allein im Oktober. Im Juli soll sie noch bei etwa 35 Prozent gelegen haben. Ein Monat Mindestlohn ist heute in etwa zehn Dollar wert – zu dem Wechselkurs, der auf der Straße herrscht.

„Das hier entspricht einer Woche Mindestlohn.”

Cecosesola, ein Kooperativennetzwerk, das etwa 20.000 Leute in verschiedenen Bundesstaaten umfasst, die in 40 Kooperativen organisiert sind,  wurde im Dezember 2017 50 Jahre alt. Es hat im Lauf der Zeit eine Vielzahl von Commons, von Gemeingütern, rund um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung geschaffen: Drei große und mehrere kleinere Wochenmärkte in Barquisimeto, eine Gemeinschaftsklinik und dezentrale ärztliche Versorgung in einigen Stadtteilen, ein Bestattungsinstitut – alles zu fairen Preisen sowohl für Konsument*innen als auch Produzent*innen und Dienstleister*innen. Und was in der aktuellen Krise, die Venezuela durchlebt, besonders wichtig ist: eigene Produktion von Nahrungsmitteln und Grundbedarfsgütern verschiedenster Art, von Gemüse über Nudeln oder Müsli bis hin zu Putzmitteln.

Die Kooperative hat heute eine Schlüsselrolle in Barquisimeto: Am Tag meiner Ankunft kaufen allein in einer der großen Markthallen 15.000 Menschen ein – das macht rund 45.000 in allen drei Hallen, die in verschiedenen Teilen der Stadt liegen. „Das ist nicht überdurchschnittlich für einen Tag, es waren auch schon mal viel mehr“, meint Jonathan. Die Markthallen sind vier Tage pro Woche geöffnet, von Donnerstag bis Sonntag.

Auf Whatsapp wird über Maismehl, Zucker und Nudeln diskutiert.

Vor der Halle schiebt sich eine lange Warteschlange zäh über den weiten Parkplatz bis ins Innere, wo die Kund*innen eine Plastikkarte vorzeigen. 250.000 solcher Ausweise hat Cecosesola bisher ausgegeben, das entspricht jeder sechsten Einwohner*in der Stadt, und es werden wöchentlich mehr. Santiago, der mit mir aus Caracas angereist ist, staunt: „Die Stimmung hier hat mit anderen Schlangen in diesem Land nichts gemein. Soviel Respekt, soviel Ruhe und Freundlichkeit“.

Schlangestehen gehört heute zum Alltag in Venezuela. Ein Großteil der Kommunikation dreht sich um Grundnahrungsmittel: Wo sich plötzlich Bezugsquellen auftun, was wieder um wie viel teurer geworden ist, seit wann das staatlich subventionierte Essenspaket des CLAP, des „lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees“, nun schon ausbleibt. Die Nachrichtenapplikation Whatsapp ist ein Schlüsselinstrument der populären Krisenökonomie, wenn irgendwo Maismehl, Zucker oder Nudeln auftauchen. Die Schlangen selbst sind zu Orten der Spekulation und Gewalt geworden: Manche Leute verbringen die ganze Nacht auf den ersten Plätzen vor bestimmten Supermärkten, um dann frühmorgens ihre Vorzugsposition gegen Geld zu verkaufen. Oder aber gegen die Hälfte der Güter, die der Käufer oder die Käuferin dann ergattert, in Naturalien. Denn auch Bargeld ist extrem knapp. Fast alle Transaktionen finden über Kredit- oder Debitkarten statt. 50 Dollar in Bolívars füllen eine mittelgroße Sporttasche, und wer damit von der Polizei auf der Straße erwischt wird, gerät leicht in den Verdacht, mit Bargeld zu spekulieren. Denn viele Leute, so erzählt Santiago, nehmen Kommissionen bis zu 50 Prozent für die Ausgabe von Bargeld. „Am Geldautomaten bekommst du täglich maximal umgerechnet 25 Dollar-Cent“, ergänzt er.

Jonathan erzählt, dass bis vor eineinhalb Jahren auch die Schlangen vor den Märkten von Cecosesola leicht ausarten konnten: „Es hat hier sogar Tote gegeben. Es war ein Alptraum für uns damals.

Viele Regierungsinstitutionen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren.

Nicht nur, dass die Schlange sich um den ganzen Block wand und die Leute mehrere Tage und Nächte pro Woche auf Pappkartons auf dem Gehweg verbringen mussten. Bewaffnete Banden kämpften um die ersten 200 Plätze, um möglichst große Mengen der knappsten Güter zu hamstern und sie dann auf dem Schwarzmarkt weiterzuverkaufen.“ Mit der Einführung der Kundenausweise konnte das Kollektiv von Cecosesola diese Bedrohung eindämmen: Heute gibt es einen Ausweis pro Familie, der zu einem wöchentlichen Einkauf in einem der Märkte berechtigt. Strohmänner sind dadurch schwerer einzusetzen: Die elektronische Registrierung beim Eintritt in die Halle verhindert Mehrfacheinkäufe und erkennt Leute, die gestohlen haben.

Die Wirtschaftskrise trifft nicht alle Menschen in Venezuela gleichermaßen. Ähnlich wie in Kubas Spezialperiode entsteht eine immer tiefere Kluft zwischen denen, die irgendwie an Dollars kommen, und denen, die nur Bolívars zur Verfügung haben. Die müssen sich mindestens zwei oder drei Jobs suchen, allein um die Ernährung zu sichern. Viele Venezolaner*innen kündigen formelle Arbeitsverhältnisse, weil der informelle Markt mehr einbringt. Wer Dollars tauschen kann oder als Händler*in mit der Inflation einfach mithält, hat dagegen keine finanziellen Sorgen.

Der Konsum hat sich nicht nur auf das Allernötigste reduziert, sondern die Marktlage hat auch die Essgewohnheiten verändert. Da Maismehl kaum zu bekommen ist, werden die traditionellen Arepas jetzt aus Yuca hergestellt, oder die Frauen stehen um halb fünf Uhr morgens auf, um mit der Hand den Mais zu mahlen.

Die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs sind sehr wichtig.

Santiago hat in den vergangenen zwei Jahren acht Kilo abgenommen – das scheint ein weit verbreiteter Effekt der Krise zu sein. Cecilia erzählt, dass es in der Oberschule, die ihre Söhne besuchen, häufig vorkommt, dass Jugendliche vor Hunger ohnmächtig werden.

Viele Regierungsinstitutionen und Chavist*innen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren. Wo das nicht möglich ist, wird der Wirtschaftskrieg des Imperialismus verantwortlich gemacht. Die jüngsten Sanktionen der EU gegen Venezuela bestätigen diese These. Doch viel weist auch darauf hin, dass mafiöse Netzwerke im Staatsapparat selbst die Knappheit mit produzieren. Jonathan behauptet zu wissen, dass der Staat bis zu 70 Prozent der noch existierenden nationalen Grundnahrungsmittelproduktion, beispielsweise Nudeln, direkt vom Fabrikanten abzweigt. „Die Bedingung dafür, der Fabrik subventionierte Dollars für den Import von Hartweizengrieß zu geben, ist, dass 70 Prozent der produzierten Nudeln gleich wieder an den Staat zurückgehen, praktisch umsonst, für das CLAP-System. Die restlichen 30 Prozent müssen dann auf dem freien Markt die gesamten Produktionskosten decken.“

Ein subventionierter Import-Dollar kostet zehn Bolívar, ein informell gehandelter 50.000 Bolívar. Diese gigantische Differenz lädt zur Spekulation mit Import-Dollars oder subventionierten Gütern ein, die unerhörte Bereicherungsmöglichkeiten bietet. Oft sitzen Militärs an wichtigen Schaltstellen, die auch zahlreiche hohe Regierungsämter bekleiden. „Solange die Krise für diese Leute so lukrativ ist, wird sie sich hinziehen“, sagt Santiago. „Sie haben keinerlei Interesse an einem politischen Wechsel.“

Grobe Schätzungen weisen darauf hin, dass etwa zwei Millionen Menschen seit 2015 emigriert sind, so der Soziologe Edgardo Lander. Genaue Zahlen gibt es nicht. Neben den USA leben viele von ihnen in Kolumbien, Ecuador oder Peru und schicken so oft sie können Dollars nach Hause.
Die wichtigste Struktur, die die Regierung als Antwort auf die Krise geschaffen hat, sind die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs. Auch wenn das P, das in der Abkürzung für Produktion steht, eher symbolisch ist, sind die CLAPs immerhin ein flächendeckender Verteilungsmechanismus, der vor allem nicht verderbliche Lebensmittel wie Mehl, Nudeln, Öl, Zucker, Sardinen oder Thunfisch und manchmal Kaffee in arme Haushalte bringt. Laut Regierung waren es 2016 knapp zwei Millionen Empfänger*innenhaushalte, 2017 sollte diese Zahl auf sechs Millionen steigen.

Das Schlangestehen in der Markthalle wird zum Akt der Solidarität und Gemeinschaft. 

Obwohl das System landesweit funktioniert, ist es alles andere als einheitlich und scheint ein hohes Maß von Willkür zu beinhalten: Manche bekommen die Pakete 14-täglich, manche nur zweimonatlich. Auch was sie enthalten, variiert, je nachdem, wo man wohnt. Verteilt werden sie über Partei- oder parteinahe Strukturen der Regierungspartei. In manchen Vierteln, den sogenannten Barrios, bekommen alle gleichermaßen ihr Paket, in anderen wird politisch konditioniert.

Jonathan erinnert sich: „In meinem Viertel wurde vor den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Juli, als die Opposition zum Boykott aufgerufen hatte, offen damit gedroht, dass am Wahllokal die Beteiligung registriert werden würde. Wer nicht wählen geht, bekommt kein Essen mehr.“ Santiago erzählt, in seinem Viertel in Caracas müsse das Geld für das Essenspaket auf das Privatkonto der Frau überwiesen werden, die für die Verteilung zuständig ist. Bei Cecilia wiederum wurde ein Extrakonto eingerichtet.

Während viele der Polarisierung und der Krise müde sind und sich keinem politischen Lager zurechnen, gibt es immer noch eine aktive chavistische Basis. Für sie sind solche Korruptions- und Kontrollstrukturen sekundär. Es überwiegt die Erinnerung an die vielfältigen Sozial- und Wohnungsbauprogramme noch unter Chávez, in deren Genuss die meisten von ihnen gekommen sind, und sie sehen die CLAPs in dieser Kontinuität.

Heute gibt es je Familie einen Ausweis, der zum Einkauf in einem der Märkte berechtigt.

Rechtsstaatlichkeit oder Transparenz im Umgang mit Geld sind bürgerliche Werte, mit denen sie sich nicht unbedingt identifizieren. Wichtig ist der Zusammenhalt im Barrio, und dass sie in genügend informelle Verteilungsstrukturen eingebunden sind. Diese können familiär, aber auch kriminell ausgerichtet sein. Wobei auch hier, wer für „seine Leute“ sorgt, nicht schlecht angesehen ist. So entsteht ein schizophrenes Verhältnis zum bachaqueo – das ist der Begriff, mit dem die Parallelökonomie bezeichnet wird.

In meinem Wohnviertel in Barquisimeto verkauft mindestens jeder zweite Haushalt irgendetwas, von Motoröl über Tomaten bis hin zu kleinen Mengen von Maismehl, Öl oder Zucker. Wer durch Schlangestehen bei einem Supermarkt etwas ergattert, kauft so viel, dass er oder sie nicht nur den Familienbedarf decken, sondern auch noch von zu Hause aus ein kleines Geschäft mit dem Rest machen kann. Man erleidet den bachaqueo, aber man versucht nach Möglichkeit, Nutzen daraus zu ziehen. Deshalb haben die Leute von Cecosesola nicht nur die Frequenz der möglichen Einkäufe, sondern auch die Mengen pro Einkauf reguliert. Für sie sind die Markthallen nicht nur Stätten der Versorgung, sondern auch ein Instrument, über das sie bestimmte verbindende Werte wie Solidarität, Autonomie und Gemeinschaft verteidigen wollen, die die venezolanische Gesellschaft heute dringender braucht denn je.

 

 

 


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// GOLDENE HIMBEERE FÜR MENSCHENRECHTE

Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi und sogar die Madres de la Plaza de Mayo haben ihn bereits erhalten. Seit 1988 verleiht das Europäische Parlament den mit 50.000 Euro dotierten „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“ an Personen und Gruppen, die sich „weltweit in besonderer Weise für die Menschenrechte eingesetzt haben“.
Dieses Jahr darf sich die „demokratische venezolanische Opposition“ in eine Reihe mit vielen namhaften Menschenrechtler*innen stellen. Dass es sich bei „der“ Opposition um eine stark zersplitterte, politisch heterogene Gruppe handelt, scheint dabei ebenso nebensächlich, wie der implizite Hinweis auf deren undemokratische Akteure. Denn diese wollen freilich ausdrücklich nicht gemeint sein. Ebenso wenig wie die kleine linke, tatsächlich demokratische Opposition.

Ausgezeichnet werden vielmehr Parlamentspräsident Julio Borges stellvertretend für die Nationalversammlung sowie die von der Nichtregierungsorganisation Foro Penal Venezolano anerkannten politischen Gefangenen. In Venezuela handele es sich nicht nur um eine politische, sondern um eine grundlegende Konfrontation, „in der es um konkrete Werte geht“, wird Borges auf der Webseite des Europäischen Parlaments zitiert. Von welchen konkreten Werten er dabei spricht, bleibt ebenso nebulös wie die Frage, womit sich die Preisträger*innen eigentlich konkret für den Menschenrechtspreis qualifiziert haben. In Bezug auf die politischen Gefangenen heißt es lediglich, sie würden ihr Leben dem „friedlichen Kampf um die Menschenrechte widmen.“

Wie dehnbar die Begriffe „friedlich“ und „demokratisch“ für die EU sind, wird deutlich, wenn man sich die politischen Werdegänge einiger der namentlich Nominierten ansieht: Leopoldo López, unter Hausarrest stehender Oppositionsführer, war aktiv am gescheiterten Putsch im Jahr 2002 beteiligt und ist zumindest mitverantwortlich für gewaltsame Proteste im Jahr 2014, bei denen mehr als 40 Menschen starben. Daniel Ceballos, Ex-Bürgermeister von Sán Crístobal, soll sich bei den Protesten 2014 persönlich an Gewaltaktionen gegen die Regierung beteiligt haben. Und der „studentische Aktivist“ Lorent Saleh verfügt nachweislich über Kontakte in rechtsextreme und paramilitärische Kreise in Kolumbien.

Ohne Zweifel ist an dem heute autoritären Kurs der venezolanischen Regierung und auch bei deren Vorgehen gegen die rechte Opposition deutliche Kritik angebracht. Zu glauben, die nun geehrte „demokratische Opposition“ könne diese notwendige Kritik glaubhaft verkörpern, zeugt jedoch im besten Fall von Unkenntnis. Vielmehr ehrt das EU-Parlament eine zersplitterte Gruppe, die weder in der Tradition einer demokratischen Opposition steht, noch sich in der Vergangenheit groß um Menschenrechte und Meinungsfreiheit gekümmert hat. Es handelt sich um dieselbe Opposition, die seit der erstmaligen, demokratischen Wahl von Hugo Chávez lautstark die Verletzung ihrer „Menschenrechte“ beklagte, damit aber jahrzehntelang bestehende eigene Privilegien meinte. Der Ruf nach Menschenrechten der rechten Opposition Venezuelas ist ebenso heuchlerisch wie diese nun mit dem Sacharow-Preis auszuzeichnen.

Was legitimiert und qualifiziert die EU als moralische Instanz zur Verleihung von Menschenrechtspreisen? Kein Wunder, dass derartige Anti-Preise dann an Gruppen verliehen werden, die für die Verteidigung der gleichen unsozialen, neoliberalen Verhältnisse stehen, wie die EU selbst. Angesichts konkreter, kontinuierlicher und systematischer Verletzungen von grundlegenden Menschenrechten nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch „innerhalb der EU“, sollte sich die Europäische Union besser etwas zurückhalten. Und sich im nächsten Jahr vielleicht selbst die goldene Himbeere für Menschenrechte verleihen.


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UNERWARTETER RÜCKSCHLAG

Die Ergebnisse überraschten. Entgegen den Vorwahlprognosen gewann die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei den Regionalwahlen am 15. Oktober in 18 von 23 Staaten. Landesweit holte sie etwa 54 Prozent der Stimmen. Das rechte Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) errang mit fünf Gouverneursposten zwar zwei mehr als bei den vorangegangenen Wahlen 2012. Doch angesichts der tief greifenden Wirtschaftskrise und verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung hatten sich die Regierungsgegner*innen deutlich mehr erhofft.

Laut Verfassung hätten die Regionalwahlen eigentlich bereits Ende 2016 stattfinden müssen. Mit fast einem Jahr Verspätung wurden nun zumindest die Gouverneur*innen, nicht aber die legislativen Vertretungen gewählt. Die Opposition konnte immerhin die beiden strategisch bedeutsamen Staaten Zulia und Táchira an der Grenze zu Kolumbien für sich entscheiden. Darüber hinaus gewannen MUD-Kandidat*innen im angrenzenden Mérida, dem zentralen Anzoátegui sowie dem Inselstaat Nueva Esparta. Der PSUV dagegen gelang eine symbolischer Erfolg im bisher oppositionell regierten Küstenstaat Miranda. Hier setzte sich der Nachwuchspolitiker Héctor Rodríguez durch.

Noch am Wahlabend sah es zunächst danach aus, als weise der MUD die Wahlergebnisse geschlossen zurück: „Zum jetzigen Zeitpunkt erkennen wir keines der Resultate an“, verkündete der Leiter der oppositionellen Wahlkampagne, Gerardo Blyde. Vereinzelt sprachen MUD-Vertreter*innen direkt von Betrug.

