„Versteckte Wiederwahl“ gescheitert

Der 1. Juli wird kein leichter Tag für Ricardo Martinelli. An diesem Tag scheidet er als Präsident Panamas aus dem Amt; vor allem aber wird er erneut auf Juan Carlos Varela treffen, seinen ärgsten Widersacher. An den wird er dann den Stab der Macht weiterreichen. Nicht, dass man Martinelli dafür bemitleiden müsste – die Geschichte um die ehemaligen politischen Weggefährten, die zu erbitterten Feinden wurden, verleiht dem Machtwechsel in Panama jedoch eine besondere Note.
Juan Carlos Varela, unter der paradoxen Titulierung „Oppositionskandidat und Vizepräsident“ für die rechtsskonservative Allianz El Pueblo Primero („Das Volk zuerst“) aus der christdemokratischen Volkspartei und Partido Panameñista bei der Wahl am 4. Mai angetreten, hatte überraschend mit 39 Prozent der Stimmen den Sieg davon getragen. Zuvor hatten ihn alle Umfragen – wenn auch knapp – lediglich auf dem dritten Platz gesehen.
Varela war nach der Wahl 2009 zunächst selbst Teil der Regierung gewesen: als Außenminister und Vizepräsident unter Martinelli, ehe er sich mit ihm überwarf. Die Koalition zerbrach 2011 wegen Korruptionsvorwürfen. Varela wurde zunächst als Außenminister abgesetzt, später forderte ihn Martinelli auf, auch sein Amt als Vizepräsident niederzulegen, da er „ohnehin nichts mache“. Varela antwortete, er diene „dem Volk und nicht einer korrupten Regierung“. Formal blieb er bis zu seiner Wahl Vizepräsident. Nur, dass aus politischen Freunden nun erbitterte Gegner geworden waren.
Varela verwies den Kandidat des Regierungslagers, José Domingo Arias von der Partei Demokratischer Wandel (CD), der 32 Prozent erzielte, sowie den ehemaligen Bürgermeister von Panama-Stadt, Juan Carlos Navarro von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) mit 27 Prozent, auf die Plätze.
Weil der scheidende Präsident Ricardo Martinelli laut Verfassung nicht wiedergewählt werden durfte, hatte er Arias, seinen Wohnungsbauminister, zum Präsidentschaftskandidaten aufgebaut und diesem seine Gattin Marta Linares als Vizepräsidentschaftskandidatin an die Seite gestellt. Die Opposition sprach von einer „versteckten Wiederwahl“. Viele Wähler_innen durchschauten den Zug und straften das Regierungslager ab. Überhaupt verpassen die Panamaer_innen – schaut man sich vergangene Abstimmungen an – den Regierenden gerne einen Denkzettel.
Der Wahlsieg Varelas, laut BBC „Martinellis schlimmster Feind“, zerstört nun alle Hoffnungen Martinellis, weiterhin die Geschicke der Regierung – wenn auch indirekt – mitbestimmen zu können. Die Niederlage seines Kandidaten wird von den meisten Beobachter_innen vor allem als Ablehnung von Martinellis autoritärem Politikstil interpretiert.
Die Wahl vom 4. Mai war zugleich auch Parlaments- und Kommunalwahl. Varelas Wahlbündnis gewann dabei mit knappem Vorsprung auch das Bürgermeisteramt in Panama-Stadt, den zweitwichtigsten politischen Posten im Land. Darüber hinaus kann der neue Präsident im Parlament aber nur auf 12 von 71 Abgeordneten zählen. Auch in den Landkreisen ist seine Partei jeweils in der Minderheit. Varela hat zwar das Präsidentenamt gewonnen, seine Partei aber ist landesweit nur in der zweiten bzw. dritten Reihe gelandet.
Demgegenüber erzielte die von Martinelli selbst gegründete CD im Abgeordnetenhaus mit fast 30 Abgeordneten die relative Mehrheit, die PRD kam auf 23 Sitze. Beobachter_innen spekulieren über eine Koalition aus PRD und Varelas Partido Panameñista. Es wird aber auch nicht ausgeschlossen, dass sich der künftige Präsident mit der CD verständigt. Immerhin waren sie mal Verbündete und liegen inhaltlich nicht weit auseinander.
Bei den Kommunalwahlen wiederum siegte die PRD, die von General Torrijos nach dessen Machtergreifung 1968 gegründet wurde. Sie kann auf eine breite Mitgliederbasis bauen und gewann die meisten der 75 Landkreise. Der eigene Präsidentschaftskandidat Navarro dagegen fiel bei den PRD-Anhänger_innen durch. Trotz mehr als 600.000 Parteimitgliedern votierten nur gut 500.000 für ihn.
Die Linke konnte bei den Wahlen dagegen kaum nennenswert Stimmengewicht hinter sich versammeln. Linke Parteien sind in Panama traditionell schwach. Der unabhängige Kandidat Juan Jované erzielte weniger als ein Prozent der Stimmen. Immerhin gelang es ihm, soziale Probleme des Landes in die Wahlkampfdebatten einzubringen, wie den ruinösen Zustand des Bildungs- und Gesundheitswesens.
Auch der Kandidat der Breiten Front für die Demokratie (FAD), Genaro López, blieb hinter den Erwartungen zurück. Mit einem moderat linken Diskurs in Anlehnung an Lula in Brasilien, Sánchez Cerén in El Salvador oder Mujica in Uruguay versuchte er sich, von der radikalen Linken abzugrenzen. Eine Strategie, die in diesem Fall keinen Erfolg brachte. Mögliche Wähler_innen wechselten ins „Protestlager“, um die Abwahl Martinellis zu sichern.
Martinelli war immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht worden. Ein Silvio Berlusconi nahestehender Unternehmer soll Bestechungsgelder gezahlt haben, um an Staatsaufträge zu kommen. Bewiesen ist bislang nichts. Zudem wurde Martinelli die Einschränkung der Pressefreiheit, die Schwächung staatlicher Institutionen sowie die Verletzung der Gewaltenteilung vorgeworfen. „Die Regierung Martinelli hat die Institutionen des Landes ernsthaft beschädigt; mit der neuen Regierung hoffen wir, zum Respekt vor den Institutionen zurückzukehren“, erklärte die Anwältin María Fernanda Martiz gegenüber dem Nachrichtendienst PanAm Post mit Blick auf die anstehende Ernennung von Verfassungsrichter_innen und Postenvergabe in der Verwaltung des Panamakanals.
Martinelli selbst hatte im Wahlkampf dagegen vor allem die wirtschaftlichen Errungenschaften seiner Amtszeit hervorgehoben, inklusive diverser Infrastruktur-Großprojekte. Erst im April war publikumswirksam in Panama-Stadt die erste U-Bahn Zentralamerikas eröffnet worden. In den ersten Monaten ist die Benutzung kostenlos. Auch ein neues Fußballstadion wurde eingeweiht.
Panama hat sich in den vergangenen Jahren zum Finanzzentrum Mittelamerikas entwickelt. Der Immobilien-Boom der vergangenen Jahre hat der Baubranche volle Auftragsbücher beschert, zugleich aber die Grundstücksspekulation angeheizt. Während die Gewinne der Unternehmen exorbitant gestiegen sind (337 Prozent über die vergangenen acht Jahre), betrug der Lohnzuwachs bei den Bauarbeiter_innen im selben Zeitraum gerade einmal 18 Prozent. Der Bausektor ist einer wichtigsten Motoren von Panamas Wirtschaft, die Wachstumsrate ist mit neun Prozent die höchste in der Region. Auf der anderen Seite lebt jeder Dritte in Panama in Armut oder extremer Armut.
Diese soziale Schieflage wird eine der größten Herausforderungen für Varela werden. Wie zur Einstimmung wurde die Wahl von Lohnstreiks der Bauarbeitergewerkschaft Suntracs sowie Lehrerverbänden begleitet. Beide Arbeitskämpfe sind mittlerweile beigelegt, die sozialen Spannungen aber bestehen fort.
Varela gilt zwar als liberaler Konservativer, genießt aber eine gewisse Glaubwürdigkeit in der Sozialpolitik. Von ihm stammt unter anderem das Programm „100 por 70“ (100 für 70), nach dem über 70-Jährige ohne Einkommen monatliche Hilfen von 100 US-Dollar erhalten. Zudem hat er während seiner Zeit in der Regierung Martinelli die Anhebung des Mindestlohns, das Wohnungsbau-Projekt Curundú für einen der ärmsten Stadtteile der Hauptstadt sowie das Stipendienprogramm Beca Universal, von dem 800.000 Schüler_innen profitieren, mit vorangetrieben.
Als jungen Mann hätten ihn die Erziehung in der Jesuitenschule und die Bürgerkriege in El Salvador und Nicaragua geprägt, so Varela im Wahlkampf. Ein früherer Mathematiklehrer Varelas versicherte im Fernsehkanal Telemetro, dass Varela damals im Schulgebäude sandinistische Fahnen aufgehängt und Geld gesammelt habe, um die Revolution in Nicaragua zu unterstützen. Diese Anekdoten sollten vor der Wahl vor allem Varelas „soziale Ader“ hervorheben, um ihn auch von links wählbar zu machen.
Immer wieder hat sich Varela im Wahlkampf für höhere Sozialausgaben ausgesprochen. Eines seiner Hauptversprechen war die Preiskontrolle von 22 Basisprodukten, um die Inflation zu senken, neue Schulen, Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle, sowie die Anhebung von Stipendien und Pensionen. Er setzte sich damit erfolgreich von Martinellis Modell ab, das Land nach unternehmerischen Kriterien zu regieren.
Er ist und bleibt aber ein konservativer Unternehmer, der der traditionellen Oligarchie in Panama entstammt. Seiner Familie gehört eine bekannte Rumfabrik, er selbst ist an mehreren Radiosendern beteiligt. Seinen Abschluss als Industrieingenieur hat er in den USA an der Georgia Tech gemacht. Darüber hinaus ist er Mitglied des Opus Dei, dem erzkonservativen Orden der katholischen Kirche.
Im Wahlkampf inszenierte sich Varela zudem als Kämpfer gegen die Korruption. Seine Regierung werde Leistungen erbringen und aufhören, ein Geschäft zu sein, so Varela noch in der Wahlnacht. „Wer Geschäfte machen will, sollte seine Sachen packen und Richtung Privatwirtschaft verschwinden.“ Und weiter: „Ich werde nicht zulassen, dass auch nur ein Centavo der Gelder, die den vier Millionen Panamaern gehören, ausgegeben wird, ohne dass er dem Volke zugute kommt.“ Dabei waren im Wahlkampf auch Korruptionsvorwürfe gegen Varela aufgetaucht. Die regierungsnahe Zeitung El Panamá América hatte Ende April Varela mit einem Geldwäsche-Netz in den USA in Verbindung gebracht, was von seiner Partei als Verleumdungskampagne zurückgewiesen wurde.
Allgemein wird erwartet, dass Varela die unternehmerfreundliche Freihandelspolitik seines Vorgängers fortsetzt. Seit der US-Invasion von 1989 verfolgt Panama ein neoliberales Wirtschaftsmodell, das auf den Kompontenten Reduzierung des Staates, Freihandel und Deregulierung aufbaut und von sozialer Repression von Gewerkschaften, Kleinbauern sowie Studierendenorganisationen begleitet wird. Der Politologe Marcos A. Gandásegui Jr. erwartet daher auch keinen radikalen Politikwechsel: „Der gewählte Präsident Varela verfolgt eine sehr ähnliche, wenn nicht gar identische Politik wie Martinelli. Varela unterliegt den Richtlinien, die aus den USA die wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Belange vorgeben.“
Immerhin hat Varela angekündigt, nach seinem Amtsantritt die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela wieder aufzunehmen und den Handel beider Länder anzukurbeln – und sich damit schon mal von seinem Amtsvorgänger abgesetzt. Auch mit Kolumbiens Präsidenten will er zusammentreffen, um Handelsstreitigkeiten beizulegen und das Projekt, die Stromnetze beider Länder zu verbinden, wieder aufzunehmen. Das Schwierigste aber hat Varela noch vor sich: Er muss nun seine zahlreichen Versprechen auch einlösen.

Drehen an den Stellschrauben

Grün ist die Hoffnung der argentinischen Regierung: Die Ernte der Sojabohne ist seit Mai in vollem Gang, wenngleich schwere Regenfälle für Verzögerungen sorgten. Nichtsdestotrotz wird der Exportwert der Ernte 2014 auf 30 Milliarden Dollar veranschlagt. Das freut nicht nur die Agrarindustrie sondern auch die Regierung. Denn die partizipiert kräftig mit Exportsteuern auf Agrarprodukte, den sogenannten retenciones, die sich bis auf 35 Prozent belaufen können. Die landen im Staatssäckel und dort werden Devisen dringend benötigt. Der Devisenbestand der argentinischen Zentralbank hat sich nämlich seit seinem Rekordniveau im Januar 2011 von 52,6 Milliarden Dollar auf rund 27 Milliarden Dollar nahezu halbiert.
Wie schnell Argentiniens Regierung von der neuen Sojaernte profitiert, ist allerdings nicht ausgemacht. Schon im vergangenen Jahr haben die Sojafarmer_innen die eingebrachte Ernte lange zurückgehalten und auf höhere Preise gewartet. 2014 ist ein ähnliches Szenario nicht unwahrscheinlich: Verkaufen die Sojaexporteur_innen sofort und folgt im Jahresverlauf eine weitere Abwertung des argentinischen Peso gegenüber dem Dollar wie im Januar, dann würden die Exporte der Sojafarmer_innen quasi im Nachhinein entwertet, denn die Dollarexporterlöse bekommen nicht sie sondern die Zentralbank, die ihnen dafür Peso auszahlt. Technisch sind die Bäuerinnen und Bauern in der Lage, Getreide bis zu zwei Jahre ohne Qualitätsverlust in den sogenannten silobolsas zu lagern. Das sind riesige Plastik-Hüllen, die direkt neben den Feldern aufgestellt werden. Schon vor der diesjährigen Ernte forderte die Regierung Fernández de Kirchner die Farmer_innen auf, endlich die Lagerbestände zu verkaufen, um der Zentralbank mit ihren schwindsüchtigen Devisenreserven Beistand zu leisten. Diese Aufforderung dürfte sich alsbald wiederholen. Für den Fall, dass die Agrarexportunternehmen das Spekulieren nicht unterlassen, stand im Frühjahr die Drohung im Raum, den Verkauf unter staatliche Kontrolle zu bringen.
Nicht nur die gute Sojaernte, die mit vermutlich 54,5 Millionen Tonnen nur knapp unter der bisherigen Rekordernte von 55 Millionen Tonnen aus dem Jahre 2009 liegen dürfte, könnte zur Entspannung der wirtschaftlichen Lage in Argentinien beitragen. Diese war in den ersten Monaten 2014 von Turbulenzen, Protesten und einem Generalstreik geprägt. Die Regierung Kirchner hat einiges unternommen, um gegen die dümpelnde Wirtschaft und das steigende Haushaltsdefizit anzugehen und die internationale Kreditwürdigkeit wiederherzustellen. Der größte Erfolg ist die Einigung mit den im Pariser Club zusammengeschlossenen Gläubigerstaaten. Die verkündeten den Durchbruch am 29. Mai nach Gesprächen bis in die frühen Morgenstunden. Argentinien wird demnach seine Schulden in Höhe von 9,7 Milliarden Dollar binnen fünf Jahren begleichen. Analysen zufolge setzte Buenos Aires günstige Konditionen durch.
Um der drittgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas etwas Luft zu verschaffen, wird die erste Tranche von 1,15 Milliarden Dollar erst im Mai 2015 fällig. Durch diese Einigung kommt Argentinien dem Ziel, seine Beziehungen zu den internationalen Finanzmärkten zu normalisieren, auf alle Fälle näher. Denn seit der Staatspleite 2002 ist das südamerikanische Land vom internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten und Investitionskapital wird dringend benötigt. Das gilt vor allem für den kapitalintensiven Energiesektor. 2012 wurde der spanische Energiekonzern Repsol mit der Begründung unterlassener Investitionen gegen seinen Willen enteignet. Repsol hielt 57,4 Prozent der Aktien an der staatlichen argentinischen Erdölgesellschaf YPF. 2011 hatte das Land „erstmals seit 17 Jahren“ eine negative Energiebilanz gehabt, so Präsidentin Kirchner. Das kam und kommt teuer: Allein 2011 musste laut Regierungsangaben Öl im Wert von knapp 9,4 Milliarden Dollar importiert werden, 2013 waren es bereits 13 Milliarden Dollar Importkosten.
Wie mit dem Pariser Club konnte auch mit Repsol eine Einigung erzielt werden: Im März gab der spanische Konzern bekannt, dass eine Übereinkunft erzielt wurde, nach der er neue argentinische Anleihen mit einem Nominalwert von 6,5 Milliarden US-Dollar sowie eine zugrunde liegende Garantie über 5 Milliarden US-Dollar erhalte und dass zwölf Prozent der YPF in seinem Besitz verbleiben werden.
Argentiniens Wirtschaft steht auf drei Säulen: Energie, Landwirtschaft und Industrie. Stabil ist sie, wenn zwei der drei Säulen Exportüberschüsse erzielen. Die Landwirtschaft schafft das immer, die Industrie nie, bleibt der Energiesektor als Zünglein an der Waage. Deswegen wird händeringend nach einem_r Investor_in für das riesige Schiefergasfeld vaca muerta (tote Kuh) in Patagonien gesucht, mit dessen Erschließung mittels des umstrittenen Fracking (Aufsprengung von Gesteinsschichten mit Hochdruck und giftigen Chemikalien) sich die Regierung Kirchner seiner Energie- und Devisenprobleme gleichermaßen entledigen will. Vaca muerta hat die Größe von Belgien und enthält schätzungsweise 27 Milliarden Barrel Öl – gebunden allerdings in tiefen Schiefergesteinsschichten, was sowohl technisch als vor allem ökologisch Fragen aufwirft. Mit Chevron wurde im Juli 2013 bereits ein Abkommen geschlossen. Mit Beigeschmack: Einen Monat zuvor hatte der Oberste Gerichtshof in Buenos Aires ein Urteil eines Provinzgerichtes aufgehoben, das die Konfiszierung von Chevron-Eigentum wegen der in Ecuador von 1964 bis 1992 angerichteten Verwüstungen im Zuge der Ölförderung für zulässig erklärt hatte.
Selbst wenn die Energiebilanz mittelfristig dank vaca muerta wieder ins Lot kommen sollte, wird dies noch Zeit erfordern, die die Regierung keinesfalls untätig verstreichen lassen kann, denn es gibt weitere Baustellen. Zwar sind die größten Währungsturbulenzen aus dem Januar dank eines geschickten Politikmixes der Zentralbank aus Abwertung und Leitzinserhöhung fürs Erste vorbei sind, aber sowohl die Stabilisierung des Wechselkurses als auch die hohe Inflation bleiben große wirtschaftspolitische Herausforderungen.
Argentinien leidet unter der zweithöchsten Inflation in Lateinamerika hinter Venezuela. Die Teuerungsrate liegt laut unabhängigen Expert_innen bei jährlich etwa 28 Prozent. Volkswirt_innen gehen davon aus, dass die Inflation in diesem Jahr noch auf 40 Prozent anspringt. Getrieben wird sie unter anderem durch das staatliche Haushaltsdefizit, das nach dem Kippen der Energiebilanz 2011 entstanden und seitdem immer größer geworden ist. Ein großer Ausgabeposten sind Subventionen, die nach der Krise 2002 zur Milderung der Lage eingeführt wurden: Sie betreffen Strom, Gas, Wasser und Transport. Millionen Argentinier_innen stürzten damals aus der Mittelschicht ab und die Armut der Ärmsten verschärfte sich. Trotz deutlicher wirtschaftlicher Verbesserung mit hohen Wachstumsraten von rund acht Prozent in der Zeit von 2003 bis 2012, unterbrochen nur durch das Krisenjahr 2009, wurden die Subventionen kaum zurückgefahren, weil dies auf Widerstand in der Bevölkerung stößt. 2013 summierten sich allein die Energiesubventionen auf das Doppelte des Handelsbilanzüberschusses. Argentinien lebt wieder einmal über seine Verhältnisse. Die Regierung hat das erkannt und will maßvoll die Subventionen zurückfahren.
Da Fernández de Kircher aus Verfassungsgründen 2015 nicht mehr kandidieren darf, geht der Kirchnerismo im engeren Sinne ohnehin zu Ende. Die Bilanz der ersten zehn Jahre ist abgesehen von der Ökologie aller Ehren wert. Doch der letzte Eindruck ist bekanntlich am stärksten. Damit der positiv wird, muss die wirtschaftspolitische Kurskorrektur gelingen. Und dafür stand Mitte Juni eine Schicksalsstunde bevor. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten traf am 12. Juni zur Beratung zusammen, um zu entscheiden, ob er den Antrag Argentiniens auf Revision eines Urteils zugunsten von störrischen Gläubiger_innen annimmt oder nicht. Sieben Prozent der Gläubiger_innen hatten sich den Umschuldungen 2005 und 2010 verweigert und stattdessen auf den Nominalwert plus Zins und Zinseszins geklagt. Ein Gericht in New York unter Vorsitz des Bezirksrichters Thomas Griesa hatte Argentinien 2012 dazu verurteilt, zwei Hedgefonds den vollen Nominalwert zuzüglich aufgelaufener Zinsen in Gesamthöhe von 1,3 Milliarden Dollar zu zahlen. Gleichzeitig untersagte das Gericht den mit der Abwicklung von Argentiniens Schuldenzahlungen beauftragten Banken, die gutwilligen Gläubiger_innen zu bedienen, ohne zuvor die von der Kirchner-Regierung als Aasgeier bezeichneten Verweigerer auszuzahlen. Gegen das Urteil hat Argentinien Einspruch beim Obersten Gerichtshof eingelegt. Sollte Argentinien den Rechtsstreit definitiv verlieren, könnten Umschuldungsverweigernde insgesamt Forderungen von 15 Milliarden Dollar stellen, kalkuliert die argentinische Regierung. Dann wäre jede Kurskorrektur obsolet und die nächste Pleite nach 2002 vorgezeichnet. Doch auch wenn der Oberste Gerichtshof seine Entscheidung erst am 16. Juni (n. Redaktionsschluss) veröffentlicht, kann erwartet werden, dass eine Lösung durch Verhandlungen erzielt wird. Das Angebot auf Verhandlung kam vom bis dato unerbittlichen Richter Griesa und Argentiniens Wirtschaftsminister Axel Kicillof zeigte sich dem Vernehmen nach stark interessiert. Er weiß warum.

