Links am Volkstribun vorbei

Vicente Fox ist es noch, Felipe Calderón demnächst und Andrés Manuel López Obrador trotzdem: Präsident Mexikos. Calderón von der konservativen Partei der Nationalen Aktion PAN, offizieller Sieger der Wahlen vom 2. Juli, wird nicht müde zu betonen, dass er alle politischen Kräfte in seine Regierung einbinden will. Damit meint er vor allem López Obrador und seine AnhängerInnen von der Partei der Demokratischen Revolution PRD, die das Wahlergebnis wegen Betrugs nicht anerkennen. Obrador verweigert jegliche Zusammenarbeit mit Calderón. Mitte September ließ sich der kurz AMLO genannte Obrador von seinen AnhängerInnen per Akklamation zum Legitimen Präsidenten wählen. In einem Radiointerview legte er dar, wie er sich seine alternative Regierung vorstellt: Es soll Abgeordnete, Kommissionen und SenatorInnen geben, Hauptsitz der Gegenregierung ist Mexiko-Stadt, aber die PolitikerInnen wollen auch reisen, um mit allen MexikanerInnen an einem neuen Projekt der Nation zu arbeiten.
Wie das genau aussehen soll, dazu hat er keine konkreten Vorschläge. Einer der greifbarsten ist es, Monopole wie das Telekommunikationsimperium des Unternehmers Carlos Slim, drittreichster Mann Lateinamerikas, zu zerschlagen. Mit seinen weiteren Plänen bleibt AMLO seinen Wahlkampfversprechen treu: Nein zu Privatisierungen, Ja zu Sozialprogrammen für die verarmte Bevölkerungsmehrheit Mexikos. Selbst die Mittelklasse will er einbeziehen. Doch wie die Gegenregierung handeln soll, ließ er in dem Gespräch im Dunkeln. Erst einmal übernimmt er am 20. November offiziell das Amt als Legitimer Präsident Mexikos. Über das Protokoll haben sich seine MitarbeiterInnen schon viele Gedanken gemacht, obwohl AMLO behauptet, der Trubel interessiere ihn gar nicht.

Solidarität mit Oaxaca

Die Demokratische Nationalversammlung (CND), die Obrador per Akklamation zum Präsidenten erklärte, besteht aus vielen kleinen Gruppen, die in den Bundesstaaten Basisarbeit leisten. Sie entwickeln konkrete Vorschläge, wie ein besseres Mexiko aussehen soll. Dies sei die eigentliche Stärke der Bewegung, betonte ein Kommentator der linken Tageszeitung La Jornada. Viel wichtiger als ein Gegenpräsident sei eine starke Organisation aus dem Volk, die eigene Alternativen entwickle. Dabei sei es wichtig, so der Kommentar weiter, sich mit anderen Organisationen zu verbünden. Er meint damit vor allem die Versammlung der Völker Oaxacas (APPO), die aus einem LehrerInnenstreik entstanden ist und in der Hauptstadt des südlichen Bundesstaates seit Wochen Medien- und Regierungsgebäude besetzt hält. Die Protestierenden, die den Rücktritt des Gouverneurs fordern, befürchten, dass die Regierung demnächst die Bundespolizei losschicken wird, um die Proteste gewaltsam zu beenden (siehe Artikel Die Stille vor dem Schuss). Die CND müsse sich laut dem Jornada-Kommentator solidarisch erklären mit der APPO. „Ebenso wie wir alle ZapatistInnen waren, müssen wir nun alle APPO sein“, fordert er. Tatsächlich ähnelt das Programm der Protestbewegung um López Obrador zum Teil der Anderen Kampagne, die das Zapatistische Befreiungsheer im vergangenen Jahr ins Leben rief.
Seit Januar tourte das Sprachrohr der Bewegung, Subcomandante Marcos, durch die mexikanischen Bundesstaaten, um den MexikanerInnen zuzuhören und Organisationen zu vernetzen. Allerdings war die Andere Kampagne schon immer eine Bewegung jenseits der etablierten Politik (siehe Artikel Wer, wenn nicht wir?). Nach einer fünfmonatigen Pause in Mexiko Stadt reiste die ZapatistInnen-Delegation um den Comandante Null Marcos Anfang Oktober in den Norden weiter. Marcos kritisierte zwar ebenfalls den Wahlbetrug, doch stellte er klar: „Die Bewegung Obradors ist kein Weg für uns.“

Geschacher im Parlament

Für die außerparlamentarische Opposition brauchen die ZapatistInnen Obrador nicht und die Institutionen interessieren sie nicht. Innerhalb dieser Institutionen loten die Parteien derzeit ihre Möglichkeiten aus. Der Gouverneur von Oaxaca ist von der ehemaligen Staatspartei PRI. Daher vertreten manche Kommentatoren die Ansicht, dass die PAN-geführte Regierung gar nichts gegen seinen Rücktritt hätte. Warum sie ihn dennoch schützt, habe mit der Mehrheit im Kongress zu tun. Denn dort ist Calderón auf Bündnisse angewiesen, um handlungsfähig zu sein. Und die PRI unterstützt die Konservativen nicht immer. Anfang Oktober lehnten die PRI-Abgeordneten, ebenso wie die der PRD, Calderóns Agenda der Gesetzesentwürfe schlichtweg ab. Er wird also in Verhandlungen beweisen müssen, wie offen er wirklich für die Ideen der anderen Parteien ist.
Im Abgeordnetenhaus ist die PRD die zweitstärkste Fraktion. Die Abgeordneten sind bereits überein gekommen, dass sie Calderóns Präsidentschaft nicht anerkennen. Allerdings nicht ohne interne Querelen: Ein Teil der PRD schließt nicht mehr aus, mit der PAN-Regierung zusammen zu arbeiten. Die Gruppe um den Senatssprecher Navarrete nennt sich Neue Demokratie. Die PRD-Fraktion konnte sich zwar einigen, geschlossen Calderón als Präsidenten abzulehnen, doch auf Dauer könnte die Fraktion sich spalten.
Im Senat hingegen haben die Kontrahenten PRD und PAN sich erfolgreich gegen die PRI zusammengeschlossen: Sie beschlossen, aus dem Hauptstadtdistrikt einen autonomen 32. Bundesstaat zu machen. „Calderón hat uns angewiesen, in dieser Angelegenheit die Hauptstadt und die PRD zu unterstützen“, erklärte PAN-Senatsmitglied Federico Döring die Entscheidung.
Im Senat ist sozialdemokratisch-rechtsliberale Zusammenarbeit also möglich, auf der Straße nicht. Doch ist es schizophren, einerseits auf dem Zócalo zu zelten und die Institutionen zu kritisieren und andererseits im Parlament zu verhandeln? Auf diese Frage hatte AMLO im Radiointerview schnell eine Antwort: Nein. Im Gegensatz zum Präsidenten sei der Kongress ordentlich und ohne Betrug gewählt. Zudem haben ja die Abgeordneten mit der Exekutive praktisch nichts zu tun. Gleichzeitig wolle er seine Regierung nicht mit der Partei gleichsetzen. Die Nachfrage, ob er dann nicht Angst habe, alleine zu bleiben, beantwortete er ebenfalls mit einem klaren Nein. Schließlich stehe das Volk hinter ihm.

Wer ist das Volk?

Das ist AMLOs Legitimationsbasis: Er vertritt „das Volk“, das bei dem Wahlbetrug um sein Recht gebracht wurde, demokratisch zu entscheiden. AMLOs Gegenregierung will allen die Möglichkeit bieten, mit zu entscheiden. Nicht nur seine politischen Gegner, auch viele Intellektuelle unterstellen AMLO daher inzwischen, wie ein Volkstribun aufzutreten. Der Historiker Krauze erinnerte daran, dass zum Volk alle MexikanerInnen gehören, auch jene, die entweder Calderón oder gar nicht gewählt haben. Das waren immerhin um die 60 Prozent. Es sei also nicht „das Volk“, das hinter AMLO stehe, sondern einfach ein Teil aller MexikanerInnen, so Krauze.
Während AMLO vom Volk spricht, setzt Calderón seit den Wahlen vor allem auf nationale Einheit und Integration. Er versucht, Themen der PRD wie Armutsbekämpfung in seinem Programm stark zu machen, um an Legitimation zu gewinnen. Gegenüber der chilenischen Tageszeitung Mercurio kündigte er sogar an, er wolle AMLO „links überholen“. Im Wahlkampf hatte er dessen Vorschläge für eine sozialverträglichere Politik noch als gefährlichen Populismus diffamiert. Dass ihm jemand den Wandel hin zu sozialer Politik abnimmt, ist fraglich.

Die Stille vor dem Schuss

Das Flugzeug ist leer. Die US-Amerikanerin Linda Haskell ist an diesem Oktobertag die einzige Passagierin an Bord des Aviacsa-Fluges von Tuxtla Gutiérrez (Chiapas) nach Oaxaca. Sie will sich dort mit einigen Freunden für ein verlängertes Wochenende treffen. Lange haben sie darüber diskutiert, ob das eine so gute Idee sei. Gerade jetzt. Niemand weiß genau, was in der gleichnamigen Hauptstadt des Bundesstaates Oaxaca gerade abläuft – eine neue Revolution? Oder der Beginn einer blutigen Repression?

Eine Stadt steht still

María hat die Jungfrau Guadalupe immer vor Augen. Direkt vor ihrer Barrikade aus Sandsäcken steht ein kleiner Altar. Die sechs Frauen aus der Gebirgsregion Oaxacas haben sich in Decken gewickelt und stehen um ein kleines Feuer. Sie alle sind Lehrerinnen in kleinen Dörfern und Gemeinden. Seit über einem Monat halten sie bereits Wache in der Innenstadt Oaxacas. Hinter quer gestellten Bussen, ausgebrannten Autos und Büscheln aus Stacheldraht warten sie darauf, dass hoffentlich nichts passieren wird. Denn jede Nacht verwandeln sich die Straßen Oaxacas in ein Schlachtfeld auf Standby.
„Wir haben keine Angst. Wir kämpfen für eine gerechte Sache“, sagt Maria, die Mixteco und Spanisch in einer Schule unterrichtet, die mehr als fünf Stunden Fußmarsch von der nächstgelegenen größeren Straße entfernt liegt. Die Kinder kommen hungrig zum Unterricht, die meisten haben nicht einmal einen Stift und Papier. Einen Großteil ihres Gehaltes gibt sie deshalb für Schulutensilien und Tortillas aus: „Wie kann man von Kindern erwarten, dass sie etwas lernen, wenn sie nichts im Magen haben?“

Regierung des Volkes

Der Konflikt in Oaxaca begann am 22. Mai, als LehrerInnen des mexikanischen Bundesstaates für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen in Streik traten. Sie forderten ein kostenloses Frühstück und eine Grundausstattung an Schulsachen für alle Kinder. Doch der amtierende Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz weigerte sich, mit der LehrerInnengewerkschaft zu verhandeln und schickte stattdessen die staatliche Polizei als Antwort. Am 14. Juni räumte diese den Hauptplatz von Oaxaca mit Tränengas und Schlagstöcken (LN 385/386). Laut Zeitungsberichten wurden hunderte DemonstrantInnen verletzt.
Doch nur Stunden später schafften es die streikenden LehrerInnen, zusammen mit der Unterstützung wütender AnwohnerInnen, die Polizei aus der Innenstadt zu vertreiben. Über 80 verschiedene Organisationen – indigene Gruppen, Gewerkschaften, Stadtteilzentren – gründeten daraufhin die Volksversammlung des Volkes von Oaxaca, kurz APPO (Asamblea Popular del Pueblo de Oaxaca) genannt. Ihre Hauptforderung: Der Rücktritt von Gouverneur Ruiz. Er wird verantwortlich gemacht für schwere Menschenrechtsverletzungen, Bereicherung und Misswirtschaft in einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos. 73 Prozent der oaxaceñ@s leben in extremer Armut. Sie müssen mit weniger als 2000 Pesos (knapp 150 Euro) monatlich auskommen. 80 Prozent der Gemeinden haben kein Trinkwasser, keine Kanalisation, keine geteerten Straßen. Und in den meisten Fällen erreicht die staatliche Hilfe aufgrund von Korruption und bürokratischen Hürden die notleidenden Dörfer nie.
Seit dem Polizeieinsatz vom 14. Juni befindet sich nicht nur die Hauptstadt, sondern ein Großteil Oaxacas im Aufruhr. Es ist nicht mehr nur die Sache der LehrerInnen, es geht um Gerechtigkeit für das gesamte Volk. Hauswände sind mit politischen Graffiti bedeckt, Radiosender wurden besetzt, politische Gebäude belagert.

Repression – eine Frage der Zeit?

Es herrscht Umbruchstimmung. Der Menschenrechtsaktivist Octavio Limón aus Chiapas sieht in dem Aufstand im benachbarten Oaxaca die Möglichkeit einer wirklichen sozialen und basisdemokratischen Veränderung – ohne Machtstrukturen, ohne comandantes – eine Bewegung von unten. „Das ist der Grund dafür, warum die Andere Kampagne der zapatistischen Bewegung in Oaxaca kaum Zuspruch findet und warum Marcos bislang nicht zu Hilfe geeilt ist“, ist er sich sicher.
„Ich will mit eigenen Augen sehen, was passiert“, sagt Linda vor ihrem Abflug. Die meisten Flüge sind bereits abgesagt worden, viele Busverbindungen gestrichen. Kaum jemand hat noch Interesse in das Krisengebiet zu reisen. „Für eine Stadt, die praktisch vom Tourismus lebt, muss das den totalen Stillstand bedeuten“, mutmaßt die US-Amerikanerin. Und tatsächlich: leere Straßencafés , leere Hotels, leere Souvenirläden. Die Ruinen von Monte Albán: wie ausgestorben. „Nomalerweise haben wir hier rund 500 Besucher täglich“, erzählt ihr der Mann an der Kasse. Heute ist Linda erst die 14. Touristin, die ein Ticket löst, und es ist schon später Nachmittag. Der mexikanische Tourismusverband rechnet mit bislang rund 10.000 Stornierungen europäischer Reiseunternehmen – eine Katastrophe für die Kolonialstadt, eines der Hauptreiseziele für Mexiko-TouristInnen. Jetzt sind die Straßen leer. Zumindest ohne TouristInnen. „Es ist alles ganz still. Wie vor einem Sturm“, beschreibt Linda.
Die MarktverkäuferInnen sind verzweifelt. Kaum jemand kommt noch vorbei. Die Preise fallen in den Keller. „Wovon sollen wir leben?“, fragt eine Mutter dreier Kinder, die auf ihren buntbestickten Tüchern sitzen bleibt. Der Konflikt polarisiert die Stadt. „Wir sind auf der Seite der Streikenden“, sagt die Besitzerin eines Bed-and-Breakfast-Hotels. „Aber das dauert jetzt schon zu lange, viele Hotels mussten bereits schließen. Der Streik treibt uns in den finanziellen Ruin.“ Und so hoffen viele AnwohnerInnen bereits auf ein Ende des Ausnahmezustandes. Jeden Tag nehmen die Gerüchte zu, dass der Staat bald brutal eingreifen wird.
Dass es zu einer staatlichen Repression mit den möglichen Ausmaßen der brutalen Polizeiübergriffe in San Salvador Atenco am 4. Mai dieses Jahres kommt, darüber sind sich BeobachterInnen aus Chiapas einig. Auf den Straßen von San Cristobal de las Casas wird nur darüber spekuliert, welchen Vorwand die Regierung unter Fox benutzen wird, um dem Aufstand in Oaxaca ein Ende zu bereiten.

Agents Provocateurs

„Ich denke, sie werden versuchen, die Bewegung zu unterwandern, um Gewalt zu provozieren“, mutmaßt der Menschenrechtsaktivist Octavio Limón. „Und das wird wahrscheinlich noch vor dem Amtsantritt von Felipe Calderón passieren – Präsident Vicente Fox wird ein sauberes Amtszimmer hinterlassen wollen.“
Mitte September reiste eine Delegation des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) aus Chiapas nach Oaxaca, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Das Militär habe seine Präsenz in weiten Teilen des Bundeslandes verstärkt, heißt es in ihrem Situationsbericht. Das Militär mache sich dabei die Meldungen über mögliche Aktionen von Guerilla-Zellen der ERP (Revolutionäre Volksarmee) zu Nutze – nachdem die staatliche Regierung die APPO bereits als urbane Guerilla bezeichnet habe. Nach Einschätzung des Menschenrechtszentrums der ideale Vorwand für die Regierung, Oaxaca weiter zu militarisieren und die Bevölkerung einzuschüchtern. Die Gewalt in Oaxaca sei „systematisch“ und „institutionalisiert“, so das Frayba. „Viele dieser Menschen sind zum ersten Mal politisch aktiv und machen gerade ihre ersten Erfahrungen auf der Straße“, erklärt der Bericht.
Die gesammelten ZeugInnenaussagen zeigen, dass sich die Einschüchterungsversuche, Drohungen, Attacken und sogar Entführungen gegen jeden richten können, der sich aktiv an der Bewegung der APPO beteiligt – und sei es nur durch die Versorgung der Streikenden auf dem Hauptplatz mit Lebensmitteln. AktivistInnen berichten von ständiger Überwachung durch zivile PolizeibeamtInnen. Vier Familien haben daraufhin ihre Häuser verlassen, aus Angst um ihr Leben. Mehrere APPO-Angehörige sind von der Polizei ohne Angabe von Gründen verhaftet und gefoltert worden, heißt es in dem Bericht. Ende August schossen Unbekannte auf ein Protestcamp in der Nähe eines besetzten Radiosenders und töteten den 52-jährigen Lorenzo Cervantes. Seit dieser Nacht ist die APPO stets in Alarmbereitschaft und im gesamten Stadtzentrum wurden Barrikaden gebaut.