Vor allem sah sich die Opposition aber bereits im Vorfeld der Wahl benachteiligt. Dem Nationalen Wahlrat (CNE) warf sie vor, auf die Demobilisierung ihrer Wählerschaft hingearbeitet zu haben. Unter anderem hatte der CNE 212 Wahllokale (knapp 1,5 Prozent) „aus Sicherheitsgründen“ kurzfristig verlegt, häufig von Hochburgen der Opposition in chavistisch dominierte Viertel. Zudem durfte die Opposition ihre in internen Vorwahlen unterlegenen Kandidat*innen nicht löschen, so dass diese auf den Bildschirmen der Wahlcomputer erschienen, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr zur Wahl standen.

Die Opposition sah sich im Vorfeld der Wahl benachteiligt.

Die Beteiligung stieg gegenüber den letzten Regionalwahlen zwar um sieben Prozentpunkte auf gut 61 Prozent, dass die Opposition im Vergleich zur Parlamentswahl Ende 2015 jedoch fast drei Millionen Stimmen verlor, liegt allerdings vor allem an eigenen Fehlern. Die von Anfang April bis Ende Juli andauernden Proteste, bei denen mindestens 120 Menschen ums Leben kamen, hatten dem MUD außer auf internationalem Pakett keinerlei Erfolg eingebracht. Eine unklare Strategie, interne Uneinigkeit und die offene Diskreditierung des Wahlsystems dürfte zudem viele Wähler*innen verprellt haben. Die beiden rechts außen stehenden kleineren Parteien Vente Venezuela und Alianza Bravo Pueblo hatten die Regionalwahlen außerdem von vornherein boykottiert und fühlen sich nun bestätigt.

Nach einem aus Sicht der Opposition völlig verkorksten Jahr zeigt sich, wie schwach der Zusammenhalt bei den Regierungsgegner*innen ist. Nur wenige Tage nach den verlorenen Regionalwahlen brach offener Streit über den Umgang mit der Regierung und die zukünftige Teilnahme an Wahlen aus. Auslöser war zunächst die Haltung der früheren sozialdemokratischen Regierungspartei Acción Democratica (AD), die vier der insgesamt fünf oppositionellen Gouverneursposten erringen konnte. Deren gewählte Gouverneur*innen Laidy Gómez (Táchira), Juan Barreto Sira (Mérida), Alfredo Díaz (Nueva Esparta) und Ramón Guevara (Anzoátegui) leisteten ihren Amtseid zwei Tage nach der Wahl vor der umstrittenen Verfassunggebenden Versammlung ab. Die Regierung hatte andernfalls mit Neuwahlen in den betroffenen Staaten gedroht. Der fünfte oppositionelle Gouverneur, Juan Pablo Guanipa von der Partei Primero Justicia (PJ, Zulia), weigerte sich hingegen und darf sein Amt nun nicht antreten.

Die Verfassungsgebende Versammlung wurde unter dem Boykott der Opposition gewählt.


Hintergrund ist, dass die Opposition die Verfassunggebende Versammlung nicht anerkennt. Diese war Ende Juli unter Boykott aller Oppositionsparteien gewählt worden und steht laut ihren Statuten über allen anderen staatlichen Gewalten. Die vier oppositionellen Gouverneur*innen brachen den bisherigen Konsens innerhalb des MUD, wonach die Verfassung-gebende Versammlung eine illegale Institution sei und gegen die bestehende Verfassung verstoße. Bereits bei deren Wahl, an der sich laut offiziellen Angaben gut 41 Prozent der Wähler*innen beteiligt hatten, gab es Betrugsvorwürfe. Im Gegensatz zu den Regionalwahlen waren Vertreter*innen der Opposition damals allerdings nicht in den Abstimmungslokalen präsent.

Henrique Capriles von der PJ (Foto: Wikimedia (CC BY-SA 3.0) )

Nach der Vereidigung der oppositionellen Gouverneur*innen traten die schon länger schwelenden internen Spannungen offen zu Tage. Der zweifache Ex-Präsident­schaftskandidat Henrique Capriles Radonski von Primero Justicia warf AD-Chef Henry Ramos Allup vor, seit dem oppositionellen Sieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 nur auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur geschielt zu haben und sich bei der Regierung anzubiedern. „Ich spreche nur für mich und nicht meine Partei. So lange Herr Ramos Allup Teil des MUD ist, werde ich dort nicht weitermachen“, verkündete Capriles. Ramos Allup reagierte verschnupft. Für viele sei die Vereidigung der Gouverneur*innen nur ein willkommener Anlass, Acción Democrática anzugreifen, diesbezüglich werde er aber „mit niemandem diskutieren“. Doch eindeutig ist seine Position aber nicht: Hatte der AD-Chef den gewählten Gouverneur*innen kurz nach der Wahl noch frei gestellt, ob sie sich vor der Verfassunggebenden Versammlung vereidigen lassen würden, behauptet er nun, sie hätten gegen die Parteilinie gehandelt und sich daher „selbst ausgeschlossen“.

Der abgewählte Ex-Gouverneur des Staats Lara, Henri Falcón von der Regionalpartei Avanzada Progresista, bezichtigte derweil Primero Justicia und Voluntad Popular bei den Regionalwahlen „gegen ihn gespielt“ zu haben. Als einer der wenigen Oppositionspolitiker gestand er seine Wahlniederlage ein.

Die internen Streitigkeiten spielen der geschwächten Regierung unter Nicolás Maduro in die Hände, die nach einem langen Umfragetief wieder aufatmen kann. Hatte die Regierung die Regionalwahlen noch um fast ein Jahr verzögert, beschloss die Verfassunggebende Versammlung nun, dass die ebenfalls noch ausstehenden Kommunalwahlen bereits am 10. Dezember stattfinden sollen.

Die drei wichtigsten Oppositionsparteien Voluntad Popular, Primero Justicia und Acción Democrática kündigten daraufhin getrennt voneinander an, die anstehenden Wahlen zu boykottieren. Stattdessen wollen sie sich für eine transparente Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr einsetzen. Viele kleinere Parteien des MUD-Bündnisses nehmen an den Kommunalwahlen hingegen teil. Einzelne Mitglieder der größeren Parteien treten zudem auf dem Ticket kleinerer Parteien an.

Der prominenteste Fall ist Yon Goicoechea. Anfang November wurde der junge Politiker der rechten Partei Voluntad Popular überraschend aus der Haft entlassen. Im August vergangenen Jahres war bei ihm im Vorfeld einer geplanten Großdemonstration nach offiziellen Angaben Sprengstoff gefunden worden. Obwohl ein Gericht im darauf folgenden Oktober seine Freilassung angeordnet hatte, verbrachte er über ein Jahr inhaftiert im Hauptsitz des Geheimdienstes Sebin. Nun kündigte Goicoechea an, als Kandidat von Henri Falcons Partei Avanzada Progresista für das Bürgermeisteramt der oppositionellen Hochburg El Hatillo im Großraum von Caracas zu kandidieren. „Es ist ein großer Fehler, nicht an den Kommunalwahlen, dann aber an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen“, begründete er den Schritt. Seine Partei Voluntad Popular wolle er trotz der Diskrepanzen über das taktische Vorgehen jedoch nicht verlassen. Beinahe zeitgleich mit Goicoecheas Freilassung suchte dessen Parteifreund, der Parlamentsabgeordnete Freddy Guevara, Zuflucht in der chilenischen Botschaft. Zuvor hatte das Oberste Gericht seine Immunität aufgehoben, ihm soll wegen Aufrufen zu Gewalt der Prozess gemacht werden.

Goicoecheas Ankündigung sorgte für harsche Kritik seitens der großen Oppositionsparteien. Gleiches gilt für die Kandidatur Manuel Rosales‘ von der viertgrößten Oppositionspartei Un Nuevo Tiempo. Der Präsidentschaftskandidat von 2006 und ehemalige Gouverneur von Zulia will bei der ebenfalls am 10. Dezember stattfindenen Neu-wahl in dem westlichen Bundesstaat antreten. Aufgrund von Korruption dürfte er eigentlich zurzeit keine offiziellen Ämter bekleiden. Kurz nach den Regionalwahlen hob das Oberste Gericht (TSJ) den Beschluss allerdings auf. In einem gemeinsamen Kommunique wendeten sich Voluntad Popular und Primero Justicia gegen Politiker*innen der Opposition, die „die derzeitige Situation ausnutzen, um ihre persönlichen Projekte voranzutreiben“.

Streitigkeiten in der Opposition spielen der geschwächten Regierung in die Hände.

Doch auch der Chavismus tritt nicht überall geschlossen auf. Die kleineren Bündnispartner der PSUV bemängeln, dass die Regierungspartei vielerorts eigenmächtig ihre Leute durchsetze. In Libertador, dem größten Teilbezirk von Caracas, registrierten sich gleich mehrere chavistische Kandidat*innen. Zudem hat sich mit Nicmer Evans ein Vertreter des so genannten kritischen Chavismus eingeschrieben, der die Regierung Maduro ablehnt.

Sollte die Opposition ihre internen Probleme nicht bald in den Griff bekommen, hätte Maduro sogar bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 reelle Siegchancen. Gefährlicher als der MUD dürfte für ihn vorerst die weitere wirtschaftliche Entwicklung sein. Nach weit verbreiteter Meinung steht Venezuela kurz vor der Staatspleite. Maduro kündigte Anfang November eine Neustrukturierung der Auslandsschulden an, die vor allem China und Russland, aber auch private Banken und Fonds, beträfe. Sollten sich einzelne Gläubiger widersetzen, droht ein sofortiger Zahlungsausfall. Die Ende August verhängten US-Sanktionen erschweren eine weitere Schuldenaufnahme Venezuelas. Auch die EU drängt derzeit auf die Verabschiebung von Sanktionen. Und wenige Tage nach den Kommunal-wahlen wird das Europäische Parlament die „demokratische Opposition“ Venezuelas mit dem diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit ehren. Entgegennehmen soll die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung Parlamentspräsident Julio Borges von der Partei Primero Justicia. Ob dieser dann überhaupt die Mehrheit der rechten Opposition repräsentiert, darf nach der gerade ausgebrochenen internen Krise bezweifelt werden.

 


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DER FLUCH DER TEUFLISCHEN SCHEIßE

Venezuelas Wirtschaft kämpft mit des „Teufels Scheiße“. So bezeichnete der einstige venezolanische Erdölminister und Mitbegründer der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) Juan Pablo Pérez Alfonzo einst das Erdöl, um die Schwierigkeiten wirtschaftlicher Gestaltung angesichts der übermächtigen Dominanz des schwarzen Goldes zu beschreiben. Eine Herausforderung, die schlicht darin besteht, „Öl zu säen“, wie es der venezolanische Schriftsteller Arturo Uslar Pietri bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts plastisch auf den Punkt brachte: mittels Öleinnahmen die Gesellschaft zu entwickeln und die Wirtschaft zu diversifizieren. Die erste Konzession zur Ausbeutung der Ölquellen Venezuelas war schon im Jahre 1866 erteilt worden, der Ölboom setzte ab den 1930er Jahren ein und veranlasste Uslar Pietri zu seiner weitsichtigen Aussage. Alle Ansätze in Venezuelas Geschichte, seine ökonomische Abhängigkeit vom Öl durch eine Diversifizierung der Wirtschaft abzubauen, scheiterten seitdem unterm Strich.

Mit des „Teufels Scheiße“ haben und hatten sich alle venezolanischen Regierungen herumzuschlagen, auch die derzeit amtierende Regierung von Nicolás Maduro und die seines Vorgängers Hugo Chávez, der von 1999 bis zu seinem Tod 2013 als Präsident amtierte. Chávez propagierte den sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts und das Schmiermittel dafür war das Erdöl: Chávez’ großes Verdienst war es, das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, das sich zu einem „privaten“ Staat im Staate entwickelt hatte, wieder unter staatlichen Zugriff zu bekommen. PDVSA wurde zusätzlich zu einer Art Sozialministerium. Aus dem Haushalt der Ölfirma werden Sozialprogramme wie die misiones finanziert – die von Bildung (misión Robinson und misión Ribas) über Gesundheit (misión barrio adentro) bis hin zur Versorgung mit subventionierten Lebensmitteln (misión mercal) reichen. Damit trieb Chávez den Umbau der staatlichen Strukturen voran und vermochte, bedeutende soziale Fortschritte in der Armutsbekämpfung und dem Zugang zu Gesundheit, Bildung und Lebensmitteln für alle zu erreichen. Im Jahr 2011 flossen fast 40 Milliarden US-Dollar in Sozialprogramme und Sonderfonds des Präsidenten. Laut dem Nationalen Statistikinstitut in Venezuela (INE) ist der Anteil extrem armer Haushalte (1,25 US-Dollar pro Kopf pro Tag) von 1998 bis 2009 von 21 Prozent auf sechs Prozent massiv gesunken. Der Anteil der relativ armen Haushalte (unter 50 Prozent des Durchschnitts-einkommens) sank im selben Zeitraum von 49 auf 24 Prozent.

Als Hugo Chávez im zweiten Halbjahr 1998 seine erste Wahl gewann, dümpelte der Ölpreis im Zuge der Asienkrise bei rund zehn US-Dollar pro Barrel (ein Barrel sind 159 Liter). Kein Wunder, dass Chávez schon zu Beginn seiner Amtszeit 1999 verkündete, dass er neben der Neuordnung der Ölgesellschaft PDVSA auch Landwirtschaft, Industrie und Tourismus neu ausrichten werde, um dem Auf und Ab des Ölpreises mit all seinen Konsequenzen für die venezolanische Konjunktur weniger ausgeliefert zu sein. Die Diversifizierung der Wirtschaft unter Chávez gelang nur ansatzweise und brachte unterm Strich nur dürftige Ergebnisse.

Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit.

Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit. In den Niederlanden wurde in den 1960er Jahren nach dem überraschenden Fund reichhaltiger Erdgasvorkommen zum ersten Mal festgestellt, dass sich Rohstoffreichtum in einen Fluch verwandeln kann. Der Zufluss von reichlich US-Dollar aus dem Rohstoffexport führt zu einer Aufwertung der eigenen Währung. Der angenehme Aspekt daran ist, dass sich die Importkapazität des Landes erhöht, sprich sich das Land mehr Güterimporte leisten kann. Der schwerwiegende Nachteil besteht darin, dass einheimische Produzent*innen nahezu unweigerlich an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, sowohl gegenüber Importeur*innen als auch auf dem Weltmarkt, sofern es sich um Unternehmen handelt, die etwas anderes als Rohstoffe exportieren. Denn der unangenehme Aspekt der Aufwertung der venezolanischen Währung besteht darin, dass sich venezolanische Güter im Vergleich zu Importgütern verteuern. Der Verlust an Arbeitsplätzen in den nicht rohstoffnahen Sektoren ist fast unumgänglich. Die ganze Volkswirtschaft bekommt so mehr und mehr Schlagseite in Richtung des dominanten Rohstoffsektors, in Venezuela des petrochemischen Bereichs.

In Venezuela hat die Holländische Krankheit unter anderem die einheimische Landwirtschaft befallen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf beträchtliche Nahrungsmittelimporte angewiesen, obwohl es potenziell an geeigneten Agrarflächen nicht fehlt. So ist Venezuela das einzige südamerikanische Land mit einer negativen Agrarbilanz. Dabei war die Regierung Chávez nicht untätig. Schon im Jahr 2001 wurde mit einem Landgesetz der Weg für eine Agrarreform geebnet. Das Nationale Landinstitut INTI verteilte in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar brachliegendes Staatsland an Kooperativen, danach wurden noch über 100.000 landlose Familien mit enteignetem ungenutzten Privatland ausgestattet. All dies hat zwar die nationale Produktion bei Agrargütern nach oben getrieben, doch noch kräftiger wuchsen die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum der ärmeren Bevölkerungsschichten. Venezuela muss rund 70 Prozent seiner Lebensmittel einführen.

Die Regierung Maduro hat 2016 einen Plan zum Ausbau der Landwirtschaft vorgestellt. Der „Agrarplan Zamora Bicentenario 2013-2019“ sieht zahlreiche Maßnahmen zur Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion vor. Besonderes Augenmerk gilt der städtischen Landwirtschaft und dem Einbezug lokaler Gemeinschaften sowie der Streitkräfte des Landes in die Produktion. Ob und wann der Plan greift, lässt sich noch nicht absehen.
Auch im Jahr 2017 machen Ölexporte mehr als 90 Prozent der Exporterlöse des Mitglieds der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) aus, die Öl- und Gasindustrie ist für etwa ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich und trägt rund die Hälfte zu den Staatseinnahmen bei. Ohne die Öleinnahmen läuft so gut wie nichts.

Der rapide Ölpreisverfall und der Rückgang der Fördermenge wegen unterlassener Investitionen haben die Importkapazität massiv gesenkt.

Der rapide Ölpreisverfall seit 2014 und der Rückgang der Fördermenge wegen unterlassener milliardenteurer Investitionen haben die Importkapazität massiv gesenkt. Die Folge ist eine sich vertiefende Versorgungskrise, für die die Regierung Maduro bisher keine Lösung zu finden vermochte.
Der Holländischen Krankheit und der Überbewertung des Bolívar könnte theoretisch durch eine gezielte Strategie der Unterbewertung des Bolívar seitens der venezolanischen Zentralbank begegnet werden. Dafür müssten die Devisenzuflüsse in ihrer Wirkung auf die heimische Geldmenge und Währung so weit wie möglich sterilisiert werden, indem sie in einen Zukunftsfonds fließen und dort langfristig angelegt werden. Ein solches Modell praktiziert Norwegen mit beachtlichem Erfolg. Im dortigen Ölfonds werden seit dem Jahr 1990 die enormen Erträge aus dem Ölexport angelegt. Dies geschieht ausschließlich auf ausländischen Märkten, um einem Überhitzen der inländischen Wirtschaft und einer Aufwertung der Norwegischen Krone entgegenzuwirken.
Angesichts der enormen sozialen Schuld, die in Venezuela über die vergangenen Jahrzehnte akkumuliert wurde, ist ein solches Modell in Venezuela wohl schwer politisch durchsetzbar.