„Die Regierung hätte bereits vor Jahren handeln müssen“

Die Proteste in Venezuela sind mittlerweile merklich abgeflaut, vereinzelt kommt es jedoch nach wie vor zu Gewalt. Welches Kalkül steckt hinter den anhaltenden Aktionen kleinerer Oppositionsgruppen?
Den Sektoren der Opposition, die am weitesten rechts stehen, geht es einerseits darum, innerhalb der Opposition die Hegemonie zu erreichen und andererseits um gewaltsame Konfrontation mit der Regierung. Auch wenn es nur eine Minderheit war, die Molotow-Cocktails geschmissen und Busse oder Gesundheitszentren angezündet hat: Das Ziel war offensichtlich eine Reaktion der Regierung zu provozieren, um diese international als autoritär darzustellen. Und die Regierung hat auf die Gewalt geantwortet, wie das für Regierungen üblich ist: mit Repression. Nicht in einem Ausmaß wie dies frühere Regierungen getan hätten, aber es gibt viele Berichte von Übergriffen. Wer im einzelnen für die Toten verantwortlich ist, ist schwer zu sagen. Es sind Menschen aus beiden politischen Lagern und auch Sicherheitskräfte ums Leben gekommen.

Während die Regierung die Protestierenden im Februar pauschal als Faschist_innen beschimpft hat, sprechen Oppositionelle von Studierenden, die für die Freiheit kämpfen. Wer sind eigentlich die Menschen, die auf die Straße gehen?
Die Protestierenden sind weder friedliche, unschuldige Studierende noch faschistische Banden. Die Welt ist nicht so einfach. Die Demonstrationen gingen vor allem von der Mittelschicht aus, mit einem deutlichen studentischen Anteil. Sie fanden überwiegend in Wohngegenden statt, in denen die Opposition regiert. Während es im Osten von Caracas beispielsweise gewalttätige Auseinandersetzungen gab, ging das Leben im Westen der Stadt völlig normal weiter, genauso wie in anderen ärmeren Vierteln im gesamten Land. Man muss wissen, dass die Studierenden an den traditionellen öffentlichen und den privaten Universitäten vorwiegend der Mittelschicht entstammen, während die unteren Schichten auf der neu gegründeten Bolivarianischen Universität studieren, die heute die Mehrheit der Studienplätze stellt.

Bereits 2007 traten oppositionelle Studierende im Vorfeld des Verfassungsreferendums massiv in Erscheinung. Was treibt die Bewegung an?
Für die Proteste der Studierenden gibt es Gründe. Zum einen haben wir eine Regierung, die in grundlegenden politischen Bereichen ineffizient ist. Venezuela hat heute in Lateinamerika die zweithöchste Mordrate nach Honduras. Die hohe Inflation und der Mangel an bestimmten Waren führen zu permanenter Unzufriedenheit. Und ein bedeutender Teil der venezolanischen Bevölkerung hat das chavistische Projekt immer als Bedrohung wahrgenommen. Hier verbindet sich bei jungen Menschen in der Mittelschicht ein traditioneller Antikommunismus mit dem verbreiteten Gefühl, in diesem Land keine Zukunft zu haben. Das Gefühl, dass das Land ihnen gehörte, es ihnen aber weggenommen wurde.

Unter Vermittlung der Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) haben Regierung und der moderate Teil der Opposition im April einen politischen Dialog begonnen. Nach mehreren Treffen liegt dieser aber vorerst auf Eis. Haben diese Gespräche überhaupt noch Aussichten auf Erfolg?
Das Problem ist, dass beide Verhandlungspartner unter enormem Druck aus den eigenen Reihen stehen. Die radikalen Sektoren der Opposition versuchen den Dialog zu sabotieren. Die Regierung hingegen hat keinen finanziellen Spielraum mehr, um politische Initiativen zu ergreifen. Maduro mangelt es im Gegensatz zu seinem Vorgänger Chávez an Charisma, um den Chavismus insgesamt von diesem Dialog zu überzeugen. Viele sagen, warum verhandeln sie mit der Opposition und nicht mit der Bevölkerung? Am Tisch sitzen also zwei Verhandlungspartner, denen auf die eine oder andere Weise die Arme gebunden sind.

Der Erdölpreis ist momentan recht stabil, wieso ist der finanzielle Spielraum der Regierung so eng geworden?
Der venezolanische Staat ist überdehnt, was seine finanziellen Verpflichtungen angeht. Die Sozialpolitiken und die Verstaatlichungen werden stetig ausgeweitet und führen zu neuen Forderungen. Gleichzeitig braucht der Staat immense Summen, um in den Erdölsektor zu investieren. Die Schuldenquote Venezuelas ist nicht zu hoch, aber eine weitere Neuverschuldung nur zu sehr hohen Zinsen möglich. Das heißt nicht, dass Venezuela kein Erdöl mehr fördern kann oder die Wirtschaft zusammenbricht. Aber ich glaube, dass die Erdöllogik in der aktuellen Krise an ihr Ende gelangt. Die wichtigste und schwierigste Herausforderung für Venezuela ist die Frage, wie wir den Fallstricken des Erdölmodells entkommen können, das seit hundert Jahren in Venezuela vorherrscht.

Aber durch die Umverteilung der Erdöleinnahmen hat sich die Situation für die Mehrheit der Bevölkerung seit 1998 doch deutlich verbessert…
Ja, die Erdöleinnahmen konnten von einer Minderheit zur breiten Masse umgelenkt werden, die Sozialpolitiken ausgebaut, und die Ungleichheit verringert werden. Doch alle Versuche, in den vergangenen Jahren Logiken jenseits des Erdölmodells zu stärken, sind gescheitert.

Was meinen Sie konkret?
Zum Beispiel haben die Verstaatlichungen den Staat nicht gestärkt, sondern geschwächt. Denn ein großer Teil dieser verstaatlichten Unternehmen überlebt nur aufgrund von Subventionen. Hier gibt es also eine Tendenz, Sozialismus mit Etatismus gleichzusetzen. In Venezuela gleitet das manchmal ins karikaturenhafte ab, etwa wenn vor einem frisch verstaatlichten Unternehmen am folgenden Tag ein großes Banner mit dem Slogan „Sozialistisches Unternehmen“ prangt. Und wenn zwei Monate später nichts mehr produziert wird, bleibt das Banner einfach hängen.

Aber der bolivarianische Prozess in Venezuela lässt sich doch nicht auf Verstaatlichungen reduzieren. Wie steht es um den Ausbau politischer und ökonomischer Partizipation?
Es hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Versuche gegeben, postkapitalistische Strukturen zu schaffen, sei es durch Kooperativen oder kommunale Räte, wo es um eine soziale Ökonomie, eine Kontrolle von unten geht. Das Problem ist aber, dass jedes einzelne große Ziel, das sich der bolivarianische Transformationsprozess gesetzt hat, durch die Logik des Erdölstaates konterkariert wird. Solange die lokale, basisdemokratische Ebene von den Erdöleinnahmen abhängt, wird Politik von oben nach unten gemacht. Aufgrund der überbewerteten Währung ist keine wirtschaftliche Tätigkeit produktiv und es ist billiger Waren zu importieren. Vor ein paar Jahren wurden 280.000 Kooperativen gegründet, von denen heute keine Rede mehr ist. Obwohl der Staat immense Summen in die soziale Ökonomie steckt, kann diese sich also nicht entfalten.

Was müsste die aktuelle Regierung konkret tun, um der Erdöllogik zu entkommen?
Das Problem ist, das die Regierung bereits vor Jahren hätte handeln müssen. Und zwar aus einer Position der Stärke heraus. Nun müsste sie unangenehme Entscheidungen in einem Moment treffen, in dem die politische Konfrontation sehr hoch und die wirtschaftliche Lage sehr prekär ist. Das Benzin kostet in Kolumbien zum Beispiel 78 mal soviel wie in Venezuela. Wenn eine Person fünf Mal pro Woche 100 Meter nach Kolumbien reinfährt und ihre Tankfüllung dort weiterverkauft, verdient sie mehr als die große Mehrheit der Venezolaner. Diese Verzerrungen haben ihre Ursachen in den staatlichen Subventionen für Benzin und dem staatlich festgesetzten Wechselkurs. Eine Beendigung der Subventionen und eine drastische Währungsabwertung hätten aber einen dramatische Anpassungsprozess zur Folge. Daher sind solche Maßnahmen nur in Momenten möglich, in denen die politische Unterstützung und Geld für Kompensationszahlungen da sind.

In anderen Ländern der Region laufen kontroverse Debatten über das Entwicklungsmodell und Extraktivismus. In Venezuela scheint diese Debatte kaum eine Rolle zu spielen…
Es gibt ein Beispiel, das gut verdeutlicht, dass diese politische Debatte in Venezuela tatsächlich nicht stattfindet: Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 sind Hugo Chávez und Henrique Capriles mit zwei völlig unterschiedlichen Programmen gegeneinander angetreten. Es gab nur eine einzige Übereinstimmung. In beiden Programmen war das Ziel enthalten, die Erdölproduktion von drei auf sechs Millionen Barrel Erdöl pro Tag zu verdoppeln. Wir haben in Venezuela einen großen nationalen Erdölkonsens. Mit dieser Logik zu brechen ist notwendig, aber äußerst schwierig. Es würde bedeuten, dass wir unseren Lebensstil ändern müssten, der extrem und völlig übertrieben auf Konsum ausgerichtet ist.

Infokasten

Edgardo Lander hat in Harvard Soziologie studiert und arbeitet als Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Lateinamerika.

