Demokratischer Aufbruch in Chiapas

Um Eure Ideen und politischen Strukturen zu verstehen, haben wir einige Fragen. Könnt Ihr das Konzept der caracoles erklären und uns den Grund für die Wahl dieses Symbols nennen?

Schon vor dem 9. August 2003 haben wir uns auf die Ideen unserer Vorfahren berufen und beschlossen, die aguascalientes in caracoles umzubenennen. Das caracol, die Meeresschnecke, ist ein Kommunikationsmedium, das wie ein Horn benutzt wird. Je nachdem, ob es für einen Notruf eingesetzt wird, oder um eine Versammlung oder ein Fest über weite Entfernungen anzukündigen, hat das caracol einen unterschiedlichen Klang. Auf diese Weise haben unsere Vorfahren die Meeresschnecke mit viel Verstand eingesetzt, um über weite Strecken miteinander zu kommunizieren. Das caracol stellt für uns ein Kommunikationsmedium dar, über das wir mit unserer Unterstützungsbasis, sowie mit anderen indigenen Organisationen aus verschiedenen Staaten Mexikos und internationalen Gruppen aus der ganzen Welt in Kontakt stehen. Diese Vernetzung ist eine der großen Stärken des zapatistischen Kampfes.
Das caracol bedeutet für uns noch weit mehr als das aguascalientes – es ist nicht bloß eine politische Einrichtung, sondern ein Zentrum des politischen und kulturellen Austausches. Wir haben erlebt, wie viele mexikanische und internationale Nichtregierungsorganisationen ihre Solidarität mit dem zapatistischen Kampf erklären, und so haben wir uns neu strukturiert und die caracoles als Zentren eingerichtet, mittels derer wir mit ihnen sprechen und die Arbeit und den Kampf voranbringen können.

Uns interessiert die Struktur eures demokratischen Systems. Welche verschiedenen Ebenen gibt es zwischen der Unterstützungsbasis und der „guten Regierung“?

Wenn wir über Demokratie sprechen, müsst ihr sehen, dass es hier zwei Arten der Demokratie gibt. Es gibt die Demokratie des Volkes und es gibt die Demokratie des mexikanischen Staates. Letztere beinhaltet, dass die Regierung vor jeder Wahl Millionen von Pesos ausgibt, um seine Demokratie zu erhalten, um massenhaft Plakate aufzuhängen und Medienkampagnen zu finanzieren. Wir Zapatisten auf der anderen Seite brauchen nicht einen Cent, um die Demokratie zu errichten.
Die Demokratie ist das Bewusstsein des Volkes. Die Demokratie ist auch eine Notwendigkeit. Und die Demokratie ist wichtig für die gesamte Menschheit. Im Zapatismus werden die Aufgaben und Verantwortlichkeiten durch die Basis an einzelne Personen übergeben. Aus der Basis entspringt die Demokratie. Auf Gemeindeebene (municipio) muss der Autonome Rat (consejo autónomo) von der Basis gewählt werden, und zwar von einer Vollversammlung (asamblea general), an der Frauen, Männer und auch Jugendliche und Kinder teilnehmen. Die Regierung (junta de buen gobierno) wird dann von Mitgliedern der Autonomen Räte gestellt.

Ist es die Aufgabe eines Delegierten, eigene Entscheidungen zu treffen oder ist er nur Träger der Entscheidung, die auf Basisebene gefällt wurde?

Das hängt von der Angelegenheit ab. Wenn es um eine wichtige und grundlegende Entscheidung geht, kann der Delegierte nicht frei entscheiden, sondern muss seine Basis konsultieren. Aber kleine Entscheidungen fällt die junta de buen gobierno selbst.

Wie sieht die Aufgabe eines Delegierten aus und wie lang ist die Dauer seines Amtes?

Für die Räte des Autonomen Rates dauert eine Amtszeit drei Jahre. Nach zweieinhalb Jahren wird eine Vollversammlung einberufen, um die neuen Delegierten zu bestimmen. Sobald die Personen gewählt sind, beginnen sie mit der Vorbereitung. Wir sind alle Bauern, deshalb brauchen die neu Gewählten Zeit, um die notwendigen Dinge zu regeln. Aber die junta de buen gobierno selbst existiert ja erst seit ein paar Monaten, deshalb können wir noch nicht sagen, wie lange eine Amtszeit dauert. Das hängt auch von den Personen ab. Wenn die Leute sehen, dass die Delegierten ihre Entscheidungen nicht ausführen, setzen sie sie ab und benennen neue.

Die Emanzipation der Frauen ist ein wichtiger Teil des zapatistischen Kampfes. Gibt es Frauen in der Regierung?

Antwort der weiblichen Vertreterin: Im Moment gibt es noch keine Frauen in der Regierung. Die caracoles entstehen gerade erst und wir Frauen werden Schritt für Schritt unsere Arbeit aufnehmen, auch wenn die Situation für uns besonders schwierig ist. Für uns Frauen ist es schwieriger als für die Männer, weil wir zum Beispiel nicht allein in andere Orte gehen können, sondern immer Begleitung brauchen. Aber auch wir übernehmen Verantwortung. In den indigenen Gemeinden beteiligen sich Frauen am politischen Leben und übernehmen auch Aufgaben im Bereich der Bildung und der Gesundheit.

Welche Art der internationalen Hilfe braucht ihr am dringendsten?

Hilfe brauchen wir vor allem bei der medizinischen Versorgung. Hier in Oventik gibt es die Klinik Guadalupe, die Geld- und Sachspenden mit neun angegliederten Mikrokliniken in verschiedenen Dörfern teilt. Bevor es die caracoles gab, musste jeder Patient Behandlung und Medizin bezahlen, wovon das medizinische Personal leben konnte. Aber seit den Veränderungen, die auf den 10. August 2003 folgten, muss niemand mehr für Medikamente oder ärztliche Behandlungen zahlen, alles ist kostenlos. Zur Zeit haben wir hier circa 50 Patienten pro Tag, die nicht kommen könnten, wenn wir für die Behandlung Geld verlangen würden, weil sie keines haben. Was sie haben sind Kopf- oder Bauchschmerzen. Wir brauchen auch Unterstützung im Bildungswesen. Die Schüler in Oventik kommen teilweise aus sehr abgelegenen Dörfern, und wir müssen sie hier unterbringen und versorgen.
Und dann gibt es noch die Vertriebenen in Polhó. Dort leben jetzt 5.333 Menschen; sie haben keine Häuser und keine Nahrungsmittel. Wir kaufen schon monatlich 28 Tonnen Nahrungsmittel, aber das ergibt für jede Person nur fünf Kilogramm – monatlich!
Das sind die drei wichtigsten Punkte. Spenden für die Flüchtlinge gehen direkt nach Polhó, Spenden für Bildung und Gesundheit werden von der Regierung verteilt, damit nicht einzelne Gemeinden bevorzugt werden.

Die autonomen Gemeinden existieren jetzt seit zehn Jahren. Wenn ihr noch zehn Jahre weiter in die Zukunft denkt, wie sieht das Leben hier aus?

Wir spüren diese zehn Jahre nicht direkt, wir sehen nur einen Fortschritt im Kampf. Anfangs hat die mexikanische Regierung uns geschlagen, aber sie konnten nicht alle töten. Jetzt bilden wir schon eigenständige Bezirke (municipios autónomos).
Wenn ich in die Zukunft sehe, dann hat dort jeder, der hier geboren wird, schon seine eigene Gemeinde. Jeder kleine Junge und jedes kleine Mädchen wächst in seinem municipio auf, weil seine Eltern und Geschwister dafür gekämpft und es errichtet haben. Sie sind nicht mehr abhängig von der Bundesregierung, sondern haben ihre eigene Regierung, die Regierung der Bauern selbst, der Indígenas selbst – sie sind es, die regieren.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens

Die Rebellion ist wie dieser Schmetterling, der auf das Meer ohne Insel oder Felsen zuhält. Das Tier weiß, dass es keinen Platz zum Landen hat, doch zögert es nicht zu fliegen. Aber nein, weder der Schmetterling noch die Rebellion sind dumm oder selbstmörderisch. Es ist nur so: Sie wissen, dass sie doch etwas haben werden, wo sie landen können, weil es in dieser Richtung eine kleine Insel gibt, die noch kein Satellit entdeckt hat. Mit diesen gewohnt polit-poetischen Worten beginnt Marcos seinen Kalender des Widerstandes. Literarische Stilmittel wie Tierfabeln und Momentaufnahmen ziehen sich durch alle 13 Kapitel. In jedem wird eine Region in Mexiko beschrieben. Marcos prangert die dortigen Missstände an.
Der Aufstand der Zapatistas zum Beginn des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1994 richtete sich gegen Ausbeutung, Rassismus und Marginalisierung der indigenen und ländlichen Bevölkerung durch die Herrschaft der Großgrundbesitzer und der politischen Funktionäre. Die EZLN lehnt das mexikanische Parteiensystem (PAN, PRD, PRI) ab.
Der Kalender beschreibt Absprachen, Skandale und Vetternwirtschaft, die immer wieder auftreten.
Die EZLN versteht sich als konsequent basisorientierte Bewegung. Eine radikale Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft ist ihr Ziel. Marcos bezeichnet seine Texte als Stelen. Damit nimmt er auf die Darstellung alter Herrschafts-Geschichte der Maya Bezug.
Der Vorspann des Kalenders erklärt, warum Marcos sein langes Schweigen gebrochen hat. Der Grund ist das Scheitern der Verfassungsreform von 2001, die der indigenen Bevölkerung Mexikos lange geforderte Rechte zugestehen sollte.
„Wenn die Damen und Herren, die sich selber Denker nennen, mit unseren Augen gesehen hätten“, schreibt Marcos über die damalige Chance der Regierung, „dann hätten sie unser späteres Schweigen und unsere derzeitigen Worte verstanden. Aber nein. Sie denken, dass sie denken. Und sie denken, dass wir ihnen etwas schulden. Aber wir schulden ihnen gar nichts.“
Das Buch zeigt eine von Korruption, Diskriminierung und Repression gezeichnete Gesellschaft sowie den Kampf der Campesinos und Campesinas für die Anerkennung indigener Rechte und einen Autonomiestatus innerhalb Mexikos. Die Bildung zivilgesellschaftlicher Versammlungen in Form der „Caracoles“ wurde von der Regierung begrüßt. Sie ist auch Teil der Öffentlichskeitsarbeit.
Die Anmerkungen der B.A.S.T.A Redaktion an dieser Stelle sind teilweise unpassend und verstärken das Schwarz-Weiß Bild einer bösen mexikanischen Regierung.
Eine Landkarte, eine Zeittafel zum zapatistischen Aufstand und ein Glossar sind hilfreiche Ergänzungen. Auf der politischen und geschichtlichen Reise durch Mexiko verwirren selbst blanke Zahlen oder Aufzählungen von Namen nicht: Die LeserIn erhält durch so ein umfassendes Bild. Dank vieler Anekdoten und Situationsschilderungen wird auch die Hoffnung, die die EZLN in die Menschen setzt, vermittelt. Die Publikation des Kalenders in Deutschland zeigt einmal mehr, dass sich die EZLN auf den Rückhalt einer breite Öffentlichkeit verlassen kann.

Gruppe B.A.S.T.A (Hg): Der Kalender des Widerstandes, Verlag Edition AV; Frankfurt/M 2003, 220S., 13 Euro. Bezug: Buchhandel oder Email an: basta@gmx.de

Sieben Erkentnisse am Abgrund

1. Wer in einem Begleitprojekt bestehen will, muss einiges an Heroismus mitbringen.
Zum Beispiel das Aufstehen – Bogotá, sechs Uhr morgens: Man kann sich glücklich schätzen, wenn es nicht schon um diese Zeit, sondern erst gegen 15 Uhr nachmittags regnet. In Sachen Hässlichkeit steht das Wetter Bogotás dem von Berlin wirklich in nichts nach – mit dem Unterschied, dass man in Bogotá keine Heizung kennt. Der erste Blick aus dem Fenster: ein ausnahmsweise fast wolkenloser Himmel, der das ganze Ausmaß des Bogotaner Smogs offenbart. Mit der Weltmarktintegration sind zwar die meisten kolumbianischen Industrien still gelegt worden, aber Autoverkehr und Exportblumenplantagen sorgen auch allein für ein bemerkenswertes Diesel-Pestizid-Ambiente. Der Gang in Richtung Bad: ein scheußlicher roter Läufer, eine Blumentapete, die auch bei Oma in Solingen-Ohligs hängen könnte, und ein überdimensionales Gesicht – „Edgar Quiroga, Bauernführer, von der Armee am 28. November 1999 ‘verschwunden’ gelassen.“ Die ersten beiden Geschmacklosigkeiten mussten mit angemietet werden, das Bild wurde unserer „Solidaritätsbotschaft“ von einem befreundeten Bauernverband geschenkt.
Die Dusche: Ana María und Julio aus Zaragoza haben uns die Anschaffung eines Elektroboilers verboten, obwohl M. (meine Freundin, die Gute) den Apparat persönlich bezahlt hätte. „Das kostet zu viel Strom“. Bisher habe ich immer gedacht, Deutsche seien das geizigste Volk Europas, doch hier stelle ich fest, dass man auch in Zaragoza ein ziemlich kontrolliertes Verhältnis zu Geld zu haben scheint. Bei 12 Grad Zimmertemperatur unter eine mindestens ebenso kalte Dusche zu steigen, ist zwar nicht unbedingt gesundheitsschädigend, aber es erfordert Überwindung. Man muss allen verfügbaren Heroismus mobilisieren. Die Alternative ist allerdings noch unangenehmer: Europäer haben hier den Ruf, sich nicht zu duschen. Wenn man dreimal am Tag darauf angesprochen wird, ein ungewaschener Metropolenbewohner zu sein, ist es von Vorteil, wenigstens auf ein ruhiges Gewissen verweisen zu können.

2. Wir sollten einen EU-Antrag stellen: Begleitprojekte fördern die europäische Integration; man erfährt etwas über unsere Nachbarländer.
Zum Beispiel über Oscar und Italien. Seit er aus einer Kriegsregion zurückgekehrt ist (um in der darauffolgenden Woche in die nächste zu gehen), ist er auffallend albern. Nicht so sehr wegen der Rückkehr, sondern weil man eigentlich überall bessere Laune bekommt als im unmittelbaren Einflussbereich der Regierung Uribe. Oscar steht in der Küche und brüht Kaffee auf. Vor sieben Uhr morgens ist er allerdings nicht ganz so laut wie am Rest des Tages.
Er erzählt mir seine Geschichte. Oscar stammt aus der 77er-Jugendbewegung. Die bleiernen Jahre, die in Italien bis 1990 andauerten, hat er in der Antipsychiatriebewegung verbracht. Erst mit den Zapatisten ist er aus seinem Winterschlaf zurückgekehrt und macht seitdem Fotobücher. Für seine Kolumbienreise hat er drei Jahre vorgearbeitet – in einer Nervenheilanstalt.
„Ist dir schon aufgefallen, dass Oscar genauso alt ist wie meine Mutter?“ M. kommt in die Küche. Sie steht nicht gern früh auf, aber zum Projekttreffen um sieben Uhr morgens ist sie pünktlich.
Nicht wirklich. „Oscar ist infantiler als deine Mutter.“
Wir unterhalten uns über die 70er Jahre und warum so viele Italiener nach Chiapas fahren. In diesem Augenblick ist unser Team plötzlich komplett. German und Clara betreten die Küche. Die beiden stammen aus der Nähe von Huesca, waren ein halbes Jahr in einem von Armee und Paramilitärs abgeriegelten nordkolumbianischen Gebiet und sind der lebende Beweis dafür, dass man bei der europäischen Integration nicht generalisieren darf. German und Clara stammen zwar auch aus Aragonien, aber pflegen anders als ihre Landsleute Ana María und Julio einen ganz und gar nicht kontrollierten Umgang mit Geld. Sie haben Croissants mitgebracht. Ungewohnter Luxus. In Berlin gab es nur noch am Wochenende manchmal Croissants.

3. Die Gesetze der Logik sind relativ.
In Kriegssituationen wird das immer besonders deutlich. Da redet ein Präsident, dessen Biographie aufs engste mit Drogenhandel und Paramilitarismus verwoben ist, vom Kampf gegen das Verbrechen, und die US-Regierung lässt zum Schutz der Menschheit vor krank machendem Kokain weite Teile Amazoniens mit hochgiftigen Herbiziden besprühen. Noch viel relativer sind die Gesetze der Logik jedoch im Alltag unseres kleinen Projekts. Pünktlich um 7 Uhr beginnt das wöchentliche Treffen mit den Partnerorganisationen Bogotás: einer Gewerkschaft, zwei Menschenrechtsgruppen, einem Bildungsinstitut, der Bauernkoordination CNA. Das interne Reglement der Solidaritätsbotschaft besagt, dass von unserem Haus aus nicht in den Büros der befreundeten Organisationen angerufen werden darf. Die Regierung Uribe hat die NGOs erst unlängst wieder als „internationale Förderer des Terrorismus“ bezeichnet, und so versucht man, nicht allzu unangenehm aufzufallen. Bis auf freitags kommen die befreundeten Gruppen bei uns im Haus vorbei. Und weil die meisten sozialen Organisationen Kolumbiens in Anbetracht ständiger Mordanschläge vor den internationalen Institutionen Schutzmaßnahmen durchsetzen konnten, treffen fast alle unsere Freunde mit Begleitung ein. In unserer verschlafenen Straße in einem unscheinbaren Mittelschichtsviertel von Bogotá parken plötzlich mehrere gepanzerte Jeeps mit Leibwächtern – Bodyguards, die drolligerweise zwar Vertrauensleute der Organisationen sind, jedoch von der gleichen kolumbianischen Regierung finanziert und ausgerüstet werden, die diese Organisationen am liebsten noch heute verbieten würde.
Das wöchentliche Treffen beginnt mit Routine: Verhaftungen, Morddrohungen, Massaker. Doch daneben gibt es diese Woche auch einen erfreulicheren Tagesordnungspunkt. Eine internationale Gewerkschaftsdelegation kommt zu Besuch. M. und ich sollen sie nach Arauca begleiten, wo die Sicherheitsorgane gerade eine Kriminalisierungswelle gegen Gewerkschaften und Bauernorganisationen gestartet haben.
M. ist begeistert: „Endlich mal raus aus dieser Drecksstadt.“
Meine Reaktion ist jedoch zwiespältiger: „Vom Regen in die Traufe.“ Das wird sich später bestätigen.