Militarisierung von oben

Die Situation in Oaxaca scheint sich täglich zu verändern. Ein landesweites Warten hat begonnen. Warten auf eine Lösung, von der kaum jemand noch glaubt, dass sie friedlich sein wird. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Volksbewegung sich ihrer nächsten Schritte unsicher ist. Rund 4.000 Angehörige der APPO hatten sich Mitte September aus Protest gegen die gescheiterten Verhandlungen mit der Regierung auf den Weg nach Mexiko-Stadt gemacht, verzögerten aber aus Sicherheitsgründen immer wieder die Ankunft des Protestmarsches.
Die Vorbereitungen für eine staatlich verordnete Repression scheinen bereits auf Hochtouren zu laufen. Ruiz rief die Fox-Regierung dazu auf, die präventive Bundespolizei (PFP) nach Oaxaca zu schicken. Diese Eliteeinheit ist hauptverantwortlich für die schweren Menschenrechtsverletzungen in Atenco. Mittlerweile befinden sich Zeitungsberichten zufolge bereits rund 20.000 Polizei- und Militärkräfte im Bundesstaat Oaxaca. Es ist der größte Militäreinsatz Mexikos seit dem zapatistischen Aufstand in Chiapas im Jahre 1994.
Am Samstag, den 1. Oktober, kreisten Helikopter der Marine über der Hauptstadt Oaxacas. „Wir sind Gefangene in unserer eigenen Stadt. Kommt und räumt endlich auf!”, schrie eine Passantin gen Himmel, so ein Augenzeuge. Aus einigen Fenstern hängen weiße Fahnen, die Farbe der bundesstaatlichen Regierungspartei PRI. Aus anderen weht die mexikanische Fahne, Zeichen der APPO-UnterstützerInnen. An den meisten Häusern hängt überhaupt nichts. Die meisten warten nur. Angespannt. Doch Tausende sind bereit zu kämpfen und es nicht zu einem zweiten Atenco kommen zu lassen. Und Angehörige der Oppositionskampagne „Nationale Demokratische Konvention“ von Andrés Manuel López Obrador (PRD) riefen dazu auf, nach Oaxaca zu reisen und als „menschliche Schutzschilde“ zu agieren.

Kuhhandel abgelehnt

„Am 1. Oktober dachten wir alle, es würde losgehen. Ich hatte kalte Schweißausbrüche, wie wahrscheinlich alle anderen auf dem Platz“, erzählt Pedro Pinedo, der seit Wochen zusammen mit nationalen und internationalen JournalistInnen in Oaxaca ausharrt. „Aber nichts ist passiert.“ Pinedo hat deshalb für sich eine andere Theorie entwickelt. „Es wäre wahrscheinlich das am besten dokumentierte militärisch-polizeiliche Einschreiten in der Geschichte Mexikos. Calderón wird wissen, dass er im Falle einer Repression gleich wieder seinen präsidialen Hut nehmen kann.“ Die Marine und der mexikanische Geheimdienst CISEN hätten bereits gute Arbeit geleistet, die Bewegung einzuschüchtern, aber es werde nicht zu einer brutalen Niederschlagung kommen, glaubt Pineda. Zumindest nicht im Moment, zumindest nicht so sichtbar, dass es einer Hypothek auf die Zukunft des kommenden Präsidenten gleichkomme.
Gouverneur Ruiz hegt unterdessen keine Rücktrittsgedanken, obwohl er von der revolutionären Regierung in Oaxaca als abgesetzt erklärt worden ist. Er will stattdessen LehrerInnen durch Militärpersonal ersetzen, sollte der Streik weiter andauern. Unklar ist, wie er die rund 70.000 fehlenden LehrerInnen tatsächlich finden will. Trotz der Drohung des Gouverneurs, das Feuer auf LehrerInnen zu eröffnen, die nicht zum regulären Unterricht erscheinen, waren Anfang Oktober von 14.000 Schulen nur rund 1.800 geöffnet.
Auch die PAN-Regierung in Mexiko-Stadt scheint nicht an einem Weiterregieren des politischen Parteikontrahenten Ruiz interessiert zu sein. Innenminister Carlos Abascal machte der APPO Anfang Oktober einen seltsamen Vorschlag. Er forderte die Volksbewegung von Oaxaca auf, den föderalen Polizeieinheiten der PFP die Hauptstadt Oaxaca zu übergeben. Im Gegenzug sei das Innenministerium beim Verfahren im Senat über die Absetzung von Gouverneur Ruiz behilflich. Nach Vollversammlungen hatte die APPO diese friedliche Übernahme jedoch abgelehnt. Das käme einem „ersten Schritt zur Militarisierung Oaxacas“ gleich, zitiert die Zeitung La Jornada APPO-Koordinationsmitglied Flavio Sosa Villavicencio am 8. Oktober. Doch der erste Schritt ist längst getan. Der Staat zeigt seine Muskeln. Polizei, Marine und Heer sind aufmarschiert. Und warten nur noch auf ein Zeichen.

Wer, wenn nicht wir?

Es ist still geworden um die Zapatistas. Das große Rauschen im internationalen Blätterwald ist ohnehin schon kurz nach ihrer Erhebung im Januar 1994 verklungen. Doch auch in den globalisierten Netzen einer radikalen Marktkritik fungieren die Aufständischen aus dem mexikanischen Südosten zunehmend als Ikone und moralische Referenz, kaum mehr als Akteure und Akteurinnen. Und selbst auf der innenpolitischen Bühne, der politischen Zerreißprobe nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom Juli 2006, sind sie die großen Abwesenden.
Da kommt John Holloway, in Gestalt der von Jens Kastner editierten Textsammlung „Die zwei Zeiten der Revolution“, gerade recht. Der Politikwissenschaftler ist kein Megastar der linken Academia, erst recht kein Salon- oder Poplinker, der die Zapatistas – wie es lange zum guten Ton eines aufgeklärten Weltbürgertums gehörte – en passant ins eigene Repertoire einbaut. Holloway, der 1947 in Dublin geboren ist und seit 1993 im mexikanischen Puebla Politische Wissenschaften lehrt, hat sich der Zapatista-Bewegung seit Anbeginn mit politischer wie theoretischer Neugier, und ohne allen Opportunismus, genähert. Deren Neu- und Eigenartigkeit nimmt er als Herausforderung für die Revision linker Theoriebildung jenseits binärer, linear und identitär angelegter Denk- und Diskursordnungen. Zugleich unterläuft dieses Vorhaben den Reflex der „Solidarität“ mit fernen Befreiungsbewegungen, an deren Stelle treten Fragen der „Resonanz und Inspiration“. In seinem Versuch der Querkopplung zwischen einer theoretischen und einer politisch-strategischen Praxis gilt John Holloway somit zurecht als einer der wenigen (wenn nicht gar: der einzige) Theoretiker des neuen Zapatismus. Davon zeugte schon der Band, der 2002 in deutscher Sprache unter dem Titel „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ erschienen war und in dem zentrale Elemente der Hollowayschen Macht- und Staatstheorie vorgestellt werden. Das neu erschienene Bändchen von Kastner versammelt sieben neuere, diesmal explizit auf die EZLN bezogene Essays, die – bis auf einen frühen Grundlagentext – zwischen 2002 und 2005 verfasst wurden.

Zapatismus als Rätedemokratie

Ein Herzstück für Holloways Theorie wie für die zapatistische Praxis ist die „Abkehr von der linken Staatsillusion“, also die Vorstellung vom Staat als zentraler Sitz einer zu erstürmenden und revolutionär zu wendenden Macht. Dagegen denkt der Autor Staat als immer wieder von neuem produziertes Machtverhältnis, der nur durch Verweigerung und den Aufbau horizontaler Querstrukturen zum Einsturz zu bringen ist. Dass die Zapatistas genau dies tun, also vertikale Parteiapparate ablehnen und auf horizontale Selbstorganisation setzen, wird von Holloway in der Tradition der rätedemokratischen Kritik am Parteimodell der Revolution eingeordnet, von der Pariser Komune bis zu den Sowjets. Die glasklare Unterscheidung – hier die „instrumentelle“, hierarchische Partei mit dem einzigen Daseinsgrund der Machterlangung, dort das basisdemokratische und „expressive“ Rätesystem, das existierende Bedürfnisse und Fähigkeiten „zum Ausdruck“ bringt – ist natürlich eher normativ als realitätsbeschreibend. Doch durch die historische Rückkopplung gibt Holloway den Zapatistas, oftmals des Voluntarismus gescholten, eine politische Geschichte zurück.
Dass er dabei den Begriff der Macht so elegant in seine zwei Sinnvarianten zerlegen kann, ist der spanischen Grammatik zu verdanken: das Substantiv poder (Macht) bezeichnet einen Zustand bzw. eine Fakultät des Machthabens über (poder sobre), das Verb poder (können) hingegen einen schöpferischen Prozess (poder hacer). Diese Zerlegung in den instrumentellen und den kreativen Bestandteil der „Macht“ legt allerdings eine Gegenüberstellung von Macht und Kreativität nahe, die irreführend wäre. Denn wie Jens Kastner treffend bemerkt, sind schöpferische Potenziale längst – siehe das furchtbare Wort von den creative industries – den marktgängigen Verwertungsprozessen einverleibt.

Wer ist wir?

Auch die immer wieder neu gestellten Fragen, wer denn nun das Subjekt einer schöpferischen Befreiung sei und, damit eng verwoben, wie es mit der Identität des Wir bestellt ist, werden von Holloway abseits des Kanons von klassischer Revolutionstheorie und Identitätspolitik beantwortet. Nicht Arbeiterklasse oder Lumpenproletariat, aber auch keine indigene oder wie auch immer geartete Avantgarde aus besonders Geknechteten, sondern: „wir alle“. Das in der Tat „merkwürdige“ zapatistische Credo, dass das Rebellische das eigentlich „Normale“ im Menschen sei, gebiert bei Holloway eine geradezu überschäumende Metaphorik: die Menschen seien „ausbruchsbereite Vulkane“, die zwar an der Oberfläche mit einer Zuschreibung – einer Identitätsmaske – ausgestattet sind, unter der aber die Kraft der Nicht-Identität, des Überbordenden und Entgrenzenden schlummere. Es geht also nicht um revolutionäre Pädagogik, sondern darum, jenes „Wissen zum Vorschein bringen, das bereits vorhanden ist“. Darin klingt nun allerdings eine neue Art Essenzialismus auf, der so etwas wie die rebellische Natur des Menschen beschwört, die quasi nur zum Leben erweckt werden müsse, um zur Selbstbefreiung zu schreiten.
Durchaus bedenkenswert ist daher der Einwand Kastners, dass ein solches idealistisches Wir dazu neigt, vorhandene Unterschiede einer „immensen Homogenisierungsleistung“ zu unterwerfen. Unerklärbar bleibe in einem solchen Modell das weithin zu konstatierende offensichtliche Einverständnis der meisten Menschen mit den Verhältnissen, in denen sie leben. Zum Einebnen von Unterschieden neigen jedoch noch alle politischen Wir-Konstrukte, in der traditionellen Linksrhetorik zumeist in der Figur des „Volkes“ verschmolzen. Von diesem Rekurs auf das „Volk“ – etwa in der gegenwärtigen Massenmobilisierung um den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Andres Manuel López Obrador – aber unterscheidet sich das Wir des Zapatismo dadurch, dass es variabel und primär diskursstrategisch motiviert ist. Kein „kämpfendes Kollektivsubjekt“ wird hier behauptet, in dem schon alle Menschen verbündet wären, sondern ein möglicher Ort, der eine potenzielle Fusion antizipiert, etwa in der berühmtgewordenen Sentenz: „Detrás de nosotros estamos ustedes“, gegen alle Regeln der Grammatik verstoßend und letztlich unübersetzbar, „hinter uns stehen wir“.
Die von Holloway postulierte „Macht der Nicht-Identität“ läuft auf ein anti-essentialistisches Politikverständnis hinaus: Zuschreibungen verweigern, Erwartungen unterlaufen, binäre Gegenüberstellungen sprengen.

Poetik des Widerstands

Für eine solche Strategie steht nicht mehr die Frage des Eigentums, etwa an Produktionsmitteln, im Vordergrund, sondern Prozesse der (Rück)Aneignung. Sich die Produkte des eigenen Tuns rückerobern, darin besteht nach Holloway menschliche „Würde“, das so aus einem eher theologischen in ein rebellisches Repertoire umgekoppelt wird. Solche „Räume der Würde“ sind nun nicht mehr revolutionäre Verheißung, in ferner, linear oder dialektisch aus dem Heute hochgerechneter Zukunft, sondern wurzeln stets in der Gegenwart. Es entsteht so etwas wie eine neue dialektische Formel: „leben im, gegen und über den Kapitalismus hinaus“ und zwar in dessen realexistierenden „Zwischenräumen“, hier und heute.
Diese Strategie, die vermutlich eher als Haltung zu bezeichnen wäre, kommt nicht ohne Pathos („Schrei des Protests“) aus. Zudem ist sie von einer leicht größenwahnsinnig anmutenden Selbstüberschätzung durchdrungen, die in allerhand forschen Behauptungen mündet: „wir bringen das Kapital dazu, unserer Agenda zu folgen“ oder, in origineller Umkodierung des Schreckensbegriffs Kapitalflucht, „das Kapital flieht vor unserer Würde“. Erstaunlich liest sich auch der Befund, die Zapatistas würden „den Staat gelassen hinnehmen“, ihm gar „den Rücken zukehren“, um „ihr eigenes Ding“ zu machen – eine allzu entspannte Sicht, die Zwänge negiert und zudem die Möglichkeit einer nicht-kapitalistischen Parallelwelt suggeriert. Doch es geht ihm auch gar nicht um den „instrumentellen Realismus“, den der Autor Realpolitikern jeder Coleur zurecht unterstellt, sondern vielmehr um eine Poetik des Widerstands, als „Kampf gegen die prosaische Logik der Welt, Poesie als der Ruf einer Welt, die noch nicht existiert“.

Kurswechsel der „Anderen Kampagne“

Die „Zapatistas ernst nehmen“, das heißt für Holloway auch, sie beim Wort nehmen, weiterdenken, kritisieren. Nicht alles, was die Aufständischen in die politische Umlaufbahn gebracht haben, ist in den überregionalen Diskursräumen auf Resonanz gestoßen. Ohne großes Echo blieben etwa die militaristische Ikonographie oder die nationalistische Rhetorik. Hochinteressant wäre es zu erfahren, wie der Zapatismo-Theoretiker die „andere Kampagne“, den jüngsten Versuch der Grenzüberschreitung, wertet.
Nach der Verstümmelung der Gesetzesreform über indigene Autonomien hatte sich die EZLN zurückgezogen und mit dem Aufbau regionaler Regierungsräte, den sogenannten juntas de buen gobierno, begonnen. Jahrelang waren die Zapatistas, bis auf kürzere Intermezzi, von der politischen Bühne verschwunden, bis sie Anfang 2006 landesweit eine neue Offensive starteten: die otra campaña sollte, parallel zu den Wahlkampagnen der Präsidentschaftskandidaten, eine antikapitalistische Bewegung „von links und von unten“ begründen. Dabei aber zeichnet sich ein signifikanter Kurswechsel ab: War es zuvor stets, wie Holloway an anderer Stelle einmal schrieb, um „anti-definitorische“ Strategien gegangen, so wurde diesmal strengstens definiert, wer die wahren Linken bzw. Antikapitalisten sind. Das systematische Zweifeln weicht neuen Gewissheiten, breite Brückenschläge klaren Grenzziehungen, paradoxe Poetik den altbekannten Formeln einer linksradikalen Rhetorik. Dabei entstehen ebenso neue wie bestürzende Allianzen. Ein sichtbares Beispiel war der Marsch durch das Zentrum von Mexiko-Stadt, zu dem Marcos und die otra campaña – die bislang gerade 3.000 AnhängerInnen (adherentes) hinter sich versammelt – just am Wahlsonntag im Juli 2006 aufgerufen hatten. Ein paar hundert Meter hinter dem Subcomandante marschierte, immerhin wohl ans Ende des Zuges verbannt, eine Delegation der kommunistischen Jugend, rote Fähnchen mit Hammer und Sichel schwenkend. Direkt vor ihnen recken junge Männer vier riesige Standarten mit altbekannten Gesichtern in die Luft. Es sind die Herren Marx, Engels, Lenin – und Stalin.