FMLN schickt ARENA in die Wüste

Das Oberste Wahlgericht in El Salvador wird mit Glückwünschen von allen Seiten überhäuft. Die Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer Staaten, die nach alter Monroe Doktrin immer noch maßgebliche US-amerikanische Botschaft, kirchliche und andere zivile Wahlbeobachter, fast alle sind sich einig, dass auch die zweite Abstimmung zur Präsidentschaftswahl am 9. März absolut friedlich, transparent und sauber vonstattengegangen ist.
Nur die ultrarechte Oppositionspartei ARENA sah das zunächst anders. Im ersten Wahlgang vom 2. Februar hatte die linke FMLN mit 48,93 Prozent gerade mal knapp zehn Prozentpunkte vor der rechten ARENA mit 38,95 Prozent gelegen. Das reichte nicht ganz und so wurden für den 9. März Neuwahlen einberufen.
Im zweiten Wahlgang, der durch eine einfache Mehrheit entschieden wird, wurde mit wesentlich härteren Bandagen gekämpft, als dies noch im ersten Wahlgang der Fall gewesen war. ARENA schloss ihre zuvor gespaltenen Reihen und griff auf altbewährte Methoden zurück. Sie schürten die Angst vor den „kommunistischen guerrilleros“ und sorgten für verstärkten Druck der Unternehmer_innen auf ihre Angestellten, das Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren. In der letzten Woche vor den Wahlen organisierten sie zudem massiv Personalausweiserneuerungen von abgelaufenen oder ungültigen Dokumenten. Das mit der Dokumentenausstellung beauftragte Subunternehmen Mühlbauer konstatierte einen Arbeitsaufwand von über 180 Prozent gegenüber dem normalen Arbeitspensum.
Die Anstrengungen der Kampagne trugen zunächst Früchte. ARENA holte innerhalb von zwei Wochen rund 400.000 Stimmen auf. In der vorläufigen Auszählung, die 15 Minuten nach Schließung der Wahllokale im Beisein von jeweils zwei Vertreter_innen beider Parteien pro Urne begann und durch das direkte Einscannen der Akten öffentlich über das Internet verfolgt werden konnte, lag ARENA knapp zwei Stunden vor Wahlentscheid noch vorne. Für ARENA ging es ums Ganze. Bereits seit der Niederlage von 2009 musste die in der Rechtspartei vereinte wirtschaftliche und politische Elite des Landes die Kontrolle über den Staat abgeben. In ihren Reihen stellte dies einen enormen Verlust dar, waren sie es bis dato gewohnt gewesen, Gesetze und Politik nach ihren persönlichen Bedürfnissen zu gestalten.
Die Aussichten für eine Rückkehr der Rechtspartei ARENA waren zunächst erfolgversprechend, doch in den letzten Momenten holte die FMLN noch auf und entschied letztendlich die Wahl für sich. Dass sich der zuvor amtierende Präsident Mauricio Funes zudem massiv für eine Aufdeckungskampagne von Korruptionsfällen seiner Vorgängerregierungen einsetzte, stellte für die Anhänger von ARENA einen zusätzlichen Schlag dar. Prominentestes Beispiel ist der inzwischen untergetauchte Expräsident Francisco Flores, der schätzungsweise 25 Millionen Dollar Wiederaufbauhilfe nach den Erdbeben von 2001 unterschlagen hat. Etliche weitere Fälle sind in Aufbereitung.
Trotz Kontinuität der generell neoliberal ausgerichteten Politik, geht es also ans Eingemachte von Oligarchen und Großunternehmer_innen, die auch nach den Wahlen um jeden Preis versuchten, ihre politischen und wirtschaftlichen Privilegien zurück zu erobern. Insgesamt reichte ARENA bei unterschiedlichen Behörden rechtliche Widersprüche gegen das Wahlergebnis ein. Jeder einzelne der zehn eingereichten Widersprüche wurde nach ordentlicher Prüfung abgelehnt. Es folgten für die Rechtspartei eher ungewöhnliche Protestformen. Straßenproteste blockierten zunächst den Zugang zum obersten Wahlbüro, in den darauffolgenden Tagen wurden Mahnwachen gehalten, cacerolazos (Kochtopfdemos) und sogar Straßensperren mit brennenden Autoreifen wurden veranstaltet. Der allgemeine Aufruf zum Aufstand sollte vor allem destabilisierend wirken. In Anbetracht der von Gewalt geprägten Geschichte El Salvadors, das mit zwölf Jahren Bürgerkrieg, anhaltender Gewalt in Familien, zwischen Banden und ausgehend von organisiertem Verbrechen, auf eine noch recht jungen Demokratie zurückblickt, wurden die Proteste entsprechend sowohl von der salvadorianischen Bevölkerung als auch der internationalen Gemeinde mit Besorgnis zur Kenntnis genommen.
Für viele trugen die Vorkommnisse auch die Handschrift von J. J. Rendón, einem Berater von ARENA. Rendón arbeitet eng mit der rechten Opposition in Venezuela zusammen, die dort seit Monaten die Destabilisierung des Landes durch Gewalt und Eskalation heraufbeschwört. Die Argumente und Parolen stammen aus den 1980er Jahren („Vaterland ja, Kommunismus nein!“). Dada Hirezi, ehemaliger Wirtschaftsminister der Regierung Funes, appellierte an seine Mitbürger_innen, als letztes Land endlich auch den kalten Krieg hinter sich zu lassen.
Dass die Situation nicht außer Kontrolle geriet, wie bei ähnlichen Versuchen in Honduras oder Paraguay, kann neben anderen Faktoren auf die reibungslos ablaufende Wahlbeteiligung der salvadorianischen Bevölkerung zurückgeführt werden. Es kam zu keinen größeren Zwischenfällen in den Wahllokalen, im Gegenteil, die ersten Wähler_innen wurden mit Applaus von den Wahlhelfer_innen aller Parteien empfangen und auch die Basis beider Parteien verhielt sich am Wahltag einwandfrei. Darüber hinaus verrichtete das oberste Wahlgericht vor, während und nach den Wahlen eine exzellente Arbeit. Sie lieferten nicht nur detaillierte Informationen für die Bevölkerung, sondern sorgten zudem für eine umfassende Ausbildung der Wahlhelfer_innen. Der Wahlkampf wurde gewissenhaft kontrolliert, auf Ankündigung von Sanktionen bei Überschreiten des Wahlgesetzes schnell reagiert und die Auszählung der Stimmen sowie die Kommunikation der Zwischen- und Endergebnisse erfolgte absolut transparent. Dies bestätigten auch nationale und internationale Wahlbeobachter_innen, unter anderem Delegationen der Vereinten Nationen, der USA sowie von ökumenischer und ziviler Seite. Nicht unwesentlich war auch die Haltung der FMLN, die sich nicht von Parolen und Aktionen provozieren ließen, so dass schließlich die Ruhe im Land zurückkehrte.
Am 26. März stand dann das endgültige Verdikt des obersten Wahlgerichtes: Die FMLN hält mit 1.495.815 Stimmen einen Vorsprung von 6.634 Wähler_innen vor der Rechtspartei ARENA. Der neugewählte Präsident, Sanchéz Cerén und sein Vize, Oscar Ortíz, wurden offiziell als Amtsnachfolger bestätigt. Noch am selben Tag gestand die Parteiführung von ARENA ihre Wahlniederlage ein. Ihr Ideologiechef, Ernesto Muyshondt, bezeichnete das neue Landesoberhaupt als legal, jedoch nicht legitim. Es gibt Befürchtungen, dass sich dieser Diskurs durch die Legislaturperiode ziehen wird. Dafür spricht der knappe Rückstand der Rechtspartei von zehn Prozentpunkten im ersten Wahlgang. Für den neuen Präsidenten spricht hingegen die rege Wahlbeteiligung der Bevölkerung, die von 61 Prozent beim ersten Wahlgang auf 75 Prozent beim zweiten Wahlgang überaus hoch war. In der Geschichte des Landes gab es bislang keinen Präsidenten, der so viele Stimmen für sich vereinen konnte wie der ehemalige Guerrillakommandant, Lehrer und Unterzeichner der Friedensverträge Salvador Sanchéz Cerén.
Insofern stellt für viele die bisherige Regierung unter Mauricio Funes, der erst als Präsidentschaftskandidat der FMLN beigetreten war, eine Übergangsregierung dar, welche für die neue Regierung den Weg für einen tiefgreiferenden strukturellen Wandel bereitet hat. Eine zentrale Herausforderung für die „Regierung des Wandels“ stellt zweifelsohne der marode Staatshaushalt dar. Die Steuerpolitik braucht dringend Reformen: der ärmste Teil der Bevölkerung trägt die größte Steuerlast, Großunternehmen zahlen hingegen oft keine Steuern, die Pensionskasse wurde bereits von ARENA an der Börse verspielt und die Balance von Staatsausgaben und Einnahmen ist derart negativ, dass die Regierung voraussichtlich im August pleite ist. Bedrohliche Ausmaße nimmt auch die Umweltkrise ein. Laut Angel Ibarra, Präsident der salvadorianischen Umweltorganisation UNES, besteht der dringende Bedarf eine nachhaltige Grundlage für das Wohl der Bevölkerung zu schaffen. Umweltstandards in der Wirtschaft in Form von Regulierung der Wasserreserven und Bodennutzung müssen umgesetzt werden, um nicht in ein paar Jahren im kompletten Notstand zu stehen.
Um den vielfältigen Problemen Einhalt zu gebieten, bedarf es jedenfalls eines Staatsprojektes, welches sowohl die Grenzen der alle fünf Jahre neu ausgehandelte Regierungspolitik als auch die Polarisierung des Landes überwindet. Ein Entwicklungsmodell, welches nicht große Teile der Bevölkerung ausschließt und zur Migration treibt, sondern die verschiedenen Generationen mit einbezieht und Räume zum Dialog und Mitbestimmung öffnet und bestärkt, damit das soziale Geflecht gefestigt und so auch der strukturellen Krise der Gewalt entgegenwirken werden kann.
Sanchéz Cerén hat sich bereits mit verschiedenen Repräsentant_innen und Wirtschaftsvertreter_innen getroffen und auch die Opposition zum nationalen Dialog eingeladen. Der Rechtsbeirat von ARENA, Juan Jose Guerrero, ruft seine Parteigenoss_innen dazu auf, die Entscheidung des Wahlgerichtes anzunehmen, die Institutionen zu respektieren und die wichtigen Themen des Landes gemeinsam zu diskutieren. Zudem natürlich auch, sich auf die Parlamentswahlen 2015 vorzubereiten.
// Anne Hild

„Denkweisen des Kalten Krieges“

In Lateinamerika sind mehrere Regionalorganisationen als Alternative zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten entstanden, so etwa die Celac oder das Wirtschaftsbündnis Mercosur. Welche Rolle spielt dabei die Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA)?
Nun, die ALBA gibt es jetzt seit zehn Jahren und sie hat von Beginn an alle möglichen Initiativen zur Schaffung eigener lateinamerikanischer Foren unterstützt. Es ging dabei darum, unter Anerkennung bestehender Differenzen miteinander zu sprechen, ohne den Großmächten und ihren Interessen Raum zur Einflussnahme zu geben. Diese von Hugo Chávez vertretene Vision richtete sich vor allem gegen die traditionelle Dominanz der USA. Und diese Position hat uns viel abverlangt. Es wurde und wird immer wieder von den USA und ihren Alliierten versucht, Venezuela als einen der Motoren dieser Entwicklung zu isolieren, aufzuhalten oder gar zu kriminalisieren. Aber nach diesen zehn Jahren muss man auch festhalten, dass die ALBA eine wichtige Rolle bei den Integrationsprozessen gespielt hat.

Aber das ALBA-Bündnis ist nach wie vor kein Rechtssubjekt, sondern eher ein loser Zusammenschluss. Ist Ihr Handeln damit nicht auf Symbolpolitik beschränkt?
Wir haben ja eine organisatorische Struktur. Aber die ALBA ist bislang vor allem ein Dialogforum, ein Instrument, um politische Einigkeit zu fördern. Die Prinzipien sind in einem Gründungsdokument definiert. Es gibt aber bislang keinen Gründungsvertrag, dem sich Staaten anschließen könnten. Das erklärt sich aus der Geschichte: Die ALBA wurde ursprünglich als „Bolivarische Alternative“ von Kuba und Venezuela ins Leben gerufen und etliche Länder stießen dann dazu. Bolivien war der Meinung, dass es nicht nur um einen alternativen Staatenbund gehen dürfe, sondern dass man auch einen alternativen Handelsvertrag anstreben müsse. Deswegen heißen wir heute „ALBA-Handelsvertrag der Völker“, oder ALBA-TCP. Das definiert deutlich den Unterschied zu dem neoliberalen Modell und dem klassischen kapitalistischen Entwicklungsmodell. Wir streben einen gerechten Handel an. Wir versuchen, Mechanismen zur Demokratisierung der Wirtschaft zu entwickeln.

Die organisatorische Schwäche aber bleibt.
Bislang hat die ALBA ein Exekutivsekretariat, das ich ja vertrete. Ernannt wurde ich von einem politischen Komitee. Dort sind die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten vertreten.
Mein Sekretariat ist ursprünglich als Hilfsgremium entstanden und hat sich über die Jahre hinweg zu der Struktur entwickelt, in deren Händen das tägliche Geschäft liegt. Ich arbeite eng mit den nationalen Koordinatoren zusammen. Oft sind das die Vizeaußenminister der jeweiligen Länder. Aus dieser Zusammenarbeit sind verschiedene Initiativen entstanden: Die ALBA-Bank etwa oder die regionale Buchwährung Sucre.

Neben ALBA ist auf Chávez’ Initiative auch das energiepolitische Bündnis Petrocaribe entstanden. Stimmen die Gerüchte, dass
ALBA und Petrocaribe zusammengefasst werden sollen?
Ja, das wird angestrebt. Sehen Sie, ALBA ist zwar keine klassische Organisation, dennoch hat sie in den vergangenen Jahren viel Ansehen gewonnen. Aber die neuen internationalen Gegebenheiten verlangen auch von uns eine Weiterentwicklung. Deswegen wird derzeit sehr ernsthaft die Ausarbeitung eines Gründungsvertrages der ALBA geprüft. Dies würde uns erlauben, in anderen internationalen Foren ein stärkeres Gewicht zu haben – ohne dass wir aber deren Struktur kopieren.

Mitunter werden die neuen Regionalorganisationen und auch ALBA mit der frühen Phase der Europäischen Union verglichen.
Nun, in ALBA haben sich fortschrittliche Regierungen vereint. ALBA strebt für Latein­amerika alternative, zukunftsorientiere politische Konzepte an.

Hängen die strukturellen Reformen von ALBA – die Fusion mit Petrocaribe und ein anvisierter Gründungsvertrag – mit der Ausdehnung der neoliberalen Pazifik-Allianz zusammen, die von der EU und den USA unterstützt wird?
Nein, denn dabei handelt es sich um ein Staatenbündnis, das offenbar vorrangig wirtschaftliche Interessen hat. ALBA hat zudem eine längere Geschichte.

Aber hat ALBA keine wirtschaftlichen Interessen?
Doch, natürlich, aber unser Ziel liegt in der Entwicklung eines Modells, mit dem der Kapitalismus überwunden werden kann und das eine neue Form der wirtschaftlichen Beziehungen etabliert. Wir lehnen diese beschönigende Annahme einer notwendigen „Konkurrenz zwischen den Staaten“ ab. Wir gehen davon aus, dass die Welt nach wie vor in ein wirtschaftliches Zentrum und eine Peripherie geteilt ist. Deswegen müssen wir Länder des Südens uns zusammenschließen und uns gemeinsam helfen sowie gemeinsame Kräfte nutzen. Damit jeder Staat vorankommt, muss er zugleich an die regionale Entwicklung denken. Deswegen unterstützen wir auch die Regionalorganisation Celac, auch wenn sie ideologisch sehr viel breiter aufgestellt ist.

Dennoch – oder vielleicht eben deswegen – stehen die USA und Deutschland den progressiven Staaten Lateinamerikas mit Ablehnung gegenüber.
Wir sind fest davon überzeugt, dass immer mehr Staaten die tiefgreifenden Veränderungen, die Lateinamerika derzeit erlebt, verstehen werden. Vor einigen Jahren wurde versucht, Kuba und Venezuela auf internationaler Ebene zu isolieren. Heute sind beide Länder ein fester Bestandteil der lateinamerikanischen Gemeinschaft. Mitunter entsprechen die Schemata, mit denen Europa oder, besser gesagt, einige Gruppen in Europa auf die Neuerungen in Lateinamerika reagieren, der Denkweise des Kalten Krieges. Ihnen liegen sehr simple Annahmen zugrunde, die oft von der extremen Rechten der USA gezielt beeinflusst werden. Aber wenn man dann mit den Parteien hier spricht, mit den Gewerkschaften, Bürgermeistern oder Intellektuellen, dann sieht man doch, dass das Verständnis für die Umbruchprozesse in
Lateinamerika wächst. Auch in Europa merkt man, dass wir Lateinamerikaner uns heute sehr viel näher stehen als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wir lassen uns heute von externen Interessen nicht mehr dazu verführen, andere Staaten der Region zu kriminalisieren.

Infokasten

Bernardo Álvarez Herrera ist seit September 2013 Exekutivsekretär des linksgerichteten lateinamerikanischen Staatenbündnisses „Bolivarische Allianz für Amerika – Handelsvertrag der Völker“ (ALBA-TCP). Der Venezolaner hatte sein Land zuvor in mehreren Staaten, darunter Spanien, als Botschafter vertreten. Ihm kam 2010, wie er sagt, „die Ehre zuteil“, als Botschafter aus den USA ausgewiesen worden zu sein.

It’s the currency, stupid!