4. a) Kolumbianische Gewerkschafter erschrecken sich nicht vor Militärsperren, b) und essen gerne Fleisch.
Wenn man mit dem DGB zu tun hat, entsteht bisweilen der Eindruck, dass einem permanente Gewerkschaftsarbeit mit der Zeit auf Geist und Gemüt schlagen muss. Aber auch in dieser Hinsicht wird man hier eines Besseren belehrt – wahrscheinlich weil die kolumbianischen Arbeitnehmerorganisationen, dank betrieblicher Umstrukturierung, investitionsfreundlicher Gesetzgebung und 4500 Morden, auf die Größe eines etwas umfangreichen Kleingartenvereins geschrumpft und damit auch die Verwaltungsarbeiten in den Hintergrund gerückt sind.
Flughafen Saravena: Direkt neben der Landebahn liegen ein schwer befestigter Militärstützpunkt und ein Bunker von US-Sondereinheiten, die hier die Pipeline der Occidental Oil Company schützen. Zurückhaltend kann man die Situation als gespannt bezeichnen. Um die 50 Aktivisten sind in der 40.000 Einwohnerstadt in den vergangenen zehn Monaten verhaftet, an die 30 weitere ermordet worden; das Flughafengebäude wurde vor kurzem bei einem Guerillaanschlag in eine Ruine verwandelt. Edgar Paez von der Nahrungsmittelgewerkschaft SINALTRAINAL ist trotzdem guter Dinge. „Sabrrrroso“, lecker – er rollt das R. „Endlich wieder in Arauca.“ In den ostkolumbianischen Tiefebenen schätzt man deftiges Essen. „Und? Ist das Rind schon geschlachtet?“ Wir sind für den folgenden Tag zu einer Grillparty auf dem Land eingeladen. Die Gastgeber bejahen die Frage, Edgar macht ein glückliches Gesicht. „Ist das nicht wunderbar?“
Die kolumbianisch-brasilianisch-deutsch-schweizerische Delegation rollt im Taxikonvoy in die Innenstadt Saravenas. Unter jedem Baum steht ein Soldat, am Straßenrand sind sandsackbefestigte Stellungen der Polizei aufgebaut, an den Wänden prangen Parolen der Todesschwadronen AUC.
„Das ist doch das Beste, das hier.“ Edgar fletscht die Zähne, wir nicken. „Arrrauca“, nochmal rollendes R, „sabrrroso“.
Die Taxis halten vor dem Hotel. Es ist 11 Uhr morgens – aber bereits drückend heiß. „Jetzt erst mal eine schöne Arbeitsbesprechung und danach eine Runde Bier.“ Am Vortag hat die Coca-Cola-Geschäftsführung verkündet, acht von siebzehn Abfüllanlagen im Land zu schließen. Die Gewerkschaft wird damit noch einmal schrumpfen: von der Größe eines besseren Kleingartenvereins auf die eines mittleren Skatclubs. Doch der Kollege Paez lässt sich auch hiervon die Stimmung nicht vermiesen. Bei so vielen Katastrophen bleiben einem nur zwei Optionen: Verbitterung oder Marx Brothers.

5. Begleiter wollen begleitet werden.
An sich besteht die Funktion eines internationalen Begleitprojekts natürlich darin, bedrohten kolumbianischen Aktivisten moralische Unterstützung zukommen zu lassen. Ungünstigerweise lässt die moralische Verfassung der ausländischen Besucher in unserem Fall ebenfalls zu wünschen übrig. Die kolumbianisch-brasilianisch-deutsch-schweizerische Delegation streitet sich darüber, ob man die Einladung aufs Land wahrnehmen soll. Die brasilianischen Kollegen sehen das nicht so eng: Chemiegewerkschafter Piauí aus dem gleichnamigen Bundesstaat musste als Jugendlicher vor Fazendeiros aus Nordostbrasilien nach São Paulo fliehen. „Das ist hier doch wie zu Hause“. Wir Europäer sind da deutlich zarter besaitet.
„Die Botschaft hat uns dringend davon abgeraten, nach Saravena zu kommen.“
„Und nicht nur die Botschaft.“
Die Vertreter der sozialen Organisationen Araucas nicken. Sie wissen, wie man Zweifelnden Mut macht. „Ihr geht doch nicht allein“, sagt der Anwalt von der regionalen Menschenrechtskommission, „wir begleiten euch doch.“
„Und das Fleisch“, wirft Kollege Paez etwas unpädagogisch ein. „Die grillen das auf Spießen direkt über der Holzkohlenglut.“
„Wenn wir fahren, dann keinesfalls, um über Nacht zu bleiben.“
„Aber da sind viele Leute.“ Der Menschenrechtsanwalt gibt sich große Mühe. „Bauern aus der ganzen Region kommen da hin.“
„Wie viele genau?“
„70.“
„70“, wiederholen wir Europäer nachdenklich.
Schwierige Frage: Kann man von ausreichender Begleitung sprechen, wenn eine neunköpfige Begleitungsdelegation von 70 Bauern begleitet wird?

6. Auch Militärs sind nicht gern allein.
Der Morgen nach dem Barbecue verläuft mäßig. Nach dem Verzehr eines Rindes, dessen 120 Kilo Fleisch so zart waren wie versprochen, ist die Stimmung in der brasilianisch-deutsch-schweizerischen Delegation nach dem Aufstehen sichtlich angespannt. M. und ich sind von dubiosen Zwerginsekten namens cuquitos zerstochen, unsere europäischen Kontinentalgefährten sind verärgert, weil wir die Nacht entgegen der Absprache doch auf dem Land verbracht haben. Zu allem Überfluss bricht bei der Rückkehr nach Saravena nach 15 Minuten Schotterweg bei unserem Wagen auch noch die Achse. Und weil Gewerkschafter als arbeitende Bevölkerung nur begrenzt über Ferientage verfügen und deswegen ihren Flug nicht verpassen dürfen, setzen M. und ich die Delegation in den ersten zur Verfügung stehenden Wagen und bleiben mit drei Kolumbianern – ebenfalls ohne Festanstellung – zurück.
Die zufällig vorbeikommende Guerilla schenkt uns keine Beachtung, das heißt, wir werden freundlicherweise nicht entführt (was schon mal nicht schlecht ist). Doch als wir eine Stunde später endlich ein Fahrzeug aufgetrieben haben, bricht das nächste Unglück über uns herein. Genauer gesagt wir rollen darauf zu: Armeesperre. Leutnant Correa hat von seinem Vorgesetzten die Anweisung erhalten, die internationalen Verbindungen der Subversion lückenlos aufzuklären. Trotz Geleitbriefs der deutschen Botschaft werden wir fünf Stunden lang festgehalten, während der Menschenrechtsbeauftragte des Gewerkschaftsdachverbands CUT, das kolumbianische Armeekommando und diverse NGOs einige Dutzend freundlicher und weniger freundlicher Telefonate miteinander führen.
Weil die im Land verteilten Ermittlungsbehörden von 9-14 Uhr Mittagspause zu haben scheinen, können wir uns ausgiebig mit den anwesenden Soldaten unterhalten. Gesprächsthemen: Essgewohnheiten hier und dort, die neue europäische Einheitswährung, das Wetter. Ein Anwesender mit zupackender Ausstrahlung berichtet stolz, sich für den Irak-Einsatz gemeldet zu haben. „Da verdient man in Dollars.“ Wir nicken aufmunternd, weil man schließlich nicht jeden Tag bei einer waschechten Invasion mitmachen darf, und blicken nur zwischendrin unruhig ins Gestrüpp. In Arauca muss man an einer Militärsperre permanent mit Guerillaangriffen oder Autobomben rechnen.
„So habe ich mir das nicht vorgestellt“, merkt M. lapidar an. „Begleitprojekt für Militärs.“

7. Die US-Army weiß, wie man’s macht.
Zurück in der Freiheit. Die Uribe-Regierung hat noch einmal ein Auge zugedrückt. Danke! Wir erreichen den Flughafen Saravena, kurz bevor die brasilianisch-deutsch-schweizerischen Arbeitervertreter wieder Richtung Bogotá entschwinden. Während wir mit einem letzten Erfrischungsgetränk auf die trotz allem geglückte Mission anstoßen, fährt plötzlich ein halbes Bataillon martialisch sonnenbebrillter Spezialpolizisten vor. In ihrer Mitte: ein auffallend rosafarbener US-Ausbilder mit seltsam unsportlicher Figur. „Ein Schreibtischtäter“, stellt M. sachkundig fest. Vertraut grüßt der nordamerikanische Sonderbeauftragte die jungen Polizisten am Abfertigungsschalter, händigt dem kolumbianischen Offizier seine Pistole aus und führt erst einmal ein Handy-Gespräch mit der Heimat. Ich bin erstaunt. Bisher habe ich solche Leute immer für ein verschwörungstheoretisches Klischee gehalten.
„So was nenne ich ein Begleitprojekt.“ M. runzelt voller Anerkennung die Stirn. „50 bis an die Zähne bewaffnete Leute auf einen, der beschützt werden soll.“

Die „Solidaritätsbotschaft“ ist ein Projekt des Red Europea de Hermandad y Solidaridad con Colombia (Europäisches Solidaritätsnetzwerk Kolumbien) und wird von Gruppen in Spanien, Italien, der Schweiz und Deutschland getragen. Um die sozialen Organisationen Kolumbiens vor Attentaten zu schützen und internationale Öffentlichkeit herzustellen, führen Menschenrechtsgruppen, darunter Peace Brigades International, schon seit einigen Jahren so genannte Begleitprojekte durch. Die Eskalation des kolumbianischen Konflikts und unzureichende Kapazitäten der bisher im Land aktiven Gruppen, haben das Red Europea nun zur Gründung der so genannten „Solidaritätsbotschaft“ veranlasst, die internationale Freiwillige aus ganz Europa an die kolumbianischen Projektpartner vermittelt und betreut. Deklariertes Ziel ist die „Solidarität von sozialer Bewegung zu sozialer Bewegung“. Im Verlauf des Jahres 2003 haben auf diese Weise 20 Freiwillige verschiedene kolumbianische Partner im ganzen Land zwischen ein und acht Monate lang begleitet: Flüchtlingsgemeinden, protestierende LehrerInnen, von der Armee eingekesselte Bauerndörfer, bedrohte Gewerkschafter oder Jugendorganisationen. Am Begleitprojekt Interessierte werden von den Gruppen des Red Europea auf den Aufenthalt vorbereitet.
Kontakt in Deutschland: kolumbien-odyssee@gmx.net ;
Internationale Koordination: redher@sky.net.co.

Chronik einer Rebellion

San Cristóbal de las Casas am 1. Januar 1994: Vom Balkon des Rathauses verliest ein gewisser Subcomandante die Erste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald. Die Forderungen der Aufständischen lauten: Land, Arbeit, Nahrung, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit. Das mexikanische Bundesheer reagiert mit Härte. Vor allem in der Stadt Ocosingo, wo die ZapatistInnen den Marktplatz mehrere Tage besetzt halten, kommt es zu schweren Gefechten. Am Ende sind mehrere Dutzend Menschen tot. Fünf ZapatistInnen weisen Kopfschüsse auf.
Ihr Ziel, durch einen massiven Militärschlag die Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu ziehen, haben die ZapatistInnen zweifelsohne erreicht. Die Regierung ist so perplex, dass ihr zunächst nichts besseres einfällt, als den Aufstand nationalen und internationalen, vor allem zentralamerikanischen Verschwörern in die Schuhe zu schieben, die die Indigenas manipuliert hätten, und setzt auf die militärische Karte. Mehrere Tausend Soldaten des Bundesheeres werden in Chiapas zusammengezogen um den Aufständischen den Garaus zu machen. Mit Massendemonstrationen nicht zuletzt im 1.500 Kilometer entfernten Mexiko-Stadt gelingt es jedoch, die Regierung von diesem Vorhaben abzubringen und an den Verhandlungstisch zu zwingen. Das Resultat ist ein 34-Punkte-Plan, der den indigenen Gemeinden einige soziale Verbesserungen verspricht, die politischen Forderungen der EZLN jedoch ignoriert. Dass 97 Prozent der zapatistischen Basisgemeinden den Plan ablehnen, ist also kaum verwunderlich.
Um den Jahreswechsel 1994/95 scheint eine Verhandlungslösung des Konflikts möglich zu sein. Repräsentanten der Regierung des neu gewählten Präsidenten Zedillo und der Kommandantur des EZLN treffen sich zu vertraulichen Gesprächen. Doch genau in dieser Situation, als sich ein fruchtbarer Dialog zu entwickeln scheint, lanciert Zedillo am 9. Februar 1995 eine militärische Offensive gegen die zapatistischen Gemeinden und erlässt Haftbefehle gegen führende ZapatistInnen. Die nationale und internationale Gemeinschaft reagiert mit Solidaritätskundgebungen. Nach kurzer Zeit muss Zedillo die Offensive abbrechen, aber das Vertrauen der EZLN in die Regierung ist nachhaltig gestört.

Das Abkommen von San Andrés
Nichtsdestotrotz gelingt es nach zähen Verhandlungen den Delegationen der beiden Konfliktparteien am 16. Februar 1996 in dem chiapanekischen Dorf San Andrés Larraínzar ein Teilabkommen zu schließen, das den indigenen Gemeinden weit reichende Autonomierechte zugesteht. Damit scheinen wesentliche Bestandteile des Forderungskataloges der EZLN umgesetzt und die Voraussetzungen für weitere Verhandlungen zu anderen Themen geschaffen. Die aus Abgeordneten und SenatorInnen aller Parteien bestehende Verhandlungskommission Cocopa legt dem Kongress einen umfassenden Gesetzesentwurf vor, doch Präsident Zedillo legt sein Veto ein. Das Abkommen von San Andrés wird nie umgesetzt. Zu weit reichend waren die zugestandenen Autonomierechte, die den indigenen Gemeinden nicht zuletzt mehr Selbstbestimmung und Rechte über die in Chiapas reichhaltig vorhandenen Bodenschätze eingeräumt hätte.
Nun bricht die EZLN den Dialog endgültig ab und konzentriert sich auf den Auf- und Ausbau nationaler und internationaler Bündnisse. Noch im Juli 1996 laden die ZapatistInnen zum „Intergalaktischen Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Menschlichkeit“ in den lakandonischen Urwald ein. Eine Woche lang diskutieren linke Basisorganisationen aus 42 Ländern in eigens für das Treffen gebauten Arenen mit den ZapatistInnen über die konkreten Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung.
Während der Bekanntheitsgrad der EZLN international auf einem Höhepunkt angelangt ist, müssen sich die ZapatistInnen mit der alltäglichen Bedrohung durch Militär und Paramilitärs auseinander setzen. Vor allem im Hochland von Chiapas kommt es massiv zu Vertreibungen aus den zapatistischen Gemeinden durch paramilitärische Gruppen. Tausende von Menschen müssen fliehen. Am 22. Dezember 1997 erreicht die Gewalt einen grausigen Höhepunkt als in der Gemeinde Acteál 45 wehrlose Menschen von einer paramilitärischen Gruppe massakriert werden. Um die Aufklärung des Massakers bemüht sich die Regierung kaum. Mehr noch, in der Folgezeit verweist sie eine ganze Reihe derjenigen außer Landes, die die Menschenrechtssituation in Chiapas unter die Lupe nehmen.
Erst mit der Abwahl der PRI und dem Amtsantritt von Vicente Fox im Herbst 2000 keimt wieder Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konfliktes auf. Zumindest ordnet Fox die Auflösung einiger weniger Militärbasen des Bundesheeres in Chiapas sowie die Freilassung von zapatistischen Gefangenen an. Außerdem verspricht er, die Gesetzesinitiative der Cocopa erneut dem Kongress zur Abstimmung vorzulegen.
In dieser Phase gelingt der EZLN im März 2001 mit dem Marsch auf die Hauptstadt nochmals eine massive Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Die ZapatistInnen werden begeistert empfangen, an der Abschlusskundgebung des Marsches in Mexiko-Stadt nehmen fast eine Million Menschen teil. Am 28. März hält die zapatistische Comandante Esther vor dem mexikanischen Kongress eine bewegende Rede und wirbt für die Umsetzung der im Abkommen von San Andrés beschlossenen Autonomierechte. Aber der vier Wochen später vorgelegte Gesetzentwurf bleibt hinter den Erwartungen der ZapatistInnen zurück: Ein einklagbares Recht der indigenen Gemeinden auf politische Autonomie und der Zugriff auf die natürlichen Ressourcen werden darin verweigert. Wieder einmal gelingt es den ZapatistInnen die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf sich zu ziehen, sie erfahren die Solidarität großer Teile der Gesellschaft. Aber politische Reformen, die zu einer substanziellen Verbesserung der in jeglicher Hinsicht prekären Situation der Indígenas beitragen könnten, werden wiederum nicht erreicht.
Mit der Erfahrung, dass von der Bundesregierung keine Zugeständnisse zu erwarten sind, ziehen sich die ZapatistInnen zwei Jahre lang fast gänzlich von der nationalen und internationalen Bühne zurück und widmen sich dem Ausbau der politischen und administrativen Strukturen in den autonomen Gemeinden. Im August werden die „Juntas der guten Regierung“ gebildet. Sie sind mit der Organisation von Schule, Justiz und Gesundheitswesen betraut.

Der Aufstand ist noch nicht zu Ende
Zehn Jahre nach Beginn ihres Aufstands hat die EZLN nur wenige konkrete Verbesserungen für die indianische Bevölkerung des Bundesstaates Chiapas erreicht. Doch die Rebellion war und ist keinesfalls vergeblich. Die prekäre soziale Lage der Indígenas ist dem Vergessen entrissen und gilt heute als Skandal. Die indigenen Ethnien Mexikos agieren landesweit als selbstbewusste Subjekte und streiten für ihre Interessen. Und auf internationaler Ebene hat das Ya basta der EZLN dem Widerstand gegen den neoliberalen Konsens einen enormen Auftrieb gegeben. In Chiapas steht eine Wiege der globalisierungskritischen Bewegung.

Auf der Suche

Was 1994 die Angriffe des mexikanischen Militärs auf die zapatistische Zivilbevölkerung und die Milizen aufhielt – und dabei sowohl die Guerrilla als auch die Regierung überraschte – war die Massendemonstration vom 12. Januar in Mexiko-Stadt. Die Menschen strömten zu hunderten und tausenden auf den Zócalo um das Ende des Krieges zu fordern. Viele waren unorganisiert und spontan auf die Straße gegangen, andere wiederum stammten aus den unabhängigen, linken Organisationen, die im Laufe der 80er und 90er Jahre begonnen hatten, die Hegemonie der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) über die unterprivilegierten Klassen in Frage zu stellen.