Idee einer revolutionären Entschleunigung

Einiges spricht zudem dafür, dass der zapatistische Funken im Sinne einer „anderen politischen Rationalität“ sich heute weniger denn je in der mexikanischen Öffentlichkeit entzündet, dafür aber, abseits aller medialen Wahrnehmbarkeit, andernorts auf Nischen übergesprungen ist. Holloway nennt diese Art der Resonanz in anderen kulturellen Kontexten „urbanen Zapatismus“. Dies gilt etwa für das städtische Argentinien, in dem sich in der Folge des Krisencrashs im Dezember 2001 eine Reihe sozialer Laboratorien aufgetan haben, bei der Selbstorganisation von Arbeitslosen, der barrio-Demokratie der Stadtteilversammlungen oder in selbstverwalteten Fabriken. Doch auch in Argentinien ist der Krisenlärm, im Jahre fünf nach der politischen und ökonomischen Implosion, längst einem Sound der Normalisierung gewichen. Was bleibt, ist die Idee einer revolutionären Entschleunigung, eben die „andere Zeitlichkeit“, von der Holloway schreibt. Als „Fußgänger der Geschichte“ beschreibt Subcomandante Marcos die otra campaña und rekurriert dabei auf eine Metaphorik der Tiefe, des „Kellers“, also des gleichsam Unterirdischen und Unsichtbaren. Doch mit fehlender Sichtbarkeit verengen sich auch Resonanzräume, die überbordende Maßlosigkeit („eine neue Welt schaffen“) droht zu Selbstbezogenheit und politischem Autismus zu werden. „Wir wollen die erreichen, die so sind wie wir“, heißt es in dem Marcos-Kommuniqué vom September 2006. Einst war es darum gegangen, gerade die Anderen zu erreichen.
Doch zuweilen lösen sich Ideen von ihren Urhebern, politische Prinzipien von ihren Protagonisten. Resonanz als Treibstoff der Bewegung meint mehr als Echo, als mehr oder weniger verzerrter Widerhall, sondern Aneignung, Übersetzung und Weiterdenken.
In diesem Sinne wäre auch die gegenwärtige Stille und Enge um die Zapatistas, folgt man zumindest dem optimistischen Blick John Holloways, nicht automatisch gleichbedeutend mit dem Verschwinden eines libertären und anti-identitären Zapatismo.

John Holloway: Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas.
Aus dem Englischen und Spanischen übersetzt und eingeleitet von Jens Kastner.Verlag Turia + Kant, Wien 2006, 110 Seiten, 10 Euro.

Die ungekürzte Version dieses Beitrags erscheint demnächst in: Lateinamerika Analysen 14, Institut für Iberoamerika-Kunde (IIK) Hamburg.

Rohrstock von oben

Es ist einfach unlogisch, dass sie mit 3.000 PolizistInnen 40.000 streikende LehrerInnen räumen wollten. Sowas kann man nur mit Waffen schaffen.“ So kommentierte die oppositionelle Strömung (CNTE) der mexikanischen Lehrergewerkschaft (SNTE) den brutalen Polizeieinsatz in Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats im Süden Mexikos, bei dem am 14. Juni über 90 Menschen verletzt wurden. Nach Angaben des unabhängigen Medienzentrums in Mexiko-Stadt CML und eines öffentlichen Krankenhauses in Oaxaca wurden sechs DemonstrantInnen getötet. Die CNTE berichtet von über 100 Festnahmen und mehreren Verschwundenen. Nach offiziellen Angaben hingegen waren in Oaxaca am Tag der gescheiterten Räumung zwölf Streikende festgenommen worden.
Mit dem Streik wollen die VertreterInnen der CNTE ihrem Anfang Mai veröffentlichten Forderungskatalog nach besseren Lehrbedingungen und höheren Löhnen Nachdruck verleihen. Denn der Tourismusboom in dem herausgeputzten Kolonialidyll Oaxaca hat in den letzten Jahren auch die Lebenshaltungskosten in die Höhe getrieben, die ein einfaches LehrerInnengehalt nicht mehr abdeckt. Die PädagogInnen klagen über zu hohe Beförderungstarife, baufällige Schulgebäude und mangelnde Lehrmittel. Außerdem fordern sie für alle SchülerInnen ein kostenloses Frühstück, da viele durch die prekäre finanzielle Lage ihrer Familien nicht ausreichend zu essen bekämen.
Der Gouverneur des Bundesstaates Ulises Ruíz (PRI) versprach eine schnelle Antwort. Als diese ausblieb, schlossen die GewerkschafterInnen im Mai über 14.000 Schulen, besetzten zeitweilig wichtige Verkehrswege, einen halben Tag lang den regionalen Flughafen und anschließend mehr und mehr Straßen und Plätze im Zentrum Oaxacas. Soziale Organisationen, das zapatistische Netzwerk Oaxaca, dissidente Flügel anderer Gewerkschaften und weite Teile der Bevölkerung solidarisierten sich mit den protestierenden LehrerInnen und SchülerInnen. Anfang Juni zogen über 150.000 Menschen durch die Straßen der Bundeshauptstadt und forderten den Rücktritt von Gouverneur Ruíz. Dieser versicherte tags darauf bei einem Treffen mit örtlichen UnternehmerInnenn, mit „harter Hand“ gegen die Streikenden durchzugreifen und forderte die LeiterInnen der ihm unterstellten Polizeieinheiten dazu auf, „die Scheiße aus ihnen rauszuprügeln“.

Untergeschobene Beweismittel

In einem Kommuniqué des Menschenrechtsnetzwerks aus Oaxaca RODH liest sich der Angriff auf das Protestcamp im Stadtzentrum so: „Sie kamen bewaffnet, warfen Tränengasgranaten und Rauchbomben, zerstörten verschiedene Zelte. Teile des Protestcamps wurden komplett zerstört.” Wegen des Qualms der brennenden Zelte und des massiven Einsatzes von Gasgranaten erlitten viele Protestierende schwere Rauchvergiftungen, eine schwangere Lehrerin verlor ihr Kind. Die mexikanische Nachrichtenagentur CIMAC berichtete außerdem, dass während des Polizeieinsatzes mindestens fünf Lehrerinnen der Schule Basilio Rojas im Zentrum Oaxacas von Ordnungshütern vergewaltigt wurden.
Das brutale Vorgehen der Polizei schien gleichzeitig nur dürftig koordiniert. Sechs PolizistInnen wurden von den Streikenden vorübergehend in „Gewahrsam“ genommen. Andere wurden nackt durch die Straßen getrieben, nachdem ihnen ihre Kampfmontur abgenommen worden war. Die OrdnungshüterInnen traten den Rückzug an. Mehr als zehn der festgenommenen LehrerInnen und GewerkschaftsführerInnen wurden am folgenden Tag im Austausch für die entführten Polizisten wieder freigelassen.
Um das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstrierenden nachträglich zu rechtfertigen, behauptete Gouverneur Ruíz, die Gewerkschaft sei von der Guerilla „Revolutionäre Volksarmee“ EPR unterwandert, die während der LehrerInnenproteste wiederholt auf sich aufmerksam machte. Außerdem hätten PolizistInnen in dem Protestcamp und dem Gewerkschaftssitz der CNTE Drogen, Sturmgewehre des Typs AK-47 und einen Rucksack voller Handgranaten gefunden. Die Streikenden dagegen beteuern, infiltrierte Agenten des Staatsschutzes hätten diese Beweise ausgelegt, um die Proteste zu kriminalisieren und weitere Einsätze der Bundespolizei (PFP) zu legitimieren.

Parteipolitik bestimmt Regierungshandeln

Präsident Vicente Fox scheut bisher davor zurück, Verstärkung zu schicken. Bereits während der Besetzung des Flughafens Ende Mai, hatte die mexikanische Regierung keine Einheiten der Bundespolizei (PFP) zur Unterstützung entsandt – „aus logistischen Gründen“, wie es in einer Regierungserklärung hieß. Vielmehr ist jedoch zu vermuten, dass nach der internationalen Kritik an der staatlichen Repression in der Gemeinde Atenco (LN 384) kein weiteres Mal föderale Institutionen an der Niederschlagung sozialer Proteste mitwirken sollen. Die Regierungspartei Nationale Aktion PAN hat in Oaxaca ohnehin nur ein geringes Wählerpotential. Stimmen könnte dagegen vielmehr der Präsidentschaftskandidat der PRI, Roberto Madrazo, einbüßen. Nach Einschätzung des mexikanischen Journalisten Luis Hernández Navarro ist Oaxaca einer der letzten Bundesstaaten, in dem der traditionelle Klientelismus und Stimmenkauf der PRI noch funktioniert. „Nicht umsonst hatte Ulises Ruíz dem Präsidentschaftskandidaten aus Tabasco [Madrazo] eine Million Stimmen versprochen. Die Mobilisierung der Lehrer und ihre Drohung, die Wahlen zu boykottieren, haben die politischen Manöver der PRI jedoch matt gesetzt.“
Vertreter der PAN und der oppositionellen Partei der demokratischen Revolution PRD versuchen indes, ihrerseits aus der politischen Krise in Oaxaca politisches Kapital zu schlagen. Die Führung der PAN bemängelt, die PRI habe die Gewalt als erstes und nicht als letztes Mittel eingesetzt und zwar gegen einen PRD-nahen Block innerhalb der LehrerInnengewerkschaft. Salvador Martínez della Rocca von der PRD, Vorsitzender des Bildungsausschusses im Abgeordnetenhaus zeigte sich überzeugt, dass Geld vorhanden sei, um die Forderungen der LehrerInnen zu erfüllen. Die Wochenzeitung Proceso bekräftigte solche Vermutungen durch die Behauptung, Gouverneur Ruíz nutze einen Großteil des für öffentliche Einrichtungen vorgesehenen Budgets für die Kampagne des PRI-Kandidaten Madrazo in Oaxaca.
Die streikenden LehrerInnen, die schon Anfang Juni sämtliche Wahlplakate im Zentrum von Oaxaca abgerissen hatten, haben gemeinsam mit AnwohnerInnen inzwischen erneut ihr Protestlager aufgebaut und die Straßen der Innenstadt besetzt. Am 16. Juni zogen bei einer mega marcha ungefähr 300.000 DemonstrantInnen durch die Straßen und forderten den Rücktritt von Gouverneur Ruíz. Héctor Morales, Vorstandsmitglied der CNTE, unterstrich gegenüber der Tageszeitung La Jornada noch einmal, dass man die Kapazitäten habe, am Wahltag alle Distrikte Oaxacas zu besetzen und machte die weiteren Aktionen von Verhandlungen mit der Bundesregierung abhängig. Die Äußerungen von Präsidentensprecher Rubén Aguilar lassen eine baldige Lösung des Konflikts jedoch eher fraglich erscheinen. Er versicherte, es werde keine Einsätze der Bundespolizei geben, aber auch kein Geld, um die Forderungen der LehrerInnen zu erfüllen. Die Behörden in Oaxaca vermelden hingegen, sie seien bereit, jegliche Störversuche der Präsidentschaftswahlen am 2. Juli zu unterbinden.

Viele Worte nach dem Blutrausch

Die Regierung besinnt sich auf Mexikos autoritäre Vergangenheit!“ Und: „Die Linke will das Staatswesen stürzen!“ Dies sind derzeit die beliebtesten Vorwürfe, die sich Vertreter der drei großen mexikanischen Parteien einen guten Monat vor der Präsidentschaftswahl um die Ohren hauen. Die Regierungspartei Nationale Aktion (PAN) macht schon seit Wochen den Kandidaten der linksliberalen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) in Fernsehspots als „Gefahr für Mexiko“ schlecht, und die ehemalige Staatspartei Institutionelle Revolutionäre Partei (PRI) fürchtet, dass die derzeitige PAN-Regierung ihren Kandidaten entgegen allen demokratischen Institutionen durchsetzt.

Zunehmende Polizeigewalt

Die Vorwürfe haben sich durch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und sozialen Bewegungen in den vergangenen zwei Monaten verschärft. Das unbarmherzige Vorgehen von Regierungsbeamten in der Eisenhütte Las Truchas in Lázaro Cárdenas, im zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán, und in San Salvador Atenco in der Nähe der Hauptstadt, sorgte weltweit für Empörung. Ende April kamen in Michoacán zwei Metallarbeiter ums Leben, als sowohl Landes- als auch Bundespolizisten die Fabrik stürmten, um einen seit dem 23. März dieses Jahres andauernden Streik zu beenden. Die Arbeiter hatten zum Streik aufgerufen, weil die PAN-Regierung Napoleón Gómez Urrutia nicht als Generalsekretär der Gewerkschaft anerkannte. Der Grund: Urrutia habe angeblich 55 Millionen Dollar aus der Gewerkschaftskasse veruntreut. Der abgesetzte Gewerkschaftschef argumentiert hingegen, das Geld wie vorgesehen den Gewerkschaftsmitgliedern zur Verfügung gestellt zu haben. Sowohl der Streik als auch das Verfahren gegen Gómez Urrutia dauern noch an.
In San Salvador Atenco und dem Nachbarort Texcoco hingegen stritten die Protestierenden um die Nutzung des öffentlichen Raumes: 3000 Polizisten gingen mit aller Gewalt gegen AktivistInnen vor, die ortsansässige BlumenhändlerInnen im Kampf um deren Verkaufsstände unterstützten. Das Areal soll einem Walmart-Gebäude weichen. Bei der Aktion starb ein Vierzehnjähriger, etwa 50 Menschen wurden verletzt und 200 AktivistInnen festgenommen. Beim Transport ins Gefängnis wurden sie schwer misshandelt, 23 Frauen, darunter eine Chilenin und zwei Spanierinnen, gaben an, sexuell missbraucht worden zu sein (siehe Augenzeugenbericht in diesem Heft). Aufgrund des Drucks internationaler Organisationen wie Amnesty international und Human Rights Watch hat inzwischen auch das mexikanische Innenministerium zugegeben, dass es zu Übergriffen gekommen war, und eine Untersuchung versprochen.

Aufstandsbekämpfung

Laut einigen ExpertInnen will die Regierungspartei PAN durch die harte Vorgehensweise ihre Macht gut einen Monat vor den Wahlen am 2. Juli mit allen Mitteln konsolidieren. Angst solle gesät werden, so die Theorie, damit die Bevölkerung das Gefühl bekomme, ein hartes Durchgreifen sei unvermeidlich.
Die Regierung Fox schließe mit ihrem Handeln an die autoritäre Vergangenheit Mexikos an, sagt Efraín Poot, Politologe an der Autonomen Universität Yucatán (UADY), im Interview mit den LN. Er ist der Auffassung, dass der Übergang zur Demokratie missglückt sei. In der mexikanischen Wochenzeitung Proceso analysieren mexikanische MenschenrechtsexpertInnen, dass es sich bei dem Vorgehen in Atenco sowie bei dem Streik um eine militärische Aufstandsbekämpfungsstrategie handle, entwickelt 1994 in Chiapas im Kampf gegen die ZapatistInnen. Ziel der Strategie sei die Zerschlagung der sozialen Bewegungen in Zentralmexiko sowie eine warnende Nachricht an Subcomandante Marcos, der sich seit Anfang Mai im Rahmen der „Anderen Kampagne“ der ZapatistInnen in Mexiko-Stadt aufhält und sich mit den Protestierenden solidarisiert hat.
Der Philosoph Edgar González Ruiz führt gegenüber dem Proceso aus, dass die extreme Rechte marginalisierte Bevölkerungsteile kriminalisieren und ausschließen wolle, um den Eliten die Macht zu erhalten.

Kampf gegen Gewerkschaften

Mit Machterhalt habe auch der Umgang der Regierung mit der Metallarbeitergewerkschaft zu tun, so Politologe Poot. 2001 erkannte die Regierung Fox Gómez Urrutia als Generalsekretär des Arbeiterverbandes an. Die 55 Millionen Dollar, um die es heute geht, waren ein Gewinn aus der Privatisierung des Lázaro-Cárdenas-Werkes; die Gewerkschaft sollte sie in einer Treuhandgesellschaft verwalten. Poot bestreitet nicht, dass Korruption üblich war. Gómez Urrutia hatte sein Amt vom Vater „geerbt“, der 41 Jahre lang Präsident der landesweiten Metallarbeitergewerkschaft gewesen war. Um regieren zu können, musste die PAN, die von der PRI in 70 Jahren Alleinherrschaft geschaffenen Gewerkschaftsstrukturen nutzen, meint Poot. Daher habe sie die Korruption zunächst toleriert. Doch dann hätten die Arbeitervertreter nicht so „funktioniert“, wie Fox sich das vorgestellt hatte. Die Mitglieder zeigten sich in Lohnverhandlungen eisern und verweigerten der Partei hundertprozentige Loyalität. So wurde Gómez Urrutia durch einen der Regierung genehmen Mann ersetzt. Zugleich wollte sich die Fox-Regierung einmal mehr als Verteidigerin der Demokratie zeigen, so Poot: Gómez Urrutia verlor seinen Posten nachdem das Arbeitsministerium ein Dokument der Dissidentenversammlung innerhalb der Gewerkschaft anerkannt hatte. Nach dem Motto: Wir respektieren die Entscheidungen der Gewerkschaftsmitglieder. Aber: „Das ging in die Hose“, sagt Poot lapidar. Es kam zu Streiks, und die Gewerkschaftsführer in Mexiko seien sich „einig wie nie“, so der Politologe, in der Verteidigung ihrer Autonomie. Nach diesem Desaster wollte die Regierung laut Poot die Macht über die Gewerkschaften auf die altmodische und gewalttätige Art zurückgewinnen.