Die Öldollar gleichzeitig aufzuschatzen und auszugeben, geht logischerweise nicht. Entwicklungsökonomisch wäre Venezuela immer gut beraten, zumindest einen Teil der Öleinnahmen langfristig anzulegen, um auf lange Sicht einen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer Stärkung des Binnensektors zu erreichen. Dazu bedarf es neben der Unterbewertungsstrategie einer selektiven Protektion, bei der die Zollsätze mit dem Verarbeitungsgrad ansteigen. Damit könnte Venezuela das erreichen, was bisher verfehlt wurde: eine breitere Produktpalette der heimischen Wirtschaft und eine konkurrenzfähige Binnenmarktentwicklung.

Diese grundlegenden Weichen in Zeiten der aktuellen Versorgungs- und Liquiditätskrise zu stellen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Nach vier Jahren Rezession und angesichts einer galoppierenden Inflation von über 1.000 Prozent sind viele soziale Fortschritte der Vergangenheit hinfällig geworden. Noch 2013 würdigten die Vereinten Nationen die Erfolge des Landes im Kampf gegen Hunger und Unterernährung. Davon ist wenig geblieben. Nicht wenige teilen die Sicht von Menschenrechtsaktivist Rafael Uzcátegui: „Heute sind in Venezuela wieder genauso viele Menschen arm wie im Jahr 2000.“
Als Chávez 1999 an die Regierung kam, lagen Venezuelas Auslandsschulden bei etwa 30 Milliarden Dollar. Heute betragen sie ein Vielfaches. Der Staat sowie der Staatskonzern PDVSA haben insgesamt Anleihen im Wert von 110 Milliarden Dollar aufgelegt. Zusammen mit den Zinszahlungen und Krediten summieren sich die Gesamtforderungen gegen Caracas auf bis zu 170 Milliarden Dollar. Rund zehn Milliarden Dollar an Schuldendienst muss die Regierung Maduro im Jahresverlauf 2017 aufbringen.

Wie klamm Venezuelas Staatskasse ist, dafür liefert der Deal mit Goldman Sachs Hinweise. Über Mittelsmänner kaufte Goldman Ende Mai von der venezolanischen Zentralbank Anleihen des staatseigenen Ölkonzerns PDVSA im Nennwert von 2,8 Milliarden Dollar für knapp ein Drittel des Ausgangswerts. Dabei soll die Bank laut dem Wall Street Journal (WSJ) nicht einmal den normalen Marktpreis gezahlt, sondern einen speziellen Abschlag ausgehandelt haben. Laut WSJ zahlte Goldman lediglich 31 Cent für die Papiere, die an den Börsen noch bei deutlich über 40 Cent notierten, was einem Discount von mehr als 30 Prozent entspricht. Nur für den Discountpreis von 31 Cent pro Dollar Nennwert war Goldman Sachs bereit, 865 Millionen Dollar Cash in die venezolanische Staatskasse zu spülen.

Maduro helfen kurzfristig nur steigende Ölpreise: Ende des Jahres werden erneut Anleiherückzahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden fällig. Allein Hauptgläubiger China hat Venezuela bereits 60 Milliarden Dollar geliehen, die mit künftigen Öllieferungen abgesichert sind. Neues Kapital kommt derzeit nur noch aus Russland. Im April hat der Staatskonzern Rosneft PDVSA für künftige Erdöllieferungen 1 Milliarde Dollar überwiesen. 2016 kaufte sich Rosneft zudem für 1,5 Milliarden Dollar bei der PDVSA-Tochter Citgo ein, an der das Unternehmen 49,5 Prozent hält. Seit 1990 kontrolliert Venezuelas staatlicher Ölkonzern PDVSA in den USA drei Raffinerien, Pipelines und ein vor allem an der Ostküste gelegenes riesiges Tankstellennetz von Citgo, einer US-Tocher von PDVSA. Diese Gemengelage senkt die Wahrscheinlichkeit, dass die US-Regierung Sanktionen gegen den Ölsektor verhängt. Aber selbst wenn diese ausbleiben, gilt: Dümpelt der Ölpreis weiter um 50 US-Dollar, droht die Zahlungsunfähigkeit. Es wäre die erste in der Geschichte Venezuelas.


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ÜBER DEN STAATSGEWALTEN

Aus Sicht der venezolanischen Regierung scheint alles nach Plan gelaufen zu ein. „Die Verfassunggebende Versammlung hat den Frieden gebracht“, versicherte Präsident Nicolás Maduro im August. Tatsächlich sind die teils gewalttätigen Proteste, bei denen zwischen April und Juli mehr als 120 Menschen gestorben sind, praktisch zum Erliegen gekommen. Die Opposition muss akzeptieren, dass sie innenpolitisch kaum etwas erreicht hat. Maduro hingegen kann für sich in Anspruch nehmen, die am 1. Mai angekündigte Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (ANC) gegen jegliche Widerstände durchgesetzt zu haben. Und doch hat die Regierung ein gewichtiges Problem: Um die politische Krise in Venezuela zu überwinden, besitzt die ANC kaum ausreichend Legitimität.

Am Abend des 30. Juli teilte der Nationale Wahlrat (CNE) mit, dass sich an der Wahl mehr als acht Millionen Menschen – 41,5 Prozent aller Wähler*innen – beteiligt hätten. Da rechte wie linke Opposition die Wahl zur ANC boykottiert und keine eigenen Kandidat*innen aufgestellt hatten, war die Höhe der Wahlbeteiligung tatsächlich entscheidend. Die Messlatte hatte das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) zwei Wochen zuvor angelegt. An einer selbst organisierten Volksbefragung nahmen damals nach Oppositionsangaben gut 7,5 Millionen Menschen teil.

Dass Maduro inmitten der politischen und wirtschaftlichen Krise nun mehr Wähler*innen mobilisieren konnte als sein Vorgänger Hugo Chávez zu seinen besten Zeiten wirft zumindest einige Fragen auf. Ein Teil der Stimmen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass es im Vorfeld sozialen und politischen Druck auf Staatsangestellte und Begünstigte der Sozialprogramme gegeben hat. Kurz nach der Wahl versicherte zudem das in London ansässige Unternehmen Smartmatic, das seit mehr als zehn Jahren die in Venezuela verwendeten Wahlcomputer betreibt, die Beteiligung sei um „mindestens eine Million Stimmen“ manipuliert worden. Belege blieb das Unternehmen allerdings schuldig. Die Vorwürfe fußen anscheinend vor allem darauf, dass im Gegensatz zu vorangegangenen Wahlen keine Oppositionsvertreter*innen in den Wahllokalen präsent waren. Die von der Opposition für ihre Volksbefragung am 16. Juli bekannt gegebenen Zahlen sind indes noch weniger nachprüfbar. Die dort gestellten Fragen zur Ablehnung der ANC, dem Eingreifen des Militärs und der Schaffung paralleler staatlicher Strukturen verstoßen zudem zum Teil gegen die bestehende Verfassung, die die Opposition zu verteidigen vorgibt (siehe LN 517/518).

Die Opposition befürchtet, dass die Regierung den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen wollen.

Unabhängig von der Höhe der Wahlbeteiligung lehnt der MUD die Verfassunggebende Versammlung unter anderem deshalb ab, weil es vorab kein Referendum zu ihrer Einberufung gab. Außerdem befürchtet die Opposition, dass die regierenden Chavist*innen den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen wollen. Die Regierung argumentiert hingegen, die von Chávez initiierte Verfassung von 1999 zu perfektionieren, indem beispielsweise basisdemokratische Strukturen und Sozialprogramme Verfassungsrang erhalten. Die ersten Amtshandlungen der ANC geben den Kritiker*innen Recht.

Die ANC könne „Maßnahmen treffen“, um „das Funktionieren des Staates“ zu garantieren, stellte deren frisch gewählte Präsidentin, die Ex-Außenministerin Delcy Rodríguez, umgehend klar. In ihrer ersten Sitzung setzte die Versammlung denn auch die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega ab, die seit Ende März deutlich auf Distanz zur Regierung gegangen war. Anschließend wählten die Delegierten den bisherigen, regierungsnahen Ombudsmann für Menschenrechte Tarek William Saab zu ihrem provisorischen Nachfolger. Ortega setzte sich daraufhin Mitte August gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem kritischen Abgeordneten der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Germán Ferrer, über Aruba nach Kolumbien ab. Seither liefern sich die Regierung und Ortega eine wahre Schlammschlacht. Saab präsentierte vermeintliche Beweise, die belegen sollen, dass Ferrer von Ortegas Büro aus einen Erpressungsring geleitet haben soll. Ortega hingegen behauptet, dass hochrangige chavistische Funktionäre direkt in den lateinamerikaweiten Schmiergeldskandal des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht involviert seien. Unter anderem belastet sie direkt Maduro und Diosdado Cabello, der als Nummer zwei des Chavismus gilt.

Laut den Statuten, die sich die Verfassunggebende Versammlung selbst gegeben hat, steht sie über allen anderen staatlichen Gewalten. Zudem dehnten die 545 Teilnehmer*innen der Versammlung ihr Mandat von einem halben auf zwei Jahre aus und übertrugen sich einen Großteil der Kompetenzen des oppositionell dominierten Parlamentes. Auf Vorschlag Maduros will die ANC nun zunächst acht Gesetze verabschieden, um die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft auszubauen. Auch beschloss die ANC, gegen führende Oppositionspolitiker*innen, die sich für US-Sanktionen gegen Venezuela ausgesprochen hatten, Verfahren wegen Vaterlandsverrates zu eröffnen. Über den Inhalt einer neuen Verfassung debattiert hat die Versammlung bisher hingegen noch nicht.

Die vom Präsidenten formulierte Idee, die ANC solle nicht in erster Linie aus Parteivertreter*innen zusammengesetzt sein, scheint allenfalls formal zu gelten. Im öffentlichen Diskurs geben PSUV- Funktionär*innen,wie Diosdado Cabello, den Ton an. Dass die ANC bisher sämtliche Entscheidungen einstimmig beschlossen hat, spricht zudem nicht gerade für eine offene Debattenkultur, sondern zeigt vielmehr die politisch einseitige Zusammensetzung der Versammlung auf.

International ist Venezuela nun weitgehend isoliert.

International ist Venezuela nun weitgehend isoliert. Zwar unterstützen Russland und China sowie verbündete Länder in Lateinamerika wie Bolivien, Ecuador, Kuba und Nicaragua weiterhin die Regierung. Zwölf lateinamerikanische Staaten, die USA und die EU erkennen die Wahl zur ANC jedoch nicht an und sprechen mittlerweile mehr oder weniger offen von einer Diktatur in Venezuela.

Die USA reagierten auf die Wahl zunächst mit weiteren Sanktionen gegen eine Reihe chavistischer Funktionäre, darunter Maduro selbst. Ende August untersagte US-Präsident Donald Trump dann weitgehend den Handel mit venezolanischen Wertpapieren und Aktienkapital des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. Auch drohte er, sein Land werde sich die Option eines militärischen Eingreifens offen halten. In den vergangenen Jahren haben die USA mehrfach einzelne Sanktionen gegen Venezuela verhängt, dieses Mal könnten die Auswirkungen allerdings beträchtlich sein, da sie es der venezolanischen Regierung verkomplizieren, neue Kredite aufzunehmen. Aufgrund des niedrigen Erdölpreises leidet Venezuela unter massiver Devisenknappheit, auch weil die Regierung bisher nicht an der Bedienung der Schulden rüttelt.

Venezuelas Außenminister Jorge Arreaza bezeichnete die neuen US-Sanktionen als „schlimmste Aggression gegen Venezuela in den vergangenen 200 Jahren“. Den USA wirft die venezolanische Regierung vor, eine „humanitäre Krise“ in dem Land herbeiführen zu wollen. Intern könnte die Haltung der US-Regierung Maduro allerdings dabei helfen, die Reihen zu schließen. Insbesondere die Androhung militärischer Gewalt weisen selbst viele Regierungsgegner*innen und sämtliche Staaten Latein-amerikas zurück.

Nachdem die Verfassunggebende Versammlung sich als zentrale Entscheidungsinstanz etabliert hat, richtet sich das Interesse auf die anstehenden Regionalwahlen. Auf Geheiß der ANC zog der Wahlrat diese vom 10. Dezember auf den 15.Oktober vor. Der laut Verfassung vorgesehene Termin wäre eigentlich Ende 2016 gewesen, doch der CNE hatte die Wahlen ohne triftigen Grund zunächst verschoben. Innerhalb der Opposition sorgt die jetzige Ansetzung für Unstimmigkeiten. Kleinere Parteien wie die rechts außen stehenden Vente Venezuela und Alianza Bravo Pueblo boykottieren die Wahl. Die übrigen Parteien des MUD ermittelten am 10. September in 19 von 23 Staaten gemeinsame Kandidat*innen in Vorwahlen, an denen laut Angaben des Oppositionsbündnisses knapp sieben Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen. In den vier übrigen Staaten konnten sich die Parteien im Konsens einigen. „Wenn wir uns nicht zu den Wahlen einschreiben, würde der Chavismus 23 Gouverneursposten gewinnen“, begründete Ex-Parlamentspräsident Henry Ramos Allup die Teilnahme seiner Partei Acción Democrática. Nach den vorläufigen Endergebnissen stellt die frühere sozialdemokratische Regierungspartei gut die Hälfte der Gouverneurskandidat*innen. Die Frage ist, wie die regierenden Chavist*innen mit einer wahrscheinlich zu erwartenden Wahlniederlage umgehen werden. Beobachter*innen rechnen damit, dass die ANC in dem Fall die Befugnisse der Gouverneur*innen beschneiden könnte. Selbst eine Verschiebung der für Ende 2018 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen ist unter den derzeitigen politischen Bedingungen kein Tabu mehr, wie Präsident Maduro Ende August andeutete. „Wenn sie [die ANC] einen neuen Termin oder einen neuen Monat festlegen muss, sind wir dazu bereit, den Kampf aufzunehmen die Wahlen zu gewinnen, wann immer sie angesetzt werden.“

Nach den Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialog zwischen Regierung und Opposition bahnt sich indes ein neuer Versuch an. Unter Vermittlung der dominikanischen Regierung und des ehemaligen spanischen Regierungschefs José Luis Rodríguez Zapatero, trafen sich Vertreter*innen von Regierung und Opposition in der Dominikanischen Republik am 14. und 15. September. Sie einigten sich zunächst auf ein weiteres Treffen am 27. September. Neben der Dominikanischen Republik sollen Mexiko, Chile, Bolivien und Nicaragua die Gespräche begleiten. Um die politische und wirtschaftliche Krise zu lösen, müssten beide politischen Lager allerdings von ihren unvereinbaren Maximalpositionen abrücken. Die Opposition nahm damals an den Gesprächen teil, um einen zeitnahen Regierungswechsel zu erreichen. Die Regierung verfolgte hingegen das Ziel, sich an der Macht zu halten.

 


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STUNDE NULL FÜR DEN PARALLELSTAAT

In den 14 Jahren, die Hugo Chávez bis zu seinem Tod 2013 regierte, gab es gefühlt zwei Venezuelas. Während Menschen in den informell erbauten barrios von sozialer Teilhabe, Demokratie und Revolution schwärmten, schimpften sie in den wohlhabenderen Vierteln über eine Castro-kommunistische Diktatur. Nachdem der politische Machtkampf Anfang April eskaliert ist und bei den beinahe täglichen Demonstrationen bereits etwa 100 Menschen getötet wurden, leben Regierung und Opposition nicht mehr nur gefühlt in zwei verschiedenen Welten. Sie stützen sich auch zunehmend auf unterschiedliche staatliche Strukturen.

Am 16. Juli organisierte das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) eine landesweite Volksbefragung. Am selben Tag führte der Nationale Wahlrat (CNE) eine Testabstimmung für die am 30. Juli geplante Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung durch. Beide Lager betonten hinterher die hohe Beteiligung an den Urnengängen– an denen jeweils nur die eigenen Anhänger*innen teilnahmen.

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“, frohlockte Parlamentspräsident Julio Borges am Abend des 16. Juli. Nach Angaben der Opposition hatten sich über 7,5 Millionen der insgesamt etwa 19 Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt, davon fast 700.000 im Ausland. Gemessen daran, dass aus den eigenen Reihen zuvor mit Zielvorgaben zwischen acht und zehn Millionen hantiert worden war, blieb das Ergebnis hinter den Erwartungen zurück. Zumal der venezolanische Präsident Nicolás Maduro bei der Wahl 2013 etwas mehr Stimmen auf sich vereinen konnte, als die nun registrierten 7,5 Millionen. Rechtlich ist die Abstimmung ohnehin irrelevant. Laut Verfassung darf alleine der Nationale Wahlrat (CNE) verbindliche Wahlen und Abstimmungen ansetzen. Der MUD betrachtet die symbolische Befragung dennoch als Erfolg und leitet daraus ein politisches Mandat für eine pathetisch als „Stunde Null“ bezeichnete neue Phase des Protestes ab. Mehrere lateinamerikanische Länder, die EU sowie die USA stärkten dem MUD rhetorisch den Rücken. US-Präsident Donald Trump drohte der venezolanischen Regierung gar Sanktionen an, sollte sie nicht die geplante Verfassunggebende Versammlung stoppen.