Volksfront gegen die PRI
Teile und herrsche war über Jahrzehnte ein bewährtes Rezept für die PRI, um ihre Herrschaft zu sichern und Oppositionsbewegungen unter Kontrolle zu halten. Durch die Kombination unterschiedlicher Herrschaftsmechanismen – ausgehandelter Interessenausgleich, Integration einzelner sozialer Forderungen in Regierungsprogramme, Kooptierung potenzieller Oppositionskräfte ins System und selektive Repression – konnte die Herausbildung einer breiten Opposition zur Staatspartei vermieden werden. Ob StudentInnenbewegung 1968 oder Guerillabewegungen in den Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca, nie erlangte eine einzelne Gruppe über den eigenen Sektor oder Bundesstaat hinaus einen relevanten politischen Einfluss.
Die zapatistische Rebellion und der Aufruf des Subcomandante Marcos zu einer breiten Front des Widerstandes gegen das „System der Staatspartei“ boten nun einen Anlass für unzählige Organisationen, sich zu einer Oppositionsfront zusammenzufinden. Die ZapatistInnen erschienen als politischer Anknüpfungspunkt und Beispiel für das eigene politische Handeln. Für die ZapatistInnen wiederum wurde die nationale und internationale Solidarität zu einem wichtigen Druckmittel, um das Vordringen des Militärs aufzuhalten und die Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen.
In diesem Zusammenhang starteten die ZapatistInnen eine Reihe von Initiativen zur Gründung breiter sozialer Allianzen gegen die Regierung der PRI. Allerdings waren weder dem Demokratischen Nationalkonvent (CND), gegründet im August 1994, noch der Nationalen Befreigungsbewegung (MLN) aus dem Jahr 1995 ein langes Leben beschieden. Zu unterschiedlich waren die Organisationen, die sich in diesen Allianzen zusammenfanden in Bezug auf soziale Zusammensetzung, Perspektiven und politische Ziele.
Im Januar 1996 gab die EZLN als neuerliche Organisationsalternative für die „Zivilgesellschaft“ die Gründung der Zapatistischen Front der Nationalen Befreiung (FZLN) bekannt. Diese Organisation verstand sich als zivile, nicht parteigebundene Organisation, deren politischer Bezugspunkt die Programmatik der chiapanekischen Guerrilla war. Bei diesem bisher letzten Versuch eine direkt von der EZLN beeinflusste Organisation aufzubauen, dürfte auch der Gedanke mitgespielt haben, nach einem eventuellen Friedensschluss über zivile politische Strukturen auf nationaler Ebene zu verfügen.

Vom „bewaffneten Reformismus“ zur Indígenalobby?
Zu diesem Friedensschluss kam es aber nicht. Verschiedenste Ereignisse, wie die Verhärtung der Regierungposition in Bezug auf die Forderungen der EZLN, die steigende Präsenz von Paramilitärs in den zapatistischen Zonen, mit dem brutalen Höhepunt des Massakers von Acteal im Dezember 1997, und die Weigerung des Präsidenten Ernesto Zedillo, den Gesetzesvorschlag der parlamentarischen Kommision für die Befriedung (Cocopa) über die Rechte der Indígenas anzunehmen, brachten die ZapatistInnen dazu die Verhandlungen mit der mexikanischen Regierung abzubrechen und auf eigene Faust die Autonomie in den von ihnen kontrollierten Zonen durchzusetzen. Andere gesamtgesellschaftliche Forderungen, wie Land, Arbeit, Erziehung, Gesundheit und Wohnungen für alle MexikanerInnen, die in der ersten Deklaration der Selva Lacandona noch gleichzeitig mit der Durchsetzung der Rechte der indigenen Bevölkerung genannt worden waren, begannen im zapatistischen Diskurs allmählich zu verblassen.
In all diesen Jahren waren es aber immer wieder die Massendemonstrationen sowie die nationalen und internationalen Protestaktionen, die die Regierung zum Rückzug zwangen und den ZapatistInnen eine Atempause verschafften. Aus diesen positiven Erfahrungen mit den spontanen Demos auf der einen Seite und dem Scheitern der Bündnisse und Netzwerke á la CND, MLN oder FZLN auf der anderen Seite, dürften die ZapatistInnen den Schluss gezogen haben, sämtliche Bestrebungen, ein breites Bündnis der Linken auf nationaler Ebene aufzubauen, ihrem Schicksal zu überlassen. Stattdessen wurde nun die auf der nationalen und internationalen Ebene gewonnene politische Autorität zu Gunsten der Autonomiebestrebungen der mexikanischen Indígenas eingesetzt und zum Schutz der eigenen sozialen Basis in Chiapas.
Druck auf die beiden Kammern des mexikanischen Kongresses auszuüben, um doch noch die Annahme des Gesetzesvorschlags der Cocopa durchzusetzen, war daher auch das erklärte Ziel der zapatistischen Comandantes bei ihrem Marsch von Chiapas nach Mexico-Stadt im Februar 2001. Eingekreist vom Militär und bedroht vom Vergessen, setzte die zapatistische Leitung alles auf eine Karte: ein Marsch in die Hauptstadt, um die Militär- und Informationsblockade zu durchbrechen und damit die politischen Voraussetzungen für ein Friedensabkommen zu schaffen. Unzählige Menschen, vor allem Jugendliche, kamen auf die Versammlungen der ZapatistInnen, um sich ihre Vorschläge in Bezug auf Selbstverwaltung, Rechte der Indígenas und Autonomie anzuhören. Aber die EZLN sah ihre Funktion nicht darin, all diesen Leuten eine politische Alternative anzubieten: „Wir sind nicht das, was ihr sucht, wir sind selber auf der Suche.“ sagte der Subcomandante Marcos am 11. März in seiner Rede vor 200.000 Menschen auf dem Zócalo.
Die Unterstützung und Solidarität, die die Comandantes auf ihrer Reise durch Mexiko empfangen haben – zu einem Zeitpunkt als die zapatistische Bewegung schon fast als vergessen galt – zeigt, dass die ZapatistInnen mit ihrem Diskurs, der die Ausbeutung und Entfremdung kritisiert und ein würdiges Leben einfordert, den Finger in eine offene Wunde legen und immer wieder viele Menschen ansprechen können. Ohne Organisierung ist die Gefahr jedoch groß, dass diese Unterstützung wieder verfliegt.
Aus diesem Grund ist es wichtig für die ZapatistInnen, den Kontakt zur nationalen und internationalen Öffentlichkeit nicht zu verlieren. Statt sich mit den organisierten Teilen der radikalen sozialen Bewegungen Mexikos und Lateinamerikas, mit deren Widerstandstraditionen und politischer Geschichte auseinanderzusetzen, geht es immer mehr darum, nationale und internationale „opinion leaders“ (JournalistInnen, Intel ektuelle, KünstlerInnen, etc.) zu beeinflussen, die wiederum politisch unorganisierte, aber prinzpiell interessierte Menschen, für den Zapatismus gewinnen können. In diesem Zusammenhang machte schon 1999 Teresa del Conde, mexikanische Kunstkritikerin und Teil der intellektuellen Elite, auf einen Widerspruch im zapatistischen Diskurs aufmerksam: dass nämlich die ZapatistInnen zwar immer wieder mit der nationalen und internationalen Solidarität rechnen um die Sicherheit ihrer sozialen Basis in Chiapas zu gewährleisten, selbst aber nur höchst allgemein und vage für andere Bewegungen (in Lateinamerika oder anderswo) eintreten.

Die Politik der Autonomie
Anstatt nationale und internationale Bündnisse auf einer programmatischen Basis zu schmieden, geht es der EZLN heute eher darum die lokale Selbstverwaltung – die caracoles (Schneckenhäuser) – aufzubauen und damit all denen, die sich dafür interessieren ein Beispiel zu geben, wie Autonomie in einem örtlich begrenzten Zusammenhang funktionieren kann. Mit Recht kann man wohl sagen, dass das „¡Ya Basta!“ der zapatistischen Rebellion von 1994 zu einem der ersten Rufe gehört, die die Ruhe und Zufriedenheit der neoliberalen ModernisiererInnen, nicht nur in Mexiko, störten.
Inzwischen hat sich aber einiges geändert. Die Krise der Landwirtschaft, zusammen mit der Freihandelspolitik der NAFTA und den drohenden Privatisierungen, haben zu neuen Bündnissen geführt, die von Bauern- und Gewerkschaftsorganisationen getragen werden. Das zeigte sich zuletzt auf der großen Demo gegen die Privatisierung des Energiesektors, die von den Gewerkschaften organisiert wurde und zwischen hundert- und hundertvierzigtausend Menschen auf die Straße brachte. In diesen neuen Bewegungen, die das Ende des politischen Grundkonsenses über die neoliberalen Reformen in Mexiko zumindest andeuten, ist der Zapatismus praktisch nicht präsent. Die Kampagne „EZLN-10/20“, um die Gründung der EZLN und den Aufstand von 1994 zu feiern, hat bisher mehr Aufmerksamkeit in den Universitäten und bei den intellektuellen, linken Mittelschichten geweckt als bei den unabhängigen Basisorganisationen.

EZLN bleibt bedeutsam
Dennoch, auch wenn die EZLN nicht mehr über die starke politische Anziehungskraft verfügt, wie noch vor ein paar Jahren, hat sie ohne Zweifel ihre Spuren hinterlassen. Die Idee der Autonomie – ob diese nun als Selbstverwaltung, Kontrolle über die eigenen Ressourcen oder Hindernis für das Schalten und Walten des internationalen Kapitals verstanden wird – ist Bestandteil der Erklärungsmuster geworden, mit denen Widerstand und Protest gerechtfertigt werden. Und obwohl die Indígenabewegung in Mexiko nicht dieselbe Stärke und Präsenz aufweist wie zum Beispiel in Bolivien oder Ecuador, ist sie in diesen zehn Jahren, nicht zuletzt dank des Einflusses der EZLN, zu einem politischen Akteur geworden.
Ohne Zweifel ist sowohl die zapatistische Guerrilla als bewaffneter Arm der Indígenagemeinden in den Altos de Chiapas, als auch der zivile Zapatismus außerhalb von Chiapas zu einem nicht mehr wegzudenkenden Element der mexikanischen Widerstandsbewegungen gegen die neoliberale Politik geworden.
Die Dynamik dieser Bewegungen – wie zuletzt im Rahmen der Proteste gegen die drohende Privatisierung der Energieunternehmen – wird allerdings nicht mehr, wie noch vor ein paar Jahren, von den Initiativen und Vorschlägen der ZapatistInnen mitbestimmt.

Am Rand von Mexiko, am Rand von NAFTA

Die mexikanische Regierung verknüpfte große Hoffnungen mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA), die Zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) keine. Die EZLN behielt recht. Selbst das zentrale Ziel, mehr Jobs um jeden Preis, wurde netto weitgehend verfehlt. Zu diesem Ergebnis kommt die gerade erschienene Hintergrundstudie Promise and Reality der privaten Carnegie Stiftung für internationalen Frieden. Auch wenn es keine exakten Zahlen gebe, so hätten die zusätzlichen Arbeitsplätze im Exportindustriesektor bestenfalls die Verluste im Agrarsektor wettmachen können, werden die ersten zehn Jahre NAFTA bilanziert. Der Agrarsektor Mexikos, in dem fast jeder fünfte Mexikaner arbeitet, wird als großer Verlierer des Abkommens ausgemacht. Von den 8,1 Millionen Arbeitsplätzen Ende 1993 seien Ende 2002 nur noch 6,8 Millionen übrig geblieben. Sicher keine ausschließliche Folge von NAFTA, denn auch im Rahmen von Abkommen mit der Welthandelsorganisation (WTO) hat Mexiko Liberalisierungsschritte im Agrarbereich unternommen. Angesichts der überragenden Rolle der USA als Handelspartner auch in der Landwirtschaft sei dennoch ein Großteil der Jobverluste NAFTA zuzuschreiben, folgert die Studie.

Campesinos sehen kein Land
Nicht zuletzt die Zapatisten hatten von Anbeginn darauf aufmerksam gemacht, dass NAFTA die Existenzgrundlage vieler mexikanischer Bauern und Bäuerinnen untergraben würde. Vor allem die rund drei Millionen Maisbauern und -bäuerinnen samt ihrer Familien haben unter der Liberalisierung zu leiden. Insgesamt hängt die Existenz von 18 Millionen Menschen an der Maisproduktion. Die Maispreise fielen indes seit 1994 um 70 Prozent. Der Grund: importierter, hochsubventionierter Mais aus den USA. Über 100 Millionen Dollar Maissubventionen entfallen allein auf US-Produzenten für den mexikanischen Markt. Fairer Wettbewerb ist etwas anderes. Immer mehr klein- und mittelständischen campesinos wird so schleichend die Existenzgrundlage entzogen, liegen doch schon ihre Produktionskosten über den Preisen, zu denen die US-amerikanischen Agrarmultis anbieten.
Für viele Familien in ländlichen Regionen wie Chiapas wird das Überleben immer schwieriger. Neben einem Ausbau und Diversifikation der Subsistenzproduktion, setzen viele auf Migration. Entweder im Binnenland in Richtung Maquiladoras (Lohnveredelungsbetriebe) oder informeller Sektor im Norden oder gleich in Richtung gelobtes Hochlohnland USA. Dort gibt es durchschnittlich den sechsfachen Stundenlohn für vergleichbare Arbeit. NAFTA sollte die Migration in die USA eindämmen, erhofften sich die Politiker. Auch dieses Ziel wurde verfehlt. 400.000 MexikanerInnen machen sich Jahr für Jahr legal oder illegal in die USA auf. Die Überweisungen der gut zehn Millionen in den USA lebenden MexikanerInnen steigen von Jahr zu Jahr. Nach rund zehn Milliarden Dollar 2002 kommen dieses Jahr zwölf Milliarden US-Dollar zusammen. Eine Summe, die fast an die Erlöse aus dem Ölexport heranreicht.

Verlierer Chiapas
Auch wenn der Agrarsektor generell in Mitleidenschaft gezogen wurde, trifft es die Kleinbauern und -bäuerinnen am härtesten. In den südlichen und südöstlichen Regionen wie Chiapas oder Oaxaca überwiegt die Anzahl kleiner Farmen in der Größe von zwei bis fünf Hektar. Schon traditionell sind in Mexiko kleine Farmen durch erschwerten Kreditzugang benachteiligt. Die Exportorientierung wegen des Freihandelsabkommens hat diese Kluft vergrößert.
Gefördert werden kommerzielle Großfarmen, die Gemüse oder Früchte für den US-Markt produzieren. Die Grundnahrungsmittel anbauenden campesinos werden dagegen durch die US-Konkurrenz selbst vom heimischen Markt verdrängt. Kaum 18 Prozent der Haushaltseinkommen stammen bei Bauernfamilien, die Land in Gemeindeeigentum (ejido) bebauen, aus der Landwirtschaft, schätzen die Autoren der Carnegie-Studie. Der Rest wird informell oder durch Überweisungen eingenommen.
Die Armut bringt gravierende ökologische Schäden mit sich. 630.000 Hektar Wald wurden jährlich seit 1993 in den südlichen Regionen Mexikos abgeholzt – um Brennholz zu gewinnen oder Flächen für den durch die sinkenden Einkommen steigenden Bedarf an Subsistenzanbau.
Doch nicht nur die Armut ist Grund für die ökologische Schädigungen. Obwohl Mexiko 1998 den Import von genmanipuliertem Maissaatgut untersagt hat, sind Teile Mexikos bereits kontaminiert. Dadurch steht die Artenvielfalt beim Mais, als dessen Geburtsland Mexiko gilt, auf dem Spiel.

Plan Puebla Panama
Dass der Süden Mexikos und Chiapas von NAFTA nicht profitiert hat, ist auch die Meinung von Präsident Vicente Fox. Schließlich gibt ihm das ein Argument für sein Lieblingsprojekt Plan Puebla Panama, mit dem seiner Meinung nach „die Früchte der Globalisierung in allen Teilen Mexikos ankommen“. Am PPP arbeitet die Regierung Fox seit Dezember 2000. Das mit den mittelamerikanischen Staaten Belize, Guatemala, El Salvador, Honduras, Guatemala, Nicaragua, Costa Rica und Panama vereinbarte Entwicklungsprogramm soll die Region zwischen dem südmexikanischen Bundesstaat Puebla und Panama durch den Anschluss an den Weltmarkt von der Armut befreien. Eine Devise wie einst bei NAFTA. Konkret beinhaltet der Plan Investitionsanreize für multinationale Konzerne. Die sollen zudem durch das niedrige Lohnniveau im mexikanischen Süden geködert werden, das noch 40 Prozent unter dem der Maquilas im Norden liegt. Von dort wurden seit 2000 weit über 200.000 Arbeitsplätze in Richtung Asien, vor allem China verlagert. In der Tat sind die niedrigeren Lohnkosten ein schlagendes Argument für einen Industriezweig, der in Mexiko 97 Prozent seiner Produktionsmittel importiert. Entwicklungsökonomisch ist dies aber ein großes Manko der Maquilaindustrie, weil einheimische Wertschöpfungsketten durch die Einbindung von Zulieferern fast vollständig entfallen – einschließlich der damit einhergehenden Beschäftigung und Einkommen.
Neben dem Lohnargument will der PPP mit der Vermarktung der regionalen Biodiversität und dem Ausbau von Infrastruktur und Monokulturen Anreize bieten. Und obwohl Florencio Salazar, der PPP-Koordinator von Fox erklärte, dass das Hauptziel des Programms darin bestünde, den Menschen mehr Möglichkeiten zu eröffnen, sind eben diese nicht in die Planung einbezogen. Als die zapatistische Führung 2001 ihren Marsch in die Hauptstadt antrat, um für das „Gesetz für indigene Rechte und Kultur“ einzutreten, drohte der mexikanische Unternehmerverband Copamex damit, den PPP platzen zu lassen, falls die Regierung auf die Forderung der Zapatisten eingehe. Mit Erfolg: Das verwässerte Indígena-Gesetz sieht kein Mitspracherecht für die betroffenen Bauern und Bäuerinnen sowie die Gemeinden vor. Vom PPP kann sich die Bevölkerung sowenig erwarten wie von NAFTA. Bestenfalls prekäre, formelle Arbeitsplätze. Schlimmstenfalls und wahrscheinlicher wird der PPP zur forcierten Bekämpfung der EZLN benutzt. Selbst Salazar gibt offen zu, dass dies eine mögliche Konsequenz sein könne. Aber wie gesagt, eigentlich gehe es darum, „den Menschen mehr Möglichkeiten zu eröffnen“.