Zwielichtiger Sicherheitschef

Weiter gehen ExpertInnen, die sagen, die Regierung wolle Angst schüren und der Bevölkerung das Bild vermitteln, ihre Sicherheit sei in Gefahr. Dabei spielen die Medien, vor allem das Fernsehen, eine wichtige Rolle. Miguel Velasco vom Menschenrechtszentrum Miguel Augustín Pro denkt, dass Polizisten der Präventivpolizei nicht zufällig genau dort eintrafen, wo die Fernsehteams sich bereits aufgestellt hatten. Er vermutet sogar, dass einige Beamte absichtlich allein gelassen wurden, damit die Demonstrierenden sie vor laufenden Kameras verprügeln konnten. Ein Bild, das immer wieder in den Nachrichten wiederholt wurde. Die „Bauernopfer“ waren dabei laut Velasco die Beamten der lokalen Sicherheitskräfte. Die bundesweit operierende Präventivpolizei kam später und „räumte weg“, wen die Staats- und Ortsbeamten aufgescheucht hatten.
Kopf der Polizeiaktion war Wilfredo Robledo Madrid. Mitarbeiter des Innenministeriums im Staat Mexiko behaupten, er habe es ausgeschlossen, mit den Protestierenden zu verhandeln, und sei mit dem Satz „entweder, ihr lasst mich machen, oder ich trete zurück“ zur Tat geschritten. Laut dem Proceso hat Robledo Madrid eine lange Karriere als Militär, Polizeichef und Geheimdienstmitarbeiter hinter sich. Dabei wurden ihm gute Verbindungen zum Drogenhandel nachgesagt. Zu Beginn der Regierungszeit von Fox verlor er seinen Posten beim Geheimdienst CISEN und wurde wegen der illegalen Beschaffung von zwölf Flugzeugen angeklagt. 2002 brachten ihm seine windigen Geschäfte sogar eine Suspendierung vom Staatsdienst und eine Strafzahlung von 2.7 Millionen Pesos (ca. 270.000 Dollar) ein. Dennoch ernannte der Gouverneur des Staates México Robledo noch im selben Jahr zu seinem Sicherheitschef, mit der Begründung, die Suspendierung gelte nur auf Bundesebene.
Unabhängige RechtsexpertInnen sind der Auffassung, dass Robledo als Kopf der Polizeiaktion vom 4. Mai vor Gericht zu
stellen sei.

Schuldzuweisungen

Hinter dieser Aufstandsbekämpfung, wie die MenschenrechtlerInnen das Vorgehen der Sicherheitskräfte bezeichnen, steht nach Meinung von Edgar González Ruiz der Einfluss der extremen Rechten in der PAN. Sie nutze ihren Einfluss, um das autoritäre Vorgehen des Staates durchzusetzen und so an der Macht zu bleiben, so der Philosoph. Den ZapatistInnen wird derselbe Vorwurf gemacht: Sie schürten das Chaos, um die Demokratie zu diskreditieren und die Wahlen zu verhindern, meinen KritikerInnen. Marcos selbst ließ am Tag nach der Polizeiaktion im Fernsehen verlauten, er denke, dass PRD-Kandidat Andrés Manuel López Obrador trotz allem gewählt werde. Eine ganz hinterhältige Strategie, so der Philosoph Roger Bartra: Lobende Wort von Marcos würden López Obrador nur schaden und der Subcomandante wolle die Linke spalten.
PRI-Kandidat Madrazo und PAN-Kandidat Calderón sind sich selten einig darin, dass die PRD hinter den Unruhen steckt, um das Land vor den Wahlen zu destabilisieren. Dennoch sieht Madrazo in der PAN die größere Gefahr: Die Regierung versuche mit allem ihr zur Verfügung stehenden Geld, Calderón durchzusetzen, warnte er.
Aller Schuldzuweisungen und Theorien zum Trotz ist Politologe Poot der Ansicht: Keine Partei hat durch die gewaltsamen Aktionen in Michoacán und dem Bundesstaat México gewonnen. Es zeige sich nur einmal mehr, wie schwach die mexikanische Demokratie noch immer sei, und wie wenig es gelungen sei, funktionierende Institutionen zu schaffen.

Editorial Ausgabe 384 – Juni 2006

„Ein Rückfall in die Barbarei“, „ein gravierender Rückschritt“, „als würden wir die Zeit 30 Jahre zurückdrehen“, kommentierte die linksliberale Presse in Mexiko. Es sind Bilder des Grauens aus dem Mexiko von heute, die dort Erinnerungen an Szenen aus der Geschichte der „guerra sucia“ und die Niederschlagung der Studierendenbewegung in Tlatelolco im Jahr 1968 wecken. Die Rede ist von Atenco, einem kleinen Ort nahe Mexiko-Stadt, der Anfang Mai diesen Jahres Schauplatz eines gewalttätigen und massiven Polizeieinsatzes wurde.

Am 3. und 4. Mai gingen 3.500 staatliche Sicherheitskräfte brutal gegen die lokale Bevölkerung, Mitglieder einer mit der Regierung im Streit liegenden Kleinbauernorganisation und SympathisantInnen der EZLN vor. Das Ergebnis: ein Toter, zahlreiche Schwerverletzte und einige Vermisste, gravierende Menschenrechtsverletzungen und systematische Massenvergewaltigungen von Frauen. Mehr als 200 Personen wurden verhaftet – einige von ihnen befinden sich noch immer in Haft – und die verhafteten AusländerInnen illegalerweise abgeschoben. Laut der Aussage eines Polizisten hatten die Einsatzkräfte den Befehl „auf alles einzuschlagen, was sich bewegt“. Die Benutzung von Schusswaffen war ausdrücklich erlaubt. Klar ist: Ein derartiger Einsatz bedarf der Autorisation und Planung von höchster politischer Ebene.

Das Geschehene wirft viele Fragen auf. Doch eines lässt sich auch heute schon deutlich sagen: Atenco steht beispielhaft für die politische Situation in Mexiko. Die viel beschworene Demokratisierung mit dem Regierungswechsel im Jahr 2000 hat es nicht gegeben. Und nicht nur das. Der Umgang mit dem Polizeieinsatz in den nachfolgenden Wochen gewährt auch Einblick in einen autoritären Konsens der Herrschenden und zeigt zugleich, wie gering die Möglichkeiten sind, eine alternative Öffentlichkeit herzustellen.

Denn man musste erleben, wie es der herrschenden politischen Klasse zusammen mit den großen Medien in Mexiko möglich war, den Einsatz als legitime „Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ darzustellen und zu rechtfertigen. Zwar gab und gibt es landesweit Demonstrationen und Protestaktionen, doch blieb eine allgemeine soziale Entrüstung aus – weil keine breite Öffentlichkeit über die Verbrechen hergestellt werden konnte. Der Präsidentschaftskandidat der PRD, Andrés Manuel López Obrador, konnte sich nicht dazu durchringen, die brutale Repression sozialen Protests klar zu verurteilen. Stattdessen lavierte er irgendetwas davon, dass der Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten schlecht sei. Der Kandidat der PAN, Felipe Calderón, bekräftigte dagegen sogar kurz nach dem Einsatz gegenüber den Medien, er hätte noch härter durchgegriffen, und der
PRI-Kandidat Roberto Madrazo, wusste das Ganze noch zu steigern, indem er meinte, mit ihm gäbe es weder Marcos noch Atenco.

Mexikos Präsident Vicente Fox war mit dem symbolträchtigen Versprechen angetreten, die staatlichen Verbrechen des so genannten Schmutzigen Krieges der 70er und 80er Jahre mittels einer Sonderstaatsanwaltschaft aufzuarbeiten. Er hat dieses Versprechen nicht nur nicht gehalten – die Sonderanwaltschaft wird mangels Erfolgen nach vier Jahren nun wieder geschlossen. Die mexikanische Regierung bediente sich darüber hinaus in Atenco mit dem bewaffneten Überfall auf nichtsahnende ZivilistInnen, der systematischen sexuellen Gewalt gegen Frauen und der extralegalen und brutalen Massenverhaftung zentralen Taktiken der Aufstandsbekämpfung jener Zeit, die den Weg für Folter, Verschwindenlassen und Mord bereiteten.

Die Kriminalisierung von Marcos und der Anderen Kampagne der ZapatistInnen ist ein besorgniserregender unterschwelliger Ton in zahlreichen Stellungnahmen zu Atenco. Denn damit wird ihnen der Status eines politischen Akteurs aberkannt und ein militärisches oder polizeiliches Vorgehen denkbar gemacht. War Fox angetreten, den Konflikt in Chiapas politisch zu lösen, geht es heute wohl nur mehr darum, die EZLN zu entwaffnen. Gegenteiliger können sich zwei Aussagen kaum gegenüber stehen.

Schreiben von den ZapatistInnen

Wären wir Politiker, dann würden wir in Hubschraubern herumfliegen und hätten eine gute Presse“, sagte Subcommandante Marcos im Januar in Yucatan. Da hatte er seine Rundreise durch Mexiko im Rahmen der „Anderen Kampagne“ gerade begonnen. Wie der junge Che Guevara hatte er sich auf einem Motorrad am 1. Januar 2006 aus der Autonomen Gemeinde La Garrucha in Chiapas aufgemacht. Bis Juni wird er noch unterwegs sein und in allen Bundesstaaten anhören, was für Probleme die Bevölkerung mit Korruption, Armut und Menschenrechtsverletzungen hat. 20 mexikanische Bundesstaaten hat er auf seiner dreieinhalb Monate andauernden Reise nun schon besucht. Mit Hunderten VertreterInnen von indigenen Organisationen, Bauernverbänden, mit SchülerInnen, StudentInnen und Frauenaktivistinnen hat er gesprochen.

Hofberichterstattung

Die mexikanische Presse verfolgt Marcos Reise durchaus. Immer dabei ist die linke Tageszeitung Jornada, die dazu jeden Tag eine Seite veröffentlicht. Detailliert beschreibt Reporter Hermann Bellinghausen, der schon seit Jahren über den Kampf der ZapatistInnen schreibt, jeden Schritt des Abgesandten, dokumentiert lange Passagen seiner Reden, erwähnt auch, wie viele Kilometer er an einem Tag gereist ist.
Bellinghausen beschränkt seine Berichterstattung auf die Perspektive der ZapatistInnen. „Nur ein Krieg im Südosten Mexikos kann den Staudamm La Parola durchsetzen“, zitierte er Marcos am 17. April. AktivistInnen aus Guerrero berichteten dem Sub von ihrem schwierigen Kampf gegen den ökonomisch wie ökologisch sinnlosen Staudamm, und vom Druck der Regierung, die damit droht, die Armee zu schicken. Am nächsten Tag reagierte Xochil Galvez, Direktorin des Instituts für indigene Angelegenheiten, auf Marcos’ Engagement gegen den Staudamm: Die Mehrheit der BewohnerInnen Guerreros seien für die Umsetzung des Projektes. Diese BefürworterInnen tauchen in Bellinghausens Artikel nicht auf. Zurecht, würde Marcos wohl sagen, denn seiner Ansicht nach spielen die Medien die Probleme um den Staudammbau normalerweise herunter.
Bellinghausens Artikel lesen sich wie zapatistische Hofberichterstattung. Doch sie wirken als Verstärker des wichtigsten Anliegens der „Anderen Kampagne“: Denen, die keiner hört, eine Stimme zu geben. Zugleich findet in der Jornada die lebendigste Debatte um die „Andere Kampagne“ statt. Dabei geht es weniger um ein für und wieder, ein ja oder nein zur Reise der ZapatistInnen, sondern eher um ein: „Ja, das ist nötig” und „Ja, aber.”
Die „Ja, aber”-VertreterInnen beziehen ihre Kritik meist auf den Umgang der Zapatistischen Armee zur Befreiung Mexikos (EZLN) mit der politisch organisierten Linken, also der PRD (Partei der Demokratischen Revolution) und deren Kandidat Andres Manuel Lopez Obrador (AMLO).
Nach dem Prinzip „Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde” entwickelte der argentinisch-mexikanische Philosoph Enrique Dussel, alter Verbündeter der ZapatistInnen, Anfang Januar die Theorie, dass eine Spaltung der Linken in „Andere Kampagne“ auf der einen und „Lopez Obradors Kampagne“ auf der anderen nur der Regierungspartei PAN zu Gute käme. Die beiden linken Bewegungen sollten jedoch zusammenarbeiten, so Dussel: Auf kurze Sicht muss AMLO die Wahlen gewinnen, auf lange Sicht können dann, mit dem PRD-Mann als Präsident, die ZapatistInnen ein besseres Mexiko schaffen. Diese Meinung vertritt auch der Philosoph Luis Villoro, der seinen Artikel Anfang April in der Jornada und auch im konservativen Diario de Yucatan veröffentlichte. In dem Regionalblatt erscheinen neben Debattenbeiträgen regelmäßig Fotokästen, die über Marcos Route und seine Treffen informieren.

Ja, aber

Für Villoro ist eine direkte Demokratie mit rotierenden Ämtern und Volksversammlungen, die auf Konsens basieren, ein Weg, aus Mexiko ein lebenswerteres Land zu machen. Doch wie kommt man dorthin? Laut dem Autor nur über den Weg der repräsentativen Demokratie, sprich, indem AMLO gewählt wird, um dann den ZapatistInnen einen Rahmen zu geben, in dem sie ihre Forderungen durchsetzen können. Die EZLN, so Villoro, rufe jedoch dazu auf, die Wahlen zu verweigern, was nur kontraproduktiv sei.
Marcos betonte dagegen immer wieder, dass die „Andere Kampagne“ mit den Wahlen schlicht nichts zu tun habe, dass jeder wählen könne, was er wolle und alle, die sich der anderen Kampagne angeschlossen haben, würden sowieso so weitermachen, wie bisher.
Diese Haltung findet der Historiker Leonardo Curzio „autistisch.” Ende Februar veröffentlichte er in der großen Tageszeitung Universal einen pessimistischen Kommentar. Keiner der drei Präsidentschaftskandidaten habe den MexikanerInnen Visionen oder Ideen zu bieten. Und die „Andere Kampagne“ sei autistisch, denn „letztlich ist Marcos’ Diskurs reine Bestandsaufnahme und politisch steril, weil er die Willensbildung der PAN und der PRI nicht beeinflusst, und noch viel weniger die der PRD.“ Das klingt nach: „Ja, aber“ – bitte gründet eine neue Partei.

Die Welle bricht

Auf der anderen Seite setzen AutorInnen Hoffnungen in die „Andere Kampagne“, sehen sie als etwas Unvermeidliches. „Die Welle bricht“ betitelte Luis Hernández de Navarro seinen Artikel Mitte Februar in der Jornada. Die Welle ist die „Andere Kampagne“, die immer mehr AnhängerInnen findet und sich Gehör verschafft. Hernández belegt das Interesse an der Reise der ZapatistInnen mit einem Blick auf die Homepage der Jornada:
Der Link zur Aktion der EZLN erhält mehr als doppelt so viele Anfragen wie der zu den offiziellen Präsidentschaftskandidaten. Das Wichtige an der Kampagne der ZapatistInnen und der zahllosen MitstreiterInnen ist für ihn, dass sie denen „von unten“ eine Stimme gibt, sie zu Subjekten macht: „Die Wahlkampagnen fragen sich: Was machen wir mit den Armen? Die „Andere Kampagne“ fragt sich: „Was machen wir mit den Reichen?“

Nixda PRD!

Die „Andere Kampagne“ kann nicht mit der PRD zusammenarbeiten, weil es keine Gemeinsamkeiten gibt, findet Gilberto Lopez y Rivas. Er antwortete damit eine Woche später in der Jornada auf Enrique Dussels „Ja, aber nur mit der PRD.“ In den vergangenen Jahren haben sich PRD und ZapatistInnen immer weiter distanziert, so López. Der völlige Bruch ging mit dem Scheitern des Autonomieabkommens von San Andres 2001 einher. PRD-Angeordnete stimmten damals für eine verwässerte Umsetzung, die den indigenen Gemeinden nicht den Status eines Subjekts öffentlichen Rechts einräumt.
Außerdem, so López weiter, sei die PRD in den letzten Jahren einem „ethischen Verfall“ anheim gefallen, während sich die ZapatistInnen treu blieben und in den autonomen Gemeinden mit ihren „guten Regierungsversammlungen“ ihre Visionen in die Realität umsetzten.
Noch bis Ende Juni wird Marcos – ohne Hubschrauber, mittlerweile aber mit Auto – durch Mexiko reisen und seinen GastgeberInnen zuhören. Was sie ihm erzählen, wird zumindest in der Jornada immer zu lesen sein.