Zur Abstimmung bei der Volksbefragung standen drei Fragen, die jeweils zwischen 98 und 99 Prozent Zustimmung erhielten: „1. Lehnen Sie die Durchführung der von Präsident Nicolás Maduro vorgeschlagenen Verfassunggebenden Versammlung ohne die vorherige Zustimmung der venezolanischen Bevölkerung ab und erkenne sie nicht an? 2. Verlangen Sie von den Streitkräften und allen staatlichen Funktionären, die Verfassung von 1999 zu verteidigen und die Entscheidungen der Nationalversammlung zu unterstützen? 3. Billigen Sie, dass die Staatsgewalten unter den von der gültigen Verfassung vorgegebenen Bedingungen erneuert werden und freie und transparente Wahlen durchgeführt werden, sowie eine Regierung der nationalen Einheit gebildet wird, um die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen?“

Nicmer Evans aus den Reihen des kritischen Chavismus, der sich aus unzufriedenen, ehemaligen Regierungsanhänger*innen zusammensetzt, hatte vorgeschlagen, lediglich eine einzige Frage nach der Verfassunggebenden Versammlung zu stellen. Dadurch hätte die Beteiligung nach seinen Vorstellungen auf über zehn Millionen gehoben werden können. Doch der MUD ging nicht darauf ein. Ansonsten sprachen sich die kritischen Chavist*innen deutlich sowohl gegen die Verfassunggebende Versammlung als auch die parallelen staatlichen Strukturen des MUD aus.

„Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“

Der venezolanische Präsident Maduro zeigte sich derweil unbeeindruckt und bekräftigte, an der Verfassunggebenden Versammlung festzuhalten. „Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“, sagte er und rief die Opposition zum Dialog auf.

Laut den vom CNE verabschiedeten Regelungen sollen am 30. Juli insgesamt 545 Teilnehmer*innen gewählt werden, davon 181 in festgelegten gesellschaftlichen Sektoren und 364 auf territorialer Ebene in Wahlkreisen. Die rechte wie linke Opposition befürchtet, die Regierung wolle den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen. Das von Maduro am 1. Mai angekündigte Vorhaben hat auch innerhalb des Chavismus eher die Spannungen verschärft, als dass es einen Ausweg aus der politischen Krise weisen würde.

Doch so symbolisch die oppositionelle Volksbefragung war, so symbolisch ist zunächst auch die ausgerufene „Stunde Null“. Die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung mag in Bezug auf die Wahlbeteiligung ein Flop werden, verhindern kann die Opposition sie kaum.

Der Aufruf an das Militär, die Seiten zu wechseln, wird zumindest so lange keinen Erfolg haben, wie die chavistisch geschulte Armeeführung wirtschaftlich von Maduros Regierung profitiert.
Und auch der vom MUD nach der Volksbefragung vorgestellte Plan für eine zukünftige „Regierung der nationalen Einheit“ und die Ernennung neuer Richter*innen des Obersten Gerichts (TSJ), die das bestehende TSJ umgehend als illegal zurückwies, sind zunächst reine Symbolpolitik.

Im venezolanischen Machtkampf stehen aktuell also die Regierung Maduro, das Oberste Gericht und der Wahlrat dem oppositionell dominierten, aber vom TSJ blockierten Parlament, einem parallelen TSJ und demnächst vielleicht einer Parallelregierung „der nationalen Einheit“ (ohne Chavist*innen) gegenüber. Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega wiederum hat sich gegen die Regierung gestellt und erhält Unterstützung von der Opposition, könnte aber in einem politisch motivierten Verfahren durch das TSJ abgesetzt werden.

Bisher zeigen sich weder Regierung noch Opposition kompromissbereit, sieht man davon ab, dass der prominente Oppositionspolitiker Leopoldo López seine Strafe seit Anfang Juli zu Hause verbüßen darf. Wegen Anstachlung der Unruhen 2014 war er zu über 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die von beiden Seiten ausgehende Gewalt reißt derweil nicht ab. In den vergangenen Wochen häuften sich zudem Zwischenfälle, die darauf hindeuten könnten, dass sich der Konflikt gewissermaßen verselbständigt und den Führungen beider politischer Lager vollends zu entgleiten droht: So griff Ende Juni ein ehemaliger Kriminalpolizist von einem Hubschrauber aus in Rambo-Manier ein Gebäude des Obersten Gerichtes sowie des Innenministeriums an. Am 5. Juli, dem venezolanischen Nationalfeiertag, stürmten mutmaßlich organisierte Gruppen aus den Armenvierteln unter den Augen der Nationalgarde eine Sitzung des Parlaments und besetzten dieses stundenlang.

Sollte die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung wie geplant stattfinden, droht eine weitere Eskalation, die entweder in einer Art Verhandlungslösung oder schlimmstenfalls in einen Bürgerkrieg münden könnte. Die Opposition will den Druck auf die venezolanische Regierung jedenfalls zunächst weiter steigern. Am 20. Juli rief sie zu einem 24-stündigen Generalstreik auf. Auch über dessen Ausmaß gingen die Einschätzungen auseinander. Während Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski sagte, der Tag „gleiche in einigen Städten einem 1. Januar“, betonte Maduro, dass „die 700 größten Unternehmen des Landes zu 100 Prozent arbeiten“. Beide bezogen sich dabei auf Venezuela, jeder auf das seine.


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“WIR PROTESTIEREN WEITER”

„Ich bin 24 Jahre alt – 19 davon habe ich unter der Regierung von Hugo Chávez beziehungsweise seinem Nachfolger Nicolás Maduro gelebt. Chávez und Maduro, das ist eigentlich das Gleiche – nur mit anderem Gesicht. Ich kann mich an das ‘Venezuela von früher’ kaum erinnern, an die Boomjahre des Erdöls, als sie unser Land ‘Saudi-Venezuela’ nannten wegen des ökonomischen Reichtums und der vielen Migranten. Seit einigen Jahren durchleben wir nun schon eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Der Migrationsprozess hat sich umgekehrt: Unser Hauptexportprodukt ist nicht mehr Erdöl, sondern Menschen. Mehr als eine Million Venezolaner hat das Land in den vergangenen Jahren verlassen. Die meisten von ihnen sind gut ausgebildet.

Was mich motiviert, aktiv zu sein und friedlich in jeder mir möglichen Art zu protestieren? Die Angst, etwas zu verpassen. Der Wille, das Venezuela meiner Eltern und Großeltern kennen zu lernen, in dem man mit viel Arbeit auch viel erreichen konnte. Und die Traurigkeit darüber, dass wir als junge Bürger wissen, dass andere Menschen unseres Alters fast überall in der Welt nicht die gleichen existenziellen Probleme haben wie wir: dass sie wieder einen deiner Freunde ermordet haben, dass wieder ein Mitbürger das Land verlassen hat, dass wieder jemand entführt wurde. Und dass dein miserables Gehalt nicht einmal ausreicht, Brot, Käse oder Milch zu kaufen, weil es an fast allem mangelt.

Es ist traurig, beobachten zu müssen, wie unser Land verwelkt.

Es ist traurig, beobachten zu müssen, wie unser Land verwelkt, weil eine Gruppe von Personen entschieden hat, der Bevölkerung das Geld zu stehlen und die Menschen durch Repression einzuschüchtern. Es ist das Land meiner Eltern und Großeltern, meiner ganzen Familie, und ich habe das Gefühl, es wieder aufbauen zu müssen.
Die Studierendenbewegung muss man sich als eine Art abstrakte Masse vorstellen, die in regelmäßigen Abständen viel Bedeutung erhält und bekannte Gesichter hervorbringt. 2007 war die erste massive Mobilisierung und viele von denen, die damals aktiv waren, sind heute Abgeordnete oder Bürgermeister. Die derzeitige Situation im Land hat auch bei der aktuellen Generation zu einer starken Mobilisierung geführt. Studierende aller Universitäten, der privaten und öffentlichen, treffen relevante Entscheidungen in ihren Regionen. Sie rufen zu Demonstrationen auf, an denen ein großer Teil der Zivilbevölkerung teilnimmt, und auch Politiker und Gewerkschafter. An den aktuellen Protesten beteiligen sich mehr Universitäten als in den Jahren zuvor. Auch meine Universität, die Universidad Metropolitana (Unimet), spielt eine sehr wichtige Rolle, vor allem bei Aktionen in Caracas. Die Bewegung organisiert sich durch die sogenannten ‘Inter-U’ (interuniversidades). Das sind wöchentliche Sitzungen, an denen alle studentischen Repräsentanten teilnehmen und Entscheidungen treffen. Durch die derzeitige Krise finden die Sitzungen mittlerweile fast täglich statt, oft nehmen über 100 Studierende teil.

Die Demonstrationen heute gehen auf die Proteste im Jahr 2014 zurück. Die Repression der Regierung hat seitdem stark zugenommen. Traurige Bilanz dieser Entwicklung: Es gibt immer mehr Verletzte. Oft sind bei einer einzigen Demonstration mehrere hundert Verletzte zu beklagen – und das sind nur diejenigen, die wir zählen können, weil sie von den Sanitätsteams der verschiedenen Universitäten behandelt werden. Die Dunkelziffer derjenigen, die durch Tränengas und Bleigeschosse verletzt werden, ist noch viel höher. Eine Tränengasbombe tötete einen Student meiner Universität Ende April. Das hat selbst die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz bestätigt, obwohl Regierungsmitglieder wie Padrino López und Diosdado Cabello öffentlich das Gegenteil behaupteten. In meiner Heimatstadt Maracaibo wurde ein Medizinstudent, der als Sanitäter einem Verletzten helfen wollte, bei einer Demonstration von einem Panzer überfahren.

Die Studierendenbewegung wird nicht aufhören zu protestieren

Die Studierendenbewegung wird nicht aufhören zu protestieren – bis es einen Regierungswechsel gibt. Wir werden nicht zulassen, dass die Proteste, wie im Jahr 2014, gewaltsam erstickt werden. Am Anfang gingen wir auf die Straße, weil die Regierung die Regionalwahlen abgesagt hat. Jetzt protestieren wir, weil die Krise so gigantisch ist, weil der Mangel und die Inflation uns umbringen – und wenn uns das nicht umbringt, dann tun es die Kriminellen, die heute oft uniformiert auftreten. Nicht selten rauben Polizisten und Mitglieder der Nationalgarde Demonstrierende aus, bevor sie sie niederschlagen. Ich habe gesehen, wie eine Freundin von einer Wache geschlagen wurde und sie ihr das Handy, die Gasmaske, den Helm geraubt haben. Ich habe gesehen, wie eine Wache anfing, mit einem Militärwagen Demonstrierende anzufahren. Die Zahl der Schwerverletzten und Toten nimmt immer mehr zu.

Heute Studentin zu sein, ist extrem kompliziert. Der Unterricht an den privaten Universitäten findet zwar statt und es werden weiterhin Leistungen eingefordert und benotet. Das Land geht aber auch auf die Straße und die Proteste überschneiden sich häufig mit den Kursen. Oft stehen wir vor der Wahl: Uni oder Demo. Ich versuche, auf alle Demonstrationen zu gehen, die irgendwie in meinen Zeitplan passen. Es ist mittlerweile Routine geworden, direkt vom Campus zur Demonstration zu gehen. Gasmaske, Helm, Wasser und Snacks habe ich eigentlich immer dabei. Ab und zu auch Medikamente – für alle Fälle. Meistens trage ich ein T-Shirt meiner Universität, falls mir etwas passiert.

Die Studierendenbewegung ist gut organisiert, die Repräsentanten der verschiedenen Universitäten agieren sehr homogen – obwohl die letzten Monate extrem brutal waren. Unter den Toten sind sehr viele Studierende aus der Bewegung. Es sind Menschen, mit denen wir gemeinsam studiert haben. Eines Tages waren ihre Stühle in den Seminarräumen leer. Die Repression hat sie getötet.

Ich wohne in dem Stadtviertel Santa Fe, einem der Hauptschauplätze des ‘Kriegs des Ostens’. In manchen Nächten heizt sich die Situation so sehr auf, dass man das Tränengas bis in den 15. Stock riechen und die Wohnung nicht mehr verlassen kann. Straßen werden blockiert. Überall brennen Gegenstände. Es ist kompliziert.
Ich bin sicher, dass die Berichte stimmen und auch die Opposition Gewalt ausübt. Allerdings waren alle Demonstrationen, auf denen ich bislang gewesen bin, solange friedlich, bis die Nationalgarde anfing, Tränengas und Gummigeschosse einzusetzen. Zum Teil zielen sie sogar mit Schusswaffen auf uns. Nach allem, was ich bislang erlebt habe, geht die Gewalt eigentlich in fast allen Fällen von staatlicher Seite aus.

Die Demonstrierenden verteidigen sich mit selbstgebastelten Waffen, mit Molotov-Cocktails, Schleudern oder Pflastersteinen. Ich habe ein paar Mal gesehen, dass Demonstrierende versucht haben, Gewalt zu provozieren, in dem sie anfingen Steine zu werfen. Allerdings hielten andere Demonstrierende diese Personen immer zurück.
Ich bin sicher, dass auch Mitglieder der Opposition Gewalt anwenden. Aber die große Mehrheit der Protestbewegung unterstützt die Gewalt nicht. Deswegen ist die Methode, die wir Platón nennen, auch so erfolgreich: Menschen blockieren Straßen und sorgen so für einen Stillstand der Stadt. Konkret sieht das so aus: Man geht raus, setzt sich auf einen Stuhl in die Mitte der Straße, liest ein Buch oder spricht mit anderen Demonstrierenden. Bis zum abgesprochenen Zeitpunkt wird der Platz nicht verlassen. Und so waren bisher alle Aufrufe der Opposition friedlicher Protest. Gerade gab es wieder einen Platón im ganzen Land, den ganzen Tag über von 10 bis 20 Uhr.

Es gibt eine Art informativen Blackout.

Jeden Tag wird es schwieriger zu erfahren, was in unserem Land passiert. Es gibt eine Art informativen Blackout. Journalisten wurden bedroht, ihre Ausrüstung konfisziert oder geraubt. Jeden Tag kommt es zu Protesten in Venezuela. Eine schlechte Nachricht wird am nächsten Tag von einer noch schlechteren übertroffen.
Vor wenigen Tagen war ich auf einer Demonstration, die gewalttätig niedergeschlagen wurde. Wir mussten fliehen. Eine ältere Frau, die in einem Haus in der Nähe wohnte, ließ uns – mehr als 30 Unbekannte – in ihrer Garage ausharren. Wir setzten uns verängstigt auf den Boden und hörten zu, wie draußen die Polizei vorbeizog und Tränengasbomben abfeuerte, obwohl alle Demonstrierenden längst geflohen waren. Wir teilten Wasser, Zigaretten und Süßigkeiten unter uns Unbekannten auf – Menschen mit verschiedenen sozialen Hintergründen und politischen Ausrichtungen, die sich sonst wahrscheinlich nie über den Weg gelaufen wären.

Auch das ist seltsam: Wir fühlen uns schuldig, weil das Leben trotzdem irgendwie weitergeht. Die Menschen heiraten, haben Geburtstag, machen ihren Abschluss. Manchmal nach den Protestmärschen treffen wir uns und feiern die wenigen guten Dinge, die es noch gibt. Die Kontraste sind gigantisch. Manchmal läuft man vor der Nationalgarde davon und rennt dabei an Leuten vorbei, die in Restaurants sitzen, als würde nichts passieren.
Neulich wurden 20 Studierende verschiedener Uni­­versitäten hier in Caracas festgenommen, als sie friedlich protestierten. Wir von Apoyo Unimet versuchen vor allem, Studierenden von der Universität Simón Bolívar zu helfen. Im Gegensatz zu den anderen Universitäten in Caracas hat diese Universität nämlich keine juristische Fakultät und somit auch keine juristische Assistenzstelle. Es macht mich unglaublich traurig zu sehen, wie mit den Studierenden umgegangen wird. Gleichzeitig fühle ich mich betroffen, weil es Studierende sind – so wie ich. Die Wachen sperrten die 20 Studierenden in einen Lastwagen ohne Kennzeichen und schmissen dort Tränengasbomben hinein. Die Studierenden sind fast erstickt. In Fällen wie diesen können wir wenig tun, aber wir müssen es dennoch versuchen.

Ende des Monats findet die Verfassunggebende Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente, ANC) statt, die alle Hoffnung auf Demokratie, die noch bleibt, auslöschen wird. Mit der ANC lösen sich alle anderen politischen Mächte quasi auf. Sie ist sogar mächtiger als der Präsident selbst. Aber sollte es wirklich zur ANC kommen, dann hört diese Republik im Grunde auf zu existieren.“


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“VENEZUELA IST EIN AUSWANDERUNGSLAND”

Die Situation in Venezuela scheint prekär und bedrückend. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Wenn Sie in so einem Land länger leben, dann verändern sich auch die Maßstäbe. Das, was nach deutschem Maßstab ganz fürchterlich erscheint, das wird irgendwo ein Stück Normalität.

Zum Beispiel?
Wir waren häufig sehr kurzfristigen Entscheidungen der Regierung ausgesetzt. Über einen sehr langen Zeitraum hinweg ist, angeblich um Strom zu sparen, der Freitag als Schultag gecancelt worden, sodass wir nur vier Tage Schule machen konnten. Wir haben Notstundenpläne gemacht und versucht, das abzuarbeiten, was man normalerweise an fünf Tagen abarbeiten kann. Wir haben parallel eigentlich mit mehreren Stundenplänen gearbeitet und Woche für Woche entschieden.

Hat das funktioniert?
Im Nachhinein kann ich sagen: Ja. In Caracas hat es dieses Jahr wieder ein Abitur gegeben. Alle, die in die Prüfung gegangen sind, haben diese Prüfung bestanden. Die Schule hat mit 15 bis 30 Schülern immer noch relativ viele, die jedes Jahr das Abitur bestehen. Wer es im bilingualen Zweig bis zur zwölften Klasse geschafft hat, der macht meist auch den Abschluss.

Wie ist es aus Ihrer Sicht zur Schieflage im Land gekommen?
Venezuela hat mal sehr viel Geld eingenommen, als der Ölpreis bei 100 US-Dollar pro Barrel lag. Man hat dieses Geld verteilt, auch in Sozialprojekte. Aber nicht in eine nachhaltige Entwicklung investiert. Man hat so ein Alimentationssystem aufgebaut und den Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben genommen. Jetzt liegt der Ölpreis bei 40 bis 50 US-Dollar. Der Staat finanziert seinen Haushalt zu 90 Prozent aus den Öleinnahmen. Er hat die gesamte industrielle und landwirtschaftliche Infrastruktur vergammeln lassen. Sie finden große Latifundien, wo keine müde Kuh rumläuft, weil es keine Anreize mehr gibt. Staatliche Lenkungsmechanismen haben überhaupt nicht funktioniert.