Zwischen Emanzipation und Tradition

Die massive Präsenz junger, indigener Frauen in den Reihen der EZLN wurde seit Beginn des Aufstandes immer wieder mit Erstaunen kommentiert. Dass gar eine dieser jungen Frauen, die Comandante Ana María, die Einnahme der alten kolonialen Stadt San Cristóbal de las Casas am 1. Januar 1994, dem Beginn des zapatistischen Aufstandes, befehligt hatte, war allerdings auch mit wochenlanger Verzögerung nur wenigen MedienvertreterInnen eine Meldung wert.
Das selbstbewusste Auftreten der jungen Kämpferinnen brach mit dem vorherrschenden rassistischen Klischee der unterwürfigen und unmündigen Indígenas. Gerade die Präsenz der Frauen sicherte dem Aufstand der EZLN – neben den (damals noch nicht ganz so poetischen) Reden des Subcomandante Marcos – breite Sympathie. Den KämpferInnen fehlte das bekannt martialische Auftreten, das viele Guerillas vor ihnen ausgezeichnet hatte. Und sie setzten auf die Verteidigung von Werten wie Würde, Respekt und Demokratie. Das in den ersten Januartagen von 1994 publizierte „Revolutionäre Zapatistische Frauengesetz“ verlieh ihrem Diskurs zusätzliche Glaubwürdigkeit und bewies die Modernität dieser eben nicht einfach traditionellen, „ethnischen“ Bewegung.

Das Revolutionäre Frauengesetz
Das Frauengesetz wurde am 8. März 1993, also fast ein Jahr vor Beginn des Aufstands, verabschiedet. Darin kritisieren die Zapatistinnen deutlich die patriarchale Unterdrückung im Innern ihrer Organisation. Deren Beseitigung wird als integraler Bestandteil ihres Kampfes definiert. Das Frauengesetz war Resultat eines mehr als einjährigen Diskussions- und Konsultationsprozesses zwischen EZLN-Kämpferinnen und Frauen aus den „bases de apayo“, den zivilen Unterstützungsbasen in den zapatistischen Dörfern, die zu 60 Prozent aus Frauen bestehen.
Es gilt als Beleg und Bestätigung universell gültiger Rechte und markierte damit eine entscheidende Anschlussstelle zwischen EZLN und der mit ihr solidarischen Zivilgesellschaft. In den Folgejahren wirkte es als Bezugspunkt und Katalysator frauenpolitischer Organisierung gerade indigener Frauen auf lokaler wie nationaler Ebene.
Die Forderungen des Frauengesetzes umfassen unter anderem das Recht auf Arbeit und gerechte Entlohnung, das Recht auf freie Partnerwahl statt Zwangsverheiratung, sowie die Kontrolle des eigenen Körpers und der Kinderzahl (was nicht die Möglichkeit der Abtreibung einschließt). Weitere Forderungen sind die machtvolle stimmberechtigte Partizipation in den kommunitären Gremien und in der Guerilla, das Recht auf Bildung und auf körperliche Unversehrtheit. Das heißt konkret: Die Bestrafung von gewalttätigen Männern innerhalb und außerhalb des Familienkreises.
Diese aus hiesiger Perspektive sehr bescheiden wirkenden Forderungen reflektieren einen beeindruckenden Prozess widerständiger Frauenorganisierung, die auf parteilicher Zusammenarbeit von indigenen Frauen mit (zum Teil feministischen) Nichtregierungsorganisationen und der fortschrittlichen Diözese von San Cristóbal basieren. Die Diözese bewies besonderes Engagement, als sie die staatlichen Unterstützungsprogramme für die verarmte Landbevölkerung ersetzte, die mit dem Beginn der Verschuldungskrise 1982 gestrichen wurden. Mit Workshops zu Frauen- und Menschenrechten hat sie ganz eigene Schwerpunkte gelegt.

EZLN als Raum indigener Frauenorganisierung
Ein Verdienst der EZLN ist, diese vereinzelten und zum Teil karitativ begrenzen Schritte in ein übergreifendes und auf die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes gerichtetes Programm eingebunden haben: das „private“ Schicksal der Frauen wurde offiziell zum Problem des revolutionären Selbstverständnisses aller ZapatistInnen erklärt.
Durch das Gesetz werden die darin angeklagten Formen von Frauendiskriminierung – theoretisch – durch die dörflichen Entscheidungsstrukturen sanktionierbar, was zu Recht als „wahre Revolution innerhalb der Revolution“ betrachtet werden darf.
Die Zahl der Frauen in den bewaffneten Einheiten ist nach jüngsten Aussagen von Subcomandante Marcos in den letzten zehn Jahren von 30 auf 45 Prozent gestiegen. Viele junge Zapatistinnen traten in die Guerilla ein, um ihrem Frauenschicksal in den Comunidades und häufig einer drohenden Zwangsverheiratung zu entfliehen, und ihre Chance auf Bildung und neue Lebensformen zu nutzen. Zu diesem Schritt wurden sie nicht selten von ihren eigenen Müttern gedrängt.
Mit Beginn der Friedensverhandlungen zwischen der EZLN und dem mexikanischen Staat eroberten Frauen aus den zivilen Strukturen und aus der Guerilla prominente Plätze auf der politischen Bühne. Unterstützt wurden sie darin von Frauenzusammenhängen der Zivilgesellschaft. So nahmen an der ersten Verhandlungsrunde von San Andrés zu „Indigenen Rechten und Kultur“ vom Oktober 1995 bis zum Februar 1996 neben den Delegierten der EZLN auch indigene und mestizische Frauen aus den unterschiedlichsten sozialen und politischen Kontexten teil.
Zudem fand ein Diskussionsprozess statt, aus welchem eine erweiterte Neufassung des revolutionären Frauengesetzes hervorging. Verbindlich angenommen wurde diese Erweiterung innerhalb der EZLN allerdings bis heute nicht. Auch das politische Projekt (indigener) Autonomie wurde dank der Frauen ganz klar als Verhältnis gegenüber dem Staat wie auch als Selbstverständnis thematisiert, das die Herzen und die Körper einschließen muss und nicht ohne Prozesse der Demokratisierung und Selbstveränderung gedacht werden kann.

Frauen als eigenständige politische Subjekte
Diese Diskussionen haben auch für andere indigene Verbände wie den 1996 im Prozess der Friedensverhandlungen gegründeten Dachverband autonomer indigener Gruppen CNI (Consejo Nacional Indígena) oder regionale Organisationen in Chiapas Standards gesetzt. Die Legitimität frauenpolitischer Forderungen werden im Kontext des zapatistischen Aufstands immer wieder bestätigt: Eigene Frauentische und Arbeitsgruppen begleiten fast schon selbstverständlich die Zusammenkünfte von Zapatistas und Zivilgesellschaft.
Zapatistinnen wie die Comandantes Ramona, Trini, Susana oder Esther versäumen es niemals, sich an die Frauen innerhalb wie außerhalb der EZLN zu wenden. Sie sprechen sie nicht nur als „Unterstützerinnen des allgemeinen Kampfes“ an, sondern ermuntern explizit zur Verteidigung ihrer frauenspezifischen Interessen.
Die Thematisierung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten verläuft – von wenigen Ausnahmen wie den Comandantes David, Zebedeo oder Subcomandante Marcos abgesehen – nach der wohlbekannten Arbeitsteilung. Doch die Forderungen der Frauen sind immer klarer und umfassender geworden.
Gerade das offene Projekt des Zapatismus, das dem „fragenden Voranschreiten“ den Vorzug vor der Verkündigung absoluter Wahrheiten gibt, hat den Frauen zahlreiche Räume eröffnet, in denen sie sich als eigenständige politische Subjekte konstituieren konnten, und Prozesse in Gang gesetzt, die unhintergehbar geworden sind.
Die indigenen Frauen konnten ihre Kritik am Machismo der Genossen in den letzten Jahren immer wieder und immer deutlicher formulieren. So besitzt zum Beispiel Comandante Esther nach ihrer Rede im Kongress 2001 genügend politisches Gewicht, um in ihrer Grußbotschaft an die Frauen in den Anti-WTO Mobilisierungen klar zu stellen, dass „wir Respekt für die Frauen verlangen und dies nicht nur von den Neoliberalen fordern, sondern auch diejenigen dazu zwingen werden, die gegen den Neoliberalismus kämpfen und sich als Revolutionäre bezeichnen, zuhause aber genauso schlimm aufführen wie George Bush!“

Reale Veränderungen für die indigenen Frauen
Was die reale Veränderung der Geschlechterverhältnisse und des
Alltags in den Gemeinden angeht, lässt sich kein einheitliches Bild zeichnen. Sowohl hinsichtlich der materiellen Bedingungen als auch des Zuwachs an politischer Macht in den autonomen Strukturen gibt es regional wie auch lokal deutliche Unterschiede.
Es gibt inzwischen viele autonome Frauenkooperativen, die sich für Arbeitserleichterung, Subsistenzproduktion, einkommensschaffende Projekte, Bildung und Gesundheitsfürsorge organisieren. Gleichwohl benennen Zapatistinnen weiterhin in aktuellen Reden und Radiosendungen altbekannte Probleme wie beispielsweise Gewalt, die Verweigerung von Partizipation in politischen Gremien und das Fehlen von eigenen Landtiteln.
Vom zapatistischen Aufstand sind, indem die existierenden Geschlechterungleichheiten benannt wurden, viele Impulse ausgegangen, den Mythos von den konfliktärmeren indigenen Gesellschaften angreifbar zu machen. Hiervon profitieren indigene Frauen in Chiapas und im ganzen Land. Gerade im Kontext von Kriegführung niedriger Intensität und Militarisierung gestaltet es sich aber besonders schwierig Veränderungen umzusetzen und das „mandar obedeciendo“ auch im Privaten einzuklagen.
Immer wieder werden Mädchen und Frauen der Unterstützungsbasen in den Dörfern Opfer von Vergewaltigungen durch staatliche und parastaatliche Kräfte, die damit gleichzeitig Akte der symbolischen „Landnahme“ vollziehen. Der im Zuge der Aufstandsbekämpfung wieder zunehmende Alkoholismus der Männer lässt aber auch die häusliche Gewalt in den eigenen Reihen erneut anwachsen.
Wenn die Männer der Milizen in die Berge fliehen müssen, bleiben die Frauen, die Alten und die Kinder zurück. Den Frauen obliegt dann nicht nur die Verteidigung ihrer Dörfer gegenüber Militärs und Paramilitärs, sondern auch die Sicherung der Überlebensökonomie – die oft genug nur durch die Zwangsprostitution für die stationierten Soldaten zu gewährleis-ten ist. Diese Tätigkeiten zerstören nicht nur das Ansehen – und damit die soziale Position – der Frauen, sondern häufig auch ihr Leben.

Probleme beim Ausstieg junger Frauen aus der EZLN
Aber auch für die jungen Kämpferinnen, die sich zum Ausstieg aus der Guerilla entscheiden, funktioniert nur selten die Rückkehr in die Lebensrealität ihrer Dörfer.
Mercedes Olivera, langjährige NGO-Mitarbeiterin und Sozialwissenschaftlerin, berichtet von einer jungen Guerillera, die nach den Regeln der EZLN ihren Partner wählte und heiratete, schwanger wurde und deshalb vorübergehend in ihr Dorf zurückkehrte. Von ihrem compañero vergessen und als ledige Mutter von ihrem Vater verstoßen, blieb ihr nur noch der Gang in die nächste größere Stadt. Dort musste sie als Hausmädchen, Kellnerin und zuletzt als Prostituierte unter genau jenen Ausbeutungsbedingungen zu überleben versuchen, gegen die sie ihren Kampf begonnen hatte.
Die indigenen Frauen, die in und im Umfeld der EZLN agieren, führen innerhalb des zapatistischen Projektes auf den unterschiedlichsten Ebenen ihre ganz eigenen Kämpfe um Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, um Befreiung, Würde und Respekt. Sie erfahren dabei einen deutlichen Zugewinn an repräsentativer Macht, bezahlen als Grenzgängerinnen für ihren politischen Kampf aber oftmals einen besonders hohen Preis. Sie erleben sehr viel drastischere biographische Brüche als die zapatistischen Männer.
Aus ihrer Perspektive den Aufstand zu betrachten, zeigt viele Widersprüche und Grautöne der alltäglichen zapatistischen Rebellion auf. Gerade ihre Protagonis-tinnen verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit und Solidarität.

Suchprozesse emanzipativer Politik

Vergegenwärtigen wir uns die Ausgangssituation des zapatistischen Aufstands 1994: Nach dem Fall der Berliner Mauer gewann nicht nur die in den 80er Jahren begonnene neoliberal-kapitalistische Globalisierung eine noch stärkere Dynamik. Im Zusammenhang damit erstarkten auch gerade in den wohlhabenden westeuropäischen Ländern nationalistische, rassistische und wohlstandschauvinistische Bewegungen. Linke Kritiken waren zuvorderst defensiv und richteten sich gegen die Auswüchse aktueller Entwicklungen wie etwa im Zusammenhang mit Migration und Rassismus, der Umstrukturierung der Innenstädte oder der wachsenden Arbeitslosigkeit. Nicht mehr eine öffnende Perspektive, sondern jene der Verteidigung erreichter sozialer Standards dominierten. Die Zapatistas gehörten zu den Entschiedensten und Ersten, die den Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung praktisch formulierten ohne dabei einfach auf den traditionellen Klassenbegriff zurückzufallen.

Zapatistische Anregungen
Beeindruckend waren von Anfang an die ungewohnte Sprache, mit der die EZLN an die Öffentlichkeit ging, die besondere Art der Vermittlung theoretischer und politisch-strategischer Überlegungen mit dem kulturellen und historischen Kontext und vor allem das Fehlen des abgeklapperten revolutionären Jargons. Theoretisch und politisch waren vor allem die Art und Weise des Umgangs mit der Macht wichtig, die Verabschiedung der traditionellen Konzepte einer Übernahme der Staatsmacht, die Betonung des politischen Kampfs gegenüber dem militärischen, der ganz andere Begriff von Subjektivität, die mit dem Begriff der „Würde“ verbundene Vorstellung, dass sich die Menschen im Prozess der Revolte selbst verändern und entwickeln müssen, und zwar in der praktischen Gestaltung ihres Lebens. Wichtig war, dass hier ein Konzept von „Zivilgesellschaft“ entwickelt wurde, das im Kontrast zu den damals hierzulande üblichen Diskussionen stand. Angesichts der weltpolitischen Umbrüche nach 1989 hatte dieser Begriff innerhalb des linksliberalen Spektrums eine beachtliche Konjunktur. Grundlage dafür war die Vorstellung, dass es möglich sei, die kapitalistische Gesellschaft innerhalb der bestehenden ökonomischen und politischen Strukturen zu „zivilisieren“. Die bestehende „Zivilgesellschaft“ wurde dabei ungeachtet der sie durchziehenden ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse und Machtstrukturen, der damit verbundenen persönlichen Prägungen und sozialen Praktiken als „demokratisch“ angesehen. Dies bedeutete eine Orientierung an der frühbürgerlichen Zivilgesellschaftstheorie mit ihrer unvermittelten Entgegensetzung von demokratischer civil society und staatlicher Herrschaftsapparatur. Die Zapatistas verstehen unter sociedad civil vor allem die um Emanzipation ringenden Menschen, wozu in den 90er Jahren auch viele gehörten, die „nur“ um die Emanzipation von der Staatspartei PRI kämpften. Sie verwenden also zunächst einmal auch einen „liberalen“ Begriff von Zivilgesellschaft. In Mexiko wirkte in einer konkreten historischen Situation – das von vielen ersehnte Ende der 70-jährigen Einparteienherrschaft – dieses strategisch eingesetzte Verständnis durchaus politisierend. Zugleich wies der Begriff durch die zapatistischen politischen und sozialen Praxen immer auch darüber hinaus, denn er lenkte den Blick auch auf die vielfältigen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, aus denen sich die rebellierenden Indigenen befreien wollten. Durch ihre praktische Kritik an bürgerlichen Vorstellungen ermöglichten die Zapatistas die Wiedergewinnung eines kritischen Begriffs.

Alternativen zum Staat
Eine wichtige Anregung für die globalisierungskritische Bewegung betrifft das Staatsverständnis der ZapatistInnen. Die Staatsfixierung vieler GlobalisierungskritikerInnen lässt sich teilweise mit der erwähnten Defensive der Linken in den 90ern erklären. Auf weltpolitische Umwälzungen, den Zusammenbruch des Staatssozialismus und den damit verbundenen Niedergang radikaler Protestbewegungen folgte eine Reorientierung an den herrschenden Mustern von Politik. Gleichwohl ist diese Staatsfixierung zumindest verkürzt, denn der Staat steht – entgegen der Rhetorik sozialdemokratischer Intellektueller – nicht gegen den Markt, sondern ist dessen Bedingung. Der kapitalistische Staat sichert die Eigentumsverhältnisse und die rechtlichen Regeln, die das Funktionieren des Markts überhaupt erst möglich machen. Das „Nullsummenspiel“ Markt und Staat – der Staat als die Instanz, die gegen die Kräfte des Marktes, das heißt die Zwänge des kapitalistischen Verwertungsprozesses eingesetzt werden kann, was etwa in großen Teilen des Attac-Spektrums suggeriert wird – entspricht nicht der Realität. In den aktuellen Bewegungen besteht zudem eine sehr reale Gefahr, nämlich dass der „großen“ Politik der Vorrang gegeben wird, gar noch der internationalen vor der nationalen und lokalen. Dabei werden „kleinteilige“, das heißt nicht-staatliche, gegeninstitutionelle und alltägliche Praxen sowohl für die Reproduktion hegemonialer Herrschaft wie auch für deren Infragestellung als weniger wichtig erachtet.
Nach Meinung der ZapatistInnen sollte der Staat – sie sprechen von Regierung – als zentrale Herrschaftsapparatur grundlegend verändert werden. Das Gesetz zu indigenen Rechten und Kultur hätte enorme, sowohl materielle als auch politisch orientierende Wirkungen für die Indigenen, aber auch für deren öffentliche Wahrnehmung und den Umgang mit ihnen gehabt. Die Antwort der Zapatistas auf das Scheitern der von ihnen angestrebten Verfassungsänderung zur Festschreibung indigener Rechte und Kultur im Frühjahr 2001 war für viele überraschend, aber folgerichtig: Sie zogen sich über eineinhalb Jahre aus jeglicher öffentlichen Diskussion zurück, zu der sie aus eigener Sicht zu diesem Zeitpunkt nichts mehr beizutragen hatten, um sich auf den Aufbau autonomer Gesellschaftsstrukturen zu konzentrieren, die ihnen in ihrem spezifischen Kontext als passend erscheinen. Im August 2003 stellten sie die nach langen Diskussionen entwickelten eigenen Repräsentationsstrukturen bei einem Fest mit 20.000 TeilnehmerInnen vor. Es gibt seither 30 „autonome rebellische Landkreise“, die etwa ein Drittel des Gebietes von Chiapas umfassen, und dort die „Räte der guten Regierung“ (Juntas del Buen Gobierno, gegen die als mal gobierno bezeichnete Regierung), welche den zivilen Zapatismus repräsentieren.
Die Guerilla will sich auf eine Verteidigungsfunktion zurückziehen. Zudem wurden die nach dem Aufstand 1994 eingerichteten fünf überregionalen Treffpunkte (so genannte Aguascalientes) in autonome Regionalräte umgebildet, die vor allem die Probleme innerhalb und zwischen den Gemeinden, ob zapatistisch oder nicht-zapatistisch, angehen sollen. Die entstehenden eigenen politischen Strukturen werden als caracoles (Schneckenhäuser) bezeichnet, was wie eine Metapher der spiralförmigen Ausdehnung der indigenen Regierungsformen verstanden werden kann. Diese caracoles stellen die bislang deutlichste Infragestellung der etablierten staatlichen Strukturen dar.
Die Perspektive bleibt weiterhin, dass es nicht nur darum geht, von der Regierung Rechte zugesprochen zu bekommen, sondern von staatlicher Politik die Absicherung veränderter Lebensverhältnisse zu fordern. Dabei spricht die EZLN auch offen die Widersprüche dieses Projektes an. Denn in vielen Regionen bedeuten autonome Strukturen auf staatliche Unterstützung verzichten zu müssen, was angesichts der großen Armut vielfach Probleme bereitet. Ein anderer dramatischer Widerspruch bleibt angesichts der Militarisierung von Chiapas durch staatliche und paramilitärische Truppen die Defensivhaltung der EZLN. Obwohl die Repression stark ist, immer wieder Zapatistas ermordet werden und über ein Eingreifen der bewaffneten Guerilla Morde teilweise verhindert werden könnten, verweigert sich die EZLN der militärischen Logik.