Basisradios sehen Repression entgegen

Mexiko hat ein neues Mediengesetz und niemand scheint genau zu wissen, was es bedeutet. Die Kolumnisten der Tageszeitung La Jornada beispielsweise prophezeien wortreich die mediale Apokalypse und sind doch recht zurückhaltend mit schlüssigen Analysen des sogenannten Ley Televisa. Warum so viel Meinung und so wenige Erklärungen?

Dieses Gesetz ist tatsächlich eine harte Nuss. Zunächst einmal ist der Inhalt kaum zu entschlüsseln. Für den Durchschnittsbürger absolut unverständlich. Der Text ist ursprünglich von einer Anwaltskanzlei im Dienste von Televisa formuliert worden, dem größten mexikanischen Medienkonsortium. Wenig ist darüber bekannt, wie dieses Papier als Gesetzesentwurf im Kongress gelandet ist. Fest steht aber, dass dieser Text ausschließlich im Interesse privater Unternehmen verfasst wurde.
Die Leute, die dieses Gesetz entworfen haben, wissen bereits genau, wie es ihnen nützen wird. Wir sind dagegen gerade dabei, das herauszufinden. Einige Veränderungen sind aber offensichtlich. Bisher funktionierte der mexikanische Medienmarkt nach einem ziemlich autoritären Schema. Die Regierung entschied über die Vergabe von Lizenzen. In Zukunft wird das ein Gremium regeln, dass Frequenzen an den Meistbietenden vergibt. Das kann man nicht gerade als eine positive Veränderung bezeichnen.

Auf welche Weise hat der mexikanische Staat denn bisher die Entwicklung des mexikanischen Medienmarktes reguliert?

Der mexikanische Medienmarkt hat sich eigentlich nie groß bewegt. Ende der 20er Jahre begann eine Gruppe von Familien, sich der Kommunikationsmedien zu bemächtigen. Eine Zentralisierung setzte ein, die auch vom Staat mitgetragen wurde und ein privatwirtschaftliches Oligopol hervorbrachte. Heute sind weit mehr als 90 Prozent der mexikanischen Medien kommerziell. Der Großteil der restlichen Medien wird von der Bundesregierung verwaltet, denn die Gemeinden oder Bundesstaaten sind meist außen vor. Und natürlich gibt es auch einige gemeinschaftlich organisierte und freie Medien, meist jedoch in einer ziemlich prekären Lage, weil sie in der bisherigen Gesetzgebung nicht ausreichend bedacht waren.

Wird sich das mit dem neuen Gesetz ändern?

Nein, im Gegenteil. Das neue Mediengesetz, das gemeinschaftlich organisierte und freie Medien generell als illegal begreift, wird die Situation noch verschärfen. Ein entscheidender Punkt des neuen Gesetzes ist ja, dass die Räume in den elektronischen Medien, sprich die Frequenzen künftig versteigert werden. Und diese Versteigerungen werden wohl die zwei größten Medienunternehmen, Televisa und TV Azteca, unter sich ausmachen. Zumindest gemeinschaftlich organisierte Radios, die nicht die Mittel haben, sich ihre „Legalität“ zu erkaufen, sehen Repressionen entgegen.
Hinzu kommt die geplante Digitalisierung der Radio- und Fernsehsignale. Künftig werden Anwärter auf Lizenzen vorweisen müssen, dass sie technisch in der Lage sind, auf diese Weise zu übertragen. Für gemeinschaftlich organisierte Sender oder auch lokale Fernsehstationen wird es also unglaublich schwer werden, dieses Equipment zu organisieren und zu bedienen.

Was genau heißt in diesem Fall „Digitalisierung“? Werden auf diese Weise zusätzliche Frequenzen geschaffen oder wird die bisherige Übertragungsweise eingestellt?

Es scheint, als ob die analogen Radioübertragungen verschwinden werden. Die AM-Frequenzen auf jeden Fall. Es bleibt also nur noch FM übrig, allerdings als digitalisierte Variante. Das heißt, auf dem Frequenzabschnitt, auf dem bisher eine Station Platz fand, werden künftig fünf Sender übertragen können. Alle kommerziellen Sender die bereits eine Frequenz besitzen, werden mit der digitalen Variante beschenkt werden. Der Staat verdient also nichts, alles geschieht zum Wohl der großen Medienunternehmen.
Insgesamt eine schreckliche Entwicklung, denn eine zentrale Forderung der letzten Jahre war stets, mehr Frequenzen zu schaffen. Und jetzt wo es fünf mal mehr Frequenzen geben wird, scheinen die gemeinschaftlich organisierten Radios leer auszugehen. Die neuen Frequenzen werden unter den Medienunternehmen aufgeteilt, die bereits eine Lizenz besitzen oder das Geld haben, eine neue zu kaufen.

Wenn die kommerziellen Sender nicht mehr auf AM senden, könnte man die frei werdenden Frequenzen dann nicht für freies Radio nutzen?

Klar, die Möglichkeit weiter auf AM zu senden besteht. Das elektromagnetische Feld verschwindet ja nicht. Aber je weniger Stationen senden, um so leichter sind sie auch zu orten. Und im Allgemeinen ist es leider auch technisch schwieriger, auf AM zu senden.

Welche Schwierigkeiten kommen auf die indigenen Radiostationen zu? Im Senat sind ja bereits Stimmen zu hören, die Sendungen in indigenen Sprachen als Gefahr beschreiben – es sei schwer zu überprüfen, ob die Inhalte verfassungskonform sind.

In Mexiko war es eigentlich immer schon verboten, in indigenen Sprachen zu senden. Von den Integrationisten bis zum Aufstand der Zapatisten war die offizielle Politik immer bemüht, die Indigenen von ihrer rückständigen Kultur und Sprache zu befreien, damit sie irgendwann einmal im Okzident ankommen, in diesem Fall dem Mestizen-Mexiko. Erst die zapatistische Bewegung und ins besondere die Beschlüsse von San Andrés haben es zu einer Art Recht werden lassen, in indigenen Sprachen senden zu dürfen. Man fing gerade an, indigene Sprachen als eine nationale Realität zu akzeptieren. Jetzt sind eher Rückschritte zu befürchten.

Das hört sich ganz so an, als ob in naher Zukunft einige Konflikte auf die Basismedien beziehungsweise indigenen Radios zukommen.

Konflikte hat es immer gegeben. Schon beim Erlass des bislang gültigen Mediengesetzes gab es Proteste in vielen Teilen Mexikos und in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten. Die Forderung war schon damals, die Massenmedien partizipativer zu organisieren. Die gemeinschaftlich organisierten Radios etwa streiten seit über 30 Jahren für ein Senderecht.
Zwei der ersten Stationen, die auf Sendung gingen, waren Uniradios, eins in Guerrero und ein anderes in Puebla. Das war 1983. Als ein Tontechniker gefoltert wurde, schlossen beide Stationen wieder. Das zeigt sehr deutlich, auf welche Weise die Regierung unliebsame Stimmen zum Schweigen gebracht hat.

Gibt es ähnliche Fälle aus jüngerer Zeit, in denen der Staat ebenfalls gewaltsam gegen Basismedien vorgegangen ist?

In den ersten Monaten dieses Jahres wurden drei Radiostationen in Oaxaca von der Bundespolizei (PFP) überfallen. So etwas ist lange nicht passiert, zumindest in den letzten zehn Jahren. Die Überfälle geschahen allerdings zu einer Zeit, in der sich diese Stationen gemäß dem alten Mediengesetz zumindest noch als halblegal bezeichnen durften.

Meinst du, dass ein Regierungswechsel bei den Präsidentschaftswahlen im Juni eine Veränderung herbeiführen könnte? Gibt es eine Partei, die das neue Mediengesetz rückgängig machen könnte?

Alle im Kongress vertretenen Parteien haben für das Ley Televisa gestimmt. Unter den Senatoren gab es zwar eine kleine Debatte, aber die Mehrheit war am Ende dafür. Im Juni treten zu den Wahlen mit den Ultras von PAN, der Rechten PRI und der rechten Zentrumspartei PRD drei Parteien an, die alle mit einem mehr oder weniger ähnlichen Programm werben. Zwei Parteien wollen gemeinschaftlich organisierte Sender ganz ausradieren und die PRD will weder den Radiergummi ansetzen noch Unterstützung versprechen. Deshalb lassen sich viele Basisradios auch nicht auf die Parteien ein.

Trotzdem gibt es doch auch im Kongress entschiedene Gegner des neuen Mediengesetzes. Der Senator Javier Corral Jurado von der PAN zum Beispiel setzt sich zusammen mit dem Weltverband der Basisradios (AMARC) seit längerer Zeit für gemeinschaftlich organisierte Medien ein.

Es gibt immer Leute die ein Steckenpferd haben. Aber die Mehrheit der PAN hat bestimmt nicht vor, die Medien partizipativer zu organisieren. Corral hat sich sicher viel angelesen, hat Freude an dem Thema gefunden und ein bestimmtes Rundfunkmodell im Kopf. Aber dieser Typ repräsentiert nicht seine Partei. Die PAN hat seine Initiativen bisher stets durchfallen lassen.

Neben dem Wahlkampf der offiziellen Parteien findet in Mexiko ja gerade auch die von der EZLN organisierte „Andere Kampagne“ statt. Wird in diesem Zusammenhang auch das Ley Televisa thematisiert?

Natürlich. Mit dem Aufstand der Zapatisten setzte auch der Boom gemeinschaftlich organisierter Radios ein. Die meisten der heute existierenden Basisradios wurden damals gegründet.
Im Februar haben sich zudem viele Medienaktive im Rahmen der Sexta Declaración in Tlascala getroffen. Das waren um die 1.500 Leute, eine Fülle an Meinungen. Darunter nicht wenige, die längst nicht auf die Regierung und rechtliche Reformen schauen. In den letzten Jahren gab es einfach zuviel kontra. Deshalb geht es in der aktuellen Debatte auch vielmehr darum, wie eine gut funktionierende Basiskommunikation geschaffen werden kann. Nicht mehr die Regierungen, sondern die Gemeinschaft in der man Medienprojekte realisiert, legitimiert sie.
Ihr werdet also weiterhin auf Sendung bleiben.
Wir werden weiter den Mund aufmachen. Es liegt nun mal nicht in der Natur des Menschen still zu sein. Wir versuchen, gemeinschaftliche Kommunikation anzuregen und zu stärken. Wir können nicht darauf warten, dass uns irgendwann jemand die Erlaubnis dazu gibt.

Centro de Medios Libres: http://cml.vientos.info

KASTEN:
Ley Televisa

Trotz zahlreicher Proteste stimmten Ende März zwei Drittel des mexikanischen Senats für eine Neufassung des seit 1960 geltenden Mediengesetzes. Die KritikerInnen des so genannten Ley Televisa befürchten eine weitere Stärkung des bestehenden Oligopols privater Medienunternehmen und eine damit verbundene Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit. Die Zukunft vieler gemeinschaftlich organisierter und freier Medien scheint bedroht.
So ermöglichen es die in dem Gesetz definierten technischen Dispositionen, dass die beiden größten Medienunternehmen Televisa und TV Azteca, die 80 Prozent des Medienmarktes kontrollieren, ihre Lizenzen kostenlos für digitale Übertragungen nutzen können. Da außerdem Lizenzen künftig nur noch verkauft und keine „Sendeerlaubnis“ mehr für öffentliche Kultur- oder Bildungssender vergeben werden sollen, fürchten die knapp 50 Stationen, die derzeit eine solche Sendelizenz besitzen, um ihre Zukunft. Geregelt werden soll der Medienmarkt von einer neuen Regulierungsinstanz, deren Mitglieder vom scheidenden Präsidenten Vicente Fox auf 16 Jahre ernannt werden. Diesem Gremium wird auch die Regulierung der Basisradios unterstehen, die im neuen Mediengesetz mit keinem Wort erwähnt sind und somit keinerlei Garantien für den künftigen Sendebetrieb oder ihre inhaltliche Unabhängigkeit besitzen.
Inzwischen haben verschiedene Medienverbände und Nichtregierungsorganisationen gegen das Gesetz Klage bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission eingereicht.

„Ich bin in den Fußball vernarrt“

Uruguay hat sich nicht für die WM in Deutschland qualifiziert. Die glorreichen Zeiten, als Uruguay zu den weltbesten Mannschaften zählte, scheinen endgültig vorüber. Wie lässt sich der damalige Aufstieg des kleinen Uruguays zur Fußball-Großmacht erklären?

Das war dank eines Präsidenten Battle y Ordoñez möglich. Dieser verfolgte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine sehr progressive Politik in Uruguay. Er hatte den genialen Einfall, die öffentliche, laizistische und kostenlose Bildung durchzusetzen. Der Aufstieg des Fußballs – ansonsten in einem so kleinen Land eher unerklärlich – hat wohl mit der Energie, die der Staat in der Bildung freisetzte, zu tun. Denn die Bildung umfasste nicht nur Mathematik oder Grammatik, sondern auch Sport. Es gab eine integrale Auffassung von Bildung, die später verloren ging. Es gab noch nicht die spätere Trennung zwischen Geist und Körper.
Für mich ist einer der großen Unterschiede zu 1930: Heute ist der Druck zu gewinnen – und zwar um jeden Preis – ungleich größer als die Freude am Spiel. Jeder Sieg bedeutet viel Geld und Prestige. Dieses Prestige wird ja bereits an der Börse notiert. Jede Niederlage bringt dagegen auch Probleme mit sich, die über das Sportliche hinausreichen. Sie wirkt sich im politischen wie im geschäftlichen Bereich aus.

Den Rahmen für prestigeträchtige Spiele geben vor allem in Europa immer luxuriösere Stadien ab…

… das ist dann so, als würde ich ein Shopping Center oder einen super luxuriösen Flughafen betreten. Es kommt mir so vor, als seien sie irgendwie alle gleich. Es mangelt ihnen an Erinnerungen, an Geschichte und an Leben.
Es gibt eine Tendenz, Stadien in Kathedralen des Fußballs für diejenigen zu verwandeln, die in der Lage sind, die immer höheren Eintrittspreise zu bezahlen. Die Armen müssen sich das von außen, im Fernsehen, ansehen. Denn die Regeln des Marktes sind heute zu Regeln des Lebens geworden: wer mehr hat und zahlt, kann sich auch mehr leisten.

Das heißt Fußball als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen…

Der Fußball ist Teil einer Realität, die weit über den Fußball hinausreicht. Und er ist wichtig als Spiegel globaler Realität. Anders ausgedrückt: Um zu verstehen, wie die Welt funktioniert, ist es sicherlich nicht schlecht, sich in die Fußballwelt zu vertiefen.
Die armen Länder, vor allem alle lateinamerikanischen Länder, exportieren Arbeitskräfte, darunter auch diejenigen, die mit ihren Beinen und Füßen ihr Brot verdienen. Sie exportieren Ballarbeiter. Mehr als 200 Profikicker aus Uruguay spielen weltweit in verschiedenen Mannschaften der ersten Ligen. Unglaublich, mehr als 200 aus einem so winzigen Land! Hier leben wenig mehr als drei Millionen Menschen, weniger als in einem Viertel von Buenos Aires oder Sao Paulo.

…nicht nur Uruguay…

Die Politik und Auflagen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds haben diese Exporte entscheidend gefördert – vor allem den Export von menschlicher Ware. Uruguay ist ein ausgeblutetes Land, das viele seiner jungen Menschen verloren hat. Auch in anderen Ländern gibt es einen beständigen Aderlass junger Arbeitskräfte. Nicht wenige sterben auf dem Weg in Länder, die mit besseren Löhnen locken.
Ich komme gerade von einer kleinen Rundreise durch Zentralamerika und Mexiko zurück. Dort habe ich diese Schlangen barfüßiger Frauen vor den Wechselstuben miterlebt. Ein Kleinkind auf dem Arm, umringt von Kindern tauschen sie die US-Dollar, die ihnen ihre in die USA emigrierten Ehemänner, Brüder oder Väter schicken. Ein traurig stimmendes Schauspiel – auch wenn Mexikos Präsident Fox das feiert, indem er behauptet, dass es die Phantasie und Initiative stimuliere. Es fragt sich nur, wessen Phantasie und Initiative.
Aus der ehemaligen kolonialen Welt strömen Menschenmassen in die früheren imperialen Nationen – auf der Suche nach Brot, Dach und Arbeit. Und im Fußball spiegelt sich das wider in einem beständigen Verlust, einem beständigen Aderlass von jungen Männern, die viel Talent in den Beinen haben.

Es gibt soziale Bewegungen, Parteien und Regierungen in Lateinamerika, die diesen Aderlass nicht mehr hinnehmen wollen. Ein Beispiel ist Evo Morales, der in Bolivien zum Präsidenten gewählt wurde. Er lud neben Südafrikas Nelson Mandela, Zapatisten, auch dich und Maradona ein. Maradonas Einladung ist sicherlich eine Überraschung, die nicht überall gut ankommt.