In einem Zeitungsbeitrag haben Sie beschrieben, dass der Weg zur Schule zum Teil sehr gefährlich ist. Wenn Sicherheit für junge Menschen so eine besondere Bedeutung bekommt, was macht das mit den Kindern?
Wir haben eine ähnliche Situation wie jetzt schon 2014 gehabt. Da gab es auch über mehrere Wochen Demonstrationen, auch die sogenannten guarimbas, die Straßensperren. Im Prinzip ist das, was sich jetzt abspielt, ganz ähnlich. Aber dieses Mal hält der Protest an. Damals ist er wieder eingeschlafen. Natürlich macht das etwas mit den Jugendlichen, weil sie mitbekommen, was passiert.

Wie hoch sind die Schulgebühren?
Das ist kaum aussagekräftig. Wir haben in Venezuela mehrere Wechselkurse. Als ich gegangen bin, mussten die Gebühren alle zwei, drei Monate angepasst werden, weil die Inflation sich zwischen 500 und 1.000 Prozent bewegt. Zuletzt lagen sie bei 130.000 Bolívares. Nach dem offiziellen Kurs sind das 13.000 Euro, das bezahlt kein Mensch. Zum Schwarzmarktkurs bekommen sie die Schule fast geschenkt. Am Geld kann man es schlecht festmachen. Ob jemand gut oder schlecht lebt, liegt daran, ob er über Devisen verfügt. Man muss sagen, dass die Kinder, die die deutsche Schule besuchen, immer noch Kinder aus privilegierten Schichten sind. Obwohl die Eltern nicht unbedingt aus der Oberschicht stammen, sondern sich auch stark aus dem Mittelstand rekrutieren.

Welche Konflikte gab es unter den Schüler*innen?
Die Mehrheit der Eltern ist sicher nicht der Regierungsseite zuzuordnen. Aber wir haben auch Kinder gehabt von Eltern aus der PSUV (der sozialistischen Regierungspartei; Anm. der Red.), aus der chavistischen Bewegung oder von hochrangigen Regierungsmitgliedern und Funktionären. Wir hatten auch Kinder von Leuten, die politisch verfolgt waren. Das hat sich in der Schule aber nicht gezeigt.

Politisieren sich die Kinder früher als anderswo?
Die Kinder setzen sich schon mit der politischen Lage auseinander. Sie haben auch eine Meinung zu diesen Dingen. Sie blenden es aber in der Schule weitgehend aus. Das ist vielleicht so ein Verdrängungsmechanismus.

Was machen sie sonst?
Sie bewegen sich in Teilgesellschaften: Sie gehen in die Schule, sind am Wochenende in ihren Klubs, bei ihren Familien und Freunden. In Südamerika generell stellen wir fest, dass die Kinder der Mittel- und Oberschicht wenig über die gesellschaftliche Realitäten in den Ländern wissen und viel weniger Erfahrung damit haben, weil sie sich in Parallelwelten bewegen. Hier gibt es 18-, 19-, 20-Jährige, die noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren sind und bestimmte Stadtteile noch nie gesehen haben.

Wie lassen sich an der Schule – ohne von der Regierung gemaßregelt zu werden – demokratische Maßstäbe vermitteln?
Die Schule ist eine Privatschule und passt damit nicht in die Bildungsideologie der Regierung. Nach deren Vorstellung sollte man mit Bildung kein Geld verdienen. Das bedeutet, dass die Regierung die Privatschule sehr genau beobachtet. Da wird Druck ausgeübt. Einerseits passt man nicht in die bildungspolitischen Vorstellungen, andererseits schicken aber auch hochrangige Regierungsmitglieder ihre Kinder gerne in solche Schulen. Also Wasser predigen, Wein trinken.

Mit welchen Einschränkungen muss die Schule zurechtkommen?
Jahrelang war die Erhöhung der Schulgelder gedeckelt. Als die Inflation „nur“ 30 bis 100 Prozent betrug, durfte die Schule die Gebühr nur um zehn Prozent erhöhen. Die Gehälter inflationsausgleichend anzuheben, kriege ich dann irgendwann nicht mehr hin. Da entsteht ein erheblicher wirtschaftlicher Druck. Auch werden Supervisoren geschickt, wenn Eltern Anzeigen erheben.. Oder wenn denunziert wird, hat man ganz schnell einen Supervisor im Haus, der sämtliche Bücher kontrolliert und ganz bestimmte Anweisungen gibt.
Denunziert, gegen die Schule oder auch persönlich?
Primär gegen die Einrichtung. Das sind Dinge, die aber auch indirekt gegen Personen gehen. Beispielsweise könnte die venezolanische Schulleiterin durch einen Staatskommissar ersetzt werden. Das wäre die Spitze der Repression. Generell können solche Maßnahmen diese Leute sehr hart treffen, weil sie im öffentlichen Bereich keine Arbeit finden.

Hat es das schon gegeben?
Das hat es in anderen Schulen gegeben, bei uns nicht. Aber als Drohung hat es im Raum gestanden.

Sie meinen, in anderen Schulen in Venezuela?
Ja. Das gibt es vielleicht in anderen Ländern auch, aber nicht in dieser Form. Die Kollegen in Quito empfinden das auch so, aber das ist viel weniger ausgeprägt als in Venezuela. Man hat den Eindruck, das ist ein Stück Klassenkampf auf einem Nebenkriegsschauplatz.

Wie sehr kann der deutsche Staat Einfluss nehmen? Gibt es da Kommunikationskanäle?
Es gibt ein bilaterales Kulturabkommen zwischen Venezuela und Deutschland, das den Status dieser Schule regelt und internationalem Recht unterliegt. Aber dieses Abkommen hat die Regierung weitgehend ignoriert. Das hat auch damit zu tun, dass es in Venezuela üblich geworden ist, Rechtsnormen so auszulegen, wie man sie gerade braucht. Fakt ist, dass der politische Einfluss Deutschlands gegen Null geht. Da gibt es eine relativ große Indifferenz. Die deutschen Diplomaten müssen sich ziemlich abstrampeln, um Termine zu bekommen.

Wollen die Kinder ins Ausland? Was sind deren Träume?
Viele suchen den Weg ins Ausland. Die Schule hat letzthin in jedem Jahr 100 bis 150 Schüler verloren nur durch Abwanderung von Familien. Das sind mehr als zehn Prozent der Schüler. Venezuela ist ein Auswanderungsland, gerade der Mittelstand emigriert. In der Oberschicht hat sich die private Lebenssituation wirtschaftlich betrachtet nicht fürchterlich verändert. Der Mittelstand hat schon erheblich gelitten.

Was sind die Zielländer der Auswanderer*innen?
Die Familien gehen sehr häufig nach Kolumbien, nach Panama, in die USA, nach Europa in die Länder, aus denen zugewandert wurde. Wir hatten im vergangenen Jahr 25 erfolgreiche Abiturienten und von denen sind 22 zum Studium in Deutschland gelandet. Das machen sie aber nicht nur, weil der Studienstandort inzwischen so attraktiv ist, sondern auch weil sie das Land verlassen wollen. Die Perspektive zurückzukehren, ist gar nicht mehr da.

Sie arbeiten jetzt seit gut einem Monat in São Paulo. Wie nehmen sie das Bildungssystem und Brasilien selbst wahr?
Ich kann zum Bildungssystem noch wenig sagen. Ich nehme Brasilien als ein Land wahr, das funktioniert. Brasilien hat zurzeit die Diskussion über Korruption, die alle politischen Richtungen betrifft. Was Brasilien auszeichnet, ist die Tatsache, dass diese Diskussion geführt wird und es offensichtlich so etwas wie eine Gewaltenteilung gibt, bei der die Judikative weitgehend unabhängig agiert. Die Instanzen in Venezuela funktionieren nicht mehr. Der Oberste Gerichtshof trifft die absurdesten Entscheidungen, die mit der Verfassung des Landes kaum noch etwas zu tun haben.


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INSTABILE GRENZE

„La Guajira erlebt gerade eine Reihe von Konflikten. Einige lassen sich bis zur Gründung der Republik Kolumbien zurückverfolgen“, erläutert Weildler Guerra Curvelo, der Gouverneur des Bundesstaates La Guajira, bei einer Konferenz vor Journalist*innen. „Die übrigen hängen hauptsächlich mit der schlechten Konjunktur zusammen, die wir gerade in unserem Verhältnis zu Venezuela erleben“. Seit Schließung der nördlichen Grenzübergänge im August 2015 ist der – legale und illegale – Handel mit dem Nachbarland zum Erliegen gekommen. Die abgelegene Halbinsel am nördlichsten Zipfel des Landes ist traditionell ein Umschlagplatz für Schmuggelgüter aus beiden Richtungen.

Die Handelsmetropole Maicao, auch bekannt als „kommerzielles Schaufenster Kolumbiens“, trägt seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Status eines zollfreien Gebietes und fungiert als wirtschaftliche Brücke zwischen Kolumbien und Venezuela. Neben dem legalen Handel mit verschiedenen Gütern, etwa den Kunstprodukten der in der Region lebenden indigenen Gruppe der Wayúu, hat auch der Einbruch des illegalen Treibstoffhandels schwere Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft. Seit Beginn der ökonomischen Krise im Nachbarland sehen sich vor allem die in Grenznähe lebenden Indigenen außerdem zunehmend mit einem Mangel an Nahrungsmitteln konfrontiert. Hildurara Barliza, Repräsentant der Wayúu, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Efe: „Wir müssen der historischen Realität ins Auge blicken: Wir haben uns immer gut ernährt, wir hatten eigentlich keinerlei Probleme – und das nur, weil wir von den subventionierten Preisen in Venezuela profitiert haben“.

Laut Zahlen des Nationalen Gesundheitsinstituts (INS) starben in La Guajira allein 2016 mindestens 90 Menschen an Unterernährung. Dem kolumbianischen Statistikamt (DANE) zufolge gehen 85% der Lokalbevölkerung informellen Arbeitsverhältnissen nach, über 50% der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig beziffert die staatliche Planungsbehörde (DNP) den Anteil der Menschen, die unter unzureichenden Bedingungen leben – das heißt im konkreten Fall beispielsweise ohne Zugang zu fließendem Wasser – mit 44,6%.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte. Schwere Dürreperioden, aber auch der massive Kohleabbau (siehe LN 509) bedrohen die Wasserressourcen und rauben den Menschen damit die Lebensgrundlage. Gleichzeitig steht die Region auf Grund ihrer strategisch günstigen Lage immer wieder im Fokus der Aktionen verschiedener Guerillas sowie paramilitärischer und anderer krimineller Gruppierungen. Verkompliziert wird diese Situation durch den schwelenden Grenzkonflikt mit Venezuela. Am 21. Mai bezichtigte die venezolanische Regierung die kolumbianische Seite in einem offiziellen Schreiben der militärischen Aufrüstung: Kolumbien würde mit „gepanzerten Kampffahrzeugen in wenigen Metern Entfernung zur Grenze“ einen erneuten Ausbruch der Auseinandersetzungen provozieren. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu diplomatischen Krisen im Grenzgebiet gekommen, teils mit schweren gewalttätigen Ausschreitungen und Massendeportationen von in Venezuela lebenden Kolumbianer*innen. 2015 wurde der gesamte Grenzverlauf über mehrere Monate hinweg gesperrt, Teile der Grenze sind bis heute unpassierbar. Das kolumbianische Verteidigungsministerium stritt die Vorwürfe ab und verwies darauf, dass sich die betreffenden Panzer bereits seit einigen Jahren aufgrund der paramilitärischen und Guerilla-Aktivitäten in der Grenzregion befänden.

Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro hatte seinerseits bereits Mitte Mai die Militarisierung des ebenfalls in der Grenzregion gelegenen Bundesstaates Táchira angeordnet. Nach gewalttätigen Protesten, in deren Verlauf mehrere Polizeistationen angezündet und mindestens drei Personen getötet wurden, entsandte die Regierung 2600 Soldat*innen nach Táchira, „um den Frieden wiederherzustellen“. Diese Operation ist Teil der zweiten Phase der von Maduro verabschiedeten Sicherheitsmaßnahme „Plan Zamora“, mit der die Regierung die massiven Proteste im Land eindämmen will (siehe Interview mit Daniela Guerra in dieser Ausgabe).

Die Region Táchira grenzt an den kolumbianischen Bundesstaat Norte de Santander, dessen Bevölkerung sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert sieht wie jene in La Guajira. Aktuell überqueren laut Zahlen der kolumbiani- schen Regierung aus venezolanischer Richtung kommend. täglich etwa 45.000 Menschen die Grenze bei Cúcuta Die meisten dieser Personen überqueren diese Grenze regelmäßig, etwa weil sie Handel in Cúcuta treiben oder Verwandte besuchen. Allerdings verzeichnen die Behörden nur etwa 30.000 Grenzüberquerungen in die andere Richtung. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über das Verbleiben der übrigen 15.000 Personen, die täglich einreisen. „Mich beunruhigt die massive Migration in Richtung Kolumbien, weil diese Menschen um ihr Leben flüchten“, äußerte Pepe Ruiz, Bürgermeister der Grenzstadt Villa del Rosario, gegenüber der Tageszeitung El Tiempo. Auch wenn sich der Vize-Verteidigungsminister Anibal Fernández de Soto bereits Anfang Mai zuversichtlich gezeigt und betont hatte, dass das Land darauf vorbereitet sei, einer „humanitären Krise“ in Venezuela und damit verbundener massiver Migration nach Kolumbien zu begegnen, äußerten Vertreter*innen der Lokalregierung sowie der Zivilbevölkerung starke Kritik an den Maßnahmen der Regierung. José Uriel Acevedo Arias, lokaler Repräsentant der Lehrer*innengewerkschaft SINTRENAL, kommentierte gegenüber lokalen Medien: „Es ist schon ironisch, dass Kolumbien es in 50 Jahren nicht geschafft hat, einen Notfallplan für all die Missstände innerhalb Kolumbiens bereitzustellen, aber jetzt angeblich schon einen Notfallplan für die venezolanischen Migranten hat.“

Nach den massiven Protesten gegen soziale Missstände in den Regionen Chocó und Valle del Cauca prüfen daher auch die Gewerkschaften und sozialen Organisationen in Cúcuta die Möglichkeit eines Generalstreiks: „Wir haben immer noch die gleichen Probleme: Cúcuta führt nach wie vor die Ranglisten in Punkten wie Arbeitslosigkeit, informelle Arbeitsverhältnisse oder soziale Ausgrenzung an. Es ist daher unsere Pflicht als Gewerkschafter, als Politiker, als Zivilbevölkerung auf die Straße zu gehen und uns genauso zu mobilisieren wie die Menschen im Chocó und in Buenaventura“, sagte Leonardo Sánchez, Führer des Gewerkschaftsbundes CUT, gegenüber El Tiempo.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration (TMF), der im April eingeführt wurde und Bewohner*innen der Grenzregionen für Zeiträume bis zu acht Tagen die legale Einreise nach Kolumbien ermöglichen soll, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert. Christian Krüger, Leiter der Kolumbianischen Migrationsbehörde, betonte im Interview mit der Wochenzeitung Semana, dass die meisten Venezolaner*innen auf der Suche nach dringend benötigten Medikamenten, medizinischer Versorgung, Nahrungsmitteln oder informeller Arbeit nach Kolumbien kommen würden. Rodolfo Hernández, Bürgermeister der Industriemetropole Bucaramanga, Hauptstadt des ebenfalls nahe der Grenze liegenden Bundesstaates Santander, sorgte derweil für Polemik, als er gegenüber dem Innenministerium eine effektive Kontrolle der Migration forderte. Er betonte, dass den Venezolaner*innen geholfen werden müsse, da das Land über Jahrzehnte unzähligen Kolumbianer*innen Zuflucht geboten habe. Jedoch habe seine Stadt kein Geld, um sich um die tausenden Migrant*innen zu kümmern: „Jetzt kommen alle Bettler, Prostituierten und Arbeitslosen Venezuelas“, betonte er und fuhr fort: „Also, was machen wir in Bucaramanga? Wir können sie [gemeint sind die Migrant*innen, Anm. d. Red.] nicht töten und nicht auf sie schießen, wir müssen sie empfangen, genau wie Venezuela mehr als vier Millionen Kolumbianer empfangen hat“.

Derweil gehen die Proteste auf venezolanischer Seite weiter, ein Ende der Versorgungsengpässe und dadurch auch des Flüchtlingsstroms ist nicht abzusehen. Die ersten Notunterkünfte wurden im Raum Cúcuta bereits errichtet, die Krankenhäuser berichten von ständiger Überforderung durch die unzähligen venezolanischen Patient*innen. Abzuwarten bleibt, wie Kolumbien, traditionell eher Ausgangspunkt von Migrationsbewegungen der vom eigenen internen Konflikt betroffenen Menschen, seine neue Rolle als Zielland der Geflüchteten meistern wird. Die schwierige Lage gerade in den Grenzregionen droht sich jedoch zunächst eher zu verschärfen als zu verbessern- gerade auch angesichts der landesweiten Protestbewegungen und Generalstreiks, die in den vergangenen Wochen das Land in Atem hielten.


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„DIE REGIERUNG WILL EINE SIMULIERTE DEMOKRATIE“

GONZÁLO GÓMEZ ist Mitglied bei Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Im Jahr 2002 gehörte er zu den Mitbegründern der chavistischen Informations- und Debattenplattform Aporrea.org. (Foto: privat)

Herr Gómez, seit Anfang April erlebt Venezuela fast täglich Proteste. Droht eine weitere Eskalation?
Sowohl Regierung als auch Opposition setzen auf Konfrontation, aber niemand kümmert sich um die Probleme des Landes und der Bevölkerung. Die Politiker glauben anscheinend, dass ihnen dieser Faustkampf am Ende Vorteile für eine mögliche Verhandlungslösung verschafft. Dies könnte zu einer sozialen Explosion führen, die weit über die oppositionsnahen Sektoren hinaus geht.