Die aktuellen Unruhen in Venezuela haben ihren Ursprung zunächst einmal im Zerfall der Opposition. Bis vor kurzem galt der zweifache Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski noch als unangefochtene Führungsfigur des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD). Spätestens seit die Opposition bei den Kommunalwahlen im Dezember 2013 knapp zehn Prozent weniger Stimmen auf sich vereinigen konnte als die chavistischen Regierungsparteien, macht der rechte Flügel der Opposition ihm diese Rolle streitig (siehe LN 477).
Ein Auslöser dieses oppositionsinternen Putschversuchs war auch die schwierige wirtschaftliche Situation des Landes. Zwar sind Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Armut geringer denn je, aber die massive Inflation von 56 Prozent im Jahr 2013 und der anhaltende Mangel an bestimmten Lebensmitteln machen vielen Venezolaner_innen zu schaffen. Die Opposition behauptet, Präsident Nicolás Maduro habe die Wirtschaft in den Sand gefahren. Die Regierung hingegen argumentiert, oppositionelle Unternehmer_innen hätten bewusst eine politisch motivierte Krise hervorgerufen. Zum Verständnis der venezolanischen Wirtschaft tragen diese Ansichten allerdings kaum bei.
Die eigentlichen Wurzeln der aktuellen wirtschaftlichen Probleme Venezuelas liegen im Jahr 2002, als die Opposition mit ihrem Putschversuch im April und dem Erdölstreik ab Dezember scheiterte. Das politische Chaos von 2002 und 2003 rief eine massive Kapitalflucht hervor, die zu einem raschen Wertverfall der venezolanischen Währung Bolívar führte. Um diesen Verfall zu stoppen, intervenierte die Zentralbank durch den Verkauf von US-Dollar in den Währungsmarkt. Da die Zentralbank dabei sehr schnell ihre Reserven verlor, schuf die Regierung im März 2003 die Kommission zur Devisenkontrolle CADIVI (Comisión de Administración de Divisas). Seitdem darf man in Venezuela US-Dollar nur zum festgelegten, offiziellen Wechselkurs in Bolívares tauschen. Allerdings müssen sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen eine Reihe von Bedingungen erfüllen und Gründe vorweisen, um zum offiziellen Wechselkurs US-Dollar zu erhalten. Diese Gründe sind zum Beispiel Auslandsreisen, die Unterstützung von Angehörigen im Ausland oder der Import von Waren.
Die Einführung der Devisenkontrollen zog zwei bedeutende Konsequenzen nach sich: Zum einen konnten der Währungsverfall gestoppt und die Inflation etwas gebremst werden. Solange der staatlich festgelegte Wechselkurs nicht verändert wurde, blieben die Kosten für Importe – die in US-Dollar bezahlt werden müssen – konstant. Zum anderen entstand aufgrund des beschränkten Zugangs zu Devisen ein Schwarzmarkt für US-Dollar. Dort agierten insbesondere Akteure, die die Bedingungen für den offiziellen Kauf von Dollar nicht erfüllen.
Über mehrere Jahre hinweg funktionierte dieses System; es begrenzte Kapitalflucht und Inflation. Zwischen 2004 bis 2008 wuchs die venezolanische Wirtschaft durchschnittlich um zehn Prozent pro Jahr. Die Inflation war mit zirka 20 Prozent zwar immer noch relativ hoch. Sie betrug jedoch weniger als die Hälfte der Inflationsrate, die in den zehn Jahren vor Hugo Chávez‘ Präsidentschaft als üblich galt: Damals lag die Inflation im Durchschnitt bei 49 Prozent im Jahr.
Die Lage änderte sich gegen Ende 2008, als sich die Weltwirtschaftskrise auf den Ölpreis auszuwirken begann. Dieser fiel binnen sechs Monaten von 130 US-Dollar auf 40 US-Dollar pro Barrel. Venezuela war von der Finanzkrise somit indirekt betroffen. In den Jahren 2009 und 2010 schrumpfte die Wirtschaft um jeweils 3,2 und 1,5 Prozent. Wegen der geringeren Öleinnahmen standen der Regierung plötzlich weniger US-Dollar für den offiziellen Wechselkurs zur Verfügung. Das hatte gravierende Auswirkungen auf das Währungssystem. Venezuelas Dollarreserven fielen allein zwischen der zweiten Jahreshälfte 2008 und der ersten Jahreshälfte 2009 um 13 Milliarden US-Dollar. Die Regierung sah sich unter Handlungszwang – insbesondere, weil ein Rückgang der US-Dollar für den offiziellen Umtausch weniger Importe bedeutete, was wiederum Engpässe bei verschiedenen Produkten hervorrief. Zudem erhöht sich durch sinkende Importe bei konstanter Nachfrage die Inflation.
Im Juni 2010 ergänzte die Regierung CADIVI mit dem flexibleren Wechselkurssystem SITME (Sistema de Transacciones con Títulos en Moneda Extranjera). Anstatt die eigenen Dollarreserven für den offiziellen Währungswechsel zu verwenden, erwarb die Regierung nun US-Dollar auf dem internationalen Wertpapiermarkt, womit die Aufnahme von Schulden einherging. Die Wertpapiere bot sie zum Umtausch gegen Bolívares an. Importeure und andere Teilnehmer_innen konnten diese Wertpapiere weiterverkaufen, um US-Dollar zu erhalten. In der Folge verschuldete sich der venezolanische Staat immer mehr. Die Staatsverschuldung stieg zwischen 2010 und 2012 um 47 Prozent an, von 81 Milliarden auf 119 Milliarden US-Dollar.
Die Verschuldung wurde in Kauf genommen, um den Import wichtiger Konsumgüter zu ermöglichen und dadurch die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Diese Zielsetzung erfüllte sich jedoch nicht. Die Inflation blieb zwischen 2009 und 2011 mit 26 Prozent im Jahr überdurchschnittlich hoch. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die Sozialprogramme den Konsum der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten ankurbelten, so dass dieser schneller wuchs als das Angebot an einheimischen oder importierten Gütern.
Im Wahljahr 2012 achtete die Regierung verstärkt darauf, Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen. Dies bedeutete steigende Importe und eine auf 20 Prozent sinkende Inflation. Unmittelbar nach Chávez‘ Wiederwahl entschloss sich die Regierung, den Dollar-Verkauf drastisch zu begrenzen. Das SITME-Umtauschsystem, durch das die Staatsschulden anstiegen, wurde abgeschafft. Über das CADIVI-System, für das die Dollarreserven verwendet wurden, wurden weniger US-Dollar zur Verfügung gestellt. Die Kombination dieser beiden Maßnahmen machte sich sofort dadurch bemerkbar, dass der Schwarzmarkt-Kurs des US-Dollars in die Höhe schnellte. Alle, die entweder importieren oder ihr Geld in wertbeständigeren US-Dollar anlegen wollten, machten vom Schwarzmarkt Gebrauch.
Die Regierung maß diesem Problem zunächst keine große Bedeutung bei. Planungsminister Jorge Giordani etwa sagte, dass es ihn nicht beunruhige, wenn Venezuelas Bourgeoisie ihre ganzen Ersparnisse auf dem Dollarschwarzmarkt verschwende. Doch letztlich hatte die Entwicklung des Schwarzmarkts zwei gravierende Auswirkungen auf Venezuelas Volkswirtschaft. Mit Abnahme der zur Verfügung stehenden CADIVI-Dollar für Importe, bezahlten immer mehr Importeure die eingeführten Waren mit Schwarzmarkt-Dollar. Beim Verkauf der Waren setzten sie folglich Preise an, die sich nach dem Schwarzmarktwert des US-Dollars – nicht nach dem offiziellen Wechselkurs – richten.
Je mehr Venezolaner_innen gleichzeitig ihre Bolívar-Ersparnisse auf dem Schwarzmarkt umtauschten, desto mehr sackte der Wert des Bolivars ab. Der Schwarzmarktwert des Dollars lag noch zwischen 2010 und 2012 stabil bei acht bis neun Bolivar. Gegen Ende 2012, als das SITME abgeschafft wurde, rutschte er plötzlich ab, so dass er in den sechs Monaten zwischen Oktober 2012 und März 2013 um die Hälfte seines Wertes einbüßte und von zwölf auf 24 Bolívares pro US-Dollar fiel. Der offizielle Wechselkurs lag hingegen bei 6,5 Bolívares pro US-Dollar.
Als Chávez am 5. März 2013 starb, sahen wirtschaftlich einflussreiche und der Opposition nahe stehende Akteure dies als eine Gelegenheit, dessen Wunschnachfolger Maduro im vor den Neuwahlen durch wirtschaftliche Sabotage zu schaden. Es wurden Lebensmittel gehortet, um künstliche Engpässe in der Versorgung zu schaffen. Da man auf dem Schwarzmarkt im Vergleich zum offiziellen Kurs nun viermal soviel für einen US-Dollar bekam, lohnte es sich immer mehr, US-Dollar zum offiziellen Kurs zu erwerben, um sie auf dem Schwarzmarkt mit deutlichen Gewinnen weiterzuverkaufen.
In vielen Fällen exportieren Händler_innen sogar Waren, die sie mit Hilfe von offiziell erworbenen US-Dollar importiert haben, direkt in die Nachbarländer. Da es dort im Gegensatz zu Venezuela keine Preiskontrollen gibt, können die Waren zu einem deutlich höheren Preis verkauft werden. Der Schmuggel kann kaum aufgehalten werden. Denn je größer der Unterschied zwischen dem offiziellen und dem Wechselkurs des Schwarzmarkts ist, umso größere Profite kann man durch Schmuggeln oder anderen Devisenmissbrauch erzielen. Die Kontrolle der Landesgrenzen ist deswegen ineffektiv, weil bei den hohen Profiten extrem hohe Bestechungsgelder fließen. Ergebnis dieser Tausch- und Schmuggelgeschäfte sind weitere Engpässe bei grundlegenden Gütern und dadurch ein weiterer Anstieg der Inflation – im vergangenen Jahr auf 56 Prozent. Die Mangelrate, die die Zentralbank regelmäßig misst, stieg von 20 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2013 auf 28 Prozent bei Jahresbeginn 2014.
Die Maduro-Regierung war sich dieser Probleme offensichtlich bewusst, brauchte aber außerordentlich lange, um zu handeln. Nach längerem Zögern hat die Regierung am 24. März eine Maßnahme getroffen, die eine langsame Lösung des Problems voraussichtlich ermöglicht. Sie behält einen niedrigen Wechselkurs für besonders wichtige Importgüter bei. In allen anderen Fällen dürfen Venezolaner_innen aber in einem geregelten Verfahren Bolívar frei gegen US-Dollar tauschen. In der ersten Woche lag der nun teilliberalisierte Wechselkurs bei gut 50 Bolívar pro US-Dollar. Zwar ist dieser Wert immer noch etwa achtmal höher als der offizielle Wechselkurs von 6,5 Bolívar pro US-Dollar. Auf dem Schwarzmarkt wurde zuletzt allerdings das Vierzehnfache für einen US-Dollar gezahlt.

Infokasten

Unasur fordert Dialog
Nach über sechs Wochen anhaltender Proteste zeichnet sich in Venezuela ein politischer Dialog ab. Während die Opposition damit scheiterte, die von den USA dominierte Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu einem härteren Vorgehen gegen Venezuela zu bewegen, erweist sich das südamerikanische Staatenbündnis Union südamerikanischer Nationen (Unasur) einmal mehr als geeigneter Ort, um politische Konflikte in Südamerika zu behandeln. In der letzten Märzwoche reiste eine Delegation von acht Außenminister_innen der Unasur-Länder nach Venezuela. Dort traf sie mit unterschiedlichen politischen Akteuren zusammen, darunter Vertretern_innen der Nationalen Friedenskonferenz, der Staatsanwaltschaft, des Obersten Gerichts, der Ombudsfrau des Landes, der Regierung und dem Oppositionsbündnis MUD.
In einem Kommuniqué rief die Delegation anschließend zur Beendigung aller gewalttätigen Aktionen auf. „Die Kommission hat die Bereitschaft zum Dialog seitens aller Sektoren zur Kenntnis genommen“, heißt es in dem Dokument. Dazu sei es notwendig, in der Auseinandersetzung eine moderatere Sprache anzuwenden, um ein Klima des Friedens zu schaffen, das Gespräche zwischen der Regierung und verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren ermöglichen soll.
Venezuelas Vizepräsident Jorge Arreaza kündigte unmittelbar nach Veröffentlichung des Berichts bereits die erste Maßnahme als Reaktion an. Die Regierung werde auf Anregung der Außenministerdelegation einen sogenannten Nationalen Rat für Menschenrechte schaffen, so Arreaza. Diese Institution soll als zusätzliche Ombudsstelle etwaige Beschwerden im Bereich der Bürger- und Menschenrechte entgegennehmen.
Laut offiziellen Angaben sind bei den gewalttätigen Protesten in Venezuela zwischen dem 12. Februar und dem 24.März 35 Menschen ums Leben gekommen und 561 verletzt worden. Mutmaßlich waren in mindestens vier Fällen Sicherheitskräfte für die Tode verantwortlich. In 81 Fällen wird wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen ermittelt.

LN / amerika21

Putsch innerhalb der Opposition

Ein Jahr nach dem Tod von Hugo Chávez wird auf der Straße Politik gemacht. Allerdings anders, als es sich der langjährige venezolanische Präsident zu Lebzeiten vorgestellt hat. Derzeit erlebt Venezuela die größten politischen Spannungen seit dem missglückten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 und dem Erdölstreik 2002/2003. Seit Wochen protestieren landesweit täglich Tausende gegen, aber auch für die Regierung.
Begonnen hatte alles Anfang Februar mit kleineren Protesten und Ausschreitungen von oppositionellen Studierenden in den westlichen Bundesstaaten Táchira und Mérida. Ursprünglich protestierten sie gegen die schlechte Sicherheitslage. So wie viele gesellschaftliche Gruppen sind in Venezuela auch die Studierenden in Regierungsanhänger_innen und -gegner_innen gespalten. Für den 12. Februar kündigten oppositionelle Studierende eine Großdemonstration in Caracas an, dem Aufruf hatten sich auch Politiker_innen angeschlossen. Längst richteten sich die Proteste nicht mehr nur gegen die hohe Kriminalität, sondern auch gegen die schwierige Wirtschaftslage und Korruption. Vor allem aber forderten immer mehr Protestierende den sofortigen Rücktritt von Präsident Nicolás Maduro. Im Anschluss an die friedliche Demonstration der Opposition attackierten einige Vermummte das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft im Stadtviertel La Candelaria. In den umliegenden Straßen kam es daraufhin zu Auseinandersetzungen, bei denen ein oppositioneller Student und ein chavistischer Basisaktivist erschossen wurden. Die Regierung beschuldigte Auftragskiller, die Opposition hingegen bewaffnete chavistische Motorradfahrer aus den Armenvierteln, für die Toten verantwortlich zu sein.
Wie die größte Tageszeitung des Landes, Últimas Noticias, anhand von Filmaufnahmen und Fotos vom Unglücksort in La Candelaria aufzeigte, gaben Beamte der Geheimdienstpolizei Sebin die tödlichen Schüsse ab. Die Geheimdienstpolizei hätte an diesem Tag laut Regierungsangaben aber gar nicht auf der Straße sein dürfen. Der Direktor der Sebin ist mittlerweile ausgetauscht, für die Morde sind acht Beamte in Haft. Doch bisher ist unklar, in wessen Auftrag die Beamten am 12. Februar gehandelt haben.
Die Geschehnisse an diesem Tag verliehen den Protesten landesweit Schwung, auch wenn diese sich häufig auf die wohlhabenderen Viertel beschränken. Während die meisten Menschen friedlich demonstrieren, geht von kleineren, organisierten Gruppen immer wieder Gewalt aus. Sie greifen öffentliche Gebäude und Fahrzeuge an, errichten Straßenblockaden und liefern sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, die ihrerseits hart gegen die Protestierenden vorgehen. Bis Anfang März kosteten die Proteste mindestens 18 Menschen das Leben. Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig, für die Toten verantwortlich zu sein. Ein einheitliches Bild gibt es nicht. Belegt ist beispielsweise, dass in mehreren Fällen Polizei oder Nationalgarde schossen, aber . auch aus den Reihen der Demonstrierenden wurden offenbar Morde begangen. Zwei Motorradfahrer_innen starben zudem an Barrikaden, weil Protestierende Drähte über die Straße gespannt hatten, während andere Fälle noch ungeklärt sind.
Die Regierung sprach umgehend von einem „faschistischen“ Putschversuch und verglich die Situation mit dem 11. April 2002. Damals hatten Scharfschützen in der Nähe des Präsidentenpalastes auf eine Oppositionsdemonstration gefeuert. Die privaten Fernsehsender erweckten durch zusammengeschnittene Bilder den Anschein, die Regierung lasse Oppositionelle töten. Das Militär intervenierte und schwenkte erst zwei Tage später wieder um, nachdem es zu Massenmobilisierungen gegen den Putsch gekommen war. Ohne dieses Erlebnis ist die Angst der Regierung vor den aktuellen Protesten wohl kaum zu verstehen. Nach dem 12. Februar verwies Maduro drei Mitarbeiter der US-amerikanischen Botschaft des Landes. Er warf ihnen vor, an einer Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Die Nationale Rundfunkbehörde Conatel nahm den kolumbianischen Fernsehsender NTN24 aus dem Kabelnetz, weil dieser zu Gewalt angestachelt habe. Den lokalen Mitarbeiter_innen des US-amerikanischen Nachrichtensenders CNN entzog die Behörde vorübergehend die Arbeitserlaubnis. Dabei gab es im Unterschied zum April 2002 die meisten gezielten Falschinformationen in Sozialen Medien wie Twitter. Mit zahlreichen Fotos, die brutale Polizeirepression in Ländern wie Ägypten, Bulgarien, Chile oder der Ukraine als Proteste in Venezuela darstellten, machten User_innen Stimmung gegen die venezolanische Regierung.
Als am folgenschwersten für die Regierung könnte sich jedoch die Verhaftung des Oppositionspolitikers Leopoldo López entpuppen. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft dem rechten Hardliner unter anderem vor, die Gewalt entfacht und zu Straftaten aufgerufen zu haben – und erweckt dabei den Anschein, eher aus politischen denn aus juristischen Gründen zu agieren. Am 18. Februar stellte sich López am Rande einer Oppositionskundgebung freiwillig der „ungerechten und korrupten Justiz“, wie er betonte. „Wenn meine Inhaftierung dazu führt, dass die Bevölkerung erwacht, ist es das wert“, sagte der Vorsitzende der rechten Partei Voluntad Popular (VP) unmittelbar vor seiner Verhaftung. Schon lange gilt López als einer der kompromisslosesten Politiker innerhalb der heterogenen Opposition. Seit Wochen hatte er mit dem Schlagwort la salida (Ausgang, Ausweg, Lösung) aggressiv für den Sturz der Regierung geworben. Unterstützt wird er dabei von anderen prominenten Oppositionspolitiker_innen wie der Abgeordneten María Corina Machado und dem Oberbürgermeister des Großraums Caracas, Antonio Ledesma.
Ob die gewalttätigen Auseinandersetzungen der letzten Wochen nun die Regierung stürzen sollten oder nicht – sie sind zumindest ein Putschversuch innerhalb des Oppositionslagers. Denn mit der Strategie der Straßenproteste stellt sich der radikale Flügel der Opposition offen gegen den bisherigen Oppositionsführer und Gouverneur des nördlichen Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles Radonski. Inhaltlich vertritt dieser mittlerweile moderate Positionen und setzt darauf, die Regierung durch Wahlen zu entmachten. Doch nach den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember, bei denen die Chavist_innen trotz massiver wirtschaftlicher Probleme einen deutlichen Sieg einfuhren, endete am rechten Rand der Opposition die Geduld. Während Capriles zunehmend den Dialog mit der Regierung suchte, versuchten vor allem López und Machado sich als kämpferische Rebell_innen zu inszenieren. Capriles hingegen wandte sich seit Beginn der jüngsten Proteste gegen einen gewaltsamen Machtwechsel – und verlor gegenüber López an Profil. „Die Bedingungen, um jetzt einen politischen Wandel zu erreichen, liegen nicht vor“, sagte Capriles und betonte, dass ohne die ärmere Bevölkerung in den barrios kein Machtwechsel möglich sei.
Für die Opposition wäre die Schwächung von Capriles heikel. Jahrelang hatten die zahlreichen Parteien gebraucht, um als Parteienbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) gemeinsam zur Wahl anzutreten. Dieser Konsens ist nun in Gefahr. Dabei ist die moderate Haltung von Capriles trotz der jüngsten Wahlniederlagen mittelfristig erfolgversprechend. Bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr könnte die Opposition durchaus die Mehrheit der Sitze erringen und ab 2016 dann Unterschriften für ein Abwahlreferendum gegen Maduro sammeln, um vorzeitige Neuwahlen zu erzwingen. Aber auch darüber hinaus bietet die fortschrittliche venezolanische Verfassung direktdemokratische Instrumente, um aus der Minderheit heraus Politik zu gestalten. Mit gerade einmal fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler_innen ließe sich beispielsweise ein Referendum über die Aufhebung von Präsidialdekreten erzwingen. Da im polarisierten Venezuela jegliche Debatte entlang der Optionen „für oder gegen die Regierung“ verläuft, konnten sich die direktdemokratischen Elemente bisher jedoch kaum entfalten und wurden von der Opposition mangels Erfolgsaussichten nicht für sich genutzt.Auch wenn die Chavist_innen weiterhin die Mehrheit stellen, deuten Ausmaß und Dauer der aktuellen Proteste auf einen politischen Einschnitt für Venezuela hin. Denn sie sind anders als frühere Proteste nicht nur rein ideologisch begründet. Ohne Zweifel gibt es dieses Mal handfeste Gründe, mit der Regierungspolitik unzufrieden zu sein. Die Kriminalität ist weiterhin hoch, die Inflation betrug 2013 ganze 56 Prozent, bei vielen Waren des täglichen Bedarfs gibt es Engpässe, auf dem Schwarzmarkt erzielt der US-Dollar das Zehnfache des offiziell festgelegten Kurses. Die Inflation trifft vor allem die ärmeren Schichten, auch wenn sich deren Situation durch umfangreiche Sozialprogramme und Einkommenssteigerungen in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat. Die legislativen Vollmachten, die das Parlament Maduro im vergangenen Jahr verliehen hat, um gegen Wirtschaftsprobleme und Korruption vorzugehen, zeigen bisher wenig Resultate. Es besteht die reale Gefahr, dass dem Präsidenten die Situation entgleitet und er Chávez‘ Erbe innerhalb kürzester Zeit verspielt. Denn auch der Chavismus ist äußerst heterogen. Chávez konnte die unterschiedlichen Strömungen stets zusammenhalten; der häufig unbeholfen wirkende Maduro wird von der Aura seines Vorgängers jedoch nicht ewig zehren können.
Um die Gewalt in Venezuela zu beenden ist vor allem ein breiter Dialog nötig, der von beiden politischen Lagern ernsthaft akzeptiert wird. Über die Frage, unter welchen Bedingungen dieser stattfinden soll, gehen die Meinungen jedoch auseinander. Für den 26. Februar lud Maduro alle Sektoren des Landes zu einer Friedenskonferenz in den Präsidentenpalast Miraflores ein. Es beteiligten sich einige Gegner_innen der Regierung wie die Katholische Kirche und der Unternehmensverband Fedecamaras. Die rechte Studierendenbewegung erteilte Maduro jedoch ebenso eine Absage wie das Oppositionsbündnis MUD. „Wir geben uns nicht für ein Trugbild von Dialog her, dass in einer Verhöhnung unserer Landsleute mündet“, begründete der Sprecher des MUD, Ramón Guillermo Aveledo, das Fernbleiben.