Es gab Kollegen, die in Mar del Plata dabei waren, die ich respektiere und sehr mag, die aber, als Maradona ankündigte, er würde sich an die Spitze der Demonstration setzen, sagten: „Was soll denn daraus werden, wenn selbst Maradona mitmacht.“ Das war ein herablassender Kommentar. Aber es fielen noch schlimmere Worte: „Es scheint so, als würde ihm erst jetzt einiges bewusst werden, denn bislang war er nicht gerade häufig auf solchen Veranstaltungen zu sehen.“ Das war ebenso von oben herab. All diese Äußerungen basieren auf Vorurteilen, die sich über Jahre hinweg gebildet haben und die sich gegenüber Fußball und Spielern nur noch verschlimmert haben. Vorurteile von Intellektuellen, von Erleuchteten, die meinen, sie hätten ein göttliches Recht, Einfluss auf andere Menschen auszuüben. Was hat da ein ungebetener Gast, ein Heuchler zu suchen, der auch noch versucht, die Leute zu beeinflussen, denn das ist doch unsere historische Aufgabe! Meinen jedenfalls einige Intellektuelle.
Es gibt eine öffentlich oder weniger öffentlich geäußerte Geringschätzung für Fußballspieler. Ein Vorurteil, das selbst bekannteren Persönlichkeiten unter den Fans nicht fremd ist: Sie lieben den Fußball, schätzen aber die Spieler gering, weil sie sich ihnen kulturell überlegen fühlen. Das gilt sowohl für die Linke, als auch die Mitte und die Rechte.

Die Linke verdächtigte stets das Fußballspiel als Falle: Fußball ist eine teuflische Erfindung der herrschenden Klasse, damit das Volk nicht zu denken beginnt. Aus rechter Sicht war Fußball immer der Beweis dafür, dass das Volk mit den Beinen denkt.

Die Verachtung für diesen Massensport dauert an und zeigt sich manchmal auf sehr niederträchtige Weise: Als Maradona seine Meinung über die Freihandelszone ALCA und die Politik von George W. Bush äußerte, rief das den Zorn vieler hervor. Darunter waren auch hochrangige Akteure der internationalen Politik, wie der Präsident Mexikos. Der sagte: „Dieser Mann versteht viel von Fußtritten, aber nichts von Politik.“ Also Schuster, bleib bei deinen Leisten. Oder: Fußballer, bleib beim runden Leder, aber wage dich nicht weiter vor.
Aber – mag es Fox nun gefallen oder nicht – die Menschen in der Welt hören mehr auf Maradona als auf Fox. Sie zeigen für das argentinische Fußballidol viel mehr Sympathie und Zuneigung. Auch weil er ein heiliger Sünder ist. Er ist ein Heiliger des dunklen Lebens, der immer alles verkehrt herum angepackt hat, der alle Verhaltensregeln der guten Lebensführung verletzt hat, der ein unheilvolles Leben geführt hat – mit aufeinander folgenden Katastrophen. Die Menschen erkennen sich in ihm wieder.
Und das schmerzt die Mächtigen, denn auch Maradona ist ein Mächtiger, aber er steht auf der anderen Seite. Seine Macht fußt auf der Verehrung durch die Bevölkerung. Diese stellt er in den Dienst einer Sache, die der anderen Macht nicht im geringsten behagt – einer Macht, die auf Geld und Waffen beruht.

Kommen da nicht auch Klassen- und Rassenvorurteile hoch, die mancher überwunden glaubte? Evo Morales, ein Aymara, wird vorgehalten, dass er noch immer nicht korrekt Spanisch spreche. Hugo Chávez, ein Mischling, wurde gar von der Opposition als Affe beschimpft. Maradona, der aus einem der ärmsten Vororte von Buenos Aires stammt, wurde häufiger vorgehalten, er rede dummes Zeug. Allen gemeinsam ist, dass sie mächtige Regierungen und Politiker kritisieren.

Das Stigma einer bescheidenen sozialen Herkunft oder einer mehr oder weniger dunklen Haut wird aktiviert, wenn diese Menschen – arm, schwarz, indigen – Dinge sagen, die den Mächtigen unbequem sind. Wenn sie der Macht jedoch zujubeln, sie also ein „yes man“ oder eine „yes woman“ sind, dann ist es kein Problem, Schwarzer, Mulatte, Indianer, Armer, Ärmster oder Kokabauer zu sein.
Als Maradona vor Jahren Erklärungen zugunsten des argentinischen Präsidenten Carlos Menem abgab, hat das keinen gekümmert. Da war keiner, der meinte, ein Fußballer dürfe sich nicht in die Politik einmischen.
Ein Fußballer darf keine Politik betreiben, wenn diese der Politik der Herren der Welt widerspricht. Oder den Herren der allmächtigen FIFA. Maradona jedoch wagte es, die Rechte der Spieler zu verteidigen – ungewöhnlich in der Fußballwelt.
Die FIFA ist wie ein großer Zirkus. Die Spieler sind die Affen, die ein Schauspiel bieten, aber nichts zu entscheiden haben. Maradona war der erste, der gegen die demütigende Behandlung aufbegehrte. Beispielsweise als die Spieler während der Weltmeisterschaft in Mexiko 1986 genötigt wurden, ihr Schauspiel um die Mittagszeit unter sengender Sonne vorzuführen, weil das die günstigste Stunde für das europäische Fernsehen war.
Ähnliches passierte, als er – wenn auch vergebens – eine internationale Spielergewerkschaft zu gründen versuchte, um die Interessen der Fußballer zu verteidigen. Das klappte leider nicht, es blieb bei der Hoffnung. Bis auf den heutigen Tag ist die FIFA eine Minderheit in der Minderheit, in der Technokraten und Geschäftsmänner sich einen Platz anmaßen, den eigentlich die Spieler einnehmen müssten. Jene, die nie um Rat gefragt werden. Maradona war der erste große Star des Weltfußballs, der es wagte, die Dinge beim rechten Namen zu nennen.
Damals sprachen sie ihm die Zuständigkeit ab, mit der Begründung weil sein ungehöriges Reden und Handeln sei auf übermäßigen Kokaingenuss zurückzuführen. Sein Gehirn sei von Drogen ausgebrannt.

Maradona als Fußballer – das ist Erinnerung. Wenn man dich hört und deine Bücher liest, könnte mancher auf die Idee kommen, dass Fußball früher mehr Spaß machte. Aber du schaust dir wichtige Spiele, ob nun der Champions League oder der uruguayischen oder anderer Nationalteams, durchaus an. Und sei es auf dem Bildschirm.

Ich predige keineswegs Nostalgie oder seufze vor mich hin: alles Vergangene war besser. Ich bin zudem viel zu sehr fußballsüchtig; ich bin in den Fußball vernarrt. Aber das hindert mich doch nicht daran, die Realität eines Fußballs zu sehen, der sehr merkantil geworden ist und ein Geschäft ist, das ihn verarmt hat. Verarmt in seiner Fähigkeit zur Phantasie und Freude. Der Fußball ist immer weniger ein Vergnügen und immer mehr eine Pflicht. Ich meine damit den Profifußball, nicht den Fußball, der hier an der Rambla in Montevideo gespielt wird – auf der Wiese oder am Strand. Da herrscht Begeisterung, diese Lust mit anderen Spaß zu haben, was im professionellen Fußball zusehends verloren geht.
Dennoch gibt es immer wieder diese Explosionen von Schönheit und Freude, die Pfiffigkeit in den Beinen, vor allem von Spielern, die aus ärmeren Vierteln stammen. Diese verwirklichen im Fußball so etwas wie Rache an der Tristesse, die sie in ihren ersten Lebensjahren durchgemacht haben. Sie haben sich diese Fähigkeit zur Freude bewahrt. Wenn man sie so spielen sieht, diese Ronaldinhos, Robinhos… und viele andere Brasilianer, aber nicht nur sie.
Bei der Weltmeisterschaft wird es Spieler geben, bei denen es sich lohnt zuzusehen und die einem den Glauben zurückgeben. Denn ich glaube, dass Fußball Kunst ist, eine Art Tanz mit dem Ball, fähig, Wunder der Schönheit zu vollbringen. Aber dieser Glaube wird auf harte Proben gestellt, denn die Superprofis müssen heute, vor allem in Europa, mehr leisten als Rennpferde. Dieser Spielrhythmus, der sie zwingt, jeden zweiten oder dritten Tag zu spielen – bis zur Erschöpfung, bis auch noch der letzte Schweißtropfen herausgepresst ist.
Da kommt mir dann ein Satz von Winston Churchill in den Sinn. Als er 90 Jahre alt wurde, fragte ihn ein Journalist der „Times“: Sir Winston, wie haben Sie es geschafft, 90 Jahre alt zu werden und so beneidenswert gesund bleiben? Welches Geheimnis verbirgt sich dahinter? Churchill antwortete: Ich habe nie Sport getrieben!

Dreikampf ums mexikanische Präsidentenamt

Sei es Calderón von der rechtsklerikalen Regierungspartei der Nationalen Aktion (PAN), der umtriebige Madrazo mit der 2000 nach siebzigjähriger Herrschaft abgewählten Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) oder López Obrador, der Kandidat, der für die einen linksmoderaten, für die anderen sozialdemokratisierten Partei der Demokratischen Revolution (PRD): Für die ZapatistInnen – und nicht nur für sie – handelt es sich um verschiedene Spielarten einer mehr oder weniger rechten und vor allem korrupten Politik, die den neoliberalen Spielregeln folgt. Dagegen sehen vor allem UnternehmerInnenkreise – zumindest öffentlich – in dem PRD-Kandidaten einen zweiten Hugo Chávez, das neue Schreckgespenst der lateinamerikanischen Rechten.
Tatsächlich ist es ein gutes halbes Jahr vor den allgemeinen Wahlen in Mexiko schwer, klare politische Vorstellungen und Programme bei den drei wichtigsten Präsidentschaftskandidaten auszumachen. Für alle drei Aspiranten ging es bis vor wenigen Wochen noch darum, sich möglichst überzeugend der parteiinternen GegnerInnen zu entledigen. Auch standen die Bündnisverhandlungen mit kleineren Parteien bis vor kurzem im Vordergrund. In beiden Fällen war vor allem die Strategie wichtig und weniger ein ausgefeiltes Programm. Dennoch lassen sich aus Parteihintergrund, persönlicher politischer Vorgeschichte und den jüngsten öffentlichen Auftritten durchaus Unterschiede herausfiltern.

Felipe, der Clevere

Felipe Calderón ist der politische Senkrechtstarter der vergangenen Monate. Er startete als underdog gegen den vom amtierenden Präsidenten Vicente Fox favorisierten Ex-Innenminister Santiago Creel und einen weiteren Opponenten in die interne Wahl. Am Ende flogen ihm die Sympathien der PAN-Mitglieder zu und bescherten ihm einen unerwarteten und deutlichen Sieg. In den Umfragen schloss er zu seinen PRI-Konkurrenten auf. Nach heutigem Stand macht er die von vielen aufgrund äußerst magerer Regierungsergebnisse schon abgeschriebene PAN für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wieder zu einer ernsthaften Option. Der in den 90er Jahren jüngste Parteivorsitzende in der PAN-Geschichte besetzte in den vergangenen Jahren verschiedene Posten staatlicher Institutionen und war für kurze Zeit Energieminister. Sein Verhältnis zu Präsident Fox gilt als distanziert. Dennoch will er im Wesentlichen dessen Wirtschaftspolitik fortführen. Das heißt Ausweitung des Freihandels mit eindeutigem Bekenntnis zu NAFTA und eine weitere Öffnung des staatlichen Öl- und Stromsektors gegenüber privaten Investoren. In diesem Zusammenhang ist auch sein Vorschlag zu sehen, UnternehmerInnenbeiräte für den nationalen Ölkonzern PEMEX und die Stromgesellschaft CFE einzurichten. Calderón ist Verfechter eines einheitlichen Einkommenssteuersatzes für alle Erwerbstätigen. Mit den USA will er eine „konstruktive Beziehung ohne Demagogie”, eine abgestimmte und verstärkte Grenzsicherung und ein Migrationsabkommen. Unter dem Strich bedeutet das genauso eine US-freundliche Politik wie unter Fox. Innenpolitisch verspricht der PAN-Kandidat eine „feste Hand”, die Säuberung des korrupten Gerichtswesens sowie einen schwammigen „neuen Pakt mit der Zivilgesellschaft”.
Nicht so verbissen religiös wie viele seiner ParteikollegInnen ist der PAN-Kandidat im Wahlkampf nicht zu unterschätzen. Dabei setzt er offen auf die finanzielle Unterstützung der UnternehmerInnen. Bei einem Frühstück am 14. Dezember mit 400 VertreterInnen der deutsch-mexikanischen Handelskammer hörte sich das laut der Tageszeitung La Jornada im Originalton Calderón so an: „Napoleón sagte, Kriege werden mit drei Dingen gewonnen: Geld, Geld und Geld.”

Roberto, der Lügner

Von Geld wüsste auch der PRI-Kandidat Roberto Madrazo einiges zu berichten. Zahlreiche Korruptionsskandale und Wahlmanipulationen in seinem Heimatbundesstaat Tabasco hängen ihm an. Der absolute Machtpolitiker hat sie aber bisher alle genauso überstanden wie er seine parteiinternen GegnerInnen regelmäßig austrickst. Für viele ist er der Inbegriff des skrupellosen Politikers, der, wenn der Preis stimmt, auch die eigene Mutter verkaufen würde. Absprachen sind für ihn da, um gebrochen zu werden. „Glaubst Du Madrazo? Ich auch nicht” steht auf einem viel zitierten anonymen Plakat, das in den letzten Monaten viele Mauern und Laternenpfähle schmückte. Madrazo verspricht eine Politik jenseits von Populismus und Neoliberalismus. Im Konkreten bleibt er vieles schuldig. Ein effizienteres Steuersystem, Reformen im Justiz- und Sicherheitssystem und Korruptionsbekämpfung stehen auch auf seiner Liste. Bezüglich des Wirtschaftskurses und der Rolle der Privatwirtschaft in den noch staatlichen Sektoren, vor allem der Ölindustrie, äußerst er sich widersprüchlich. Das verstärkt seine Unglaubwürdigkeit. Die Sicherung der Macht und Pfründe für ihn und seine Gefolgschaft sind sein eigentliches Programm. Dass er damit nicht völlig chancenlos ist, hat nicht nur mit der enttäuschenden Performance der Fox-Regierung zu tun. Die PRI ist immer noch die landesweit am besten organisierte Partei. Sie verfügt weiterhin über die größte StammwählerInnenschaft. Diese reicht allerdings längst nicht mehr aus, einen Wahlsieg zu sichern. Darum kommt Madrazo die mit den mexikanischen Grünen besiegelte „Allianz für Mexiko” entgegen. Bei dem erwarteten knappen Wahlausgang, könnten die Grünen, die im Zuge der Allianz ihren Präsidentschaftskandidaten zurück zogen, die entscheidenden Stimmen bringen. Von einem hypothetischen Stimmenanteil ausgehend, der sich aufgrund der Eigenarten des mexikanischen Wahlrechtes nicht wirklich dem Wählervotum stellen muss, sichern sich die Grünen andererseits Mandate im Senat und Abgeordnetenhaus sowie eine üppige Finanzierung. Vor knapp sechs Jahren praktizierte die eigentlich prinzipienlose Partei mit familienclan-ähnlichen Strukturen diese Übung noch mit der PAN. Nicht wenige BeobachterInnen gehen allerdings davon aus, dass es in der mühsam zusammen gehaltenen PRI in den kommenden Wochen und Monaten noch größere Abwanderungsbewegungen verprellter Parteifraktionen Richtung PAN und PRD und deren Kandidaten geben wird. Dann wäre Madrazo chancenlos.

AMLO, der Held der Armen

Diese möglichen Abspaltungen könnten für den seit Monaten populärsten Kandidaten der entscheidende Schub sein. Was López Obrador in den vergangenen fünf Jahren als Bürgermeister von Mexiko-Stadt zweifellos ausgezeichnet hat, ist die weitgehende Umsetzung zentraler Wahlversprechen, in manchen Fällen aufgrund hartnäckiger Beratungsresistenz. Von (wahl-)politisch größter Bedeutung ist dabei die Einführung einer monatlichen Altersgrundrente für die HauptstadtbewohnerInnen. So gering diese umgerechnet etwa 50 Euro auch sein mögen, vielen der über 70-jährigen hat diese Grundrente ein Stück Würde zurückgegeben. Die seit Jahren überfällige Einrichtung zahlreicher Abiturschulen, eine neue Universität und die Beendigung von lange brachliegenden Infrastrukturmaßnahmen kann AMLO als weitere Pluspunkte verbuchen. Im Wesentlichen stützt sich der Freund von Megaprojekten im derzeitigen Wahlkampf auf diese Erfolge und die Ankündigung ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene. „Zum Wohlergehen aller, die Armen zuerst” ist auch in diesem Wahlkampf sein Motto. Anders als Calderón und Madrazo lehnt AMLO die weitere Öffnung des Energiesektors gegenüber der Privatindustrie entschieden ab. Den NAFTA-Vertrag will er zumindest bezüglich der Agrarpolitik neu verhandeln. Sein 50-Punkteprogramm ist zwar in erster Linie eine Liste von Einzelmaßnahmen, es macht ihn dennoch fassbarer als seine Kontrahenten. An erster Stelle dieses Programms steht die Umsetzung der 1996 zwischen Regierung und aufständischen ZapatistInnen geschlossenen Abkommen von San Andrés, die die Rechte der indigenen Bevölkerung stärken sollen. Ein Thema, das PRI und PAN inzwischen einfach ignorieren. Für das politische und wirtschaftliche Establishment reichen diese „Abweichungen” schon zum Haare sträuben. Als AMLO Ende November in Mexiko-Stadt vor gut 2000 Mitgliedern der US-amerikanischen Handelskammer sprach, quittierten diese seine Ausführungen mit eisigem Schweigen. In jüngerer Zeit hat AMLO mehrfach geäußert, seine radikale Zeit liege in der Vergangenheit, er sei mehr zur Mitte gerückt. In dem Bemühen, Mehrheiten zu gewinnen, haben ehemalige wichtige PRI-Mitglieder inzwischen seinen Wahlkampf fest in der Hand. Ähnlich wie Madrazo mit den Grünen hat López Obrador mit der Partei der Arbeit (PT) und der Convergencia zwei kleine Parteien mit ins Boot genommen. Ebenfalls nicht unbedingt die prinzipienfestesten Alliierten. Über Dritte werden Signale für den Fall eines Wahlsieges ausgesandt: Keine Konfrontation mit den USA, keine Konfrontation mit den UnternehmerInnen, weitgehender Dialog mit den politischen Gegnern. Das klingt mehr nach Lula als nach Chávez.