Marea Socialista hat sich bereits 2014 von der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) abgespalten. Warum haben Sie mit der Regierung gebrochen?
Man muss die Regierung vor allem aufgrund ihrer konkreten Politik und nicht aufgrund des Diskurses oder ihrer Herkunft einordnen. In der Praxis betreibt Maduro eine konterrevolutionäre Politik, die durch eine linke, antiimperialistische und gegen die Bourgeoisie gerichtete Sprache verschleiert wird. Die Regierung zieht die Repression dem Dialog vor, wird immer autoritärer und will die partizipative und protagonistische Demokratie durch eine simulierte Demokratie ersetzen.

Was meinen Sie mit simulierter Demokratie?
Die Kunst besteht darin, eine breite Partizipation vorzugaukeln, obwohl die Regierungspartei PSUV alle Fäden in der Hand hält. Während Referenden behindert und die Regionalwahlen verschoben werden, will Maduro eine Verfassunggebende Versammlung gegen die offensichtliche Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen (siehe Kasten). Aber es geht ihm nicht darum, mit der Revolution voranzukommen und die Rechte der Bevölkerung auszuweiten. Vielmehr soll die Verfassung von Chávez demontiert werden. Denn obwohl die Regierung ständig dagegen verstößt, stellt diese eine gewisse Bremse auf dem Weg in den Autoritarismus dar. Die vom Nationalen Wahlrat beschlossenen Regeln für die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung verschaffen der Regierung einen klaren Vorteil und die Bevölkerung darf nicht einmal in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie überhaupt eine neue Verfassung will. All dies nimmt dem Vorhaben die Legitimität.

Die rechte Opposition lehnt die Verfassunggebende Versammlung mit ähnlichen Argumenten ab …
… aber sie war es, die während des Putsches 2002 die aktuelle Verfassung abgeschafft hat! Erst der Autoritarismus der Regierung hat sie dazu gebracht, auf die demokratische Karte zu setzen, das ist opportunistisch und verlogen. Wir haben heute eine klassische Rechte, die sich im „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) organisiert und eine neue Rechte, die in der Regierung sitzt. Natürlich sind sie nicht identisch, aber beide konkurrieren um Geschäfte und die Macht, manchmal überlagern und kreuzen sich die Interessen dabei. Die Regierung setzt längst eine Strukturanpassung durch, aber mit chavistischen Symbolen und sozialer Kontrolle.

Wie äußert sich dies?
Maduro führt die Versorgungskrise auf einen Wirtschaftskrieg zurück. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt. Aber es ist eine freiwillig getroffene Entscheidung der PSUV-Regierung, die Importe, auch von Lebensmitteln und Medizin, extrem zu beschränken, und gleichzeitig illegitime Schulden zu bedienen, die vermutlich zu einem großen Teil durch Korruption entstanden sind. Dies über die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stellen, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Viele Leute aus dem Umfeld der Regierung besitzen prall gefüllte Bankkonten, Luxusanwesen und Landgüter in den USA. Transnationalen Bergbaukonzernen stellt Maduro im Süden Venezuelas ein Gebiet von der Größe Portugals zur Verfügung. Wirtschaftliche Ansätze, von denen Chávez gesprochen hat, wie „endogene Entwicklung“ oder „Ernährungssouveränität“ wurden hingegen größtenteils zerstört.

Trägt dafür denn alleine die aktuelle Regierung die Verantwortung?
Sowohl den Privatunternehmern als auch den Bürokraten der Regierung geht es in erster Linie darum, schnelle Profite zu machen, zum Beispiel, indem sie das System der unterschiedlichen Wechselkurse auf betrügerische Art und Weise ausnutzen. Die Regierung Maduro tut nichts dagegen. Die Ansätze der Arbeiterkontrolle, die Chávez in einigen verstaatlichten Unternehmen eingeführt hat, sind verkümmert, Funktionäre und Militärs führen die Unternehmen, als seien sie ihr Privatbesitz.
Chávez hat diese bürokratisierenden Prozesse zwar bekämpft, aber nicht ausreichend. Kurz vor seinem Tod forderte er in einer programmatischen Rede, „das Steuer herumzureißen“, das heißt, den Beginn eines neuen Zyklus der Revolution einzuleiten. Maduro hat sich davon abgewendet.

Wie ließe sich die schwere Wirtschaftskrise lösen?
Das ist in diesem Stadium alles andere als einfach, da die Krise eine gewisse Eigendynamik angenommen hat, die im völligen Chaos zu enden droht. Aber es gibt ein paar Elemente: Zuallererst brauchen wir einen Dialog. Dieser darf sich aber nicht auf die Parteiführungen von PSUV und MUD beschränken, da diese einen Großteil der Bevölkerung nicht repräsentieren. In diesem Rahmen muss die Gewalt beendet werden und zwar sowohl seitens der Opposition, als auch der Sicherheitskräfte und regierungsnaher Gruppen. Das Recht auf freie Wahlen und die Einhaltung der Verfassung von 1999 müssen garantiert und die Verfassunggebende Versammlung zurückgenommen werden, es sei denn, die Bevölkerung entscheidet über deren Einberufung per Referendum.
Und die Regierung muss dringend Notfallmaßnahmen ergreifen, um die tragische Unterversorgung bei Lebensmitteln und Medikamenten abzumildern. Dazu sollte sie die Zahlung illegitimer Schulden einstellen und die Vermögen, die durch Korruption entstanden sind, konfiszieren, so wie es unsere Verfassung ermöglicht. Das alles muss umgehend geschehen, aber was wir dann brauchen, ist ein politisches Projekt. Wir müssen aus dem extraktivistischen Erdöl- und Bergbaumodell ausbrechen, die Landwirtschaft stärken und die Lebensmittelproduktion erhöhen.

Wie gelingt es Maduro in dieser schwierigen Situation sich weiterhin an der Macht zu halten?
Zu einem guten Teil hat das mit der Chávez-Nostalgie zu tun und der Hoffnung, die bolivarianische Revolution wiederzubeleben. Die Regierung macht sich die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete Angst vor der klassischen Rechten und den Wunsch zunutze, die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära zu erhalten. Die Sozialprogramme etwa sind zwar deutlich weniger ausgeprägt als früher, dienen aber noch immer als Stoßdämpfer gegenüber der katastrophalen Lage.
Ein weiterer Grund ist das klientelistische Netz von Staatsangestellten und anderen Personen, die direkt von der Regierung abhängen. Dies betrifft auch die Führung vieler Organisationen und Bewegungen sowie das Militär. Und das Gespenst des Putsches von 2002 und der Erdölsabotage 2003/2004 führt dazu, dass viele Venezolaner und Venezolanerinnen, die mit der Regierung brechen, sich nicht der rechten Opposition anschließen. Laut Umfragen und Analysen verortet sich die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile in keinem der großen Lager mehr.

Dennoch erscheint die politische Landschaft noch immer stark polarisiert. Warum hat sich bisher keine politische Alternative herausgebildet?
Das hat zum einen mit der geringen Sichtbarkeit der Personen zu tun, die diese Alternative verkörpern könnten, mit dem langwierigen Prozess, eigene Organisationsstrukturen aufzubauen und den Hindernissen seitens des Autoritarismus. Unsere Partei Marea Socialista hat zum Beispiel keine Zulassung bekommen. Viele Bewegungen sind von der Regierung kooptiert und die Leute verbringen viel Zeit damit, ihr Überleben zu sichern und in Schlangen für Lebensmittel anzustehen. Die Bevölkerung wartet ab und könnte früher oder später auf den Plan treten, sofern Regierung und Opposition uns nicht vorher erdrücken.

Welche Rolle spielt in diesem Kontext der so genannte kritische Chavismus, dem sich auch Marea Socialista zugehörig fühlt?
Es geht uns zunächst vor allem darum, die Demokratie zu verteidigen und zu verhindern, dass die Gewalt überhand nimmt. Wir haben zum Beispiel schon im vergangenen Jahr eine Plattform zur Verteidigung der Verfassung und eine weitere zur Aufhebung des Bergbaudekretes gegründet. Obwohl wir uns weder an den Demonstrationen für noch gegen die Regierung beteiligen, erkennen wir an, dass es auf beiden Seiten Sektoren gibt, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Wir wollen eine demokratische, antibürokratische und antikapitalistische Alternative aufbauen, die das Positive der Revolution rettet und die Fehler über Bord wirft. Daran arbeiten wir bei Marea Socialista gemeinsam mit einer Reihe chavistischer Ex-Ministerinnen und Ministern, Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuellen und Militärs im Ruhestand, die an Chávez’ Putschversuch 1992 teilgenommen haben.

Anhänger*innen der Regierung werfen Marea Socialista und anderen kritischen Chavist*innen häufig vor, der Rechten in die Hände zu spielen. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?
Es kommt darauf an, wer so etwas äußert. Ich kann nachvollziehen, dass einige chavistische Sektoren eine Machtübernahme der Rechten fürchten. Wir debattieren darüber, wie man verhindern kann, dass die Oligarchie die Überbleibsel der Revolution zerstört. Aber was sollen wir schon jenen sagen, die uns als Agenten der CIA bezeichnen, weil wir innerhalb der Revolution Kritik üben, die sich aber gleichzeitig gemeinsam mit kapitalistischen Sektoren illegal bereichern?
So etwas anzuprangern ist notwendig und positiv für die Revolution. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir Autoritarismus und Korruption akzeptieren, um uns gegen den Imperialismus zu verteidigen. Nicht die Kritik, sondern die schlechte Regierung gibt der Rechten Auftrieb. Darüber sollte auch ein Teil der internationalen Linken einmal nachdenken.

Im Jahr 2002 haben Sie das chavistische Internetportal Aporrea.org mitbegründet. Heute fällt auf, dass dort sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Regierung publizieren. Welche Rolle kann Aporrea künftig spielen?
Man könnte meinen, Aporrea habe sich verändert, aber tatsächlich haben sich das Land, der Chavismus und die Haltung der Bevölkerung verändert. Als wir uns in Verteidigung der legitimen Regierung von Chávez 2002 gründeten, war unser Slogan: „¡Rompiendo el cerco mediático!“ – „Die mediale Belagerung durchbrechen“. Heute verwenden wir den Plural und sprechen von „Belagerungen“. Denn zusätzlich zur privat-kapitalistischen medialen Hegemonie gibt es eine bürokratisch-staatliche. Die staatlichen Sender haben nicht mehr die Durchlässigkeit, die sie für die sozialen Bewegungen zu Chávez’ Zeiten hatten. Daher ist unsere Rolle nun mehr denn je, Meinungen und Debatten Raum zu geben, die in den privaten wie staatlichen Sender kaum vorkommen. Wir bilden die Widersprüche des Chavismus und der bolivarianischen Revolution ab.


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// ZUM SCHEITERN VERURTEILT

Die Idee an sich klingt gut. Mittels einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) will der venezolanische Präsident Nicolás Maduro den politischen Machtkampf in Venezuela beenden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte er bei der Übergabe des entsprechenden Dekretes an den Nationalen Wahlrat (CNE). Dass damit die nach Hugo Chávez’ Amtsantritt als Präsident erarbeitete „beste Verfassung der Welt“ von 1999 abgeschafft werden soll, sehen die Chavist*innen keineswegs als Widerspruch an. Vielmehr solle diese der gesellschaftlichen Realität angepasst werden, indem etwa die vielfältigen Sozialprogramme und Selbstverwaltungsstrukturen Verfassungsrang bekommen.
Doch hinterlässt Maduros Ankündigung jede Menge Fragezeichen. Sie erfolgt mitten in einer tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, in der die gesellschaftliche Polarisierung vollends in Gewalt umzuschlagen droht. Gewissheit gibt es nicht, doch spricht einiges dafür, dass die Regierung momentan kaum eine Chance hätte, eine demokratische Wahl zu gewinnen. Die Zusammensetzung einer VV kann in diesem Kontext nur zugunsten der chavistischen Kräfte ausfallen, wenn einzelne Gruppen Sonderrechte erhalten oder die Opposition den Prozess boykottiert. In beiden Fällen würde einer neuen Verfassung bereits vor ihrer Verabschiedung ein Makel anhaften. Denn eine Magna Charta braucht vor allem eines: Legitimität.
Die Krise, in der sich Venezuela befindet, lässt sich auf diese Art und Weise nicht lösen. Die rechte Opposition, für die demokratische Regeln immer schon eine allenfalls taktische Rolle gespielt haben, bezeichnet Maduro mittlerweile offen als Diktator. Sie will nur dann an den Verhandlungstisch treten, wenn sie zuvor die Zusage zu sofortigen Neuwahlen erhalten hat. Die venezolanische Regierung warnt ihrerseits vor Umsturzplänen, agiert immer autoritärer und interpretiert die bestehende Verfassung nach ihrem Gusto. Dass unter diesen Bedingungen ein fruchtbarer gesellschaftlicher Dialog erwächst, ist mehr als fraglich. Eher vertieft der Vorstoß die ohnehin schon kaum mehr zu kontrollierende Polarisierung.
Dass die Regierung derart diskreditiert ist, liegt nicht zuletzt an eigenen Fehlern. Die Schuld an der gravierenden Wirtschafts- und Versorgungskrise lastet Maduro einseitig dem niedrigen Erdölpreis und einer Sabotage seitens der Privatwirtschaft an, ohne jedoch die strukturellen Ursachen anzugehen. Kritik ist auch aus den eigenen Reihen unerwünscht, eine offene Debatte gibt es schon lange nicht mehr. Letztlich hat Maduros Regierungspolitik nur noch wenig mit mit dem unter Chávez begonnenen „bolivarianischen Prozess“ zu tun, in dem es vor allem um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit ging.
Es scheint kaum mehr möglich, dass die Regierung von innen heraus zu einer progressiven Ausrichtung des Chavismus zurückfindet. Eine Machtübernahme durch die rechte Opposition hätte für die politische Stabilität des Landes und die Situation der ärmeren Bevölkerungsmehrheit indes fatale Konsequenzen. Hoffnung böte alleine das Emporkommen einer linken Alternative, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen als dritter politischer Akteur die lähmende Polarisierung aufbricht. Bisher gibt es dafür nur vereinzelte Ansätze wie etwa den so genannten kritischen Chavismus, zu dem sich die PSUV-Abspaltung Marea Socialista („Sozialistische Flut“), einige von Chávez’ Ex-Minister*innen und eine Reihe prominenter Intellektueller zählen. Obwohl sich laut Umfragen mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung keinem der beiden großen Lager mehr zurechnet, werden bisher jegliche Ansätze jenseits der beiden großen Blöcke durch die Polarisierung zerrieben. Kurzfristig scheint ein Bündnis aus kritischen Chavist*innen und konstruktiven Oppositionellen, die es durchaus auch gibt, unrealistisch. Mittelfristig ist dies die einzige Möglichkeit, die positiven Seiten des chavistischen Erbes zu retten.


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RISKANTE FLUCHT NACH VORN

Er hielt Wort. Im Vorfeld des 1. Mai hatte Nicolás Maduro für den Tag der Arbeit „historische Ankündigungen“ versprochen. Daran gemessen, wie oft der venezolanische Präsident in seiner nunmehr vierjährigen Amtszeit unspektakuläre Ankündigungen gemacht hat, war abgesehen von einer erneuten Anhebung des Mindestlohns nicht unbedingt viel zu erwarten gewesen. Doch hatte er dieses Mal tatsächlich noch mehr im Gepäck. „Ich berufe eine Verfassunggebende Versammlung der Bürger ein“, rief Maduro seinen Anhänger*innen auf der chavistischen Maikundgebung im Zentrum von Caracas zu. Nicht Parteien oder Eliten, sondern verschiedene Sektoren, wie die Arbeiterklasse, Bäuerinnen und Bauern, Frauen, Studierende und Indigene, sollten eine neue Verfassung ausarbeiten, um die politische Krise zu überwinden, betonte der Staatschef. Er nannte die Zahl von 500 Delegierten, von denen bis zu 250 von sozialen Bewegungen und Basisorganisationen und die übrigen auf kommunaler Ebene gewählt werden sollten. Eine ausschließlich mit chavistischen Politiker*innen und Jurist*innen besetzte Präsidialkommission wird die nötigen Vorbereitungen treffen, bevor der Nationale Wahlrat (CNE) über das genaue Prozedere entscheidet.

Eine neue Magna Charta würde die bolivarianische Verfassung von 1999 ersetzen, die zu Beginn der Regierungszeit von Hugo Chávez als eines seiner zentralen Wahlversprechen verabschiedet worden war. In der Vergangenheit hatten Chávez und viele seiner Anhänger*innen die Verfassung immer wieder als „beste der Welt“ bezeichnet. Maduro sprach denn auch nicht davon, die bestehende Verfassung komplett zu verwerfen. Vielmehr solle sie „perfektioniert“ und „Chávez’ Traum vollendet“ werden. Im Jahr 2007 scheiterte dessen Versuch, Venezuela durch eine breite Verfassungsreform als sozialistischen Staat zu definieren, knapp an den Wahlurnen.

Am 3. Mai reichte Maduro das Dekret, mit dem die Verfassunggebende Versammlung (VV) einberufen wird, beim CNE ein. Darin schlägt er neun Bereiche vor, die überarbeitet werden sollen. Unter anderem sollen die Staatsgewalten neu geordnet werden, die Sozialprogramme sowie Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang bekommen und das Wirtschaftsmodell verbessert werden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte Maduro und stichelte in Richtung Opposition. „Ihr wolltet Wahlen, hier habt ihr Wahlen.“ Seinen Gegner*innen versicherte er, dass sie sich an der VV beteiligen können, sofern sie Kandidat*innen aufstellen. Darüber, wie die Wahl genau ablaufen wird, entscheidet nun der CNE.