Die praktische Seite der Diskurse
Deutlich wird insgesamt: Emanzipative Politik „geht“ nicht schnell – wenngleich „Sprünge“ vor allem auf der symbolischen Ebene und als von Medien geförderte positive Selbsteinschätzung unverzichtbar sind. Deswegen sind der Aufstand in Chiapas und die Proteste in Seattle und Genua als international wahrgenommene Ereignisse wichtig. In überwiegendem Maße ist gesellschaftliche Veränderung in emanzipativer Absicht jedoch komplizierter und muss an die alltägliche Praxis in Uni, Betrieb, Stadtteil, politischen Organisationen oder persönlichen Beziehungen rückgebunden werden. Denn meist wird unterschätzt, dass der Neoliberalismus gerade auf der kulturellen und sozialisatorischen Ebene überaus erfolgreich war, dass seine Herrschaft ganz wesentlich darauf beruht, dass seine Denkweisen und Verhaltensformen sich tief in den (meisten) Köpfen festgesetzt haben. Die Zapatistas bieten auf diesem Gebiet viele Anregungen. Die „Übersetzungsarbeit“ muss jedoch in den spezifischen räumlichen oder inhaltlichen Kontexten geleistet werden. Die ZapatistInnen sind, einem eigenen Ausdruck zufolge, Katalysator. Das scheint ein geeigneter Begriff, denn sie regen an, eigene Praxen zu überdenken, sie motivieren, weil es am „Ende der Geschichte“ noch dynamische emanzipatorische Bewegungen gibt, sie binden ein ohne Vorgaben zu machen. Mehr noch – und hier liegt eine vielleicht bislang unterschätzte Neuerung: Das radikale Denken und Handeln der Zapatistas wird gerade nicht im Sinne einer Wahrheitsproduktion verbreitet. Sie versuchen eine andere Sprache, einen anderen Ton zu finden, der nicht „Wahrheiten“ verkündet, sondern oft auf Paradoxien verweist und sich über Macht lustig macht. Auch das bedeutet die Formel „preguntando caminamos“. Paradox ist beispielsweise die Antwort auf die Frage, wer denn nun hinter der Maske des Sup stecke. Sie besteht in der Aufforderung, doch bitte schön in den Spiegel zu sehen. „Todos somos Marcos“ (Wir alle sind Marcos). Und subversiv ist die Aussage, dass wenn es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft nicht außer Kraft zu setzen sei, dann eben die Schwerkraft außer Kraft gesetzt werden müsse.
In den aktuellen globalen sozialen Bewegungen gibt es, wenngleich nicht dominierend, ein wachsendes „hegemonietheoretisches“ Verständnis von sozialer Herrschaft, wozu die Zapatistas durchaus beigetragen haben. Insbesondere die relative Stabilität neoliberaler Verhältnisse und ihre Verankerung in Alltagsverhältnissen sowie deren nicht zuletzt „alltagspolitische“ Veränderungen scheinen immer mehr AktivistInnen plausibel.
Natürlich geht es bei politischen Auseinandersetzungen immer auch um Begriffe, Interpretationen und Sichtweisen. Man sollte aber berücksichtigen, dass Diskurse eine materielle Basis haben, die in den herrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken zu finden ist. Das heißt, dass es eben auch und ganz zentral darum geht, diese zu verändern. Das bezieht sich auf den ganzen Komplex der herrschenden Lebensweisen, die Produktions- und Arbeitsformen, die Geschlechterverhältnisse und Konsumnormen und nicht zuletzt auch auf Formen der politischen Organisation, die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht einfach reproduzieren. Geschieht auf dieser Ebene nichts, dann wird auch keine „Diskurshoheit“ – was immer das sei – zu erreichen sein, sondern bestenfalls vorübergehende Medienresonanz. Gerade die ZapatistInnen haben dies immer betont, einmal abgesehen davon, inwieweit ihnen es wirklich gelungen ist, eine solche Politik in die Praxis umzusetzen.

Es handelt sich hier um eine stark gekürzte Version, die vollständig in „Das Argument“ 253 (Dezember 2003) erschienen ist.

Diskursguerilla: mehr als „schöne Worte“

Ihr Coming Out war alles andere als poetisch. Das Kommuniqué, mit dem in den ersten Morgenstunden des Jahres 1994 die Häuserwände von San Cristobal de las Casas plakatiert wurden, war eine flammende „Kriegserklärung“, flankiert vom Aufruf, gemeinsam mit den aufständischen Truppen „zur Hauptstadt vorzustoßen“ und den „Diktator zu stürzen“. Diesem Ruf mochte bekanntlich niemand folgen. Stattdessen machte sich Staunen breit im Lande, Bewunderung und auch Bestürzung über die offenkundige Todesverachtung der eher karg bewaffneten Rebellen.
Mehr als alle Waffengewalt war es das allererste Wörtchen, das Neugier und Echos provozierte und im Nu zum Slogan wurde: Basta, es reicht. Mit dieser Losung verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Genugtuung darüber, dass den Regierenden quasi über Nacht die Diskurshoheit entzogen war. Das Geschwätz vom dank NAFTA unmittelbar bevorstehenden Eintritt in den First-World-Club war als „erstweltlerische Selbstgefälligkeit“ enttarnt, wie Carlos Fuentes in diesen ersten Januartagen schrieb. Statt von Berichten über die Segnungen des Freihandels waren die Zeitungen plötzlich voll von Sozialreportagen und Elendsstatistiken. Zugleich wurde mit der Selbstbenennung als Zapatistas der wohl paradoxeste aller Revolutionshelden – der als Verratener zur Gallionsfigur der offiziellen Geschichtsschreibung mutiert war – gegen das marktliberale Credo in Stellung gebracht, dass alles, eben auch das Land, (ver)käuflich sein müsse. Schließlich wurde der Mythos der Rassenharmonie, der jahrzehntelang alles Indigene zur Folklore im großen melting pot der mestizaje degradiert hatte, als Lebenslüge des postrevolutionären Mexiko demaskiert – übrigens auch der Linken, die das „schmutzige Geheimnis Rassismus“ (Carlos Monsiváis) bis dahin recht erfolgreich verdrängt hatte. Über die Landesgrenzen hinaus zündete das zapatistische basta mitten im positivistischen, denkfaulen Zeitgeist der neunziger Jahre einen diskursiven Sprengsatz: dass Revolte, wo, wie und gegen wen oder was auch immer, ebenso nötig wie möglich sei.
Es folgte weiteres Staunen: über die im Vergleich zu anderen Befreiungsbewegungen geradezu professionelle Pressearbeit und die hypermodern anmutende Internet-Nutzung, mittels derer schon nach kurzer Zeit sämtliche Texte weltweit ad hoc abrufbar waren und bis heute sind (www.ezln.org). Schnell machte das griffige Etikett der Medien- und Internetguerilla die Runde. Doch die Presseberichterstattung verflachte und verflüchtigte sich bald, auch der Cyberspace diente eher der quantitiven Beschleunigung denn zur qualitativen Vertiefung des zapatistischen Vernetzung. Die raffinierteste Kommunikationstechnologie war und blieb das gesprochene und geschriebene Wort, la palabra zapatista.

Die zapatistische Wortergreifung
Die palabra zapatista basierte vor allem auf der Verfremdung bestehender Repertoires und Mythologien, also auf der diskursiven „Unterwanderung“ einer ohnehin brüchigen kulturellen Semantik. An erster Stelle war das die Semantik der maroden Legitimationsmaschine einer verratenen weil „institutionalierten“ Revolution und ihrer Leitfigur Zapata, die mit einer Maya-Gottheit zu einer neuen Figur (Votán-Zapata) verschmolzen wurde. Gegen den paternalistischen indigenismo, der die „übrig gebliebenen“ Indios immer wieder aufs Neue zu Objekten staatlicher Fürsorge und Diskurse machte, traten Indigene nun als Subjekte einer kulturellen und politischen Erneuerung auf. Schließlich entriss man den marktliberalen Modernisierern ihr Versprechen der Demokratie und wendete es gegen den autoritären Status quo – eine bis zum Regierungswechsel 2000 höchst effiziente diskursive Strategie.
Über die Landesgrenzen hinaus wurde ein – global mehr oder weniger institutionalisierter Menschenrechtsdiskurs – radikalisiert und das Konzept der „Menschenwürde“ entwickelt, die mehr bedeutet als Recht auf Leib und Überleben. Mit dem Neoliberalismus war schon Mitte der Neunziger die zunehmende Entgrenzung kapitalistischer Einheitslogik benannt, die grenzüberschreitende Gegenwehr geboten erschienen ließ. Diese machte durch die eigentümliche Gegenüberstellung von „Neoliberalismus versus Menschheit“ neoliberale Denker und Macher flugs zu außerirdischen Widersachern – ein abstruses Konstrukt, das nur durch die hübsch ironische Wendung vom „intergalaktischen“ Widerstand, zumindest metaphorisch, wieder aufgefangen wurde. Zu dessen zentraler Protagonistin wurde die „nationale und internationale Zivilgesellschaft“ ernannt. Auch dies war ein Umkopplungsmanöver, denn gerade im neoliberalen Weltbild war der sociedad civil ja eine Paraderolle bei der Entstaatlichung und Deregulierung sozialen Handelns zugedacht. Von den Zapatistas wird diese nun, ohne jede theoretische Absicherung und sehr zum Leidwesen aller Definitionsfetischisten, schlicht zur Bündnispartnerin gegen das politische Establishment erkoren. So ist „Señora Zivilgesellschaft“ im zapatistischen Diskurs heute nichts als der Eigenname für jene schöne Unbekannte, die nicht per se, sondern nur in dem Maße existiert, wie sie behauptet und imaginiert wird.

Bestimmung des Begriffs Zapatismus
Diese Imagination gilt auch für den zapatismo selbst, der sich als politischer Akteur erst „behaupten“ muss. Statt einer ethnisch (oder national) begründeten Identitätspolitik setzt diese Selbstbehauptung vor allem auf die Politisierung eines altmodisch anmutenden Begriffs: „Wir wollen, vor allem anderen, Respekt. Respekt vor dem, was wir sind“, sagte Comandante Tacho in einem Presseinterview im Frühjahr 2001. „Wir wollen ihnen sagen: hier sind wir. Wir sind es. Wir sind Mexikaner. Wir sind Indios.“ Der anklingende Wir sind-Essentialismus ist somit (meist) strategischer und eben nicht fundamentalistischer Natur. Bei allen ethnozentrischen oder auch nationalistischen Anflügen sind Indios und MexikanerInnen Wahlidentitäten, die eine Funktion erfüllen, das MexikanerIn-Sein als Teilhabe (und nicht Abspaltung), das Indio-Sein als Zeichen für kulturelle Ausgrenzung und Differenz. Dabei verweist das Beharren auf der eigenen Differenz (als Mayas) immer zugleich auf die Existenz von anderen Differenten (Frauen, Homosexuelle, Dissidenten) und wird so zum Postulat von Diversität, ein grundlegend anderes Konzept als Identität.
Immer wieder mischen sich in diese unorthodoxe Collage, in der Subcomandante Marcos als eine Art Label fungiert, darin nicht unähnlich einer „Marke“ wie ATTAC, Versatzstücke sehr konventioneller Repertoires. Diese erzeugen nicht unerhebliche Spannungen, etwa zwischen nationalistischer Rhetorik und „intergalaktischer Umlaufbahn“, zwischen Militarismus und Militärkritik, zwischen anti-autoritärem Anspruch und revolutionärer Disziplin, zwischen dem Ethos der Kollektivität und dem der Dissidenz, zwischen den um Selbstopferung kreisenden Märtyrerdiskursen und libertärem Lustprinzip.

Die Maske/Spiegel-Metapher
Diese Widerhaken finden sich auch in der zaptistischen Bildsprache, die zum einen von einer naturalisierenden „Blut- und Boden“-Metaphorik geprägt ist, zugleich aber eine Reihe origineller, weil sinnproduktiver Bilder hervorgebracht hat. So wird die anfangs noch non-verbale Gesichtsverhüllung mit paliacate (Gesichtstuch) oder pasamontañas (das komplette Gesicht außer Augen verhüllende Mütze) als „Maske“ zum Sprachbild und damit zum zentralen Kennzeichen der zapatistischen Inszenierung. War die Maskierung bis dahin vor allem als Requisit indigener Folklore oder auch als Ausweis für Militanz und Gewaltbereitschaft kodiert, so wird sie hier zur paradoxen Performance der indigenen Gesichtslosigkeit: denn erst die Vermummung weist den mestizischen Mainstream darauf hin, dass die vermummten Indigenen überhaupt ein unterscheidbares Gesicht haben. Verknüpft wird die Maske im zapatistischen Text nun mit dem Spiegel, der für ein interaktives Selbstverständnis steht, das Identifikation statt Identifizierung bietet: die Maske wird zum Spiegel, in der Betrachtung wird die Leere des abwesenden Gesichts mit einem Antlitz gefüllt. In dieser Spiegelmaske soll der oder die Betrachtende sowohl den Anderen, ehemals Unsichtbaren, wie auch sein eigenes „wahres“ Bild (Elend, Widerständigkeit) erkennen. Der Haken dabei: Wirklich neue Bilder können in einer nur spiegelverkehrten Projektion kaum entstehen, Selbsterkenntnis oder gar -kritik geht mit einer solchen Selbstbespiegelung nicht automatisch einher. So bezeichnet die Spiegelmaske als sinnbildliche Verknüpfung zwischen den maskierten Aufständischen und ihrem zivilen, unmaskierten Gegenüber recht präzise das Dilemma einer Bewegung, die auf Betrachter – also politische Resonanzen – existenziell angewiesen ist.
In der Eröffnungsrede zum intergaláctico wird dieses Angewiesensein als utopische Verschmelzung beschworen: „Detras de nosotros estamos ustedes“ (hinter uns stehen ihr), eine grammatikalisch „unmögliche“ Behauptung , die das politisch Unvorstellbare – die Fusion von Uns, den Bewaffneten, mit Euch, den Zivilen – einen Satz lang denkbar macht. Letztlich, so heißt es in derselben Rede, solle der binär angelegte Spiegel dann auch „zu Glas“, also durchschaut und durchschritten werden, eine Anlehnung an Lewis Carrols’ Alice im Wunderland, die immer wieder als Kronzeugin für eine Logik des Widersinns herangezogen wird. „Du gebrauchst Alice im Wunderland wie der Che die Guerilla-Erfahrungen des Ho Chi Minh benutzen konnte“, sagte Manuel Vázquez Montalbán einmal im Gespräch mit Marcos. Eben das bedeutet Diskursguerilla: der Widersinn als Waffe, das Eindringen hinter die gegnerischen Diskursfronten, der Angriff an unerwarteten Orten und die Nutzung der Paradoxie als diskursive (also politische) Produktivkraft.

Die caracoles als neues Konzept
Im Sommer 2003 haben die Zapatistas nun eine neue Metapher kreiert, die caracoles, die Schneckenmuscheln. Die Umbenennung der Versammlungsorte der Zapatisten von Aguascalientes in caracoles kommt einer signifikanten Umkodierung gleich: von einem national-historischen Fundus (Die Bezeichnung Aguascalientes hatten die Zapatisten von dem gleichnamigen Ort, der 1917 Schauplatz des revolutionären Konvents war, übernommen) zu einem indigenen Symbolrepertoire. Die Spiralform der caracoles wird nach den Worten von Marcos in doppelter Richtung nachvollzogen, „in das Herz hinein, wie die Allerersten das Wissen genannt haben“, und zugleich „aus dem Herz hinaus, in die Welt, wie die Allerersten das Leben genannt haben“. Die beiden Fluchtpunkte der Schneckenspirale sind demnach Wissen und Welt/Leben, das Innere und das Äußere. Offen bleibt, welche der beiden Strömungen, die offen-libertäre oder die geschlossen-essentialistische, im Weiteren die Oberhand gewinnt.
Das wird davon abhängen, ob es gelingt, die Alltagsorganisation der Gemeinden nach außen als Prozess zu kommunizieren, der dem Konzept der indigenen Regionalautonomie leibhaftige Anschauung verschafft und sich dennoch nicht selbst genügt. Denn die Verengung nach innen käme einer Normalisierung der klandestinen Logik gleich, der Metamorphose in Widerstandsdörfer – etwa nach guatemaltekischem Vorbild, deren Überleben von militärischen Strukturen und dem Kampf um materielle Versorgung bestimmt ist. Der Widersinn drohte dann womöglich wieder zum reinen Widerstand zu gerinnen, die Wort- hinter die Waffenergreifung wieder zurückzutreten. In der Verfestigung einer normalen Klandestinität würden immer weniger Resonanzbeziehungen mit der politischen Umwelt generiert.
Unabhängig von dem Fortgang der Geschichte ist den Zapatistas in der Dekade ihrer öffentlichen Existenz vor allem eines gelungen: zu zeigen, dass diskursive Gewalt porös ist und dass übermächtige Gegner und Legitimationsmaschinen symbolisch angreifbar sind. So ist die EZLN gerade kein Beispiel für die „Nicht-Kommunizierbarkeit“ sozialer Revolten, die die Empire-Theoretiker Hardt und Negri für die meisten Kämpfe der neunziger Jahre konstatieren. Im Gegenteil, gegen das immer wieder kehrende Missverständnis vom Überbau der schönen Worte, des Nur-Symbolischen als Gegensatz zur aller realen (weil „materiellen“) Politik, sind die Zapatisten ein Beleg dafür, dass Politik nicht ohne Macht zu denken ist und Macht nicht ohne Diskurs – und dafür, dass „diskursive Praktiken“ unter Umständen sogar lebenserhaltend sein können.