Hürden auf dem Weg aus der Gewalt

Nichtregierungsorganisationen aus 14 Ländern der Amerikas haben Gruppenbefragungen von Geflüchteten und Interviews mit Vertreter_innen der Zivilgesellschaft durchgeführt, um herauszufinden, wie es um die Verwirklichung der Vereinbarungen steht, die mit der Erklärung von Cartagena 1984 getroffen wurden. Ab März dieses Jahres wird der Bericht Iniciativa Cartagena +30 („Initiative Cartagena +30”) im Internet zugänglich sein. Mit ihren Empfehlungen wollen die beteiligten Organisationen Einfluss auf die für Dezember geplante lateinamerikanische Ministerkonferenz in Brasilia nehmen, auf der ein flüchtlingspolitischer Aktionsplan verabschiedet werden soll.
Die „Erklärung von Cartagena über Flüchtlinge“ wurde vor dem Hintergrund des staatlichen und paramilitärischen Terrors in verschiedenen zentralamerikanischen Staaten Anfang der 1980er Jahre verabschiedet, als mehrere Millionen Menschen über die Grenzen ihrer Heimatländer vertrieben wurden. Die in ihr enthaltene Flüchtlingsdefinition geht über jene der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus. Sie umfasst all jene Menschen, die sich zur Flucht veranlasst sehen „weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit durch allgemeine Gewalt, Aggression von außen, innere Konflikte, massive Menschenrechtsverletzungen oder andere Umstände, die zu schweren Störungen der öffentlichen Ordnung geführt haben, bedroht ist“. Die zehn lateinamerikanischen Erstunterzeichnerstaaten bekannten sich zum Verbot, Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen und dazu, sie in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit und Sicherheit zu unterstützen.
Im Gegensatz dazu zeugen die aktuellen Befragungsergebnisse der Nichtregierungsorganisationen nun davon, wie weit Diskriminierungen gegen Flüchtlinge verbreitet sind. Vielfach werden sie mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Xenophobe Vorurteile in Gesellschaft und Medien verbinden sich mit staatlichen Sicherheitsdiskursen. So wird in vielen Staaten des Kontinents der Zugang zum Asylverfahren durch die zunehmende Orientierung der Migrationspolitik an Fragen der nationalen Sicherheit erschwert. Das hat zur Folge, dass an den Grenzen immer wieder Menschen zurückgewiesen werden, die eigentlich einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz hätten. Angesichts dieser Fokussierung auf Sicherheitsfragen ruft Pablo Asa vom argentinischen Centro de Estudios Legales y Sociales (Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften) die Zivilgesellschaft dazu auf, ein Gegengewicht zu setzen, „damit das Thema der Rechte nicht auf der Strecke bleibt”.
Im Kontext der „Versicherheitlichung“ der Migrationspolitik ist auch die Praxis verbreitet, Migrant_innen und Asylsuchende zu inhaftieren. In Mexiko werden Asylsuchende häufig für den Zeitraum des Verfahrens ihrer Freiheit beraubt. Das führt dazu, dass viele Flüchtlinge den Prozess vorzeitig verlassen und darauf verzichten, von Rechtsmitteln gegen ihre Ablehnung Gebrauch zu machen. Gisele Bonnici und Elba Coria von der International Detention Coalition (Internationaler Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte inhaftierter Flüchtlinge, Asylsuchender und Migrant_innen einsetzen; Anm. der Red.) erklären deshalb: „Bei der Inhaftierung von Migrierenden handelt es sich um eine Maßnahme, die dazu dient, den Mangel an effektiven Werkzeugen zur Aufnahme seitens der Staaten aufzufangen”.
Allein den Zugang zum Asylverfahren erschweren einige Staaten durch kurze Antragsfristen, so zum Beispiel Ecuador (15 Tage) und Mexiko (30 Tage). Angesichts fehlender Informationen über das Verfahren und seine Fristen droht der betroffenen Person deshalb die Inhaftierung und Abschiebung ohne Prüfung der Risiken. Alejandra Macías von der mexikanischen Organisation Sin Fronteras („Ohne Grenzen“) beschreibt die Situation: „Häufig wissen die Menschen, die in Mexiko ankommen, nicht, dass sie das Recht haben, Asyl zu beantragen, und wenn sie davon erfahren, sind die 30 Tage meist schon abgelaufen und sie haben keinen Zugang mehr zum Verfahren”. In Panama wird der größte Teil der Antragsteller_innen aufgrund einer restriktiven Vorstufe der Zulässigkeitsprüfung gar nicht erst zum Asylverfahren zugelassen.
Die beiden Regionen, aus denen gegenwärtig die meisten Menschen vertrieben werden, sind Kolumbien und Zentralamerika. In Zentralamerika – insbesondere im ‚Norddreieck’ Honduras, Guatemala und El Salvador – ist es die zunehmende politische und gesellschaftliche Gewalt, die Menschen zur Flucht über internationale Grenzen drängt. In Honduras ist seit dem Staatsstreich 2009 die soziale Ungleichheit massiv angewachsen, das Land verfügt über die mit Abstand höchste Mordrate weltweit. In El Salvador und Guatemala finden Vertreibung und Gewalt, vor allem gegen bäuerliche und indigene Aktivist_innen, auch im Zuge von Konflikten um extraktive Industrie- und Megaprojekte, wie zum Beispiel Staudämme, statt. Die drei Staaten weisen auch die höchste Rate an Feminiziden, also geschlechtsbasierten Morden an Frauen, auf dem Kontinent auf.
So verzeichnet Mexiko seit einigen Jahren steigende Zahlen an Asylanträgen von Zentralamerikaner_innen. Jedoch hat die im Zuge des „Drogenkriegs” entfachte Gewalt seit 2006 in Mexiko mindestens 70.000 Menschen das Leben gekostet. Aufgrund der verbreiteten Korruption und Straflosigkeit können kriminelle Gruppen weitgehend risikolos Migrant_innen entführen, misshandeln und erpressen. Menschenrechtsverteidiger_innen, vor allem in den Herbergen entlang der Transitmigrationsrouten (siehe LN 475), werden bedroht.
In Kolumbien dauert der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt an. Neben weiterhin aktiven paramilitärischen Gruppen haben sich in den letzten Jahren andere bewaffnete Akteure ausgebreitet, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Zwar wurden im Rahmen der Friedensgespräche zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung erste Ergebnisse erzielt. Dies hat jedoch nicht zum Ende der Kampfhandlungen und der gewaltsamen Vertreibungen von Menschen geführt. Es ist unklar, inwieweit die Verhandlungen in Havanna überhaupt dazu beitragen werden, die Gewalt und die damit einhergehende Instabilität und Verletzlichkeit zu verringern, die Menschen zur Flucht innerhalb Kolumbiens oder über eine internationale Grenze, vor allem nach Ecuador, treiben.
Zusätzlich ist in den letzten Jahren auch die Zahl an Flüchtlingen und Migrant_innen aus Afrika und Asien in Lateinamerika gestiegen, teilweise als Reaktion auf die restriktive Migrationspolitik in Europa und Nordamerika. Nach einer Studie der Migrationsforscherin Luisa Feline Freier sind zum Beispiel viele Menschen aus dem Senegal nach Argentinien oder aus Pakistan nach Ecuador gekommen, um dort zu leben. Wie der Bericht der Cartagena-Initiative zeigt, stoßen Flüchtlinge aber auch in lateinamerikanischen Ländern auf eine restriktive Haltung. Und nicht nur was das Asylverfahren angeht.
Ein weiteres Problem, das vielen befragten Organisationen und Geflüchteten Sorge bereitet, ist die Frage der Dokumente, die Flüchtlingen und Asylsuchenden ausgestellt werden. So erweist sich zum Beispiel der Flüchtlingspass als mangelhaft, wenn es darum geht, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Kredit zu beantragen. Ein Flüchtling erzählt im Rahmen des Fokusgruppeninterviews in Venezuela: „Du musst meistens einen Venezolaner bitten, den Scheck auf seinen Namen ausstellen zu lassen, um ihn einlösen zu können, und für den Gefallen dann einen Anteil zahlen”. In Ecuador wurden Geflüchtete jahrelang in Einrichtungen des Sozial- und Bildungssystem abgewiesen, weil die Ziffernanzahl des Flüchtlingsdokuments nicht mit deren Computersystemen kompatibel war.
Auch bei der Arbeitssuche kommt es immer wieder zu Diskriminierungen, sei es aufgrund der Unkenntnis von Behördenmitarbeiter_innen und Arbeitgeber_innen über die Bedeutung des Flüchtlingsdokuments oder aufgrund von Fremdenfeindlichkeit. Im Gruppeninterview in Costa Rica erzählt ein Asylsuchender: „Obwohl wir eine Arbeitserlaubnis haben, verlangen sie die Aufenthaltspapiere. Die Leute erkennen das Dokument für Asylsuchende nicht als Arbeitserlaubnis an.” Noch prekärer ist die Situation, wenn Asylsuchende – wie in Guatemala, Panama, Mexiko oder der Dominikanischen Republik – rechtlich nicht arbeiten dürfen. Sie sind auf die Unterstützung sozialer Netzwerke oder informelle Arbeit angewiesen und damit in besonderem Maße von extremer Ausbeutung, Lohnbetrug und Übergriffen bedroht.
Was die ausgestellten Dokumente angeht, sticht Uruguay als positives Beispiel heraus: Flüchtlinge und Asylsuchende bekommen die gleichen Identitätsdokumente ausgestellt wie uruguayische Staatsbürger_innen. Damit wird Diskriminierungen beim Zugang zu Ressourcen unterschiedlicher Art entgegengewirkt. Im Gegensatz dazu fördert Belizes explizit homophobe Gesetzgebung die institutionelle Diskriminierung, indem sie sexuelle Beziehungen unter Männern mit einer Gefängnisstrafe belegt und homosexuellen Ausländer_innen die Einreise verbietet. Insgesamt sind von gesellschaftlicher und institutioneller Diskriminierung besonders diejenigen Geflüchteten betroffen, die zusätzlich wegen ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung, aus rassistischen oder anderen Gründen benachteiligt werden.
In der Dominikanischen Republik wurden 2010 per Entscheid des Verfassungsgerichts Tausende Nachkommen von Haitianer_innen, die zwischen 1929 und 2007 ins Land gekommen waren, zu Staatenlosen gemacht (siehe LN 474). Der massenhafte Entzug der Staatsangehörigkeit ist der bisherige Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierungen von Menschen aus Haiti in der Dominikanischen Republik. Ein Verbund von dominikanischen Organisationen der Zivilgesellschaft beklagt: „Die Ausweisungen und Massenabschiebungen von haitianischen Migrant_innen und ihren Angehörigen sind weiterhin die zentrale Achse der Anwendung der Migrationspolitik des dominikanischen Staates”.