Die Welt als gigantische Talkshow

In Ihrem Roman El temperamento melancólico stellt ein in Mexiko ansässiger deutscher Regisseur den Protagonisten dar. Der erste Teil Ihrer Romantrilogie über das 20. Jahrhundert, En busca de Klingsor, spielt in Nazideutschland. Und jetzt schreiben Sie an dem dritten Teil Ihrer Trilogie, in dem unter anderem der Mauerfall in Berlin thematisiert wird. Woher kommt dieses Interesse für Deutschland?

Das ist wirklich sonderbar, denn es wurde durch nichts Konkretes angetrieben: Meine Familie kommt ursprünglich aus Italien, mein Vater ist frankophil, ich selbst spreche französisch und italienisch, aber nicht deutsch. Aber vielleicht interessiere ich mich gerade deswegen seit meiner Kindheit für die deutsche Welt, die eine spezielle Faszination in mir ausgelöst hat. Selbstverständlich fasziniert mich die deutsche Philosophie, die mir sehr wichtig ist, und die deutsche Musik. Ich glaube, daher kommt die Faszination hauptsächlich. Dann aber auch durch das Kino. Und wie Deutschland wesentlich die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat: mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und später auch durch den Fall der Mauer in Berlin als symbolisches Ende des Kalten Krieges.
Literatur- oder Künstlergruppen, die sich während ihrer Jugend durch gemeinsame Ideale oder Ziele stark verbunden fühlten, haben sich oftmals im Laufe der Zeit getrennt, um ihren eigenen Wegen nachzugehen. Wie beschreiben Sie die Entwicklung der Mitglieder des Crack?
Einerseits sind wir sehr gut befreundet; wir sehen uns so oft wir können, tauschen unsere Bücher untereinander aus und haben weiterhin gemeinsame Projekte. Unser neuestes Projekt ist eine Zeitschrift, die im November 2005 zum ersten Mal in Mexiko kursierte.

Wie heißt diese Zeitschrift?

Revuelta. Andererseits ist es auch wahr, dass wir als junge Leute viel programmatischere Ideen hatten. Jetzt ist das nicht mehr so, jeder geht seinen eigenen literarischen Weg, jeder beharrt auf seinen eigenen Obsessionen. Und das führt dazu, dass wir uns als Schriftsteller immer weiter im Stil voneinander entfernen.
Viele mexikanische Schriftsteller haben parallel zu ihrer literarischen Laufbahn diplomatische Ämter ausgeübt, wie beispielsweise Carlos Fuentes, Octavio Paz, Sergio Pitol oder Juan Villoro. Bedeutete Ihre Arbeit als Diplomat in Frankreich für Sie ein Hindernis in der Entwicklung Ihrer literarischen Laufbahn oder würden Sie diese Erfahrung eher als bereichernd für Ihre Ausübung als Erzähler bezeichnen?
Vor allem bin ich kein Diplomat im strengen Sinne, so wie auch die Mehrheit der anderen Autoren, die Sie erwähnten. Pitol schon, die anderen nicht. In der mexikanischen Tradition kommt es vor, dass ein diplomatischer Posten an dich herangetragen wird, und dann entscheidest du dich dafür oder dagegen. Natürlich erschwerte mein Aufenthalt in Paris meine Arbeit als Schriftsteller in dem Sinne, dass ich sehr viel Zeit in Arbeiten für die Botschaft investiert habe. Doch es war eine außergewöhnliche Erfahrung, die ich absolut nicht bereue. Danach habe ich mein Diplomatendasein beendet – jetzt kombiniere ich nur noch die Arbeit als Professor mit der des Schriftstellers.

Einen Großteil Ihrer essayistischen und literarischen Arbeit haben Sie Intellektuellen innerhalb von Machtstrukturen gewidmet. Glauben Sie, dass die angehende mexikanische Demokratie eine größere Unabhängigkeit der Intellektuellen von den Machthabern gefördert hat?

Früher waren die Anhänger der PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) besessen von den Intellektuellen und die Intellektuellen von den Machthabern. Als im Jahr 2000 Vicente Fox Präsident wurde, waren die Intellektuellen immer noch von der Macht besessen, doch die Machthaber hatten das Interesse an den Intellektuellen verloren. Dieser Umstand hat ein sehr eigentümliches Phänomen hervorgerufen: Die Schriftsteller fühlten sich in diesem demokratischen Zeitalter in gewisser Weise schutzlos, da sie stark an Bedeutung für die Mächtigen eingebüßt hatten. Durch diese Situation kam es zu einer Veränderung: Viele der Schriftsteller, die sich zuvor den Mächtigen genähert hatten, näherten sich nun der anderen wichtigen Macht an, nämlich der ökonomischen. Das hat sich bis heute im gegenwärtigen Mexiko in großem Maße fortgesetzt. Andere versuchen einfach, sich dem Kritikerkonzert oder den Stimmen gegen die Mächtigen anzuschließen.

Denken Sie, dass die intellektuelle Erschlaffung, die Sie in ihrem Essay Política y literatura als ein mit dem Jahr 1968 beginnendes Phänomen beschreiben, immer noch existiert?

Ich glaube, sie existiert in dem Sinne, dass die öffentliche Diskussion an Niveau verloren hat. Auch deswegen, weil es jetzt sehr viel einfacher ist, in jedem x-beliebigen Kommunikationsmedium offen Kritik zu äußern. Diese Erschlaffung hat vielleicht damit zu tun, dass die intellektuelle Diskussion immer banaler wird. Heutzutage äußert jeder zu allem seine Meinung. Im Fernsehen und in den anderen Medien urteilt die ganze Welt, nicht mehr nur die Intellektuellen, sondern wirklich jeder: Das ist die Demokratisierung der Meinung, aber zugleich auch der Verlust der Relevanz dieser Meinung. So als befänden wir uns in einer gigantischen Talkshow.

Welchen Intellektuellen fühlen Sie sich persönlich am nächsten?

Von den mexikanischen Intellektuellen, die ich bewundere, ist mein Vorbild ganz selbstverständlich Carlos Monsiváis.

In Ihrem Buch La guerra y las palabras erwähnen Sie, dass Subcomandante Marcos, „der erste Revolutionär, der lachen kann”, gleichermaßen ein Mann der Aktion und ein Mann der Ideen und Wörter sei, der es verstanden habe, die Sympathie und Unterstützung zahlreicher Intellektueller weltweit zu gewinnen. Dennoch schreiben Sie, dass er seit 2002 etwas an Orientierung verloren hat. Glauben Sie, dass Marcos erneut eine wichtige Rolle in den Medien spielen wird, nachdem er dieses Jahr sein langes Schweigen gebrochen hat und die Wahlen näher rücken?

Ich habe den Moment von Marcos’ Wiederauftauchen in diesem Jahr als sehr wichtig empfunden. Als er wiederholte, dass sich die zapatistische Bewegung in eine bloße zivile und politische Organisation verwandeln würde. Das erschien mir wesentlich für das Fortbestehen der Bewegung. Diese Idee der von Marcos so genannten „anderen Kampagne“, die nächstes Jahr parallel zu den Präsidentschaftskampagnen beginnen wird. Aber das Wichtigste ist seine radikale linke Kritik, die sehr viel linker ist als die von López Obrador, der wahrscheinlich die nächsten Wahlen gewinnen wird. Das erscheint mir als sehr gesund. Wir werden sehen, ob es wahr ist. Nachdem Marcos vor einigen Monaten mit dieser Idee an die Öffentlichkeit getreten ist, ist er inmitten der Aufruhr um die Vorkampagnen zur Wahl schon wieder in Vergessenheit geraten.

Können Sie sich vorstellen, dass auch in Europa eine Figur wie Marcos auftauchen und den Enthusiasmus der Intellektuellen sowie der verschiedensten Bereiche der Gesellschaft wecken könnte?

Ich glaube das ist sehr unwahrscheinlich. Ein Teil der Faszination, die Marcos ausgelöst hat, hat damit zu tun, dass die Intellektuellen in Europa in ihm wieder den exotischen Guerillero der Dritten Welt sahen. Ich denke, die Existenz eines ähnlichen Vorbildes in Europa wäre sehr schwierig, obwohl es immer noch schreckliche Probleme der Ungleichheit gibt, wie wir sie jetzt in Frankreich sehen.

Der fehlgeschlagene und schmutzige Versuch von Vicente Fox López Obrador seine Zuständigkeiten zu entziehen, hat uns gezeigt, dass die angehende mexikanische Demokratie noch nicht sehr solide ist. Würde die Präsidentschaft von López Obrador eine Festigung der mexikanischen Demokratie bedeuten – und damit eine Durchsetzung des von Ihnen so genannten „Geistes von Tlatelolco“?

Wenn die Linke die Wahlen nächstes Jahr gewinnt, hoffe ich, dass sich die Festigung der Demokratie verwirklicht. López Obrador ist ein guter Kandidat, aber ohne Zweifel ist er auch einer populistischen und autoritären Versuchung ausgesetzt, die direkt vom PRI-ismus herrührt, aus dem er hervorgegangen ist. Ich glaube, es ist eher die Aufgabe der Zivilgesellschaft, López Obrador zu mäßigen und ihn zu einem authentischen Demokraten zu machen, als seine eigene. Als solcher könnte er versuchen, sich der anderen Probleme Mexikos anzunehmen. Probleme, die nicht mehr nur mit der Demokratie im Wahlprozess in Verbindung stehen, sondern mit der Demokratie als Lebensform. Besonders in Bezug auf die enormen Probleme der Ungleichheit, die in unserem Staat weiterhin existieren.

Herrschaftsfreier Dialog in Chiapas

Die Götter unterhielten sich, und so entstand die Welt. Ihre Worte stritten nicht, sie respektierten einander. Die Probleme begannen, als der Erste sagte, seine Rede sei mehr wert als die der Anderen.”
So beginnt für die Mayas die Schöpfungsgeschichte. Subcomandante Marcos erzählte sie Mitte August bei einem Treffen mit indigenen Organisationen aus ganz Mexiko. Denn so sollte der Dialog auf diesem Treffen ablaufen: Mit Worten, die einander gleichgestellt seien.
Das Treffen, das am 12. August begann, war eines der insgesamt sieben Vorbereitungstreffen für eine “Andere Kampagne”. Anders als die der möglichen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2006, die schon jetzt die mexikanischen Medien beherrschen.
Der neue Vorstoß der EZLN hatte zunächst mit einem “Roten Alarm” Ende Juli begonnen, den niemand so recht zu deuten wusste: Die autonomen Regierungen wurden geräumt, das zapatistische Heer in Alarmbereitschaft versetzt. Eine neue bewaffnete Initiative? Doch die vermummten RevolutionärInnen gingen nur in Klausur und hatten zur Sicherheit Roten Alarm ausgelöst. Das Ergebnis des Rückzugs: Die sechste Erklärung aus dem lakandonischen Urwald.

Neues Dokument

In der “Sexta”, wie die sechste Erklärung genannt wird, rechnet Subcomandante Marcos mit allen politischen Parteien ab. Auch die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die mit dem beliebten Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Manuel López Obrador, gute Aussichten hat, die Wahl zu gewinnen, kommt dabei schlecht weg. Denn die Stimmen der PRD im Kongress trugen dazu bei, das 1997 ausgehandelte Autonomiegesetz zu verwässern. Und im vergangenen Jahr waren PRD-PolitikerInnen für einen Überfall auf einen zapatistischen Marsch im chiapanekischen Zinacantán verantwortlich, bei dem einige ZapatistInnen durch Schüsse verletzt wurden.
Zudem würde die PRD, käme sie an die Macht, den Ausverkauf mexikanischer Ressourcen an ausländische Großkonzerne weitertreiben, sagt Marcos voraus. Und kommt damit zum Hauptfeind der zapatistischen Bewegung: dem Neoliberalismus.
Erst ganz am Ende der sechsten Erklärung rückt der Sup dann damit heraus, was eigentlich geschehen soll: Die ZapatistInnen wollen ihre Kräfte mit all denen vereinen, die für ein gerechteres Mexiko kämpfen. In der Praxis sollen dazu sieben Vorbereitungstreffen mit einer gemeinsamen Abschlusserklärung und der Start der “Anderen Kampagne” realisiert werden. Zu Beginn fand Anfang August ein Treffen mit linken Organisationen statt, zum zweiten waren indigene Organisationen geladen.

Konstruktive Kritik

51 Gruppen folgten dem Aufruf und trafen am 12. August in der autonomen Gemeinde Javier Hernández ein. Dazu kamen mexikanische und internationale BeobachterInnen sowie viele PressevertreterInnen, die nach vier Jahren vor allem an Fotos von Sup Marcos interessiert waren.
Auch der Versammlungsort lud zum Fotografieren ein: Eine kleine Ansammlung von Häusern auf einem grünen Hügel, rundherum bewaldete Berge.
In dieser idyllischen Umgebung wollten die ZapatistInnen vor allem zuhören. Das Wort der Vermummten sei nicht mehr wert als das der anderen RednerInnen, betonte Marcos, und dass die EZLN keine Führungsrolle beanspruche.
Dass davon nicht alle TeilnehmerInnen überzeugt waren, bewies gleich der erste Redner, Don Procoro vom Indigenen Volkskommitee aus Oaxaca (CIPO): Ein kleiner Mann mit Hut, Baumwollbeutel und tadelloser Haltung. “Wir mögen Euer Antlitz, Zapatisten, auch wenn man Eure Gesichter nicht sieht. Denn Eure Herzen sind gut erkennbar.” begrüßte er das zapatistische Komitee. Das CIPO stünde ganz und gar hinter der “Sexta”, fuhr er fort, aber durch die medienwirksamen Aktionen konzentriere sich zu viel Aufmerksamkeit auf Chiapas. “Morde an Aktivisten in Oaxaca werden kaum wahrgenommen”, sagte er. Außerdem sähe es für ihn so aus, als spräche die EZLN lieber mit ausländischen Intellektuellen als mit der indigenen Bevölkerung Mexikos. Die ZapatistInnen sollten aufpassen, dass sie nicht “abheben”.