Von Anne Huffschmid erscheint im Frühjahr 2004 bei Synchron das Buch Diskursguerilla: Wortergreifung und Widersinn. Die Zapatistas im Spiegel der mexikanischen und internationalen Öffentlichkeit.

Ein Blick auf Chiapas aus der Heimat des „Che“

In der Neujahrsnacht 1994, noch während das Feuerwerk knallte und die Gläser klangen, las man in Argentinien in den Zeitungen vom Eintritt Mexikos in die „Erste Welt“. Möglich gemacht wurde das durch die Unterschrift Mexikos unter den Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada – die „Nordamerikanische Freihandelszone“ (NAFTA) war entstanden. Doch schon einen Tag später forderten in Chiapas tausende bewaffnete Männer und Frauen die Regierung von Präsident Carlos Salinas de Gortari heraus. Sie kämpften im Namen des Revolutionärs Emiliano Zapata und unter ihrem später als „Subcomandante Marcos“ bekannten Anführers. All das ging nicht an den Intellektuellen und aktiven Linken Argentiniens vorbei, die das „Phänomen Chiapas“ aus dem Land verfolgten, in dem einst Ernesto „Che“ Guevara geboren wurde.

Argentinien und die Globalisierung
Die frühen 90er Jahre waren eine kampflose Zeit in Argentinien: Aufgrund der zunehmenden Flexibilisierung der Arbeitprozesse und der schnell voranschreitenden Privatisierung der Staatsunternehmen durch die Regierung Carlos Menem gab es immer weniger Arbeitsplätze. Dennoch lehnte sich das wichtigste Gewerkschaftsbündnis nicht gegen den Wirtschaftskurs der Regierung auf, der unweigerlich extreme Arbeitslosigkeit zur Folge haben würde.
In der Provinz Santiago del Estero hatte es bereits einen ersten Aufstand gegeben, aber es sollte noch zwei Jahre dauern, bis sich die piquetes, die Straßensperren, über das ganze Land ausbreiteten und die letzten Jahre des Jahrhunderts in Argentinien zu kämpferischen wurden. Währenddessen genoss die Oberschicht Argentiniens die so genannte „fiesta menemista“. Und auch die Mittelschicht erholte sich langsam von der Tragödie der Hyperinflation von 1989 und betrachtete demzufolge die feste 1:1-Bindung des argentinischen Peso an den US-Dollar mit Wohlwollen und Erleichterung.
Die linken AkademikerInnen und progessiven Intellektuellen waren in Lethargie verfallen, als die Mauer in Berlin fiel. Denn der Mauerfall wurde, zumindest im Süden der Welt, wie ein Ende der Ideologien erlebt. Doch Anfang 1994 – 35 Jahre nach der kubanischen Revolution – weckte der Lärm der Schüsse aus dem lakandonischen Urwald all jene „Kampflosen“ in Argentinien aus ihrer Nostalgie.

Der „neue Che“
In dem Land, das damit prahlt die Heimat „Che“ Guevaras zu sein, waren damals in allen Zeitungen Berichte über den Aufstand der Indígenas in Chiapas zu finden – vor allem seit Subcomandante Marcos in Erscheinung getreten war. Neben dem Konterfei des „Che“ trugen die Jugendlichen nun auch die Sturmhaube von Marcos. Die argentinische Linke begann wieder aufzuleben.
Nicht nur in den großen argentinischen Tageszeitungen wurde regelmäßig über Chiapas berichtet. „Página/12“ hatte über Monate den hervorragenden Dichter Juan Gelman als Korrespondenten in San Cristobal de las Casas. Er selbst war in den 70er Jahren vor der Diktatur in Argentinien nach Mexiko ins Exil geflohen. Auch veröffentlichten die Zeitungen ständig die Verlautbarungen der EZLN und befragten verschiedenste PolitikwissenschaftlerInnen und Intellektuelle nach ihrer Meinung zu der neuen indigenen Guerilla. Vergleicht man heute die damaligen Meinungen der meisten argentinischen linken VordenkerInnen mit denen ihrer mexikanischen KollegInnen, so stellt man interessanterweise fest, dass in Argentinien die Entstehung der neuen Guerilla sehr begrüßt wurde, während in Mexiko die Besorgnis überwog.
Es ist wohl so, dass die EZLN in Argentinien die Hoffnung auf eine lateinamerikanische Revolution – auch außerhalb Kubas – wieder erweckte. Chiapas war ein Schlag gegen den öffentlichen neoliberalen Diskurs der „Ersten Welt“, den auch Carlos Menem lautstark predigte. So solidarisierte sich Menem denn auch mit Salinas de Gortari und forderte alle rechtlich möglichen Schritte gegen die „verwirrten Terroristen“, von denen er sagte, sie hätten einfach noch nicht verstanden, dass sich die Welt verändert habe. In einem hatte der argentinische Präsident damals wohl Recht: Die Welt war nicht mehr dieselbe. Und das hatten die Zapatisten von Beginn an verstanden.

Die „Cyber-Guerilla“
Einer der Schlüssel des zapatistischen Guerillakampfes war das Erlangen internationaler Solidarität. Dieses Ziel erreichten sie vor allem durch die Nutzung des Internets. Eine Tatsache, die mehrere argentinische Zeitschriften sehr hervorhoben, als sie nicht nur von der Besonderheit der EZLN-Forderungen sprachen, sondern auch von ihrer originellen Kommunikation.
Das Phänomen der „Cyber-Guerilla“ wurde von vielen Autoren, vor allem von Seiten der Kommunikationswissenschafter, analysiert. Die Verlautbarungen von Marcos verbreiteten sich – auch auf Grund ihrer literarischen Qualität und seines Humors – in alle Teile der Welt und übten auf viele große Anziehungskraft aus.
Einer derer, die das Phänomen der neuen Kommunikationswege am besten darstellten, war der Uruguayer Eduardo Galeano. Er analysierte die „Beziehung zwischen dem Internet und den traditionell zum Stillschweigen verurteilten Bewegungen“ und hatte sogar das Privileg öffentlichen Schriftverkehr mit dem Subcomandante Marcos zu unterhalten. In einem dieser Schriftwechsel schrieb ihm selbiger: „Wir haben Angst vor dem Vergessen, das wir mit unserem Schmerz und Blut klein gehalten haben. Daher sind wir groß.“
Und so kam es, dass der Großteil der argentinischen militanten Bewegung Marcos´ Worte „die Würde ist eine internationale Heimat“ nicht vergaßen und sie später für sich aufnahmen. Zweifelsohne haben die Worte des Subcomandante Marcos und die neuen Formen der Kommunikation dazu beigetragen, dass die Diskussionen innerhalb der sozialen Bewegungen Argentiniens – die sich damals gerade erst entwickelte – auf einer horizontalen Ebene stattfinden.

Identität statt Klassenkampf
Der nachdrückliche Aufruf zu sozialer Gerechtigkeit der „Chiapanecos“ endete nicht in einer schnellen und unbesonnenen Machtübernahme. Vielleicht deshalb stufte ein großer Teil der argentinischen Linken die EZLN als eine „postmoderne Guerilla“ ein. Diese Einschätzung spiegelt die Tatsache wieder, dass in Chiapas zu mehr Identität aufgerufen wurde und nicht zum Klassenkampf und somit die Praktiken andere waren als die der meisten anderen aufständischen Gruppierungen. Und so kämpften sie denn auch nicht Jahr für Jahr weiter, sondern harrten in den Wäldern aus, zwischen Mosquitos und Schlamm, und überlegten, wie man mit der Regierung verhandeln könne.
Dennoch, die wohl kämpferischste Gruppierung Argentiniens der letzten Jahre – die piqueteros – haben die Skimützen der Chiapaneken zu ihrem Zeichen auserkoren. Um gesehen und gehört zu werden sperren sie mit brennenden Reifen Straßen – sie, die sie, ähnlich den Chiapaneken, zu den “Vergessenen des Systems” gehören.

Ausgrenzung der Indígenas
Am Ende des 19. Jahrhunderts begann das argentinische Militär seine Jagd auf die Indígenas. Sie endete nicht eher, bis deren Land eingenommen und die Indios selbst nahezu ausgelöscht waren. In Mexiko hingegen verfolgte man eine Politik der langsamen Ausrottung, indem man die Indígenas immer mehr an den Rand und in die Armut drängte. Zwei unterschiedliche Arten der Verdrängung, die besonders seit dem so genannten Jahrestag der „500-jährigen Entdeckung Amerikas“ wieder neu analysiert wurden.
In Argentinien misst man der Problematik der Indígenas seit 1992 immer größere Bedeutung bei. Man gründetet das INAI (Instituto Nacional de Asuntos Indígenas), das sich damit befasst, die von den Vorfahren überlieferten Rechte der Ureinwohner zu sichern und zu verteidigen. Dennoch stellen heute die wenigen Indios, die die zahlreichen Katastrophen der Vergangenheit überlebten, immer noch eine Randgruppe dar. In Chiapas jedoch lenkte der Aufstand der Indígenas wieder mehr Aufmerksamkeit auf den alten Konflikt, der bis dahin selbst von den linken Parteien wenig Beachtung gefunden hatte – wohl auch, weil es sich eben um eine kleine Minderheit handelt. Gerade diese Parteien begannen jedoch nun, sich des Themas stärker anzunehmen.

Lateinamerika hat sich verändert
Zielsetzung der EZLN war es, eine „neue Wechselwirkung der Kräfte zu schaffen“. Sie wollten „eher eine Brücke sein als ein Hafen“. Davon ausgehend kann man sagen, dass die Bewegungen, die zum Ende des letzten Jahrhunderts in Argentinien entstanden, sich dieser Zielsetzung anschlossen. Juan Gelman – GuerillakämpferInnen der 70er Jahre sowie Vater und Schwager von Verschwundenen während der Militärdiktatur Argentiniens zwischen 1976 und 1983 – hat während des heißen Sommers 1994 so richtig gesagt: „Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie das Vorhaben der EZLN ausgehen wird. Eines jedoch ist sicher; seit ihrer Entstehung ist Lateinamerika nicht mehr wie es vorher war.“
Der Dichter hatte Recht. Im Dezember 2001 war Gelman nicht mehr Korrespondent in San Cristóbal de las Casas. Er lebte im aufständischen Buenos Aires, das sich – wie Chiapas – auflehnte gegen eine Politik des Hungers und der Ausgrenzung, die ihre Verbrechen im heuchlerischen „globalen Dorf“ beging.

Übersetzung: Anna Schulte

Aktive Globalisierung von unten

Die EZLN war die Geburtshelferin der weltweiten „Antiglobalisierungsbewegung“ – ein eigentlich falscher Begriff, da diese erst durch eine „Globalisierung von unten“ entstehen konnte. Mit der Einberufung eines ersten „intergalaktischen Treffens“ im chiapanekischen Urwald im Jahr 1996 und dem Aufruf zu und der Verwirklichung von kontinentalen Treffen im Jahr 1997, die schließlich in einem weiteren „intergalaktischen Treffen“ in Spanien im gleichen Jahr mündeten, begann sich ein breites Spektrum emanzipatorischer und linker sozialer Bewegungen als eine solche „Antiglobalisierungsbewegung“ zu konstituieren. In Anlehnung an den Zapatistischen Diskurs kam es im Anfang 1998 zur Gründung von Peoples Global Action (PGA), als einen weltumspannenden Ansatz der Vernetzung von Basisorganisationen.
Die Ausrichtung der EZLN war von Anfang an auch international: Ihre Kommuniqués richten sich häufig an eine globale Öffentlichkeit (die meist auf den amerikanischen und europäischen Kontinent begrenzt bleibt) und ihre Widerstandsformen erlauben (zumindest seit dem Waffenstillstand) eine Identifikation mit den Zapatistas und ermöglichen eine Übersetzung ihrer neuen Impulse und Politikansätze in andere politische Kontexte.

Zapatistische Denkanstöße
Eher denn um etwas radikal Neues, handelt es sich bei den Konzepten der EZLN um eine kluge Mischung aus neuen und alten Elementen, Erfahrungen, indigenen Gemeinschaftsvorstellungen und vielem mehr. Einige zentrale Punkte, die auch auf globaler Ebene von Bedeutung für die Linke sind, sollen hier kurz dargestellt werden. Dabei müssen auch Missinterpretationen der zapatistischen Ansätze zurechtgerückt werden. Zum Beispiel hinsichtlich der angeblichen „Ablehnung der Macht“, wie sie von vielen – vor allem deutschsprachigen – EZLN-Soli-AktivistInnen in die Politik der Zapatistas hinein interpretiert wird.
Tatsächlich lehnt die EZLN Macht nicht grundsätzlich ab, sondern steht für eine Dezentralisierung und Demokratisierung von Macht. Damit verknüpft ist eine radikale Machtkritik, die mit der staatsfixierten linken Tradition bricht. Die EZLN verharrt nicht in Forderungen an den Staat und kämpft nicht um die Eroberung bestehender Strukturen, sondern um „Autonomie“.
Die Zapatistas haben sogar in schwierigsten Zeiten jegliche Unterstützung vom mexikanischen Staat abgelehnt. Einerseits legen sie großen Wert auf eine absolute Eigenständigkeit und andererseits geht es um die Aneignung von Ressourcen und sozialen Räumen, um die eigene Gestaltung der gewünschten Gesellschaft, ohne auf Erlaubnis zu warten. Daher der Aufbau eigener Verwaltungsstrukturen, zunächst der lokalen Autonomen Gemeinden und seit August 2003, mit den „Juntas der guten Regierung“, auch von fünf Regionalverwaltungen.
Doch das zapatistische Konzept der Autonomie geht weiter, als nur die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung der indianischen Gemeinden zu verteidigen. Die Autonomie soll zur zentralen Forderung und Praxis der verschiedensten sozialen, kulturellen und politischen Realitäten werden. Diese Bewegung soll gemeinsam die neue Gesellschaft hervor bringen.
Ein wichtiges Prinzip ist dabei das „mandar obedeciendo“ (gehorchend befehlen). Es bedeutet, dass Anweisungen, Befehle und Entscheidungen immer den Willen der Mehrheit ausdrücken sollen und dass niemand eine Leitungsfunktion in dem Sinne hat, das er/sie eigenmächtige Entscheidungen trifft, sondern versucht Ausdruck des Willens der Basis zu sein.
Mit der Integration indigener Elemente in den Ansatz der EZLN wird nicht nur dem indianischen Erbe und Lebensweisen Tribut gezollt (wobei Traditionen auch hinterfragt und bekämpft werden können – so wie das patriarchalische Geschlechterverhältnis), sondern auch der übliche gradlinige Entwicklungsbegriff vieler Befreiungsbewegungen hinterfragt, der sich kaum von den kapitalistischen Entwicklungsvorstellungen unterschied (nur eben unter anderen Vorzeichen).
Dazu ist die „Bereitschaft zuzuhören“, wie es die ZapatistInnen immer wieder betonen, besonders wichtig. Dies setzt voraus, nicht immer die „Wahrheit“ kennen zu wollen, Prozesse zuzulassen und Meinungen zu ändern. Dieses Verständnis drückt sich auch in der zapatistischen Losung „preguntando caminamos“ (fragend gehen wir voran) aus. „Preguntando caminamos“ bedeutet den Weg nicht immer schon genau zu kennen, sondern ihn gemeinsam zu entwickeln.

Zwischen Solibewegung und neuer Politik
Im deutschsprachigen Raum, und vor allem in Deutschland, ist jedoch in der Linken wenig über Ansätze und Politikformen der Zapatistas diskutiert worden. Kaum jemand hat den Diskurs und die Diskussionen der Zapatistas in seine Praxis einfließen lassen und eine eigene Praxis daraus entwickelt. Der Großteil derer, die sich mit Zapatismus beschäftigen, macht dies in Form von klassischer Solidaritätsarbeit. Die Diskussion um die Einbahnstraße unkritische Solidarität und fehlende Kämpfe im eigenen Kontext von Anfang der 90er Jahre (in Folge der Wahlniederlage der FSLN in Nicaragua 1990 und des Friedensvertrages der FMLN in El Salvador 1992) schien es nie gegeben zu haben. Eine kritische Solidarität gegenüber den Zapatistas existiert kaum, entweder die deutsche Linke straft den Ansatz weitgehend mit Nichtbeachtung (wie seitens der dogmatischen Linken und großen Teilen der autonomen Szene in all ihren Ausläufern) oder sie betreibt eine völlige Idealisierung.
Das zentrale Problem der deutschen Soli-Bewegung liegt genau darin, „Soli-Bewegung“ zu sein. Die beste Solidarität liegt darin, eigene politische Kämpfe zu entwickeln und zu führen. Dass die Zapatistas von einer karitativen Haltung, die letztlich auf Mitleid beruht und die nationale wie internationale Hierarchien reproduziert, nichts halten, haben sie oft genug deutlich gemacht. Doch die deutsche EZLN-Soliszene bleibt davon bis auf einige wenige löbliche Ausnahmen unbeeindruckt und weitgehend isoliert von politischen Bewegungen und Entwicklungen im eigenen Land. Bezeichnend dafür war zum Beispiel die Unfähigkeit der Vorbereitungsgruppe des europäischen Treffens gegen Neoliberalismus 1997 in Berlin, eine Brücke zu einer der breitesten Berliner Bewegungen der 90er Jahre zu schlagen, dem Sozialbündnis, ein Zusammenschluss von zeitweise bis zu 140 Gruppen und Organisationen, in dem zehntausende Menschen den Widerstand gegen neoliberale Politik auf lokaler Ebene artikulierten. Ebenso wenig schaffte es die Vorbereitung eine Verbindung zur Berliner Linken aufzubauen. Die wiederum ignorierte ihrerseits das Treffen hartnäckig.