Den Rassismus nicht vergessen

Im schattigen Inneren der großen Versammlungsstätte steigt im Licht einzelner Sonnenstrahlen, die durch das Dach fallen, der Rauch des heiligen Holzes palo santo auf. Es wird neben verschiedenen Früchten und Blumen, die in einem Kreis angeordnet sind, als Opfergabe dageboten. Das indigene Reservat San María de Piendamó im südwestlichen Departamento Cauca, Heimat verschiedener indigener Gruppen, ist heute stolzer Gastgeber für über 1.000 indigene Frauen. Vier Jahre nach dem ersten kontinentalen Treffen in Peru sind sie nun für das zweite Treffen angereist, bevor direkt im Anschluss das allgemeine Gipfeltreffen der indigenen Gemeinschaften des Kontinents beginnt. In den nächsten zwei Tagen wird es um die Verteidigung ihrer Rechte als indigene Frauen und als indigene Gemeinschaften gehen. Auf der Tagesordnung stehen außerdem die vom globalen Norden aufgezwungenen Entwicklungsmodelle, der vor allem von internationalen Firmen betriebene Extraktivismus, der die Lebensgrundlage und die Menschenrechte der indigenen Völker bedroht, sowie die Gewalt, die indigene Frauen auf verschiedene Weise erfahren: in Form von Rassismus, Diskriminierung und sozialer Ungleichheit.
Einzelne Grüppchen indigener Frauen sitzen verstreut auf den Plastikstühlen. Auf der Bühne hängt das Plakat für den ersten Teil des kontinentalen Gipfeltreffens der indigenen Völker: „Zwe­ites Gipfeltreffen der indigenen Frauen Ab­ya Yalas“. Der Name kommt aus der indigenen Sprache Kuna und bedeutet Lateinamerika. Einige Frauen sind sichtlich erschöpft von der langen Reise, aber motiviert und entschlossen. Sie sind aus verschiedenen Teilen des Kontinents angereist: Mexiko, Guatemala, dem benachbarten Panama, Venezuela und Ecuador, Bolivien, Peru, Chile sowie aus den verschiedenen Regionen Kolumbiens.
Inzwischen ist es heißer geworden, immer mehr Frauen versammeln sich unter dem kühlen Dach, um den einführenden Vorträgen zu lauschen. Ein wichtiges Thema, das direkt zu Beginn Eingang findet, ist der Friedensprozess in Kolumbien, von dem die indigenen Gemeinschaften ausgeschlossen sind. Sie sind den bewaffneten Akteuren aufgrund ihrer häufig strategisch gelegenen und rohstoffreichen Territorien besonders ausgeliefert. Vor allem die Frauen werden Opfer von Vertreibungen und Vergewaltigungen. „Wir Frauen sind vom Krieg stärker betroffen und von den Verhandlungen in Havanna ausgeschlossen. Ohne Frauen gibt es keinen Frieden“, sagt Toribia Lero von der Koordination indigener Organisationen der Andenregion (CAOI) und fügt hinzu: „Wir wollen nicht, dass unsere Körper weiterhin Kriegsbeute sind.“
Angesichts einer neuen Welle von Extraktivismus und den damit verbundenen Vertreibungen wird das Recht der Frauen auf ein Leben frei von Gewalt, wie es die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) vorsieht, stark eingeschränkt. Deshalb, so Raquel Yrigoyen aus Peru, müssen der Kampf der Indigenen um das Recht auf Selbstbestimmung und der Kampf der Frauen für ein Leben ohne Gewalt Hand in Hand gehen.
Die Gewalt, die indigene Frauen erfahren, ist ein zentrales Thema des Gipfels. Manuela Ochoa von der Nationalen Organisation Indigener Kolumbiens (ONIC) spricht über die Diskriminierung, die indigene Frauen außerhalb, aber auch innerhalb der Gemeinden erfahren. Hierzu zählen sowohl diskrimierende politische Richtlinien als auch Gewalt im familiären Rahmen. Ein zentrales Problem sei der Zugang zum Rechtssystem. Kommunikationsbarrieren aufgrund von unterschiedlichen Sprachen stellen dabei eine besondere Hürde dar.
Dennoch betont Manuela Ochoa, dass sie nicht Opfer, sondern aktiv Handelnde sind: „Wir sind nicht die armen indigenen Frauen“, sagt sie. „Ohne uns geht es nicht!“ Wie für sie ein Leben frei von Gewalt aussehen würde? „In Harmonie leben und sich wohlfühlen“. Dafür sind Mechanismen für die Konfliktlösung sowohl auf staatlicher als auch auf familärer Ebene notwendig. Diese sind jedoch bis jetzt weder vom Staat noch von den indigenen Gemeinden selbst in Angriff genommen worden.
Während die Teilnehmerinnen aufmerksam lauschen, ziehen sie gekonnt Stich um Stich den Faden nach. Fast alle anwesenden Frauen häkeln an einer mochila, einer Tasche aus bunter oder naturfarbener Wolle. Das Häkeln ist nicht einfach eine traditionelle Tätigkeit. Die Muster sind Ausdruck indigener Weltanschauung und der Erfahrung jeder einzelnen Frau — einzigartig.
In der Arbeitsgruppe zu Frauenrechten am nächsten Tag steht schon bald fest, wo die Frauen verschiedener Länder ähnliche Probleme vorfinden. Ein Thema ist der fehlende Zugang zu Bildung, vor allem im Bereich der Weiterbildung. „Wir brauchen gut ausgebildete Frauen, die Politiker kennen unsere Probleme nicht und lassen uns nicht teilhaben“, so eine Teilnehmerin aus Bolivien. Der Vorschlag eines Weiterbildungsprogramms speziell für indigene Frauen wird mit breiter Zustimmung aufgenommen. Als wichtig wird auch das Recht auf eigene, selbstbestimmte Bildung herausgestellt.
Die politische Teilhabe ist ein weiteres zentrales Thema. „Das Recht auf politische Partizipation wird nicht wahrgenommen“, sagt eine Teilnehmerin aus Bolivien, und ihre Kollegin fügt hinzu: „Ohne eigene politische Vision werden wir immer diejenigen sein, die gehorchen. Auch wenn Frauen in der Politik mitmischen, sprechen sie nicht in unserem Namen, weil sie nicht unsere Perspektive haben“. Nichtsdestotrotz zeigt sie sich zuversichtlich: „Es gibt viele Hindernisse, aber wenn wir diese überwinden, werden wir unser Recht auf Teilhabe ausüben.“ Es gibt jedoch auch radikalere Stimmen, die glauben, dass die Partizipation der indigenen Frauen in den aktuellen politischen Rahmenbedingungen nicht gegeben ist. „Die Regierungsformen müssen geändert werden, denn sie sind kolonial, Frauen haben dort keinen Platz“, so eine Teilnehmerin aus Kolumbien.
Ein hochaktuelles Thema ist die sexuelle und reproduktive Gesundheit. Es fehlt an Aufklärung zu Themen wie HIV/Aids und Gebärmutterhalskrebs, Krankheiten, die unter anderem durch die Präsenz von multinationalen Firmen ihren Weg in indigene Gemeinden gefunden haben. Selbst wenn sie versichert sind, nehmen die Frauen die öffentlichen Gesundheitsdienste selten wahr. Angesichts dessen kommt die Forderung nach Krankenhäusern auf, welche die traditionelle Medizin anerkennen und indigene Frauen entsprechend ihrer Weltanschauung und Traditionen betreuen können.
Die Frage nach der Beziehung zu den Männern der indigenen Gemeinschaften durchzieht alle Diskussionen und Themenbereiche des Gipfels: Für die anwesenden Frauen ist klar, dass der Machismo sie lange Zeit zum Schweigen verurteilt hat: „Als Ehefrauen müssen wir bestimmte Aufgaben erfüllen, aber wir haben auch Rechte, nur üben wir diese nicht aus”, sagt eine kolumbianische Teilnehmerin. Eine andere Teilnehmerin kritisiert, dass es im Haushalt keine gemeinsame Verantwortung gibt und fragt: „Warum können die Männer nicht auch etwas machen, wenn die Frau müde ist?“ Von den Männern wird die politische Organisierung der Frauen häufig vorwurfsvoll als Spaltungsprozess der indigenen Gemeinschaft betrachtet. Unter den Frauen herrscht demgegenüber trotz aller Konflikte Einigkeit darüber, dass Frauen und Männer zusammenarbeiten müssen. So wird beschlossen, die Männer zum nächsten Gipfel der Frauen einzuladen: „Wir sprechen aus einer Position der Einheit heraus, nicht um Männer und Frauen zu spalten.”
Diese Aussage macht die Position vieler indigener Frauen im Hinblick auf den in der Regel als westlich wahrgenommenen Feminismus deutlich. In Ländern wie Bolivien, Mexiko und Guatemala haben sich dennoch verschiedene Strömungen von indigenen Feminismen herausgebildet. Auch auf dem Gipfel wird zum Teil mit „feministischen“ Begriffen wie Sexismus, Patriarchat und Ma­chismo umgegangen. So erklärt Carmen Blanco Valer aus Peru die Intersektionalität von Unterdrückungsmechanismen anhand verschiedener Fäden, die sich ineinander verflechten: Ethnizität, Geschlecht, soziale Klasse, Kolonialismus und sexuelle Orientierung. Je mehr Unterdrückungsmechanismen zusammenkommen, desto schwerer sei die Verflechtung aufzulösen. An dieser Stelle macht sie einen Aufruf an nicht-indigene Frauen, die häufig „den Rassismus vergessen“. Es sei wichtig, alle Machtstrukturen und ihre Implikationen anzuerkennen, nicht nur diejenigen, die sie als weiße Frauen betreffen.
Am folgenden Tag füllt sich das Gelände von La María Piendamó. Es sind viele weitere Teilnehmende für den Gipfel der indigenen Gemeinden angereist. Es ist auffällig, wie präsent die Männer auf dem Gipfel sind, die Atmosphäre ist eine andere als an den Vortagen. Die Teilnehmerinnen des Gipfels der Frauen haben sich unter die anderen gemischt. Sie werden ihre Arbeit in Form der neu gegründeten Kontinentalen Koordination der indigenen Frauen aus Abya Yala, einer Dachorganisation der regionalen Netzwerke, fortsetzen um so die Ergebnisse des Gipfels in eine Agenda zu übersetzen.

Stadtplanung von oben und unten

Die meisten Leute, die Caracas besuchen, bleiben nicht lange. Unter Tourist_innen hat die venezolanische Hauptstadt keinen guten Ruf, sie gilt als grau, schmutzig und unsicher. Doch den Besucher_innen werden zumindest die räumliche Segregation zwischen reichem Osten und ärmerem Westen und das Nebeneinander von formeller und informeller Stadt auffallen. Unten im Tal erstrecken sich in Form von Wolkenkratzern und Stadtautobahnen in Beton gegossene Moderni­sierungsversprechen aus den 1970er Jahren, die den Lebensstil der motorisierten Elite repräsentieren sollten. Doch schon auf dem Weg vom Flughafen sind die barrios nicht zu übersehen. Die Armenviertel an den Hängen, die von ihren Bewohner_innen in Eigenregie erbaut wurden, verweisen auf eine andere Geschichte. Hier war die Mehrheit der Bevölkerung nie in die Stadtplanung einbezogen und öffentliche Dienstleistungen wurden nur bis zum Rand der Hügel erbracht.
Der Venezuela-Experte Dario Azzellini und die Stadtforscher_innen Stephan Lanz und Kathrin Wildner nähern sich der „bolivarianischen Metropole“ in dem Sammelband Caracas, sozialisierende Stadt auf vielfältige Art und Weise an. Wie in der renommierten metroZones-Reihe üblich, liegt der Ausgangspunkt in der „informellen Stadt“ und ihren selbstorganisierten Urbanisierungsprozessen. Das Spannende an Caracas, das den meisten Kurz-Besucher_innen freilich verschlossen bleibt, ist der städtische Transformationsprozess, der seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 in den barrios stattfindet und auch nach seinem Tod 2013 weiter anhält. Der soziale Protagonismus der zuvor marginalisierten Bevölkerung wird von der Regierung nicht etwa bekämpft oder vereinnahmt, sondern politisch unterstützt.
Im Rahmen einer studentischen Exkursion der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) versammelt das Buch Autor_innen aus Venezuela und Deutschland, die aus unterschiedlichen Zusammenhängen wie Wissenschaft, Politik oder Kunst stammen. Sie analysieren basisdemokratische Strukturen und den Umgang mit städtischen Problemen, wie beispielsweise schlechter Müll­entsorgung. Mehrere Beiträge widmen sich den vielfältigen politischen Kämpfen in Caracas, wie der urbanen Landreform, der Rolle von Frauen und Hausbesetzer_innen, aber auch der städtischen Gewalt. Auch kulturelle Praktiken wie Street Art, Hip Hop und alternative Medienproduktion werden behandelt. Der Sammelband bietet eine Reihe von Zugängen zu Caracas, wie sie bisher in deutscher Sprache kaum vorhanden waren. Dabei geht es den Herausgeber_innen nicht darum, den bolivarianischen Prozess insgesamt politisch zu bewerten.
Dass Akteure aus den barrios nun in die Stadtplanung mit einbezogen werden, bedeute auch nicht, „dass sich die städtische Realität der bolivarianischen Revolution kritiklos bejubeln ließe“, betonen sie in der Einleitung. In der Praxis des Transformationsprozesses existieren zahlreiche Konflikte und Widersprüche zwischen Politikansätzen von oben und unten, wie auch der Basisaktivist Santiago Arconada in einem Gesprächsauszug auf den Punkt bringt: In Caracas finde ein Prozess statt, „in dem ihr an einem Tag die Juwelen der Partizipation sehen könnt und gleichzeitig auch ihre Grenzen, also das Verhindern von Teilhabe“.

Dario Azzellini, Stephan Lanz, Kathrin Wildner (Hg.) // Caracas, sozialisierende Stadt. Die „bolivarianische“ Metropole zwischen Selbstorganisierung und Steuerung // metroZones 12 // b_books // Berlin 2013 // 390 Seiten // 22 Euro.

Regierung sitzt fest im Sattel

Es war ein erneuter Rückschlag für die venezolanische Opposition. Mit ihrem Versuch, die Kommunalwahlen am 8. Dezember zur Abrechnung mit dem Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro zu machen, ist sie klar gescheitert. Nach offiziellen Angaben entfielen auf die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und die mit ihr im Großen Patriotischen Pol verbündeten Parteien landesweit knapp 50 Prozent der Stimmen. Die oppositionelle Allianz Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) erreichte hingegen nur knapp 43 Prozent; die Wahlbeteiligung lag mit etwa 59 Prozent für Kommunalwahlen vergleichsweise hoch.
Die politische Landkarte Venezuelas bleibt somit mehrheitlich rot eingefärbt. Nach Auzählung von knapp 98 Prozent der Stimmen fielen mindestens 196 der insgesamt 337 Bürgermeister_innenämter an die PSUV und 53 an das oppositionelle Parteienbündnis MUD. Gemäß den Tendenzen wird das Regierungsbündnis nach Auszählung der restlichen Gemeinden wohl 256, die Opposition wird 76 und unabhängige Kandidat_innen werden 5 Bürgermeister_innen stellen.
„Heute haben wir einen großen Sieg eingefahren“, freute sich der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Die venezolanische Bevölkerung habe der Welt gezeigt, dass „die bolivarianische Revolution mit mehr Kraft als jemals zuvor“ fortgesetzt werde. Dem Oppositionsführer Henriqué Capriles Radonski legte er aufgrund der „vierten Niederlage in Folge“ einen Rücktritt nahe. „Hier hast Du Dein Referendum“, rief er ihm nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse zu.
Capriles, der als amtierender Gouverneur selbst nicht zur Wahl stand, hatte im Vorfeld der Kommunalwahlen versucht, landesweite Themen zum Kern der Abstimmung zu machen. „Um einen nationalen Wandel einzuleiten, müssen wir am Sonntag gewinnen”, betonte er kurz vor der Wahl. Am Wahlabend selbst hielt er sich denn auch zurück. Die Ergebnisse zeigten, dass Venezuela „ein geteiltes Land“ sei, das einen Dialog brauche, verkündete Capriles über den Kurznachrichtendienst Twitter.
Die regierenden Sozialist_innen hatten zunächst einen eher kommunalen Wahlkampf geplant, schwenkten aufgrund der Oppositionskampagne jedoch rasch um. Die wichtigste Aufgabe der eigenen Kandidat_innen sei es, „die Leute in Unterstützung von Maduros wirtschaftlichen Maßnahmen und der Sondervollmachten zu mobilisieren“, sagte der Kampagnenchef der PSUV, Franciso Ameliach vor der Wahl. Um gegen Korruption und ökonomische Probleme vorzugehen, hatte Maduro Anfang Oktober Sondervollmachten beantragt, die ihm das Parlament Mitte November verlieh. Die dazu nötige Dreifünftelmehrheit war nur zustande gekommen, indem die chavistische Parlamentsmehrheit einer oppositionellen Abgeordneten wegen Korruptionsvorwürfen die Immunität entzog. Nun kann Maduro ein Jahr lang Dekrete über Wirtschaftsfragen erlassen, die ersten zielen auf eine stärkere Regulierung von Preisen und Devisenhandel ab. Die Opposition und private Unternehmer_innen kritisierten Maduros Vorgehen scharf – und machten die Sondervollmachten zum Thema des Kommunalwahlkampfes. Der Opposition geht es dabei weniger um einzelne Politikentwürfe oder Gesetze, sondern um die Machtverhältnisse im Land. Denn ein Referendum über die Aufhebung der einzelnen Dekrete könnten laut Verfassung bereits fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler_innen erzwingen.
Währenddessen durchlebt Venezuela die schwerste ökonomische Krise seit dem Putsch und der Erdölsabotage 2002 und 2003. Die Inflation wird dieses Jahr bei über 50 Prozent liegen – mehr als doppelt so hoch wie 2012. Produkte des täglichen Bedarfs wie Milch oder Toilettenpapier werden immer wieder knapp, der US-Dollar wird auf dem Schwarzmarkt für das Achtfache gehandelt. Die privaten Unternehmensverbände und die Opposition machen die Regierung für die Missstände verantwortlich. Diese wirft den privaten Unternehmen hingegen vor, mit Wucherpreisen und gezielter Warenverknappung einen Wirtschaftskrieg zu entfesseln.
Die Opposition hatte gehofft, aus der angespannten wirtschaftlichen Lage Nutzen zu ziehen, was ihr kaum gelang. Zwar konnte der MUD die 62 von ihm regierten Rathäuser gemäß den Tendenzen auf 76 steigern. Doch gegenüber dem knappen Ergebnis der Präsidentschaftswahl im April dieses Jahres, als Maduro mit weniger als zwei Prozent Vorsprung gewann, wurde der Abstand zur Regierungsallianz wieder größer.
Kleinere symbolische Erfolge konnten indes beide Seiten erzielen. Im zentral gelegenen Bundesstaat Miranda, in dem Capriles Gouverneur ist, gingen 16 von 21 Rathäusern an das Regierungsbündnis. Der MUD konnte sich hingegen in der chavistischen Hochburg Barinas – der Hauptstadt des gleichnamigen Geburtsstaates von Hugo Chávez – und in einigen der bevölkerungsreichsten Städte des Landes durchsetzen. So gewann die Opposition neben den Bürgermeisterämtern in Maracaibo und Valencia erneut das Oberbürgermeisteramt des Hauptstadtdistrikts. Im wichtigsten Teil von Caracas, dem Municipio Libertador, wurde der chavistische Kandidat Jorge Rodríguez hingegen klar wiedergewählt. Und nicht überall waren Chavist_innen auf den Rückhalt der PSUV angewiesen. In 13 Fällen konnten sich alternative chavistische Kandidat_innen durchsetzen, die nicht offiziell von der Regierungspartei unterstützt wurden. Dass die Kandidat_innen des Regierungsbündnisses nicht durch Vorwahlen ermittelt, sondern von oben bestimmt worden waren, hatte innerhalb der eigenen Reihen für Unmut gesorgt.
Aus der ersten landesweiten Abstimmung während seiner Regierungszeit geht Nicolás Maduro letztlich gestärkt hervor. Die Kommunalwahlen verliefen ohne größere Zwischenfälle. Die Sondervollmachten werden von der Bevölkerung offenbar mehrheitlich gut geheißen, auch wenn viele Wähler_innen bei Kommunalwahlen eher aufgrund lokaler Themen als strikt entlang der Parteilinien entscheiden. Im Hinblick auf die Parlamentswahlen Ende 2015 und ein mögliches Abwahlreferendum gegen Maduro 2016 musste die Opposition einen herben Dämpfer einstecken, denn entgegen ihrer Lesart der vergangenen Monate sitzt die Regierung fest im Sattel.
Maduro rief noch am Wahlabend alle gewählten Bügermeister_innen zum Dialog auf und kündigte an, die „ökonomische Offensive“ fortzusetzen. Auch die „Regierung der Straße“, in deren Rahmen Maduro mit seinen Minister_innen überall im Land Orte besucht und Projekte verabschiedet, soll in eine neue Phase gehen.
Ungeachtet des Wahlerfolges steht der Chavismus vor große politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Da die nächsten Wahlen erst in knapp zwei Jahren anstehen, gibt es nun eine Verschnaufpause, um die Demokratisierung des politischen Prozesses von unten weiter voranzutreiben.