Gefährliche Selbstverwaltung

Die CIPO-Mitglieder haben schon viel Repression erfahren. Das CIPO ist ein Netzwerk von autonomen Gemeinden in Oaxaca. Autonom bedeutet, dass in einer Ratsversammlung politische Entscheidungen getroffen werden und jedes Gemeindemitglied eine Reihe von Ämtern durchlaufen haben muss um Präsident werden zu können. Diese Strukturen sind in Oaxaca sogar staatlich anerkannt. In den meisten Gemeinden wurden sie jedoch längst von den Parteien unterwandert. Die Ratsversammlungen funktionieren nicht mehr auf der Basis von Konsensfindung, sondern Entscheidungen werden zu Gunsten der FunktionärInnen gefällt. Diese üben ihre Macht gewaltsam aus, häufig mit Unterstützung von Paramilitärs. Gemeinden, die sich wirklich autonom verwalten wollen, werden massiv bedroht.
Mit diesen von Don Procoro angesprochenen Problemen kämpfen fast alle der indigenen Organisationen, die sich an diesem Samstag in Javier Hernandez vorstellten. Denn die Autonomie ist oft mit ökonomischen Interessenkonflikten verbunden. Land gemeinschaftlich zu bewirtschaften passt nicht zur Ausbeutung von Naturressourcen im großen Stil. Das gilt für Forstwirtschaft in Oaxaca ebenso wie für Wasser, das im ganzen Land zur Bewässerung von Plantagen dient.
Die auf der Versammlung durch die Indigenen vorgetragene Vorstellung von Fortschritt ist der des kapitalistischen Wachstumsdenkens entgegengesetzt. Dies gilt auch für die Zeiträume, in denen die Gemeinden planen und handeln. “Um unsere Autonomie wirklich zu erreichen, werden wir mindestens dieses Jahrhundert benötigen.”, sagte ein anderer Sprecher aus Oaxaca.
Auch die ZapatistInnen planen auf lange Sicht. “Die andere Kampagne kann Jahre dauern”, sagte Marcos in seiner Eröffnungsansprache. Die spezifischen Probleme der Indigenen dürften dabei nicht vergessen werden. “In allen mexikanischen Revolutionen haben Indigene ihr Leben gelassen, aber sie haben nie etwas von den Veränderungen gehabt”, rief der etwas dick gewordene Subcomandante nachdrücklich, “wir wollen daher eine indigene Kampagne in der Kampagne schaffen.”Als praktische Konsequenz bat er die indigenen Organisationen um Unterkunft. “Während der anderen Kampagne werden wir durch Mexiko reisen, um die Situation anderer Gruppen und Organisationen kennen zu lernen”, kündigte er an, “und wir werden Tage und Wochen, manchmal Monate an einem Ort bleiben. Daher bitten wir Euch, die indigenen Organisationen, uns bei Euch aufzunehmen.”
Viele der RednerInnen sprachen gleich darauf Einladungen an die EZLN aus.
Den ganzen Samstag über hörten die ZapatistInnen zu. Erst am Sonntagmorgen, als sich alle TeilnehmerInnen nach einer verregneten Nacht mit einem Glas Milchreis und einer gekochten Banane in der Hand wieder auf dem Hügel eingefunden hatten, gaben sie eine Antwort. Tenor der Ansprache: Wir respektieren jede Meinung, auch wenn wir sie nicht teilen. So entschuldigte sich Marcos ob der Kritik von Don Procoro und versprach, den Dialog mit der Basis nicht zu vergessen. Dennoch solle der theoretische Dialog nicht vernachlässigt werden, denn “wir wollen keine anti-intellektuelle, chauvinistische Bewegung”, so der Sup. Auch den wenigen Orgsanisationen, die der PRD und ihrem Kandidaten Lopez Obrador ihre Unterstützung ausgesprochen hatten, sicherte er seinen Respekt zu. Gleich darauf machte er allerdings klar, dass für die EZLN die PRD keine Bündnispartnerin sei. Dann kündigte er “bilaterale Verhandlungen” mit den verschiedenen Organisationen für den gesamten Sonntag an. Das ZapatistInnen-Komitee zog also nach der Sonntagmorgenansprache, verfolgt von dem üblichen Schwarm FotografInnen, in die kleine autonome Schule des Ortes, um die verschiedenen VertreterInnen zu empfangen. Die CIPO-VertreterInnen waren wieder als erste dran. Fast eine Stunde lang berieten sich Don Procoro und seine KollegInnen mit den ZapatistInnen. Als sie das kleine, bunt bemalte Holzhaus wieder verließen, lachten sie. Unsere Fragen wollten sie aber nicht beantworten. “Wir können nichts sagen, bevor wir nicht mit den Menschen in den Gemeinden gesprochen haben”, sagten sie ernst.

Spanisch dominiert

Sie waren ganz zufrieden mit der Konferenz, hatten aber noch weitere Kritikpunkte. “Hier sind zu viele Anführer”, meinte Don Procoros Kollegin Elisabeth, “die Menschen, um die es wirklich geht, die einfache indigene Bevölkerung, ist nicht hier.”
Tatsächlich waren auf der Konferenz kaum indigene Sprachen zu hören. Die Eroberersprache Spanisch dominierte. Nur Grußworte wurden in indigenen Sprachen vermittelt. Für die meisten TeilnehmerInnen scheinbar kein Problem. Doch einige beschränkte diese Dominanz. “Ich bin auch gekommen”, sagte eine traditionell gekleidete Purepecha-Frau, “und mehr kann ich nicht sagen, weil ich nicht genug Spanisch kann.“ Ihre Stimme blieb ungehört im herrschaftsfreien Dialog auf dem Berg.

KASTEN:

Die ZapatistInnen haben sich in den letzten Jahren eine neue interne Verfassung gegeben und sind im Juni 2005 mit einem zukünftigen Aktionsplan an die Öffentlichkeit getreten. Die „Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald“ ist eine Zusammenfassung des bisher Erreichten, ein Rückblick auf zwölf Jahre Kampf, zwölf Jahre gelebte Autonomie und Selbstverwaltung. In den Führungsgremien der EZLN, dem militärischen Arm der ZapatistInnen, hat ein Generationswechsel stattgefunden und damit ein neuer Prozess für den zapatistischen Kampf begonnen.
Der Aufgabenbereich der EZLN gliedert sich in drei Teile: die Verteidigung der zapatistischen Dörfer, die „Intergalaktische Kommission“, die die Organisation des internationalen Kampfes verantwortet sowie die „Sexta Kommision“, die für die alternative„Andere Kampange“ eintritt. Auf dieser Reise durch Mexiko soll in der „Anderen Kampagne“ den Menschen in ihren unterschiedlichen Situationen Gehör geschenkt, und mit ihnen eine neue Verfassung erarbeitet werden. Im August 2005 wurde diese „Andere Kampagne“ mit dem ersten von sieben Vorbereitungstreffen angestoßen. Die ZapatistInnen organisierten Treffen mit linken politischen, indigenen und sozialen Organisationen, NGOs, kulturellen Gruppen und individuellen TeilnehmerInnen.
Bei dem ersten Treffen kamen ca. 150 TeilnehmerInnen, bei dem letzten Treffen waren es schon über Tausend. Subcomandante Marcos machte deutlich, dass die ZapatistInnen während der „Anderen Kampagne“ auf ihrer Reise durch Mexiko nicht mit allen Menschen reden werden: „Nur mit den Einfachen und Bescheidenen werden wir sprechen, mit denjenigen, die etwas vom Kampf zu erzählen haben.” Auf dem Treffen wurde so das Private wieder politisch.

Editorial Ausgabe 375/376 – September/Oktober 2005

Die Absage ist kategorisch: Von den ZapatistInnen bekommt der Hoffnungsträger nicht weniger mexikanischer Linken keinerlei Unterstützung. Der Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador (AMLO) von der sozialliberalen PRD gilt der chiapanekischen Befreiungsarmee EZLN als Teil der korrupten mexikanischen Politik, persönliche Integrität hin oder her. Die medienwirksam durch AMLO angekündigte Umsetzung des Autonomieabkommens von San Andrés, das der indigenen Bevölkerung die Kontrolle über die Ressourcen in Chiapas übertragen soll, bezeichnen die ZapatistInnen schlicht als Lüge, um Stimmen im Wahlkampf zu gewinnen.

Die Abrechnung mit der institutionellen mexikanischen Politik ist Teil der sechsten Deklaration, mit der sich die ZapatistInnen nach vier Jahren wieder in der medialen Öffentlichkeit zurückgemeldet haben. Vier Jahre nachdem der Marsch auf die Hauptstadt zwar eine massive Mobilisierung der Zivilgesellschaft, aber lediglich ein stark verwässertes Autonomiegesetz erwirkt hat – ohne das in San Andrés versprochene einklagbare Recht auf politische Autonomie und ohne Souveränität über die Ressourcen in den indigenen Gebieten. Sprich: ohne substanzielle Verbesserung der prekären Situation der Indígenas durch institutionelle Politik.

Für die ZapatistInnen ist spätestens seitdem klar: Eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse lässt sich nicht über die Parlamente bewerkstelligen. Land, Arbeit, Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit. Das waren die Forderungen zu Beginn der Rebellion 1994 und das sind sie noch heute. Parteipolitischer Konjunktur wollen sie diese nicht opfern. Stattdessen streben sie an, die Basis an UnterstützerInnen für ihre Forderungen zu erweitern.
Die „andere Kampagne”, die derzeit von den guerilleros nun auf nationaler und internationaler Ebene organisiert wird, ist in erster Linie eine Kampagne des Zuhörens. Die ZapatistInnen haben es sich zum Ziel gesetzt, auf einer Reise durch Mexiko die Stimmen der unterschiedlichen Kämpfe anzuhören. Anstatt den Menschen zu sagen, was sie zu tun haben, sollen diese nach ihrem Leben und ihren Gedanken befragt werden. Das bedeutet letztendlich auch, dass niemand aufgefordert wird, für einen bestimmten Kandidaten zu stimmen – schon allein, weil aus zapatistischer Sicht der Neoliberalismus die gesamte politische Klasse in Mexiko erfasst hat.

Die Entscheidung, ob eine linke Bewegung linke parlamentarische Politik unterstützt oder nicht, kann von Land zu Land, von Zeit zu Zeit und von Bewegung zu Bewegung durchaus unterschiedlich beantwortet werden. Die zapatistische Antwort lautet: Ya basta. Als eine möglichst breite und partizipative Basisbewegung wollen die ZapatistInnen schlicht nichts mit dem Zirkus der mexikanischen Parteipolitik zu tun haben. Der zapatistische Kampf soll vielmehr mit den Kämpfen marginalisierter Gruppen und Personen aus Mexiko und der ganzen Welt vernetzt werden. Das Projekt wird angenommen: Unterschiedlichste Gruppen sind seit August auf den Treffen der ZapatistInnen zusammengekommen.

Der Prozess gewinnt an Dynamik, wobei die „andere Kampagne” nicht auf die Wochen eines Wahlkampfs oder die Zeit einer Legislaturperiode angelegt ist, sondern viele Jahre dauern wird. Es werden keine Versprechungen gemacht, sondern zugehört und gemeinsam gehandelt. Das ganze Projekt ist unfertig und auf dem Weg. Doch gerade deshalb bietet es einen Raum für Politik jenseits des Machtgeschachers der mexikanischen Parteien. Und die Richtung steht fest: „nach unten und nach links”.

Rebel Music aus Lateinamerika

Nach oben!, nach unten!, springen!“ – was will man mehr von guter Partymusik? Aktuelle Musik aus Lateinamerika bietet sogar noch viel mehr, meinen das Label Trikont Records und der Kulturverein articulation e.V., die jetzt das Album „Mestizo Music – Rebelión en América Latina” in Europa veröffentlichen. Kritik an sozialen Folgen der Globalisierung in Lateinamerika ist nicht nur hörbar sondern auch tanzbar: Ska, Reggae, Salsa, Rock, HipHop, Cumbia und andere Stile begleiten die oft bissigen und drastischen Texte. Nicht erst seit dem Aufstand der Zapatisten in Mexiko oder dem ersten Weltsozialforum in Brasilien vertonen lateinamerikanische Bands ihre Sicht auf die gesellschaftlichen Zustände ihrer Länder. Viele politische Bewegungen werden von eigener Musik getragen, die das Lebensgefühl widerspiegelt und gesellschaftliche Probleme thematisiert. „Mestizo Music“ demonstriert mit einer Mischung aus bekannten Bands und Newcomern eindrücklich die Vielfalt aktueller musikalischer und politischer Bewegungen in Lateinamerika.
Lohnsenkungen, soziale Sicherungssysteme, der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank sind Themen der Lieder. Skepsis ist durchaus angesagt, wenn man an die im eigenen Regal verstaubenden CDs denkt, die traditionellen Liedern und Parolen sozialer Bewegungen aus Lateinamerika in Europa Gehör verschaffen wollten. Diesem Album jedoch gelingt es, durch die mutige Zusammenstellung der verschiedenen Stilrichtungen für jeden Geschmack etwas zu bieten. Panteón Rococó, die mit „La Carencia“ den Auftakt zu dem neuen Album geben, fordern nicht nur „nach oben!, nach unten!, springen!“ von ihrem Publikum, sondern klagen im selben Rhythmus steigende Armut und sinkende Löhne „y la carencia, arriba!, y los salarios, abajo!“ in ihrem Heimatland Mexiko an. Sargento Garcia lassen in „Acabar Mal & Revolución“ mehrsprachigen Ragga zu Ohren kommen. „No al ALCA!“, produziert von dem Kollektiv “The Platform”, kühlt den Rhythmus etwas ab, erzählt von der Protestbewegung der Alianza Social Continental, bevor sich Karamelo Santo mit „La Piquadura“ zu einer fetzigen Salsa-Punk-Rock-Mischung aufschwingen. Das vorwiegend instrumentale Stück „Las Calles de Medellín“ von Coffee Makers aus Kolumbien bringt uns zurück zu wippenden Ska-Rhythmen. Einige der Bands sind Teil einer Bewegung, spielen täglich auf der Straße oder bei Demonstrationen. Andere konzentrieren sich auf politische Texte oder beschränken sich auf Auftritte bei Solidaritätskonzerten.
Das oft als Schimpfwort gebrauchte „Mestizo“ machen Trikont und articulation e.V. mit Hilfe dieser musikalisch wie politisch anspruchsvollen Mischung zum Etikett einer grenzüberschreitenden Musik. Dazu wird ein umfangreiches Booklet geliefert, das nicht nur über Bands, Musik und Texte, sondern auch über politische Bewegungen Lateinamerikas informiert. Mit „Mestizo Music“ wollen die Herausgeber den Blick auf engagierte Kunst lenken, die Rhythmus und Gesang mit politischer Kritik und gesellschaftlichem Engagement zu verbinden weiss.

Mestizo Music – Rebelión en América Latina; Erschienen bei Articulation e.V. und Trikont Records; Bestellen unter: www.mestizomusic.de;15 Euro

Mythos mexikanische Revolution

In enger Anlehnung an die Theo
rien des Neukantianers Ernst Cassirer – im Vorwort bezeichnet sie ihr Buch selbst als „neucassirerisches Werk“ – billigt die Herausgeberin Zimmering Mythen in der Politik eine positive, die Gemeinschaft fördernde Wirkung zu. Unter diesem Aspekt beschäftigt sich das Buch mit der mexikanischen Revolution, nicht unter historischen Gesichtspunkten, sondern in seiner Form als sinnstiftendem Mythos: „Uns interessiert, wie die politische Gemeinschaft in Mexiko über das Denken an diese Revolution gefestigt wurde, zerfiel oder sich neu formierte.“ Dieser im Vorwort formulierte Satz weist auch bereits auf die grundlegende These des Buches hin, die die Autorin – nach einer kurzen Einführung in die Theorien – im zweiten Aufsatz darlegt: Die „Erschöpfung“ des Revolutionsmythos habe den politischen Wandel in Mexiko möglich gemacht, der schließlich zur Abwahl der über 70 Jahre regierenden Partei PRI führte. Der Mythos einer Revolution, die zu einer sozial gerechteren Gesellschaft geführt hätte, sei mit der sozioökonomischen Transformation der 80er Jahre in Konflikt geraten: Für die Eliten war die darin propagierte Schaffung nationaler Einheit durch das neue Ziel einer Integration Mexikos in den Weltmarkt zum Hindernis geworden. Für die Bevölkerung kam die Verschlechterung der Lebensverhältnisse zusammen mit einer Abkehr von der Taktik, die Versprechungen der Revolution wenigstens symbolisch aufrecht zu erhalten.
Leider werden diese interessanten Thesen fast ausschließlich im zweiten Kapitel behandelt und bleiben somit, vor allem auf politischer Ebene, recht oberflächlich. Die folgenden Aufsätze fügen dem eine Reihe unsystematisch kombinierter „Beispiele“ verschiedener Autoren hinzu, die meistens aus dem kulturellen Bereich stammen und wenig oder gar keinen Bezug zum eigentlichen Thema haben (etwa der sehr interessante Beitrag zum Mythos von Aztlán und zur Chicano-Bewegung im Süden der USA). Unter anderem werden die Erziehungspolitik Vasconcelos, die Muralisten (denen die drei stark biographisch orientierten Aufsätze deutlich zuviel Raum geben) sowie die Feiern zum Revolutionstag dargestellt. Im „zweiten“ Teil sind Beiträge zu Alternativ- und Gegenmythen gesammelt, was sich vor allem auf die (Neo)Zapatisten bezieht. Die Geschichte und Hintergründe des Aufstands der EZLN werden von der Herausgeberin ausführlich dargestellt, wobei sie als politische und ideelle Quelle der Bewegung das Zusammenfallen von anarchistisch-postmodernen Theorien und indigener Praxis sieht. Die daraus entstehende Ablehnung von Gewalt und Machtergreifung „entmachte“ den Revolutionsmythos und entlarve zugleich dessen Instrumentalisierung durch die Regierung. Der folgende Aufsatz über die pasamontaña (Wollmaske) als Symbol enttäuscht durch eine recht schwache Analyse („In den Bergen des Lacondonenwaldes ist es oft kalt. Dagegen helfen die ‘pasamontañas’,…“), bevor das Buch mit dem Mythos des Romans Regina und dem Aztlán-Mythos geschlossen wird.
Die in sich geschlossenen Aufsätze führen aneinandergereiht zu zahlreichen Wiederholungen insbesondere der verwendeten Theorien und historischen Fakten. Vor allem der Zusammenhang mit den eingangs formulierten Thesen bleibt oft fraglich. Um das „Wechselverhältnis zwischen politischem System und politischen Mythen“ deutlich machen zu können, wäre eine tiefer gehende Analyse und ein stärkeres Einbeziehen politischer Aspekte wünschenswert gewesen.

Raina Zimmering (Hg.): Der Revolutionsmythos in Mexiko, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005. 29,80 Euro

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