Disobbedienti: Italienische Übersetzung
Die Ablehnung, sich mit neuen Impulsen zu beschäftigen, ist breit und in allen Spektren der Linken vorhanden. Für die kleinen Teile, die bereit sind, andere Politikformen auszuprobieren, sind die Disobbedienti (die Ungehorsamen), die italienische Übersetzung des Zapatismus wichtig, da diese sich ebenfalls in einem westlich-kapitalistisch-urbanen Kontext ansiedelt. In Italien hat es funktioniert, die eigene Politik neu zu bestimmen und eine Übersetzung des Zapatismus für die italienische Situation vorzunehmen. Dabei geht es den Disobbedienti vorwiegend darum, sich die gleichen Fragen zu stellen und nicht die gleichen Antworten zu geben.
In Italien wurde die Beschäftigung mit dem Zapatismus als politische Aufgabe vor Ort begriffen. Die Tute Bianche, die mittlerweile in den Disobbedienti aufgegangen sind, hatten Ya Basta, den Zusammenschluss der EZLN-Soligruppen, als organisatorisches Rückgrat. Das Ya Basta-Netzwerk brachte sowohl Turbinen nach La Realidad in Chiapas wie es auch konkrete antirassistische Arbeit in Italien organisierte. Dort hat eine Neubestimmung in Diskurs, Praxis und Inhalt stattgefunden und funktioniert. Die italienische Bewegung der Disobbedienti ist daher auch in Mexiko immer wieder in eine politische Konfrontation gegangen (mit expliziter politischer Betätigung, die nach mexikanischem Gesetz für Ausländer verboten ist). In Einzelfällen stieß dies auch auf Kritik seitens mexikanischer Linker. Beispielsweise als 300 Tute Bianche als Schutz für die Comandancia den Marsch nach Mexiko-Stadt im März 2001 begleiteten. Es war tatsächlich ein Fehler der italienischen GenossInnen, sich der militärischen Struktur der EZLN unterzuordnen und sich nicht um die Vermittlung der eigenen Positionen und des eigenen Handelns zu kümmern. Das wurde anschließend selbstkritisch analysiert.
Doch nicht nur bei den Disobbedienti werden in Italien die Diskurse der Zapatistas rezipiert und die EZLN als interessanter und ernst zu nehmender Weg linker Politik wahrgenommen. Auch im Bereich der Eine-Welt-Gruppen und Alternativstrukturen sieht es ähnlich aus und sogar die Partei Rifondazione Comunista unterhält enge politische Beziehungen zur EZLN, lädt VertreterInnen auf ihre Parteikongresse ein und trifft sich mit Comandantes der EZLN zum Meinungsaustausch.

Keine Alternative zur Bewegung
Die Hartnäckigkeit, trotz Scheiterns immer wieder Initiativen und Kampagnen zu starten, um breitere Mobilisierungen zu entwickeln, Bündnisse und Allianzen zu fördern und andere zu eigenen Aktivitäten zu animieren, ist vielleicht auch eine zapatistische Lehre.
Die EZLN versuchte immer wieder, mexikoweit etwas in Bewegung zu setzen. Die vielfältigen Versuche der EZLN die mexikanische Bewegungslinke zu mobilisieren, haben nicht im erhofften Maße gefruchtet. Im Rahmen der Initiativen kam es zwar immer wieder zu einer breiten Mobilisierung, doch diese flaute anschließend wieder ab.
Die EZLN hält dennoch daran fest, Massenmobilisierungen und Selbstorganisierung zu forcieren und wird sicherlich in den nächsten Jahren weitere Initiativen in diese Richtung starten. Denn den Zapatistas ist klar, dass tief greifende Veränderungen der mexikanischen Gesellschaft nicht allein in Chiapas möglich sind. Mit landesweiten Mobilisierungen soll ein politischer Raum geschaffen werden, der angesichts der Bedrohung durch die mexikanische Armee und Paramilitärs lebensnotwendig ist. Vor allem geht es aber darum, eine Bewegung zu schaffen, lokale und regionale Initiativen, Gruppen und Organisationen dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten, sich zu vernetzen, an Stärke zu gewinnen.
Letztlich folgt die Logik der Zapatistas der einfachen Erkenntnis, dass es keine Alternative zur Bewegung gibt und diese auch ihren lokalen Ausdruck haben muss.

Rebellisches Radio aus Chiapas

Mit einem Hahnenschrei beginnt um 6:00 Uhr die Morgensendung des zapatistischen Senders Radio Insurgente – La voz de los sin voz (Aufständisches Radio – Die Stimme der Stimmlosen), das bereits seit einigen Monaten von mehreren UKW-Sendern auf der Frequenz 97,9 FM in Chiapas sendet: „Von irgendeinem Ort im Urwald, im Südosten Mexikos“, wie es die Senderansage immer wieder verkündet. „Denn uninformiert sein ist wie unbewaffnet sein – deshalb höre Radio Insurgente.“ Am frühen Morgen, wenn für die meisten chiapanekischen Indianer der Tag beginnt, tönt aus fast allen ärmlichen Hütten der zapatistische Sender, der nicht nur auf Spanisch, sondern vornehmlich in den zwei meistgesprochenen Maya-Sprachen sendet.
Ein Radio ist in dieser mexikanischen Region mit mehrheitlich indianischer Bevölkerung von unschätzbarem Wert. Aufgrund ihrer langjährigen Marginalisierung können etwa die Hälfte der Männer und rund zwei Drittel der Frauen nicht lesen und schreiben. Viele, vor allem die Frauen, sprechen ohnehin kaum oder nur schlechtes Spanisch. Doch auch spanischsprachige Sender sind in der Berglandschaft selten. Meist dreht man völlig im Leeren, wenn man im Radio einen Sender sucht.
Neben mexikanischen Corridos und Boleros, Revolutionsliedern lateinamerikanischer KünstlerInnen und selbst eingespielten Liedern der zahlreichen Musikgruppen aus den zapatistischen Basisgemeinden sind im Radio auch mal die Beastie Boys, Rage Against the Machine und vor allem Manu Chao zu hören. Am Nachmittag werden ausführliche Nachrichtenblöcke gesendet. Lokale, nationale und internationale Meldungen, in genau dieser Reihenfolge. Und die Nachrichten werden gehört. Vor einigen Jahren fast undenkbar, finden sich heute in den Dorfgemeinschaften Personen, die über den Irak-Krieg diskutieren, vom US-Druck auf Kuba wissen und stolz auf das Radio verweisen.

Aufklärung für Frauen…
In speziellen Aufrufen wenden sich die RadiomacherInnen, zum Großteil Frauen, an die indianische Landbevölkerung, StudentInnen, SympathisantInnen und immer wieder an die Frauen: „Hallo Frau! Träumst du von einer schönen Zukunft? Wir hier sagen dir, du hast das Recht, deinen Partner auszusuchen, und niemand kann dich mit Gewalt zur Hochzeit zwingen. So legt es das Revolutionäre Frauengesetz der EZLN fest.“
Das Gesetz wurde im Jahr vor dem Aufstand vom 1.1.1994 von den zapatistischen Frauen verabschiedet und gilt seitdem im gesamten zapatistischen Territorium. Mehrere sich abwechselnde Frauenstimmen erklären im Radio die einzelnen Rechte: „Du hast ein Recht darauf zur Schule zu gehen, von deinem Mann respektvoll behandelt zu werden, dich auszuruhen und zu vergnügen. Du hast ein Recht darauf von deinem Mann zu fordern, dass er dich in der Küche, mit der Wäsche und den Kindern unterstützt. Du hast das Recht deinem Mann ‘nein’ zu sagen, wenn du müde bist, dir oder du keine Lust hast. Du hast ein Recht darauf zu entscheiden wie viele Kinder du willst. Wenn du dich schützen willst, dann frage deine nächste lokale Verantwortliche für Gesundheit.“
Es folgt ein emphatischer Aufruf: „Frau! Es gibt viele Gründe, als Frau stolz zu sein. Unsere Würde als Frauen ist die gleiche wie die der Männer, verteidige sie!“ Und im Anschluss ein revolutionäres Frauenlied, in dem selbige aufgefordert werden sich dem Kampf anzuschließen. Dabei treffen die Sängerinnen musikalisch nicht immer den richtigen Ton, doch die Botschaft kommt an, vor allem bei den Frauen.

…wie für Männer
Eine Männerstimme hingegen wendet sich regelmäßig an die männlichen Zuhörer und macht ihnen klar: „Genosse Bauer, denke immer daran, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie du selbst. Sie haben das Recht als Personen respektiert zu werden. Wenn du eine Frau schlägst, begehst du ein Verbrechen. Wenn du eine Frau zwingst etwas zu tun, das sie nicht will, dann verweigerst du ihr die Achtung. Wenn du ein guter Mann und ein guter Ehemann sein willst, denke immer daran!“
Doch der Sender spricht nicht nur die eigenen Basis an, ganz im Gegenteil. Soldaten und Paramilitärs werden direkt angesprochen und zum Desertieren aufgefordert: „Soldat, der du aus dem Volk kommst, hör zu! Du bist genauso wie wir, genauso arm. Wenn du aufhörst Soldat zu sein, dann gewinnst du ein würdiges Leben. Hör auf gegen deine eigenen Leute zu kämpfen, gegen deine eigene Familie und deine Nachbarn. Lass dich nicht mehr von der Regierung für ein paar Centavos kaufen. Verweigere die Befehle einer Regierung, die nur den Reichen dient und die Armen ärmer werden lässt.“
Und das Programm scheint Erfolg zu haben. Aus zahlreichen wohlgesinnten Zuschriften von Soldaten an das Radio wird deutlich, wie viele von ihnen Radio Insurgente hören.

Die aufständische Stimme weltweit
Ab dem 9. August, rechtzeitig zur Verkündung neuer Verwaltungsformen und einer umfassenderen Autonomie in den Gebieten der EZLN, sollte Radio Insurgente eigentlich wöchentlich eine „intergalaktische“ Sendung in den Äther schicken. Auf der Langwelle sollten die Botschaften der Zapatisten auf dem ganzen Kontinent und bei günstigen Bedingungen auch in Europa zu hören sein. Doch die Störmanöver der Regierung sabotierten die Ausstrahlung der Premiere mit Subcomandante Marcos als DJ und Sprecher. Die Ausstrahlung erfolgte schließlich zwei Tage später. Ein Livestream findet sich auf Indymedia Chiapas
Gut gelaunt und spitzfindig kommentierte Marcos in der ersten Sendung die von ihm ausgewählte Musik und die internationale Politik. Er grüßte die EZLN-Basis und die bewaffneten Verbände, sprach über Globalisierung und das kaltfeuchte Wetter in den Bergen von Chiapas, wo gerade tiefste Regenzeit herrschte. Dazwischen legte er immer wieder Cumbias auf und spielt auch einen Blues von BB King: „There must be a better world somewhere.“

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chiapas.indymedia.org

Musikalische Brücken der Rebellion

Zu den großen Leidenschaften der zapatistischen Gemeinden zählen der Tanz und der Gesang. Corridos und Cumbia zählen zur Tradition, im alltäglichen Leben, auf gemeinsamen Festen und inzwischen auch auf nationalen und internationalen Treffen. Überall wo die Zapatisten gewesen sind, wurde Cumbia und corrido, Rock, Ska, Salsa oder Reggae getanzt. Im kulturellen Widerstand gegen den Neoliberalismus waren aufständische Dörfer von Beginn an künstlerisch kreativ. Das zeigt sich in den Liedern, die das zapatistische Projekt über die Jahre charakterisiert haben: darin wird die Anerkennung der Vereinbarungen von San Andrés gefordert, der Kampf für die nationale Befreiung und gegen den Neoliberalismus propagiert.
Wohl am repräsentativsten für die zapatistische Musik ist der corrido. Die Lieder der Moritatensänger sind ein Spiegel der Geschichte der Rebellion. Sie handeln von dessen Anfängen, vom Aufstand, von den verschiedenen Etappen des Krieges und vom Kampf für die Autonomie. Obwohl der corrido in Chiapas traditionell nicht so verwurzelt ist wie die Musik der marimba, ist er seit langer Zeit Teil der eigenen Kultur. Von 1994 bis heute haben die Zapatisten ein Liedgut geschaffen, das sich in alle Einflusszonen ausgedehnt hat. Ihre Lieder hört und singt man in verschiedenen Teilen Mexikos und der Welt. Ein typisches Beispiel ist das Lied „Der Horizont” von der „Aufständischen Lucía”, das auch als zapatistische Hymne bekannt geworden ist:
Man sieht schon den Horizont,
zapatistischer Rebell,
du wirst jenen den Weg weisen, die dir folgen.
Vorwärts, vorwärts, lasst uns vorausgehen,
damit unser Kampf vorankommt,
denn unsere Heimat schreit und braucht, die ganze Kraft der Zapatisten.

Die Geschichte des corrido
Nicht das Gewehr,
das ich mit Geschick bediene,
nicht die Zügel des kühnen Rosses,
sondern die Feder ist mir Geschütz und Strategie,
mein Vers die Munition, wie ich sie verstehe.
Dieser Vers stammt aus einem corrido von Marciano Silva, einem zapatistischen General und Bauern der südlichen Befreiungsarmee zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Die corridos werden eine Verpflichtung zur Wahrheit, ihre Autoren zu Geschichtsschreibern. Die symbolische Kraft, die diese Musikgattung besitzt, kommt aus der aufständischen Kultur des mexikanischen Volkes. Diese Kultur beginnt mit dem Kampf für die Unabhängigkeit. Sie setzt sich fort im Reformkrieg, in den Gefechten gegen die französische und später die US-amerikanische Invasion, als Mexiko fast die Hälfte seines Territoriums verlor, im Widerstand gegen den Diktator Porfirio Díaz und in der mexikanischen Revolution.
In den corridos werden diverse Themen angesprochen: Probleme von Tagelöhnern und von chicanos, den US-Bürgern mexikanischer Abstammung, Drogenhandel, das Massaker von Aguas Blancas, die Rebellion von Tepoztlán oder auch der Beginn des indigenen Aufstands der EZLN im Jahre 1994.
Selbstverständlich ist der corrido nicht die einzige Musikgattung in Mexiko. Das kulturelle und soziale Mosaik des Landes drückt sich durch verschiedene Identitäten, Erinnerungen, Vorstellungen und Konflikte aus. Der corrido hat in der mexikanischen Geschichte heute einen festen Platz, weil er für die musikalische und poetische Kreativität des Volkes steht.
AutorInnen wie Vicente de Mendoza sehen den Ursprung des corrido wegen seiner Form und Struktur in der spanischen Romantik: „Der corrido ist eine epische Gattung, lyrisch-erzählend, in vierzeiligen, variierenden Reimen und Paarreimen. Er ist eine literarische Form, über die sich ein musikalischer Ausdruck legt.”
Andere AutorInnen weisen darauf hin, dass der corrido aufgrund seines begleitenden Stils dem französischen courante entspricht und daher seinen Namen erhält. Dagegen steht die These, dass der corrido seinen Ursprung in der indigenen Poesie hat und in aztekischer oder Náhuatl-Tradition steht. Deren AnhängerInnen argumentieren, dass die epische Romantik sich nicht mit dem Volk beschäftigt und deswegen auch nicht als Kampfinstrument funktioniert. Ihnen zufolge übernimmt der mexikanische corrido zwei Funktionen: er richtet sich an Helden, aber wendet sich nicht ausschließlich ihnen zu, sondern auch der Stärke und dem Heldentum selbst.
Insgesamt sehen diese Autoren im mexikanischen corrido eine episch-lyrisch-tragische Gattung, die jede mögliche Strophenformen annimmt, alle Reimformen benutzt und von einem Musikinstrument begleitet wird.

Die Lieder der Zapatisten
Der zapatistische Moritatensänger Yisimón Lum Wuits, Tzeltal Musiker und Poet im nördlichen Chiapas, urteilt folgendermaßen über Musik und Gesang:
Die gesungene Politik
ist eine Form des Kampfes,
helfend und anklagend,
die Erziehung verändernd.
Das Lied erzieht die Menschen,
vom jüngsten bis zum ältesten.
Es ist eine Kriegsstrategie psychologischer und ideologischer Art.
Das Bewusstsein wird schreiend in unseren Gedanken geboren.
Schließlich wird es eins mit unserer Persönlichkeit,
es bittet um seine Freiheit und drückt sich aus,
in der Politik, im Lied, in der Arbeit, und man nennt es Erziehung.
Eine Revolution
kann bereichert werden,
mit Liedern vom Krieg,
von Schlachten und Menschen,
von künstlichem und natürlichem Material.
In diesem Text ist eine wichtige Überlegung der Zapatistas zu erkennen. Das Wort erfährt nur dann Anerkennung und Sinn, wenn es in Beziehung zu Taten und konkreten Aktionen steht. Lum erkennt in der Musik einen pädagogischen und ideologischen Auftrag. Das Bewusstsein, sagt er, entwickelt sich nur dann mit voller Klarheit, wenn es sich mit der Persönlichkeit vereint. Aus diesen Überlegungen wird klar, dass die Kreativität der zapatistischen Gemeinden sich weiterentwickelt. Vermutlich wird man anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag des Aufstands der EZLN viele der rebellischen Lieder aus den Dörfern hören, aber auch solche von mexikanischen und ausländischen Musikern, die vom Zapatismus inspiriert wurden. Yisimón Lum sagt: „Und wenn ich die Gefühle derer erzähle, die leiden, wenn ich davon spreche, wovon die Leute träumen, wenn ich sehe, dass jemand kämpft, stirbt oder liebt, dann werde ich ihm singen. Ich werde ihm singen.”