Mit Musik vereinen

Das Konzert zur offiziellen Präsentation Ihrer CD in der venezolanischen Botschaft kam zweifellos gut an beim Publikum. Was wird Ihnen von dieser Feier in Erinnerung bleiben?
Mateo: Die Worte des Botschafters haben mich inspiriert, denn ich hatte zuerst über unsere Idee gesprochen, mittels der Musik Lateinamerika in einer Band zu vereinen. Danach ergänzte er, dass es bis heute starke Repression und Hass gegenüber den Indigenen gebe. Und nun ja, unser Name kommt aus einer indigenen Sprache. Es gefiel mir zu hören, dass durch die Band die Indigenen unterstützt würden. Jetzt, wo ich nach 20 Jahren nach Chile zurückkehre, möchte ich mit Mapuche-Organisationen, mit denen meine Mutter arbeitet, in Kontakt kommen.

Wie ist es zu dem Namen Huepil Che gekommen?
Damián: Huepil Che sind zwei Wörter aus der Sprache der Mapuche. Huepil bedeutet „Regenbogen“, che bedeutet „Menschen“. Damit lassen sich eine Reihe von Dingen in Verbindung bringen: dass sich alles vereinen lässt, dass alle Farben zusammen harmonieren können. Wir wollen dieses Konzept in Berlin anwenden, weil hier diese Menge von Leuten aus aller Welt zusammenkommt. Je größer die Verschiedenartigkeit, desto reicher, das ist die Botschaft unserer Musik.
Mateo: Angela Merkel hat gesagt: „Multikulti ist gescheitert.“ Wir möchten Frau Merkel durch unser Projekt sagen, dass sie sich mit diesem Satz vielleicht geirrt hat. Letzten Endes leben wir hier und teilen verschiedene Perspektiven und Kulturen. Anscheinend geht sie zum Essen in ein Restaurant in Bayern und nicht hier in Berlin aus [lacht].

Können Sie noch etwas mehr über den Stil von Huepil Che erzählen? Welche Elemente sind darin enthalten, wie entsteht ein Lied?
Mateo: Ich habe neun Jahre, von acht bis 16, in Miami gelebt. Deshalb bringe ich großen Einfluss von dort mit, kubanischen, zentralamerikanischen. Selbstverständlich habe ich auch Rock und viel Hip Hop gehört. Als mich die Liebe zur Musik ergriff und ich Musiker wurde, lernte ich die Musik von Django Reinhardt kennen. Dadurch hab ich mich auf den Weg zu Jazz, Swing, Gypsy-Swing und Balkan begeben. Mein Part ist also eher etwas, was sich nach Jazz anhört.
Damián: Klar, der Rock ist eher mein Part. Ich komme aus Buenos Aires und dort ist die Rockkultur sehr, sehr stark. Aus gesellschaftlichen Gründen, wegen der Diktaturen, wegen der Entwicklung der Stadt, der Rock war immer eine Form der Äußerung. Daneben gibt es natürlich den Tango, zusammen mit folkloristischer Musik wie Candombe, Murga und Musik aus dem Landesinneren, zum Beispiel Chacarera. Mit dem allen bin ich aufgewachsen und das bringe ich bei Huepil Che ein. Erickson und Hiula haben immer sehr viel zentralamerikanische Musik gehört. Dann haben wir zwei französische Bläser, die Swing und Gypsy-Jazz, spielen. Und außerdem einen deutschen Trompeter, aber er ist fast so latino wie wir.
Erickson: Wir nehmen die traditionelle Musik und verwandeln sie in zeitgenössische Musik. Das wurde zwar schon oft gemacht, aber wir machen es aus unserer Perspektive, auf unseren Wurzeln aufbauend. Einer sagt mir: zeig mir den Rhythmus von dort, wo du aufgewachsen bist. Also zeige ich ihm den venezolanischen Walzer und es ist genau der Rhythmus, der zum Lied passt, obwohl ich mir das Lied mehr als Popsong vorgestellt habe.

Wie ist das Projekt Huepil Che denn entstanden?
Damián: Mateo und ich lernten uns vor einigen Jahren in Berlin kennen. Wir begannen im berühmten Kunsthaus Tacheles zu spielen, das leider nicht mehr existiert. Wir machten Jams mit vielen anderen Leuten und bemerkten, dass wir ähnliche Ideen hatten. So begann Huepil Che mit einem sehr kleinen Repertoire an Jazzstandards und brasilianischer Musik von Hermeto Pascoal.
2012 hatten wir die Gelegenheit, auf dem Myfest [Festival zum 1. Mai in Berlin-Kreuzberg; Anm. der Red.] auf einer ziemlich großen Bühne zu spielen. Da stellten wir fest, dass wir nur zu zweit waren [lacht]. Und so haben wir mit Leuten geprobt und am 1. Mai 2013 war das erste offizielle Konzert von Huepil Che als Band, mit Erickson am Schlagzeug, mit Percussion und einer Trompete. Im Oktober 2012 haben wir drei eigene Lieder aufgenommen, unsere erste Demo-CD…
Mateo: …und 2013 begannen wir mit Hiula zu spielen, der jetzt unser Percussionist ist, und mit Daniel, unserem Altsaxophonisten. Mit ihnen haben wir unsere erste CD aufgenommen.
Damián: Das Album hat viel mit uns selbst zu tun. Das Design der CD stammt von einem Freund aus Buenos Aires, der auch die Demo entworfen hatte. Das Cover ist ein bisschen psychodelisch, aber das Reisen ist sehr präsent.

Was wollen Sie als Nächstes unternehmen?
Damián: Jetzt gerade versuchen wir so viele Konzerte wie möglich für den nächsten Sommer zu bekommen, um uns bekannt zu machen. Vor allem müssen wir die Menge an Festivals in Europa und Deutschland nutzen.
Mateo: Für nächsten Oktober haben wir schon die nächste CD in Aussicht. Wir arbeiten mit einem Soundtechniker zusammen, der bereit ist, die Risiken mit uns zu tragen. Und klar, wir würden gern ein Plattenlabel finden und einen Vertrag machen. Aber heutzutage passiert so etwas sehr selten. Einer der größten Pläne ist deswegen, so viel wie möglich über das Marketing zu lernen, das man allein über das Internet machen kann. Selbstverständlich träume ich davon, dass wir eine Tournee durch Lateinamerika machen. Jeder von uns wird jetzt nach Lateinamerika gehen, um die CD zu promoten. Ich gehe nach Chile, Dam nach Argentinien.
Erickson: Ich fliege noch nicht nach Venezuela. Ich würde gern, aber ich war schon letztes Jahr in Caracas. Ich habe auch ein Interview über Huepil Che gegeben, für einen nationalen Radiosender. Jetzt seid ihr dran. Ich verspreche mehr Lieder zu komponieren.

Mehr Infos: https://soundcloud.com/huepil-che

Sehnsucht nach einem besseren Morgen

„Es gab einen unglaublichen Zusammenhalt in der Nachbarschaft“, erinnert sich Rosalia del Villar an jene Tage im September und Oktober 2003, an denen sich die Ereignisse in der Stadt El Alto überschlugen. Tage, die später als der „Schwarze Oktober” in den Volksmund eingehen sollten.
Del Villar selbst erlebte alles aus nächster Nähe: In ihrem Telefonkiosk gingen die Leute ein und aus, um die Proteste zu koordinieren. Wie an jedem kleinen Lädchen hingen auch an ihrem Kiosk Plakate, auf denen „Das ist unser Gas!“ oder „Gas für Bolivien!“ zu lesen war.
In allen Stadtvierteln versammelten sich die Menschen abends an den Straßenecken um Koch- und Feuerstellen. Sie organisierten gemeinsam die Versorgung der Straßenblockaden. „Wir alle hatten akzeptiert, dass wir in diesem Kampf gemeinsam Opfer bringen mussten”, so del Villar.
„Die Gefühle waren gemischt”, erzählt sie. „Wir fühlten uns gegenüber der Ungerechtigkeit und gegenüber den Toten ohnmächtig. Aber gleichzeitig kam auch eine Aufbruchstimmung auf, weil wir nicht mehr bereit waren, die widerrechtliche Aneignung unserer Bodenschätze hinzunehmen.”
Bereits seit 2000 litten die sozialen Bewegungen des Landes unter den heftigen Repressionen seitens der Polizei und des Militärs. In diesem Szenario staatlicher Gewalt begannen Kokabauern und -bäuerinnen, indigene und kleinbäuerliche Bewegungen, sich zunehmend militanter dagegen zu wehren. Im September 2003 breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus, aus verschiedenen Teilen des Landes bewegten sich große Protestmärsche hin zum politischen Zentrum Boliviens. Auch die Bewohner_innen aus El Alto zogen in Massen in das benachbarte La Paz hinab, wo sich die verschiedenen Protestzüge vereinten. Forderungen nach dem Rücktritt „Gonis”, wie der Spitzname des damaligen Präsidenten Boliviens Gonzalo Sánchez de Lozada lautete, wurden immer lauter.
„Ich erinnere mich, dass die Leute von Haus zu Haus zogen und alle aufforderten, mitzugehen”, entsinnt sich del Villar. „Meine ganze Familie ist mitgegangen und an jeder Straßenecke kamen mehr Menschen hinzu, sie fielen sich in die Arme, ohne sich überhaupt zu kennen.”
Kurz darauf wurde ein Hunger- und Generalstreik ausgerufen, der das Land zeitweilens paralysierte. Der Zugang zu La Paz wurde mit Barrikaden versperrt, die Proteste waren auf der Straße, in den Busbahnhöfen und den Märkten. Überall.
Mario Coaquira Huayta, seinerzeit ein Protagonist der Proteste des Gaskriegs, berichtet von seinen Erfahrungen auf den Straßen, den Barrikaden und den Blockaden. Die Menschen seien aus allen Ecken des Landes gekommen. Alt und Jung hätten dort ausgeharrt, manchmal ohne etwas zu Essen. Aber die Situation hätte den Zusammenhalt gestärkt, alles, was es gab, sei miteinander geteilt worden.
Auf einmal, so Coaquira, seien sie zu einer Bewegung geworden, denn alle spürten die Ungerechtigkeit am eigenen Leib. Die Bewegung entstand so gesehen unterwegs, auf der Straße. Dort wurden Pläne für den nächsten Tag geschmiedet. Durch welche Straßen sollte man laufen? Wer würde auf die Kinder aufpassen? Wer würde die Getränke besorgen? Die Barrikaden sollten nie unbewacht bleiben, deswegen organisierte man sich in Schichten. „Es war die Sehnsucht nach einem besseren Morgen.“
Währenddessen reagierten Polizei und Militär mit immer härteren Repressionen. Um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu verängstigen, schossen sie auf Blockaden und Häuser. Theoretisch um den Aufständischen eine Lektion zu erteilen, um sie verstummen zu lassen und zu demobilisieren. Aber das genaue Gegenteil war der Fall, denn die Wut der Menschen wurde noch größer.
In der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober kam es zu einem traurigen Höhepunkt. Es sollte eine der schlimmsten Nächte in El Alto werden. Nach dem gewaltsamen Durchbrechen der Blockaden, ging das Militär weiter mit Entführungen und Verhaftungen vor. Spezialisten der Streitkräfte drangen auf der Suche nach den Anführer_innen der Revolte gewaltsam in die Häuser der Familien El Altos ein.
Gleichzeitig versuchte die Polizei, die Nachbarschaft weiter durch Gewalt einzuschüchtern. Die Frage war, wer als Erstes nachgeben würde, die aufständische Bevölkerung oder die uniformierten Truppen.„Es war ein Massaker von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozano an der bolivianischen Bevölkerung, um die natürlichen Ressourcen transnationalen Firmen zur Verfügung zu stellen“, ist sich Rodolfo Machiaca, Generalsekretär der Gewerkschaft der bolivianischen Landarbeiter (CSUTCB) sicher. Auch er beteiligte sich damals an den Hungerstreiks, die sowohl von Felix Quispe, Anführer der kleinbäuerlichen Bewegung als auch dem damaligen Gewerkschaftsführer und heutigem Präsidenten Evo Morales geleitet wurden.
Der Konflikt vor zehn Jahren kennzeichnet einen Bruch in der Geschichte des südamerikanischen Landes. Der Gaskrieg führte zur grundlegenden Neuausrichtung der politischen Agenda.
„Unsere gemeinschaftliche Organisationsform, unser ursprüngliches Wirtschaftssystem, unsere traditionelle Form des Selbstregierens in den Gemeinden wurde durch die Kolonialisierung und 50 Jahre neoliberale Regierungen zerstört“, erklärt Machiaca. „Nun haben wir als erstes die Souveränität über unsere Bodenschätze zurückerobert und langsam sind wir auch dabei, unsere Würde im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich zurückzugewinnen.“ Dafür sei es wichtig, den politischen Prozess an der Seite des Präsidenten Evo Morales zu begleiten und mitzugestalten. Machiaca meint, die heutige Regierung höre den sozialen Bewegungen wenigstens zu. Ihm zufolge sei das eine neue Art des Regierens im Rahmen eines intensiven Demokratisierungsprozesses, den noch nicht alle Regierungsbeamt_innen verstanden hätten. Machiaca weiß, dass es ein langer Weg sein wird, bis alle „zuhörend regieren“ und es eine wirkliche Veränderung geben wird. Aber er hat die Hoffnung, dass es den Bolivianer_innen in zehn bis zwanzig Jahren besser gehen wird: „Das geht nicht von heute auf morgen.“

Infokasten:

Der Gaskrieg in Bolivien 2003

6. August 2002 Gonzalo Sánchez de Lozada, genannt Goni, wird nach 1993-1997 zum zweiten Mal Präsident Boliviens.

August 2003 Erste Proteste gegen die Pläne der bolivianischen Regierung, ein Abkommen mit ausländischen Investoren zur Erschließung der Gasreserven zu unterzeichnen. Das Erdgas sollte an die USA und Mexiko verkauft werden und der Transport des Erdgases zum Meer durch den Bau einer Pipeline durch Chile ermöglicht werden. Die Lizenzgebühr der multinationalen Konzerne sollte bei lediglich 18 Prozent der zukünftigen Exportgewinne liegen. Bolivien hat nach Venezuela die zweitgrößten Gasvorkommen Lateinamerikas.

September 2003 Eine Protestwelle aus Straßenblockaden, Demonstrationen und Generalstreiks konzentriert sich zunächst auf das Hochland in der näheren Umgebung des Titicacasees, um dann das ganze Land zu erfassen. In rasantem Tempo verwandelten sich die Proteste in einen Aufstand gegen die bolivianische Regierung mit „Goni“ und Verteidigungsminister Carlos Sánchez Berzaín an der Spitze.

12. und 13. Oktober 2003 Das Militär richtet in der an La Paz angrenzenden Armenstadt El Alto ein Blutbad an. Es gibt weit über 100 Verletzte und 70 Tote. Die Regierung hatte versucht, die Zufahrtsstraße nach La Paz mit Militärgewalt zu durchbrechen, um 20 Tankwagen mit Treibstoff in die Stadt zu schaffen. Sánchez de Lozada rechtfertigt den Einsatz mit der sich zuspitzenden Versorgungsknappheit in La Paz.

14. bis 17. Oktober 2003 Vize-Präsident Carlos Mesa kritisiert die gewaltsame Repression der Proteste durch die Regierung scharf und distanziert sich vom Präsidenten. La Paz erlebt die größten Demonstration seit der Rückkehr zur Demokratie mit über 50.000 Demonstrierenden. Bürger_innen treten landesweit in Hungerstreiks. Täglich treffen zahlreiche Menschen in La Paz ein, um sich den Protesten vor dem Präsidentenpalast anzuschließen. Die katholische Kirche mahnt, weiteres Blutvergießen sei nur noch durch den Rücktritt des Präsidenten zu vermeiden.

17. Oktober 2003 Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada tritt zurück und flieht aus Bolivien in die USA. Carlos Mesa wird Boliviens Präsident. Gut zwei Jahre später gewinnt Evo Morales erstmals die Präsidentschaftswahl.