Während Vertreter*innen der Regierung den Vorstoß als Lösungsansatz der politischen Krise Venezuelas feierten, übte die rechte Opposition vernichtende Kritik an dem Vorhaben. „Wir Venezolaner werden nicht akzeptieren, dass der maduristische Selbstputsch weiter geht“, schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, unmittelbar nach Maduros Ankündigung auf Twitter. Zudem bezeichnete er die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung als „Betrug vom Diktator“ und rief die Bevölkerung dazu auf, sich zu widersetzen. Parlamentspräsident Julio Borges sprach vom „schlimmsten Putsch in der venezolanischen Geschichte.“ Das Ziel Maduros sei es, freie Wahlen zu verhindern und die Demokratie zu zerstören. In den vergangenen Jahren hatten viele Oppositionspolitiker*innen die Einberufung einer VV immer wieder selbst als Lösung der Krise ins Gespräch gebracht. Dabei hatten sie allerdings eine gänzlich andere Zusammensetzung im Sinn, als sie Maduro nun vorschwebt.

Auch Vertreter*innen der marginalisierten linken Opposition äußerten sich ablehnend. „Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre permanente Verletzung?“, fragte Miguel Rodríguez Torres, Innenminister zwischen 2013 und 2014. Nicmer Evans von Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV, bezeichnete die Verfassunggebende Versammlung als „klaren Verrat an Chávez und der Bevölkerung“ und warf der Regierung vor, den „Tod des chavistischen Projektes“ zu befördern.

Unter Verfassungsrechtler*innen fällt die Beurteilung je nach politischer Sympathie ebenfalls unterschiedlich aus. Während der oppositionsnahe Jurist Juan Manuel Rafalli als Hauptziel den Wunsch der Regierung ausmacht, „jede Art von Wahl zu verhindern“, sieht der Chavist Jesús Silva in der VV den einzigen verfassungskonformen Weg, um zeitnah alle staatlichen Instanzen neu wählen zu lassen, wie es die Opposition fordere.

Rein formal ist Maduro nichts vorzuwerfen. Laut Artikel 348 der Verfassung verfügt unter anderem der Präsident über die Kompetenz, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Gegen den Inhalt einer daraus erwachsenen Magna Charta können weder er noch andere staatliche Gewalten ein Veto einlegen. Über die Mechanismen zur Wahl der VV macht die derzeitige Verfassung jedoch keine konkreten Angaben, ein spezifisches Gesetz existiert nicht. Auch sind weder zur Einberufung der VV noch zur Verabschiedung einer neuen Verfassung Referenden vorgesehen. Verfassungsergänzungen und -reformen bedürfen hingegen ausdrücklich der Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit. Wenngleich Maduro mit seinem Vorstoß bei vielen chavistischen Basisbewegungen punkten könnte, die seit Langem eine Vertiefung der partizipativen Demokratie fordern, ist es fraglich, ob die politische Krise im Land dadurch beigelegt werden kann. Im Gegenteil, inmitten der größten Protestwelle seit 2014, könnte Maduros vermeintlicher Befreiungsschlag nach hinten losgehen.

„Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre Verletzung?“

Seit Anfang April tragen linke Regierung und rechte Opposition ihren Machtkampf teilweise gewalttätig auf der Straße aus. Die bisherige Bilanz: Mindestens 37 Todesopfer, hunderte Verletzte und mehr als 1.300 festgenommene Personen. Für die immer wieder aufflammende Gewalt machen sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich. Tatsächlich sind sowohl staatliche Sicherheitskräfte, als auch oppositionelle Gruppen für Tote und Verletzte verantwortlich. Acht Menschen starben zudem durch Stromschläge, als sie eine Bäckerei in El Valle, im Südwesten von Caracas, plündern wollten und mit Starkstromkabeln in Berührung kamen. Aus den Reihen der Opposition gibt es immer wieder Vorwürfe, motorisierte chavistische Basisorganisationen aus den barrios, so genannte colectivos, würden gezielt oppositionelle Demonstrationen beschießen. Von den bisher aufgeklärten Todesfällen geht allerdings keiner auf die colectivos zurück.

Als Auslöser der derzeitigen Protestwelle gilt die vorübergehende Übertragung der legislativen Kompetenzen auf das Oberste Gericht (TSJ) Ende März, die dieses erst nach massiver Kritik wieder zurücknahm. Die von den USA und rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas unterstützte Opposition bezichtigt Maduro, eine Diktatur errichten zu wollen und fordert zeitnahe Neuwahlen, die Neubesetzung des Obersten Gerichts, die Freilassung aller von ihr als politische Gefangene bezeichnete Personen sowie die Einrichtung eines humanitären Korridors, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern zu versorgen. Die venezolanische Regierung warnt 15 Jahre nach dem gescheiterten Putsch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez hingegen vor neuen Umsturzplänen und einer angeblich geplanten US-Intervention. Als Reaktion kündigte Maduro eine weitere Militarisierung und Bewaffnung der regierungsnahen Milizen an, die das Land im Ernstfall mit verteidigen sollen. Die Militärführung, die nicht zuletzt wirtschaftlich zu den Nutznießer*innen der Regierung zählt, steht weiterhin demonstrativ hinter der Regierung – den wiederholten Aufforderungen oppositioneller Politiker*innen zum Trotz, sich auf die Seite der Regierungsgegner*innen zu stellen.

Beflügelt werden die Proteste nicht zuletzt durch die tief greifende Wirtschafts- und Versorgungskrise. Seit dem deutlichen Sieg des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen Ende 2015 schaukelt sich der Machtkampf kontinuierlich hoch. Auf der einen Seite steht eine immer autoritärer agierende Regierung, die sich die Verfassung für die eigenen Zwecke zurechtbiegt. Auf der anderen Seite stilisieren sich die rechten Regierungsgegner*innen als Verteidiger*innen jener Verfassung, die sie in der Vergangenheit stets abgelehnt haben. Weitgehend unstrittig ist indes, dass sich die staatlichen Gewalten häufig politisch instrumentalisieren lassen und der Machtkampf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme blockiert. Während die oppositionelle Parlamentsmehrheit seit Beginn vergangenen Jahres offen auf einen Regierungswechsel hinarbeitet und den übrigen Gewalten die Anerkennung verwehrt, regiert Maduro per Dekret. Das TSJ blockiert derweil die parlamentarische Arbeit und nickt jede noch so abenteuerliche Interpretation der Verfassung ab. Auch der in Venezuela als eigene Gewalt fungierende CNE kommt seiner verfassungsmäßigen Rolle nur noch bedingt nach. Nicht nur stoppte er im vergangenen Oktober das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung. Auch verschleppt der CNE die, laut Verfassung, für Ende vergangenen Jahres vorgesehenen Regionalwahlen und hat im Februar eine Neuregistrierung fast aller politischen Parteien angeordnet.

In diesem Kontext entschied das TSJ Ende März, die Kompetenzen der Nationalversammlung selbst zu übernehmen und hob die Immunität der Parlamentarier*innen auf. Als Anlass galt ein Urteil zu der Frage, wie der venezolanische Staat staatlich-private Mischunternehmen im Bergbaubereich gründen könne, wenn dafür doch eigentlich die Zustimmung der Nationalversammlung erforderlich ist. Nachdem die chavistische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega während einer Liveübertragung im Staatsfernsehen von einem „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“ gesprochen hatte und daraufhin Präsident Maduro intervenierte, nahm das Gericht die umstrittenen Beschlüsse zurück. Weiteres Öl ins Feuer goss der Rechnungshof, der gemeinsam mit der Generalstaatsanwältin und dem Ombudsmann für Menschenrechte, laut venezolanischer Verfassung, ebenfalls eine eigene Gewalt darstellt. Am 7. April erkannte er dem prominenten Oppositionsführer Henrique Capriles, unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfen, für 15 Jahre das passive Wahlrecht ab. Neben dem wegen Anstachlung von Gewalt seit drei Jahren inhaftierten Leopoldo López galt Capriles bisher als aussichtsreichster Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018.

Der eskalierende Konflikt zwischen Regierung und Opposition hat auch international bereits Konsequenzen. Im April kündigte Venezuela an, als erstes Land in der Geschichte freiwillig aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) austreten zu wollen. Die Regierung wirft der US-dominierten Regionalorganisation und ihrem Generalsekretär, dem Uruguayer Luis Almagro, Einmischung in innere Angelegenheiten vor.

Inmitten verhärteter Fronten profiliert sich die venezolanische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega indes als unabhängige Stimme innerhalb der staatlichen Institutionen. Oppositionelle Beobachter*innen werten dies als „Riss“ innerhalb des chavistischen Machtapparates. Ortega verurteilte nicht nur den „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“, sondern fand Ende April auch klare Worte für die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eindringlich lehnte sie die Aktionen gewalttätiger Gruppen ab, nannte aber auch konkrete Beispiele, in denen der Staat die Rechte der Protestierenden etwa durch willkürliche Festnahmen verletzt habe. „Wir müssen endlich damit aufhören, uns als Feinde zu betrachten“, betonte sie. Sie sprach sich für die Wiederaufnahme des Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialoges aus. Niemand in Venezuela wolle einen Bürgerkrieg oder Einmischung von außen, für eine wirklich demokratische Gesellschaft seien Andersdenkende von fundamentaler Bedeutung. Anfang Mai legte sie in ihrer Kritik nochmal nach. „Wir können von den Bürgern nicht verlangen, sich friedlich und gesetzestreu zu verhalten, wenn der Staat Entscheidungen trifft, die gegen das Gesetz verstoßen“, sagte sie gegenüber der US-amerikanischen Tageszeitung The Wall Street Journal. An der aktuellen Verfassung sei nichts zu verbessern. „Es ist die Verfassung von Chávez.“ Venezuela wäre derzeit wohl am meisten geholfen, wenn sich sowohl Regierung als auch Opposition an diese Verfassung halten würden.


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AUTONOM DURCH DIE KRISE

An meinem ersten Markttag auf der Feria del Centro war mir zum Heulen zumute, als ich die tausenden Menschen gesehen habe, die wegen der knappen Lebensmittel wie Zucker und Nudeln anstehen – und nicht etwa weil sie die Produkte geschenkt bekommen, sondern zu Preisen erhalten, die sich die meisten nur knapp leisten können. Dass eine solidarische und offene Bewegung wie Cecosesola massive Kontrollmaßnahmen ergreifen muss, um die Schlangen in ruhige Bahnen zu lenken, fand ich besonders traurig. Dabei ist die Situation allen Berichten zufolge viel entspannter als noch vor einem halben Jahr.

Schlange stehen für das Nötigste. Knappheit führt zu endlosen Menschenschlangen. Foto: Phillip Bauer

Mitte 2016 eskalierte die Situation in den Schlangen bei allen ferias (Wochenmärkten) mehr und mehr. Am gefragtesten war und ist das Maismehl für das Grundnahrungsmittel Arepas, aber auch Zucker, Nudeln, Toilettenpapier, Zahnpasta waren und sind selten und zu überhöhten Preisen zu bekommen. Bei Cecosesola wurden diese Dinge, wenn es sie gab, recht preiswert verkauft. Die Leute fingen an, sich schon Tage und Nächte vor dem Markttag Plätze in der Schlange zu reservieren. Die Schlangen reichten einmal um den Block herum, bis zu einem Kilometer. Gewiefte reservierten einen ganzen Bereich schon Tage vorher, um die Warteplätze zu verkaufen. Andere versuchten sich mit Gewalt, teils mit Waffen, vordere Plätze zu sichern. Bei der Feria Ruiz Pineda wurden insgesamt drei Menschen bei solchen Auseinandersetzungen umgebracht. Die Kooperative musste Polizei und Armee zu Hilfe rufen, die ihrerseits gewaltsam versuchten für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Die Situation wurde so unerträglich, dass etwas geändert werden musste. Das Maismehl wurde ganz aus dem Sortiment genommen. Ein umstrittener Punkt, weil gerade die kleineren Kooperativen gerne wenigstens für die Mitglieder weiter Maismehl gehabt hätten. Aber die Prinzipien „Alles im Dienst der community“ und „Keine Privilegien für die Mitglieder“ waren ausschlaggebend. Bei Treffen und zwischendrin werden, wie im ganzen Land, regelmäßig neue Rezepte für Arepas ganz ohne Maismehl ausgetauscht. Zucker wird lieber nur noch jedes zweite Wochenende verkauft.

Die kleine ländlichen Kooperative 8 de Marzo begann als erste, einen Tag im Voraus Nummern zu vergeben. Dafür wurden und werden die etwa 200 Personalausweise der Einkaufswilligen in eine Kiste geworfen, geschüttelt und in der Reihenfolge gezogen, in der am nächsten Tag eingekauft werden kann. Die Verlosung dauert eine Dreiviertelstunde und am nächsten Tag verkürzt sich das Warten vor dem Laden deutlich, weil die Nummer eine Orientierung gibt. Noel erzählt mir, wie die mittelgroße Kooperative El Triunfo das auch so versucht hat, mit etwa 4000 Menschen, die einkaufen wollten. Obwohl sie die Leute in drei Gruppen aufteilten (vor dem Markt, auf dem Sportplatz, an einer Straßenecke) war es eine Katastrophe. Die Ausgabe von je knapp 1500 Ausweisen dauerte bis tief in die Nacht. Leute wollten verzweifelt ihren Ausweis wiederhaben, aber der war ja nicht so schnell wieder rauszufischen.

Noel und andere findige cooperativistas haben deshalb ein Computerprogramm für alle ferias entwickelt, das die Nummern nach Zufallsprinzip vergibt. Die Einkaufswilligen müssen an einem der Tage vorher mit ihrem Ausweis kommen und bekommen einen Nummernzettel. Seit März gibt es statt Zettel eine personengebundene Chipkarte und an den Eingängen Computer, die anzeigen, ob die Person tatsächlich an der Reihe ist.

An den Eingängen ordnen Menschen von Cecosesola die Schlangen. Zum Teil helfen Freiwillige von den kommunalen Räten dabei (consejos comunales, ein basisdemokratisches Element des venezolanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“). Bei den großen ferias sind Armee und Polizei beteiligt.

An meinem erwähnten ersten Markttag wurden die Leute vor dem Tor sortiert, von jeweils hundert Menschen die Ausweise eingesammelt (zum Beispiel die Nummern 7300 bis 7399), ein Soldat mit dem Ausweisbündel in der Hand begleitete dieses Hundert dann auf den Hof zur eigentlichen Schlange, wo den Menschen in genau der Reihenfolge die Ausweise wieder ausgehändigt wurden. Durch ein kleines Labyrinth von Gittern (die Vordrängeln erschweren sollen) gelangten die Menschen zu einer weiteren Überprüfung ihres Nummernzettels und waren endlich drin in der Halle mit den Trockenwaren – um sich später wiederum an der Kasse anzustellen.

Die Vielfalt der Tricks und Kniffe der Menschen aus der community, um schneller oder überhaupt einkaufen zu können, ist enorm

Die Vielfalt der Tricks und Kniffe der Menschen aus der community, um schneller oder überhaupt einkaufen zu können, ist enorm: Leute leihen sich Ausweise von anderen, um mehrmals am Wochenende einkaufen zu können, wollen mit den Ausweisen ihrer Kinder rein, drucken sich die Nummernzettel selbst oder kopieren sie. Es gibt die bevorzugte Schlange der Senior*innen und körperlich Beeinträchtigten, die sich teilweise dafür bezahlen lassen, dass jemand sie begleitet, „um ihnen zu helfen“ und dabei selbst einzukaufen. Die Verlockung, Produkte „mitgehen“ zu lassen, ist verständlicherweise groß, wenn der Wochenlohn nicht fürs Nötigste reicht.
In der Hinsicht sind die cooperativistas nicht gerade nachsichtig. Die Senior*innen dürfen nur noch ohne Begleitung einkaufen. Essen innerhalb des Marktes ist verboten, auch für die Arbeitenden. An den Ausgängen sitzen compañeras und compañeros, die sich von allen Einkaufenden den Kassenbon und den Tascheninhalt zeigen lassen und den Bon dann ungültig machen.

Wer trickst, wird für drei Monate „blockiert“, das heißt bekommt keine Nummer mehr fürs Trockensortiment. Wer beim Klauen erwischt wird, für immer und für alle Märkte von Cecosesola.

Begründet wird das damit, dass das System der Nummernvergabe per Zufallsprinzip nur akzeptiert wird, wenn es klare für alle gleichermaßen geltenden Regeln gibt, die auch eingehalten werden. Die Befürchtung ist, dass sich an jedem erfolgreichen Tricksen andere ein Beispiel nehmen und das ganze mühsam eingerichtete System ad absurdum führen.

Das Klauen wird so schwer genommen, weil es eine Verabredung gibt, dass ein Verlust von ein Prozent der Produkte toleriert wird (das ist nicht viel mehr als das, was zum Beispiel kaputt geht und im Müll landet oder wo sich Leute bei der Inventur verzählen). Ist der Verlust höher, wird das auf den kollektiven Verdienst umgerechnet, das heißt, alle bekommen etwas weniger. Diese Verabredung erhöht die Motivation, sehr genau buchzuführen über die Ein- und Ausgänge von Waren, setzt aber auch unter Druck.

Ich durfte miterleben, wie allen „Blockierten“ die Gelegenheit gegeben wurde, zur Feria zu kommen und zu reden. Wir saßen mit vier bis fünf Menschen von Cecosesola und der „blockierten“ Person im Kreis, haben uns vorgestellt und uns die jeweilige Geschichte angehört. Die meisten hatten einen starken Wunsch, so schnell wie möglich wieder einkaufen zu können, und entschuldigten sich wortreich. Die Fragen der compañeros waren freundlich und daran interessiert, etwas über den sozialen und familiären Hintergrund der Person zu erfahren. Ein anderes Thema war, was die Person über die Kooperative weiß. Es wurde versucht darzustellen, was das Besondere an Cecosesola ist und warum Transparenz, Ehrlichkeit und Solidarität hier so wichtig genommen werden. „Wir nutzen die Gelegenheit für einen Bildungsprozess, damit die community uns besser kennenlernt“, beschreibt cooperativista Ender das Vorgehen.