Übersetzung: Andreas Justen / Rolf Schröder

Schneckentrompeten aus dem Urwald

Am Wochenende des 9. August 2003 versammelten sich im Norden des lakandonischen Urwalds im Ort Oventic mehr als 10.000 Indigenas, ZapatistInnen und deren SympathisantInnen. Die ZapatistInnen hatten eingeladen, um den politischen Prozess der indigenen Autonomie weiter voranzutreiben. Und nicht nur um die indigene Autonomie sollte es gehen. Wie bei den Zusammenkünften in der Vergangenheit, den so genannten „Aguascalientes“, bei denen die komplette mexikanische Bevölkerung angesprochen war, ging es auch diesmal um die Demokratisierung der gesammten Gesellschaft.
Die Zusammenkunft bekam den Namen Caracol, das spanische Wort für Schnecke. Und der durchdringende Klang der Schneckentrompeten war im ganzen Land zu vernehmen. Aus unterschiedlichsten Regionen und Bereichen der Gesellschaft waren die Menschen angereist, um ihre Solidarität mit den ZapatistInnen auf ein Neues zu demonstrieren. Indigene VertreterInnen der Zapoteken, Mixteken und Mixes aus Oaxaca, Amuzgos, Nahuas, Tenéks aus Zentralmexiko und der Raramuris aus dem hohen Norden des Landes machten deutlich, dass die ZapatistInnen mit ihrer Botschaft der regionalen Autonomie für sie eine wichtige Rolle im Umgang mit dem Nationalstaat spielen. Aus den verschiedenen Städten des Landes waren ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und Angestellte der Universitäten angereist, um bei dieser Geburt einer neuen politischen Institution mitzuwirken. Ein Schneckenhaus, das nicht als Versteck dienen soll, sondern eine Spirale als Symbol für eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie und regionaler Autonomie darstellt.
Der Subcommandante Marcos war nicht anwesend. In einer Radioansprache erklärte er seinen Rücktritt vom Posten des Sprechers der Autonomen Gemeinden, 30 an der Zahl, und begründete diesen Schritt mit seiner Überzeugung, dass das Zapatistische Befreiungsheer für die Verteidigung der Bevölkerung da sei und nicht um zu regieren. Die Regierungsform auf die er dabei anspielt wurde vor neun Monaten in den Autonomen Gemeinden installiert und ist mit diesem Akt ans Licht der Öffentlichkeit getreten: Die „Juntas de Buen Gobierno“ (Ratsversammlungen der Guten Regierung). Diese neue Institution besteht im Hochland von Chiapas aus 14 Delegierten, zwei aus jeder der sieben Autonomen Gemeinden.
Commandante David erklärte in seiner Ansprache die ersten Veränderungen, die die Neustrukturierung für die Autonomen Gemeinden mit sich bringt. Die Grenz- und Kontrollposten der Zapatisten werden aufgelöst und das Eintreiben von Zöllen wird eingestellt. Die Ratsversammlungen sind nun für den freien Verkehr und die freie Kommunikation in den autonomen Gebieten zuständig.

Gehorchend befehlen

Zudem betonte Commandante Esther die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern in den autonomen Gebieten. Und Kommandante Tacho rief zur Einigkeit unter den Bauern auf und kritisierte die Regierung Fox scharf, die das Elend auf dem Land zu verantworten habe und nur den transnationalen Konzernen diene: „Die Bauern sind die rechtmäßigen Eigentümer des Grund und Bodens, den sie bestellen, und der Produkte, die sie erwirtschaften. Die Erde ist unsere Mutter und eine Mutter kann man nicht verkaufen! Und diejenigen, die es doch tun, Salinas, Zedillo und Fox, die haben keine Mutter.“
Bei den „Ratsversammlungen der Guten Regierung“ soll das Volk regieren, und die Regierung soll die Stimme des Volkes hören und ihr gehorchen: Mandar Obedeciendo (gehorchend regieren) ist das ureigene Konzept der autonomen zapatistischen Gemeinden, was sich auf Mitbestimmung der Zivilgesellschaft stützt. Sie kann sich nun über die Ratsversammlungen artikulieren. Als kommunale Regierungen haben die Ratsversammlungen die Aufgabe drei gesellschaftliche Bereiche zu organisieren:
Erstens muss die Schulbildung in den Autonomen Gemeinden bis zur Mittelschule garantiert werden, und zwar gratis. Wissenschaftliche Basiskenntnisse müssen ebenso vermittelt werden so wie der Respekt vor der eigenen Kultur. Trotz der extremen Armut, die in vielen Gemeinden herrscht, muss zweitens eine öffentliche Gesundheitsversorgung gewährleistet werden. Die Ratsversammlungen müssen drittens eine gesellschaftliche Ordnung garantieren, in der die Wiedergutmachung die Strafe ersetzt, die Solidarität in der gemeinschaftlichen Arbeit den individuellen Nutzen verdrängt, und die gemeinsamen Werte einen gesellschaftlichen Konflikt verhindern.
Die grundlegende Aufgabe der Ratsversammlungen auf kommunaler Ebene ist es, auf die unteren Schichten der Bevölkerung zu hören und in ihrem Namen zu handeln.

Die Reaktion der Nationalregierung und der Parteien

Am Vorabend der zapatistischen Mobilisierung zum Caracol von Oventic versicherte der Regierungssekretär in Mexiko-Stadt Santiago Creel Miranda, dass es weder eine Verstärkung der militärischen Präsenz in Chiapas geben werde noch irgendeine andere militärische Maßnahme als Reaktion auf die Veränderungen in den aufständischen Gemeinden.
Auf die Frage, ob die Bildung dieser „Ratsversammlungen der Guten Regierung“ eine Herausforderung für die nationale Regierung sei, antwortete er, dass man diesen Prozess im Zusammenhang mit einer Verfassungsänderung sehen müsse. Auf lokaler Ebene könne die Verfassung von den Beteiligten verändert werden, und neue Formen der Autonomie, zum Beispiel eine indigene, geschaffen werden, so geschehen kürzlich im Bundesstaat Oaxaca. Der Regierungssekretär begrüßte ausdrücklich den zivilen Charakter der Ratsversammlungen und sah damit die Möglichkeit zu einer Annäherung von aufständischen Gemeinden und mexikanischer Regierung gegeben.
Ganz anders nahmen verschiedene Abgeordnete des Landesparlaments von Chiapas die Initiative der ZapatistInnen auf. Abgeordnete der rechtskonservativen PAN (Partei der Nationalen Aktion) und der alten Staatspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) wiesen die Rechtmäßigkeit der Ratsversammlungen zurück. In den Gemeinden würden bereits kommunale Regierungen bestehen, zudem müsste die chiapanekische Landesverfassung geändert werden, damit die neuen zapatistischen Strukturen auch formal anerkannt werden könnten. Eine Maßnahme, die im konservativ geführten Chiapas sicherlich nicht ansteht.
Auf nationaler Ebene stünde neuen Gesetzen zur indigenen Autonomie zusätzlich die ablehnende Haltung von PRI und PAN entgegen, die in der Abgeordnetenkammer die Mehrheit haben.

Ungewisse Zukunft

Seit den letzten Augusttagen werden die zapatistischen Gemeinden und ihre UnterstützerInnen in Chiapas zunehmend von Paramilitärs bedroht. Außerdem berichtete die mexikanische Tageszeitung La Jornada vermehrt von militärischen Aktionen in den Autonomen Gemeinden und einer Zunahme von Militärpatrouillien in den Dörfern. Auch seien einmal, nachdem die zapatistischen Kontrollposten abgebaut worden waren, staatliche Beamte in ein Dorf gekommen, um die Möglichkeiten zur Tourismusentwicklung zu prüfen, ohne die lokale Bevölkerung in diesen Prozess miteinzubeziehen.
Die Autonomen Gemeinden sind mit der Schaffung der „Ratsversammlungen der Guten Regierung“ politisch handlungsfähig geworden. Mit der mexikanischen Regierung kann es nun zu Verhandlungen kommen. Die Frage ist nur, ob die Regierung Fox wirklich an einem Dialog interessiert ist, der am Ende auch zu einer Veränderung des mexikanischen Staatsgefüges führen könnte oder ob die Positionen unvereinbar aneinander vorbeizielen. Seit 1996 ist die Position der Autonomen Gemeinden in Bezug auf eine neue indigene Gesetzgebung klar und deutlich artikuliert: Im Abkommen von San Andres Larainzar, das damals auch von der mexikanischen Regierung unterschrieben, aber nie umgesetzt wurde. Deshalb könnten die letzten Äußerungen des Regierungssekretärs Creel Miranda einer gut gezielten PR-Kampagne entspringen, um auf billige Art und Weise die Regierung in ein gutes Licht zu rücken. Tatsächlich spricht diese soviel von Menschenrechten wie nie zuvor, jedoch hat sich die wirkliche Situation der Menschenrechte und der indigenen Rechte im Besonderen kaum verändert.
Auch bleibt offen, inwieweit die neuen Juntas sich von den alten EZLN-Strukturen ablösen können. Bei dem Caracol von Oventic traten mit Ausnahme von Subcommandante Marcos jedenfalls wieder die bekannten militärischen Commandantes der Zapatisten auf und verkündeten die neue Botschaft.

Auf dem Land geht nichts mehr

Für viele kam es überraschend, als sich im November 2002 ein Großteil der mexikanischen Bauernorganisationen zusammentat, um, ähnlich wie damals die Zapatisten ya basta („es reicht“), dieses Mal el campo no aguanta más („das Land hält nicht mehr aus“) zu sagen. Jahre lang hatten sich diese unabhängigen Organisationen im Streit um eine gemeinsame Strategie selbst den Wind aus den Segeln genommen.
Die regierungstreuen Bauernorganisationen CNC (Confederación Nacional Campesina) und CAP (Congreso Agrario Permanente) schliefen unter der Herrschaft der PRI (Partido Revolucionario Institucional) in den Neunziger Jahren den gerechten Schlaf der vom Neoliberalismus Kooptierten. Klein-, Mittel- und Selbstversorgerbetriebe konnten während dessen nicht mehr rentabel wirtschaften. So sahen sich zahlreiche Kleinbauern und -bäuerinnen und LandarbeiterInnen aus Großbetrieben gezwungen, auf der Suche nach Arbeit in die Stadt oder die USA abzuwandern.
Mit Eintreten in eine weitere Liberalisierungsphase des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA (USA, Kanada und Mexiko) sind nun am ersten Januar 2003 weitere Zölle gefallen. Mit Ausnahme von Bohnen, Mais und Milchpulver werden jetzt alle landwirtschaftlichen Produkte zollfrei gehandelt. Damit haben sich die Probleme des Landes weiter verschärft. Als Reaktion auf diese Entwicklung präsentierten die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen in unvermuteter Einheit ihre Forderungen und übten Kritik an der Regierungspolitik von Präsident Fox.

Ernährungssicherheit in Gefahr

Welche Probleme das NAFTA für die campesinos mit sich bringt, ist nicht erst seit der neuen NAFTA-Phase bekannt. Schon seit dem In-Kraft-Treten der ersten Phase des Freihandelsabkommens am ersten Januar 1994 wird der mexikanische Agrarmarkt zunehmend von US-Billigimporten überschwemmt, deren Dumpingpreisen die mexikanischen Produzenten nicht gewachsen sind. So führte beispielsweise die Zunahme der jährlichen Importmenge von basic crops (Getreide und Früchte) von 8,7 Millionen Tonnen im Jahr 1990 auf derzeitig 18,5 Millionen Tonnen dazu, dass viele mexikanische Betriebe Pleite machten. Schuld daran war und ist aber nicht nur die Aufhebung der Handelsbarrieren, sondern auch die extrem hohe Subventionierung der eigenen landwirtschaftlichen Produkte seitens der US-Regierung. Das kritisiert selbst die WTO (World Trade Organization) scharf. So erhält ein US-Produzent durchschnittlich 20.000 US-Dollar pro Jahr von der Regierung, während sein mexikanischer Konterpart mit einem Zwanzigstel davon auskommen muss.
Die Konsequenzen dieser Vorteile und des daraus resultierenden Handelsungleichgewichts zeichneten sich in den letzten Jahren immer deutlicher ab. Für die Hälfte der aktiven Landbevölkerung reicht der Verdienst nicht mehr aus, um sich selbst zu ernähren. In absoluten Zahlen heißt das, dass auf dem Land in Mexiko zwölf Millionen Menschen in extremer Armut leben. Mexikos Versorgungssouveränität ist ausgehebelt. Denn die im eigenen Land produzierten Nahrungsmittel reichen nicht mehr aus, um die Bevölkerung zu ernähren.
Die Antwort der Bauern ist eindeutig: „El campo no aguanta más“. Unter diesem Motto schlossen sich verschiedene Bauernorganisationen zusammen und machten seitdem mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam.

Bauern machen mobil

Nachdem im Dezember schon mehr als tausend campesinos die Abgeordnetenkammer gestürmt hatten, um sich dort Gehör zu verschaffen, fand der bislang größte Protest gegen die Regierungspolitik Ende Januar 2003 statt. 100.000 campesinos aus allen Landesteilen strömten in die Hauptstadt, um dort auf einer Massenkundgebung ihre Forderungen öffentlich zu machen. Und diese sind sehr umfassend. Denn es geht ihnen um substanzielle Strukturreformen der Regierungspolitik, um eine Abkehr von neoliberaler Agrarpolitik und um die Neuverhandlung des NAFTA.
So soll zum Beispiel der auf die Landwirtschaft Bezug nehmende Abschnitt im nordamerikanischen Freihandelsabkommen komplett überarbeitet werden, um ihn dann mit den USA und Kanada neu zu verhandeln. Zudem fordern die campesinos die Rücknahme der 2008 in Kraft tretenden Aufhebung der Zölle auf Mais und Bohnen – Produkte, die von zwei Millionen mexikanischen campesinos angebaut werden. Auch die Aufhebung der anderen Zölle haben sie in Frage gestellt. Sie entspräche nicht der verfassungsrechtlichen Verankerung des Schutzes des eigenen Marktes.
Durch die Erhöhung der Preisstabilität und eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit mexikanischer ProduzentInnen durch Importkontingente solle ferner unzulässigen Handelspraktiken wie dem Preisdumping der US-ProduzentInnen entgegengewirkt werden. Gleichzeitig forderten die Bauernorganisationen die Wiedereinführung des Artikels 27 der Verfassung. Dieser Artikel sicherte bis zu seiner Abschaffung durch die neoliberale Regierung unter Salinas de Gotari (1988-1994) die Unverkäuflichkeit des kommunalen Landbesitzes, das Ejido.
Darüber hinaus reklamierten sie eine Soforthilfe von 20 Milliarden Peso (cirka zwei Milliarden Euro), die Einstellung von Verfahren gegen 300 BauernaktivistInnen und die Umsetzung des Abkommens von San Andrés zur Kultur und regionaler Autonomie der indigenen Gemeinden.
Wie gewöhnlich reagierte die Regierung Fox auf die Kundgebungen und Forderungen erst einmal zurückhaltend. Fox selbst leugnete die Existenz einer Krise auf dem Land. Kurze Zeit später aber, um neuerlichen Konfrontationen und dem weiteren Sinken im öffentlichen Ansehen vorzubeugen, kam der präsidiale Rückzieher. Der Präsident berief für Mitte Februar diesen Jahres einen runden Tisch der Bauernorganisationen und der Regierung zum „nationalen Dialog“ ein, da Tausende Familien auf dem Land und in den indigenen Gemeinden marginalisiert und in Armut lebten.
Vorab sicherte die Regierung den campesinos bereits eine Maßnahme zu – eine Regelung die in ähnlicher Form ohnehin schon existierte: die Absenkung des Dieselpreises für landwirtschaftliche ProduzentInnen. Dadurch verringern sich die Energiekosten in der Produktion. Da die Regierung Fox aber wohl kaum vorsieht, ihren neoliberalen Kurs zu verlassen, schloss sie sich gleichzeitig mit den wenigen Organisationen zusammen, die zu den NAFTA-Gewinnern gehören. Neben den Großimporteuren ist das zum Beispiel der Consejo Nacional de Ganadera (Rat der Viehzüchter). Sie machte damit deutlich, dass bei den Verhandlungen beide Seiten zu berücksichtigen seien.

Unklare Vereinbarungen…

Das großspurig „Acuerdo nacional para el campo“ (Nationales Abkommen zum Land) genannte Abschlusspapier der Verhandlungen, das den Bauern und Bäuerinnen am 28.April 2003 letztlich zur Zustimmung vorgelegt wurde, trägt allerdings die deutliche Handschrift der Regierung. Es zeichnet sich vor allem durch eins aus: gute Willensbekundungen, unverbindliche Zugeständnisse, unzureichende Gelder und unklare Verteilungspolicen. So wurde die Einrichtung eines Nothilfe-Fonds von 2,8 Milliarden Peso (zirka 280 Millionen Euro) von Experten als unzureichend kritisiert. Zum einen sei es zu wenig Geld, um den notwendigen Wandel herbeizuführen (20 Milliarden Peso waren gefordert) und zum anderen fehlen Institutionen, die dieses Geld wirksam und transparent verteilen könnten.

… und faule Kompromisse

Zudem enthält das Abschlusspapier eine unverbindliche Regelung. Dieser zu Folge kann noch einmal über die Landwirtschafts-kapitel des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada beraten werden, um zum Beispiel eine andere Regelung für die Produkte Mais und Bohnen zu finden. Andererseits sinnierten Hardliner wie Landwirtschaftsminister Usabiaga immer wieder über den kooperativen Geist von NAFTA. Denn letztendlich stärke der Vertrag die Wirtschaft der drei Länder. Schlicht übergangen hat die Regierung dabei die wichtigsten Forderungen der Bauernorganisationen – nämlich die nach einer substanziellen Änderung des Vertrages, um den ungleichen Wettbewerb zwischen den USA, Kanada und Mexiko zu regulieren, sowie die Änderung des Artikels 27 und die Aufhebung der Haftbefehle gegen die 300 BauernaktivistInnen.
Dies trotzdem als Kompromiss und Lösung der Probleme auf dem Land zu verkaufen, zeugt einerseits vom Verhandlungs- und Verschleierungsgeschick der Regierung. Andererseits ist es auf das barsche Auftreten des Landwirtschaftsministers Usabiaga bei den Abschlussgesprächen zurückzuführen. Kurz vor der Unterzeichnung des Abkommens hatte er den campesinos noch einmal unter wütendem Gestikulieren lautstark klar gemacht, dass mit ihm nicht weiter zu verhandeln sei, und dass er keinen Widerspruch mehr dulde. Rückendeckung gab er damit Vicente Fox, der die Einheit zwischen Staat und Gesellschaft in schwammigen Phrasen vortäuschte, indem er den Vertrag als Beginn einer neuen Ära der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft beschrieb.
Am Ende unterzeichneten die vier großen Bauernorganisationen einschließlich der meisten ihrer Untergruppierungen zähneknirschend das Papier, um so die Einheit zwischen den gemäßigteren Gruppen CNC und CAP mit den kämpferischeren Organisationen El Barzón und „El campo no aguanta más“ aufrecht zu erhalten. Auch wenn sie das Abkommen als stark beschränkt und unzulänglich bezeichneten, und sie deshalb weiter für ihre Rechte kämpfen würden, handele es sich für sie immerhin um einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Die wenigen Gruppen, die nicht unterzeichneten, äußerten lautstark ihre Kritik: „für die Zukunft wird wohl erst einmal gelten “el campo sí aguanta más” (das Land hält noch mehr aus).”

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