Sehnsucht nach Chávez

Der Mann und die Frau in den beigen Uniformen recken ihre Fäuste in die Höhe. „Chávez vive“ („Chávez lebt“) rufen sie mit entschlossener Stimme. „La lucha sigue“ („Der Kampf geht weiter“) antwortet die Menschentraube, die sich vor dem Cuartel de la Montaña versammelt hat. Die Anfang des 20. Jahrhunderts erbaute Kaserne wurde im Laufe der Zeit unter anderem als Militärakademie, Verteidigungsministerium und Militärmuseum genutzt. Heute pilgern die Menschen aus einem anderen Grund auf den Hügel im Westen der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Sie besuchen das Grab des am 5. März dieses Jahres verstorbenen Hugo Chávez, der Venezuela von 1999 bis zu seinem Tod regiert und verändert hat. Langsam schreiten die Menschen am Grab vorbei, einige haben Tränen in den Augen. Chávez‘ Leben wird anhand von Bildern und einer Zeitleiste erläutert. Wer will, kann in einer kleinen Kapelle unter einem Foto des Ex-Präsidenten beten, auf dem dieser ein Kreuz küsst. Viel Zeit bleibt nicht. Mitglieder der Bolivarianischen Milizen, einer von Chávez 2008 als eigener Teil der Streitkräfte gegründeten Einheit für die organisierte Bevölkerung, führen die Besucher_innen herum. „Bitte seien sie so fair und gehen sie weiter, damit die nächste Gruppe rein kann“, drängt eine von ihnen die Menschen weiter. So geht das immer, erzählt sie. „Täglich kommen hunderte, an Wochenenden sogar tausende Menschen.“
Das Cuartel de la Montaña, auch unter dem Namen Cuartel 4F bekannt, ist als Ruhestätte des Ex-Präsidenten ein hoch symbolischer Ort. Von hier aus kommandierte Chávez am 4. Februar 1992 die gescheiterte Militärrebellion gegen den damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez. Hier hielt er auch seine berühmte Kapitulationsrede, die ihn auf einen Schlag im ganzen Land bekannt machte. Die Ziele seien „vorerst nicht erreicht“ worden, ließ er damals verlauten. Und er übernahm dafür persönlich die Verantwortung in einer Zeit, in der die Politiker_innen stets jegliche Verantwortung von sich wiesen. Zum anderen liegt das Cuartel im seit jeher rebellischen Stadtviertel 23 de Enero.
Diktator Carlos Pérez Jiménez hatte in den 1950er Jahren den Architekten Carlos Villanueva damit beauftragt, gigantische Hochhausblocks mit Sozialwohnungen zu bauen. Noch vor ihrem Bezug wurde der Diktator am 23. Januar 1958 gestürzt, die künftigen Bewohner_innen besetzten die Gebäude und benannten den Stadtteil nach diesem Tag. Später entstanden zwischen den Blocks weitläufige, als barrios bekannte Armenviertel aus selbst gebauten Backsteinhäuschen. Chávez genoss hier, wo er bei Wahlen selbst immer seine Stimme abgab, immensen politischen Rückhalt.
Im 23 de Enero ist der Ex-Präsident, wie überall im Westen von Caracas, noch immer omnipräsent. Über einem der Wohnblocks des „23“ prangt eine riesige Tafel mit dem Spruch „Tú también eres Chávez“ („Auch Du bist Chávez“). Von Plakaten, Murales (Wandbildern) und Stencils blickt der comandante unausweichlich in die Augen der Vorbeigehenden. „Das Erbe, dass Chávez hinterlassen hat, ist die Verantwortung für den politischen Kampf“, sagt der Basisaktivist Juan Carlos Rodríguez. Im Prinzip seien sich alle Sektoren des Chavismus darin einig, „dass man Chávez am besten Tribut zollt, indem man diesen Kampf weiterführt.“ Rodríguez sitzt im kommunalen Haus unweit der Plaza Bolívar im historischen Stadtzentrum, das ebenfalls im Westen der Stadt liegt. Hier finden die Treffen des Kommunalen Rates Cuña de Libertador statt, in dem die Anwohner_innen über die Belange ihrer comunidad diskutieren und Projekte verabschieden, die dann von der Regierung finanziert werden. Gerade wird mit anderen Räten der Umgebung eine comuna aufgebaut – die nächst höhere Ebene der Basisorganisierung. Auch das Movimiento de Pobladores, ein Zusammenschluss stadtpolitischer Gruppen, in dem auch Rodríguez aktiv ist, nutzt die Räumlichkeiten.
Doch wenngleich die Basisorganisierung weitergeht, hat Chávez‘ Tod bei den Bewegungen tiefe Spuren hinterlassen. Meistens war er es selbst, der von Regierungsseite her Initiativen von unten aufgriff. „Wir befinden uns in einer Phase der Demobilisierung“, sagt Rodríguez nachdenklich, während er an seinem Kaffee nippt. Chávez habe aufgrund seiner Legitimität persönlich die direkte Verbindung zwischen der Regierung und der Bevölkerung hergestellt. Die chavistische Regierungsfähigkeit müsse nun „neu erfunden, neu gedacht werden.“ Der neue Präsident Nicolás Maduro habe nicht die gleiche Mobilisierungskraft und die regierende Partei PSUV (Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas) sei eher ein Wahlapparat als eine Partei der Massen. Nach dem Tod der alles überstrahlenden Führungspersönlichkeit des bolivarianischen Prozesses hätte es wohl kein Nachfolger leicht. Maduro gibt sich die größte Mühe, alles so zu machen, wie er denkt, dass Chávez es gemacht hätte. Seine Reden klingen bisweilen unbeholfen abgekupfert. Personell baut er weitgehend auf die selben Leute, die schon unter seinem Vorgänger auf ihren Posten waren, auch, um das interne Machtgleichgewicht aufrecht zu erhalten. Auf lange Sicht wird es aber kaum reichen, dem Original nachzueifern, ohne einen eigenen politischen Stil zu finden. Mitte April hatte Maduro die Neuwahl mit gut 200.000 Stimmen Vorsprung nur überraschend knapp gegen den Oppositionskandidaten Henrique Capriles Radonski gewonnen. Doch während Capriles sich politisch verkalkulierte, indem er das Ergebnis bis heute nicht anerkennt, tourte Maduro unter dem Motto „Regierung der Straße und der Effizienz“ mit seinen Minister_innen unentwegt durch das Land. Laut offiziellen Angaben hat er dabei fast 2.500 Projekte angestoßen. Seine Bemühungen werden unter Chavist_innen durchaus anerkannt, bei den Kommunalwahlen am 8. Dezember droht der PSUV und ihren Verbündeten dennoch ein Denkzettel.
Die Kandidat_innen wurden nicht durch Vorwahlen ermittelt, sondern von oben bestimmt. Das mag bei Chávez mitunter funktioniert haben, weil seine Anhänger_innen ihm vertrauten. Chavist_innen kritisieren jetzt jedoch, dass viele Kandidat_innen keinen Bezug zur Basis hätten. Auch wenn Kommunalwahlen aufgrund generell niedrigerer Mobilisierung und regionaler Unterschiede wenig über das gesamtpolitische Panorama aussagen, werden sie weitläufig als erster Stimmungstest für die Regierung Maduro wahrgenommen werden.
Hinzu kommt die angespannte wirtschaftliche Lage, die sich seit Chávez‘ Tod verschärft hat. Die Inflation wird dieses Jahr wohl bei über 40 Prozent liegen – doppelt so hoch wie 2012. Wenngleich der Mindestlohn im Jahresverlauf ebenfalls um etwa 40 Prozent erhöht wurde, trifft die Inflation vor allem die ärmere Bevölkerung. Produkte des täglichen Bedarfs wie Milch oder Toilettenpapier sind selten verfügbar und werden gehortet, sobald sie irgendwo auftauchen. Die Unternehmensverbände verweisen auf die Preisbindung, die die Regierung vielen Produkten auferlegt hat und die Schwierigkeit, US-Dollar für Importe zu erhalten. Die Landeswährung ist zum festen Kurs von 6,30 Bolívares an den US-Dollar gekoppelt. Devisenkontrollen erschweren den freien Währungshandel, auf dem Schwarzmarkt wird mittlerweile das sechsfache für einen Dollar gezahlt. Viele Venezolaner_innen nutzen die zahlreichen Schlupflöcher, um zum offiziellen Kurs erworbene US-Dollar illegal zu tauschen. Die ihnen zustehenden Devisen für Auslandsreisen oder Geldüberweisungen an vermeintliche Verwandte werden gewinnträchtig zweckentfremdet. Den Unternehmen wirft die Regierung wiederum vor, einen Wirtschaftskrieg zu entfesseln, um das Land zu destabilisieren.
Die staatlichen Betriebe können die wirtschaftlichen Lücken nicht schließen, viele sind nicht produktiv genug. Der künstlich stark gehaltene Bolívar verbilligt Importe so sehr, dass es sich weniger lohnt, etwas im Land zu produzieren. Klassische Ökonom_innen plädieren daher für eine kontrollierte Freigabe des Wechselkurses. Dies aber würde die ohnehin schon sehr hohe Inflation und die Kapitalflucht unmittelbar anheizen. Maduro hat beim Parlament am 8. Oktober Sondervollmachten beantragt, um gegen Korruption und wirtschaftliche Probleme ein Jahr lang mit Dekreten vorzugehen. In seiner Rede rief er die Bevölkerung dazu auf, die Korruption weder in den Reihen der Opposition noch innerhalb des Chavismus zu tolerieren.
In Venezuela, wo es den wirtschaftlichen Akteuren in erster Linie darum geht, sich einen Teil von den Erdöleinnahmen einzuverleiben, ist Korruption ein tief verwurzeltes Problem. Es herrsche eine „Kultur der Plünderung“, kritisiert Rodríguez. Die Regierung hingegen versuche den Anschein zu erwecken, effizient zu sein, und alles unter Kontrolle zu haben. „Sie sagt den Leuten, dass sie sich keine Sorgen machen sollen, da die Politik alles regeln wird“, sagt Rodríguez. Dies aber habe negative Effekte auf den Basisaktivismus. „Ich zweifele nicht am guten Willen der Regierung, aber diese Haltung hemmt die Mobilisierung.“ Durch die ökonomischen, politischen und medialen Angriffe der Rechten habe es der Chavismus schwer, politisch voranzukommen. Nötig sei „eine offene und kritische Debatte darüber, was schief läuft“.
Im kleinen Rahmen finden die Debatten durchaus statt. Im kommunalen Haus des historischen Zentrums hat sich das lokale Urbane Landkommitee versammelt, das sich für die Regulierung der informell entstandenen Grundstücke in den barrios engagiert. Etwa 20 Leute sitzen auf Plastikstühlen im Kreis, an der Wand hängen Wahlplakate von Chávez‘ Präsidentschaftskampagne aus dem vergangenen Jahr. Die Anwesenden diskutieren lebhaft über das ambivalente Verhältnis zu den staatlichen Institutionen. „Sie reden immer viel, aber letztlich sind wir es, die auf Veränderungen pochen müssen“, ruft einer der Teilnehmenden, den alle nur Chino nennen. Eine Neuorganisierung der chavistischen Bewegungen brauche Zeit, sagt Rodríguez, aber die politische Linie, die Chávez hinterlassen hat, sei eindeutig. Als entscheidender Akteur beim Aufbau des Sozialismus habe er schließlich „nicht die Partei oder die Regierung genannt, sondern die Basismacht.“

Schaffen wir zwei, drei, viele kanäle

Im August nächsten Jahres feiert der Panamakanal hundertsten Geburtstag. Das Meisterwerk der Ingenieurkunst ist mittlerweile in die Jahre gekommen, die Schiffe sind viel zu groß für die engen Schleusen geworden. So wird der Kanal seit Jahren für zwischen fünf und acht Milliarden US-Dollar für die Post-Panamax-Klasse fit gemacht. Auf diesen Megacontainerschiffen werden dann dreimal mehr Container Platz finden als auf den Kähnen, die heute den Wasserweg passieren. 2015 soll es so weit sein. Aber der Panamakanal wird dann möglicherweise nicht mehr konkurrenzlos sein.
Knapp einen Monat nachdem das nicaraguanische Parlament grünes Licht für den Bau eines interozeanischen Kanals gegeben hatte, erklärte auch die honduranische Regierung Anfang Juli ihre Absicht, einen „Schienenkorridor“ zu bauen, der das ganze Land zwischen den beiden Weltmeeren durchqueren soll. Und Guatemalas Präsident, Otto Pérez Molina, erklärte Mitte Juli einen solchen „trockenen Kanal“, wie eine Schienen- oder Straßenverbindung dort genannt wird, gar zum „nationalen Interesse“.
Die Bereitwilligkeit, mit der die zentralamerikanischen Regierungen plötzlich Projekte forcieren, die seit Jahren einen Dornröschenschlaf gehalten haben, zeigt, mit welchem Eigensinn die drei zentralamerikanischen Länder auf die potenziellen Gewinne des interozeanischen Handels schielen, ein Markt, den bislang weitgehend Panama dominiert. Doch die historische Passage zwischen den beiden Ozeanen ist seit Jahren gesättigt. Auch wenn die aktuellen Ausbauarbeiten abgeschlossen sind, wird der Panamakanal ein Nadelöhr bleiben. Ein teures dazu, die happigen Gebühren, die Panama für die Querung verlangt, gelten als wichtiges Argument für die Wirtschaftlichkeit der Konkurrenzprojekte.
Nicaragua hat bereits eine Betriebslizenz für 100 Jahre an die chinesische HKND-Gruppe vergeben, die im Gegenzug dafür den Bau übernehmen soll. Präsident Daniel Ortega versichert, dass das Projekt von pharaonischen Ausmaßen – mit 40 Milliarden US-Dollar sollen die Kosten mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes betragen – in zehn Jahren abgeschlossen sein und das Land aus der Armut führen werde. Bislang steht vor allem zwischen Atlantik und Nicaragua-See noch keine Route fest, vier Alternativen werden diskutiert. Chinesische Aussagen, nach denen sich der Kanal vom Karibikhafen Bluefields in Richtung Nicaragua-See durchs Land fressen soll, dementierte die Regierung Ortega. Die Opposition verurteilt das Projekt als „Nebelwand“, um den Aufmerksamkeitsfokus auf den angeblichen Zerfall des Chavismus in Venezuela zu trüben. Dessen Kooperation mit Nicaragua brandmarkt sie seit Jahren als „Treibstoff für das Ortega-Regime“.
Das Kanalgesetz sei unausgewogen und nicht verfassungskonform, sagt der Soziologe und Ökonom Oscar René Vargas. Nicaragua bekomme nur ein Prozent der Kanalaktien, wofür es aber 40.000 Quadratkilometer seines Hoheitsgebietes opfern müsse. Umweltschützer_innen wie auch das hydrologische Institut an der Autonomen Universität des Landes hatten sich bereits im Vorfeld besorgt gezeigt, dass Bau und Betrieb einer Passage für riesige Containerschiffe den Nicaragua-See als größtes Süßwasserreservoir der Region zerstören würde. Denn mit durchschnittlich 13 Metern Wassertiefe müsse dieser relativ flache See für die Schifffahrt viele Meter tief ausgebaggert werden.
Die Projekte der Nachbarn muten nicht minder wagemutig, oder wahnwitzig, an: Honduras` Präsident Porfirio Lobo unterzeichnete Anfang Juli eine Absichtserklärung mit der China Harbour Engineering Company für ein Projekt, das sage und schreibe zehn parallele Eisenbahnlinien durch das Land bauen und danach betreiben will und von dem die Regierung sich und vor allem dem Wahlvolk satte 200.000 Arbeitsplätze verspricht. Im Vergleich zu der 600 Kilometer langen Trasse wäre der Panamakanal mit gerade mal 80 Kilometern eine Kurzstrecke. Zwanzig Milliarden US-Dollar soll der Bau kosten, der auch eine Raffinerie, eine Öl-Pipeline und eine Werft beinhalten soll. Allerdings soll erst einmal eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden, frühestens in 15 Jahren könnten Container durchs Land rollen.
Guatemalas Träume wirken mit einer vierspurigen Autobahn plus Eisenbahnlinie und Pipeline zwischen Karibik und Pazifik noch verhältnismäßig bescheiden. In viereinhalb Stunden sollen die Container die 372 Kilometer breite Landenge queren können. Zwei Großhäfen sollen mit einer Kapazität ausgestattet werden, die das Handling von gleichzeitig sechs Riesenschiffen mit je 20.000 Containern erlauben würden.
Mit dem Bau des mindestens zwölf Milliarden Dollar teuren Projekts soll bereits Ende diesen Jahres begonnen werden. Mehrere zehntausend Arbeitsplätze versprechen sich die 46 Anliegergemeinden, die das Projekt unterstützen. Präsident Pérez Molina wirbt denn auch für ein Projekt, das „aus einem Land auf dem Weg zur Entwicklung ein Land machen würde, das den Weg zur Entwicklung anderer Länder“ weisen würde. Diese Aussage kann man auch negativ interpretieren, wie es unter anderem der Lateinamerikanische Rat von 200 evangelischen und evangelikalen Kirchen tut: Das Projekt bringe den ländlichen Gemeinden keinerlei Nutzen, sondern vor allem Umweltschäden, außerdem müssten 3.500 Bäuerinnen- und Bauernfamilien enteignet werden.
Der costa-ricanische Geograph Óscar Granados weist auf die geopolitische Bedeutung der Kanalbaupläne hin. Sie seien ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Monroe-Doktrin, mit der sich die USA europäischen Einfluss auf den Kontinent verbaten und Washington in der Folge als Hegemon über Lateinamerika definierten, ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt habe und dass nun China die Kontrolle über Zentralamerika an sich ziehe. Laut Evan Ellis, Autor des Buches China in Lateinamerika, habe China ein strategisches Interesse daran, sich für den Rohstoffhunger seiner Unternehmen neue Transportoptionen zu eröffnen. Europa will da nicht ganz am Rande stehen, die Pläne in Guatemala werden mit europäischem Kapital finanziert. Wie allerdings in Zukunft vier Querungen durch den Isthmus ausgelastet werden sollen, können selbst größte Optimist_innen nicht beantworten. Zumal aufgrund des Klimawandels in Zukunft die Nordost- und Nordwestpassagen zunehmend eisfrei und schiffbar sein werden.

Newsletter abonnieren