Allen, die auf die eine oder andere Art geschummelt hatten, wurden nach den Gesprächen die Blockierungen aufgehoben. Einem, der geklaut und danach einen rührenden Entschuldigungsbrief geschrieben hatte, wurde die Blockade aufgehoben unter der Bedingung, dass er am nächsten Markttag einige Stunden selbst bei den Taschenkontrollen helfen sollte.

Die Wirtschaftskrise bringt noch etliche weitere Probleme mit sich, die Cecosesola vor verschiedene Herausforderungen stellen. Das Einkaufsteam braucht viel mehr Leute und hat viel mehr Arbeit und trotzdem gibt es manchmal kaum was zu verkaufen. Die Arbeiter*innen von Cecosesola dürfen zwar einen Tag vorher abends ohne Nummer einkaufen, aber auch für sie gilt die gleiche Knappheit. An den Eingängen sind viel mehr Leute nötig als vorher, ein privater Wachschutz wird zusätzlich bezahlt. Mindestens drei Autos wurden in den letzten Monaten geklaut, Geld aus den Kassen ist verschwunden. In einigen Fällen müssen es Mitglieder von Cecosesola gewesen sein. Zudem sind die Arbeitszeiten explodiert: Freitags, Samstags geht es um 5.30 Uhr los und während früher um 17 Uhr Schluss war, geht es mittlerweile oft bis 21 oder 22 Uhr. Abgesehen von Schlafmangel und Überarbeitung ist das auch ein Problem wegen der Unsicherheit in den Straßen. Bei einer solchen Gelegenheit wurde ein Auto der Kooperative, das Menschen nach Hause brachte, von einer bewaffneten Bande überfallen. Eduardo, der Fahrer, wurde mitgenommen und in einem anderen Stadtteil aus dem Auto geworfen.

Als weitaus größte Herausforderung in den Krisenzeiten sieht Jorge, bei all den konkreten Problemen nicht den persönlichen und kollektiven Transformationsprozess aus den Augen zu verlieren – der ja aus Sicht von Cecosesola Grundlage und wichtigster Zweck aller Aktivitäten ist.

Es sind schwere Zeiten für Solidarität in einer Gesellschaft, die sich immer mehr zum Überleben auf Kosten anderer entwickelt. Umso bewundernswerter, dass Cecosesola an dem Prinzip festhält, dass für die community und nicht nur für die Mitglieder gearbeitet wird. Andererseits zeigt sich auch die Krisenfestigkeit der aufgebauten Strukturen. Viele hierarchische Betriebe ähnlicher Größe sind schon pleite gegangen. Mit ihrem „Vorschuss“, Krankenversicherung, Mittagessen und Zugang zu günstigen Lebensmitteln haben die Arbeiter*innen von Cecosesola immer noch etwa dreimal so viel wie der Großteil der Venezolaner*innen. Das zeigt doch, dass es Sinn macht, solidarische Strukturen aufzubauen. An der persönlichen und kollektiven Transformation weiterzuarbeiten ist vielleicht eine der größten Herausforderungen in diesen Zeiten. Dass das Zeit braucht und Dranbleiben und Weiterentwickeln dafür wichtig sind – das zeigen die 50 Jahre von Cecosesola eindrücklich.


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KRISENMODUS IM DAUERBETRIEB

Anfang Februar erreicht die Krise plötzlich das venezolanische Staatsfernsehen. Die wöchentlich ausgestrahlte Sendung „Sonntags mit Maduro“ findet dieses Mal in Guarenas statt, einem Vorort der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Präsident Nicolás Maduro erteilt der 16-jährigen Schülerin Dulbi Tabarquino das Wort. Vor der Kamera wirkt sie nervös, begrüßt ihn am Nachmittag mit „Guten Morgen“, um dann über ihre Schule zu sprechen. „Präsident, [die Schule] Bénito Canónico benötigt jede Menge Hilfe“, setzt sie an und berichtet zunächst von Problemen mit Infrastruktur und Sicherheit. „Wo ist diese Schule?“, hakt Maduro ein. „Hier unten, gleich nebenan“, antwortet die Schülerin. Maduro wirkt perplex, sagt, man müsse sich sofort darum kümmern. Doch Tabarquino ist noch nicht fertig. Vor zwei Jahren sei ihnen die Mensa geschlossen worden, die 450 Schüler*innen bekämen weder Frühstück noch Mittagessen und auf die Anfragen hätten die Behörden nicht regiert. Maduro versucht, die Situation durch Parolen zu retten. Sie sollten sich organisieren, auf die Straße gehen, ihr Recht erkämpfen. Doch die Schülerin legt nach, betont nochmals, dass sie die Mensa brauchen würden. „Es sind schon viele Schüler in der Schule ohnmächtig geworden.“ Am Ende bleiben ein paar denkwürdige Worte zurück. „Ich bedauere, dass Du erst hierher kommen musstest, damit ich diese Wahrheit erfahre“, sagt der Präsident und fordert, bis zum Ende der Sendung solle ein Bericht über die Mängel in der Schule vorliegen, damit die Missstände umgehend beseitigt werden könnten.

Maduro wirkt planlos und schlecht informiert über die Zustände im Land.

Die Episode zeigt, wie wenig Gespür die Regierung, die für sich in Anspruch nimmt, das Erbe von Hugo Chávez zu vertreten, offenbar für die Probleme im Land hat. Chávez selbst nahmen die Menschen immer ab, dass nicht er persönlich für auftretende Missstände verantwortlich ist. Maduro hingegen wirkt planlos und schlecht informiert.

Das vergangene Jahr endete mit einer geschätzten Inflation von mehreren hundert Prozent und der chaotischen Einführung neuer Geldscheine mit deutlich höherem Nennwert. Anstatt die strukturellen Probleme der venezolanischen Ökonomie anzugehen, setzt die Regierung allenfalls kosmetische Änderungen um. Für die Krise macht sie alleine den niedrigen Erdölpreis und einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der Privatwirtschaft verantwortlich. Gravierende Versorgungsmängel und ein spürbarer Kaufkraftverlust treffen derweil vor allem die ärmere Bevölkerungsmehrheit, die ohne staatliche Subventionen kaum überleben könnte. Wer an den als misiones bekannten Sozialprogrammen teilhaben will, muss sich zukünftig für eine elektronische Karte registrieren. Kritiker*innen sehen darin soziale Kontrolle. Die Regierung spricht davon, die Effizienz zu erhöhen und Missbrauch vorzubeugen.

Maduro gibt sich trotz aller Probleme optimistisch und rief 2017 zum „Jahr der wirtschaftlichen Erholung“ aus. Doch kaum etwas spricht dafür, dass sich die Lage im krisengeschüttelten Venezuela nennenswert verbessern wird. Von der Neu- und Umbesetzung zahlreicher Minister*innenposten Anfang des Jahres sind jedenfalls kaum neue Impulse zu erwarten.

Kaum etwas spricht dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage nennenswert verbessern wird.

Der prominenteste Wechsel betrifft die Vizepräsidentschaft, die der bisherige Gouverneur des Bundesstaates Aragua und frühere Innenminister unter Hugo Chávez, Tarek El Aissami, übernimmt. Der 42-jährige Jurist und Kriminologe gilt als ideologischer Hardliner und wird bereits als möglicher chavistischer Kandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018 gehandelt, sollte Maduro aufgrund seiner Unbeliebtheit nicht noch einmal antreten. Vielen Oppositionellen ist El Aissami noch verhasster als Maduro. Die US-Regierung hält den Nachfahren syrischer und libanesischer Migrant*innen gar für einen Drogenhändler und verhängte im Februar Sanktionen gegen ihn. El Aissami selbst wies die Vorwürfe entschieden zurück und ließ dafür sogar eine ganzseitige Anzeige in der New York Times schalten. Auch werfen die USA dem neuen Vizepräsidenten vor, enge Verbindungen zur schiitischen, vom Iran unterstützen Hisbollah im Libanon zu pflegen.

Anfang Februar hatte CNN en Español zudem berichtet, dass Venezuela im Mittleren Osten seit Jahren Pässe verkaufe, die Terroristen die visafreie Einreise in mehr als 100 Staaten ermöglichen könnten. Daraufhin schalteten die venezolanischen Behörden den US-Sender unter dem Vorwurf der „Kriegspropaganda“ ab. Und schließlich forderte der neue US-Präsident Donald Trump auch noch die sofortige Freilassung „politischer Gefangener“ wie Leopoldo López. Der Oppositionspolitiker ist seit drei Jahren wegen der Anstachlung gewalttätiger Unruhen inhaftiert. Trump posierte mit dessen Ehefrau Lilian Tintori demonstrativ in Washington. Maduro warnte seinen US-amerikanischen Amtskollegen daraufhin davor, in Venezuela „die gescheiterte Politik des regime change“ seiner Vorgänger George W. Bush und Barack Obama fortzuführen.

Durch die Personalie El Aissami dürften aber nicht nur die Spannungen mit den USA weiter zunehmen. Auch das im vergangenen Jahr von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum gegen Maduro ist nun wohl endgültig vom Tisch. Im vergangenen Oktober hatte der Nationale Wahlrat (CNE) das Referendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung blockiert. Da am 10. Januar die letzten beiden Amtsjahre Maduros angebrochen sind, gäbe es bei einem erfolgreichen Referendum keine Neuwahlen mehr. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident die Amtszeit zu Ende bringen.

Nachdem der im November begonnene Dialog mit der Regierung ebenfalls gescheitert ist, bleibt die juristische Blockade der mehrheitlich oppositionell besetzten Nationalversammlung zunächst bestehen. Der offizielle Grund ist, dass diese unter Missachtung eines Urteils des Obersten Gerichts (TSJ) Ende Juli drei Abgeordnete aus dem Bundesstaat Amazonas vereidigt hat, denen Stimmenkauf vorgeworfen wird. Die Folgen sind skurril: Die Wahl von Julio Borges von der Partei Primero Justicia zum neuen Parlamentspräsidenten am 5. Januar wies das TSJ als ungültig zurück. Am 9. Januar versuchte die oppositionelle Parlamentsmehrheit Maduro abzusetzen, um Neuwahlen zu erzwingen, obwohl die venezolanische Verfassung kein parlamentarisches Amtsenthebungsverfahren kennt. Und seinen alljährlichen Rechenschaftsbericht legte Maduro anders als von der Verfassung vorgesehen Mitte Januar nicht vor dem Parlament, sondern dem Obersten Gericht ab.

Dass die rechte Opposition aus der schwachen Regierungspolitik bisher keinen politischen Nutzen ziehen konnte, sorgt indes in den eigenen Reihen zunehmend für Frust. Der bisherige Generalsekretär des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD), Jesús „Chúo“ Torrealba, mahnte Mitte Januar eindringlich, dem Land endlich ein kohärentes politisches Projekt zu präsentieren. Zu lange habe man über Mechanismen debattiert, um Neuwahlen zu erzwingen, „aber niemand hat gesagt, was darauf folgt“. Im Zuge einer internen Neustrukturierung des MUD wurde Torrealba, dem viele eine zu lasche Haltung gegenüber der Regierung vorwerfen, mittlerweile abgesägt. Das Amt des Generalsekretärs schaffte das Bündnis Mitte Februar ab. Die interne Arbeit des MUD soll nun José Luis Cartaya als Koordinator betreuen, während sich die neun größten Parteien des Bündnisses die politische Führung im Rotationsverfahren teilen.

Tatsächlich zeigt sich die Opposition weniger als zwei Jahre vor den Präsidentschaftswahlen intern alles andere als geeint. Um die politische Führung konkurrieren derzeit mindestens vier Politiker. Neben dem inhaftierten Leopoldo López, dessen Partei Voluntad Popular jegliche Gespräche mit der Regierung vehement ablehnt, ist Henrique Capriles Radonski von der Partei Primero Justicia das populärste Gesicht der Regierungsgegner*innen. Der zweimalige Präsidentschaftskandidat gehörte im vergangenen Jahr zu den stärksten Verfechtern eines Abberufungsreferendums. Auch Henry Ramus Allup von der ehemaligen Regierungspartei Acción Democrática werden Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur nachgesagt. Von vielen als Politsaurier verschrien, konnte er sich 2016 als unnachgiebiger Parlamentspräsident profilieren. Laut Meinungsumfragen ist schließlich auch Henri Falcón, der amtierende Gouverneur des Staates Lara, auf dem aufsteigenden Ast. Der ehemalige Chavist und Chef der Mitte- Links-Partei Avanzada Progresista könnte vor allem den moderaten Teil der Opposition und möglicherweise auch enttäuschte Chávez-Wähler* innen hinter sich vereinen. Doch die spannende Frage ist weniger, wer in etwaigen internen Vorwahlen der Opposition triumphieren könnte. Vielmehr ist derzeit völlig offen, wann in Venezuela überhaupt wieder eine Wahl stattfindet. Eigentlich hätte der CNE Ende letzten Jahres Regionalwahlen organisieren müssen. Im Oktober verschob der Wahlrat diese jedoch ohne nachvollziehbare Gründe in das erste Halbjahr 2017. Kurz darauf erließ das Oberste Gericht ein Urteil, wonach sich die Parteien neu registrieren müssen, um zu zeigen, dass sie noch politisch aktiv sind. Die Umsetzung dieses Urteils obliegt dem CNE, der im Februar die Neuregistrierung anordnete, die sowohl im oppositionellen als auch im chavistischen Lager für scharfe Kritik sorgt. Alle Parteien, die an den vorangegangenen zwei Wahlen nicht selbst teilgenommen oder weniger als ein Prozent der Stimmen erreicht haben, müssen sich neu registrieren lassen. Da sich die meisten oppositionellen wie chavistischen Parteien mittels eines Wahlbündnisses beteiligt hatten, betrifft dies insgesamt 59 Parteien. Von der Neuregistrierung ausgenommen sind neben drei kleineren, neu gegründeten Parteien lediglich die regierende Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und das Oppositionsbündnis MUD. Dessen einzelne Mitgliedsparteien müssen sich jedoch registrieren, um auch unabhängig von dem Parteienbündnis antreten zu können. Die CNERektorin Tania D’Amelio betonte, dass solange die Neuregistrierung nicht abgeschlossen sei, keinerlei Wahlen geplant würden. Damit ist klar, dass die Regionalwahlen frühestens im zweiten Halbjahr 2017 stattfinden können. Die 59 betroffenen Parteien müssen nun in insgesamt zwölf Staaten die Unterschriften von jeweils 0,5 Prozent der Wahlberechtigten einholen, andernfalls droht ihnen die Löschung aus dem Register. Laut den Bestimmungen des CNE steht dafür jeder Partei zwischen dem 4. März und 21. Juni ein bestimmtes Wochenende zu. Die Anzahl der erforderlichen Unterschriften reicht von etwa 500 in den kleinsten Staaten bis zu um die 10.000 in den größeren. Die Wähler*innen müssen sich dazu an einen der insgesamt 360 Registrierungsstellen einfinden, an denen Mitarbeiter*innen des CNE jeweils die Daten und Fingerabdrücke abnehmen. Diese sollen jedoch nur sieben Stunden pro Tag geöffnet sein, weswegen jeder Partei insgesamt 14 Stunden bleiben, um die Mindestanzahl der Unterschriften zu erreichen.

Der MUD wirft dem Wahlrat vor, „unüberwindbare Hürden“ aufzustellen und warnt vor einer Entwicklung wie in Kuba und Nicaragua, wo die Bürger*innen nur für zuvor ausgewählte Kandidat*innen stimmen könnten. Zumindest die größeren Parteien des MUD kündigten jedoch an, sich trotz der grundsätzlichen Kritik registrieren zu lassen.

Im chavistischen Lager äußerte sich am deutlichsten die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV), die bei den vorangegangenen Wahlen so wie alle chavistischen Parteien auf dem Ticket der PSUV angetreten ist. Sie legte nicht nur Beschwerde beim Obersten Gericht ein, sondern will die Neuregistrierung boykottieren. Damit droht der ältesten Partei Venezuelas, die im Laufe ihrer fast 90-jährigen Geschichte mehrfach vorübergehend verboten war, der Verlust des Parteienstatus’. Die Kommunist*innen stören sich vor allem daran, die Namen ihrer Mitglieder und Unterstützer*innen vor dem CNE offenlegen zu müssen, da diesen aufgrund ihrer politischen Überzeugungen seitens „privater wie staatlicher Chefs“ die Entlassung drohe. „Wir werden den Kapitalisten nicht den Gefallen tun, ihnen eine Liste mit biometrischem Fingerabdruck zu machen“, stellte Generalsekretär Oscar Figuera klar. Zudem kritisiert die Partei, dass die gesetzliche Grundlage für die Neuregistrierung aus dem Jahr 1965 stammt, also lange vor der Verfassung von 1999 verabschiedet wurde. In dieser Zeit wurden die Kommunist*innen offen verfolgt. Sollte die PCV die Zulassung verlieren, werde man sich zukünftig als Teil eines Bündnisses an Wahlen beteiligen, sagte der politische Sekretär Carlos Aquino. Der CNE habe „die Konsequenzen“ zu tragen, „wenn er Parteien beseitigt“.

Die Regierung hat sich öffentlich bisher nicht zu der Kritik geäußert. Doch auch die PSUV steht vor einer Neustrukturierung. Die bisherige Wahlmaschinerie sei „sehr gut“ gewesen, habe sich aber erschöpft und müsse neu justiert werden, erklärte Präsident Maduro Mitte Februar. Wann auch immer der CNE die nächsten Wahlen ausrufe, müsse der PSUV bis dahin „der Sieg sicher“ sein. Sollte sich der mehrheitlich regierungsnah besetzte Wahlrat dieser Ansicht anschließen, dürfte es so bald keine Wahlen geben. Der Regierungspartei traut derzeit wohl kaum jemand einen Wahlsieg zu.


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