Auf dem Land geht nichts mehr

Für viele kam es überraschend, als sich im November 2002 ein Großteil der mexikanischen Bauernorganisationen zusammentat, um, ähnlich wie damals die Zapatisten ya basta („es reicht“), dieses Mal el campo no aguanta más („das Land hält nicht mehr aus“) zu sagen. Jahre lang hatten sich diese unabhängigen Organisationen im Streit um eine gemeinsame Strategie selbst den Wind aus den Segeln genommen.
Die regierungstreuen Bauernorganisationen CNC (Confederación Nacional Campesina) und CAP (Congreso Agrario Permanente) schliefen unter der Herrschaft der PRI (Partido Revolucionario Institucional) in den Neunziger Jahren den gerechten Schlaf der vom Neoliberalismus Kooptierten. Klein-, Mittel- und Selbstversorgerbetriebe konnten während dessen nicht mehr rentabel wirtschaften. So sahen sich zahlreiche Kleinbauern und -bäuerinnen und LandarbeiterInnen aus Großbetrieben gezwungen, auf der Suche nach Arbeit in die Stadt oder die USA abzuwandern.
Mit Eintreten in eine weitere Liberalisierungsphase des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA (USA, Kanada und Mexiko) sind nun am ersten Januar 2003 weitere Zölle gefallen. Mit Ausnahme von Bohnen, Mais und Milchpulver werden jetzt alle landwirtschaftlichen Produkte zollfrei gehandelt. Damit haben sich die Probleme des Landes weiter verschärft. Als Reaktion auf diese Entwicklung präsentierten die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen in unvermuteter Einheit ihre Forderungen und übten Kritik an der Regierungspolitik von Präsident Fox.

Ernährungssicherheit in Gefahr

Welche Probleme das NAFTA für die campesinos mit sich bringt, ist nicht erst seit der neuen NAFTA-Phase bekannt. Schon seit dem In-Kraft-Treten der ersten Phase des Freihandelsabkommens am ersten Januar 1994 wird der mexikanische Agrarmarkt zunehmend von US-Billigimporten überschwemmt, deren Dumpingpreisen die mexikanischen Produzenten nicht gewachsen sind. So führte beispielsweise die Zunahme der jährlichen Importmenge von basic crops (Getreide und Früchte) von 8,7 Millionen Tonnen im Jahr 1990 auf derzeitig 18,5 Millionen Tonnen dazu, dass viele mexikanische Betriebe Pleite machten. Schuld daran war und ist aber nicht nur die Aufhebung der Handelsbarrieren, sondern auch die extrem hohe Subventionierung der eigenen landwirtschaftlichen Produkte seitens der US-Regierung. Das kritisiert selbst die WTO (World Trade Organization) scharf. So erhält ein US-Produzent durchschnittlich 20.000 US-Dollar pro Jahr von der Regierung, während sein mexikanischer Konterpart mit einem Zwanzigstel davon auskommen muss.
Die Konsequenzen dieser Vorteile und des daraus resultierenden Handelsungleichgewichts zeichneten sich in den letzten Jahren immer deutlicher ab. Für die Hälfte der aktiven Landbevölkerung reicht der Verdienst nicht mehr aus, um sich selbst zu ernähren. In absoluten Zahlen heißt das, dass auf dem Land in Mexiko zwölf Millionen Menschen in extremer Armut leben. Mexikos Versorgungssouveränität ist ausgehebelt. Denn die im eigenen Land produzierten Nahrungsmittel reichen nicht mehr aus, um die Bevölkerung zu ernähren.
Die Antwort der Bauern ist eindeutig: „El campo no aguanta más“. Unter diesem Motto schlossen sich verschiedene Bauernorganisationen zusammen und machten seitdem mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam.

Bauern machen mobil

Nachdem im Dezember schon mehr als tausend campesinos die Abgeordnetenkammer gestürmt hatten, um sich dort Gehör zu verschaffen, fand der bislang größte Protest gegen die Regierungspolitik Ende Januar 2003 statt. 100.000 campesinos aus allen Landesteilen strömten in die Hauptstadt, um dort auf einer Massenkundgebung ihre Forderungen öffentlich zu machen. Und diese sind sehr umfassend. Denn es geht ihnen um substanzielle Strukturreformen der Regierungspolitik, um eine Abkehr von neoliberaler Agrarpolitik und um die Neuverhandlung des NAFTA.
So soll zum Beispiel der auf die Landwirtschaft Bezug nehmende Abschnitt im nordamerikanischen Freihandelsabkommen komplett überarbeitet werden, um ihn dann mit den USA und Kanada neu zu verhandeln. Zudem fordern die campesinos die Rücknahme der 2008 in Kraft tretenden Aufhebung der Zölle auf Mais und Bohnen – Produkte, die von zwei Millionen mexikanischen campesinos angebaut werden. Auch die Aufhebung der anderen Zölle haben sie in Frage gestellt. Sie entspräche nicht der verfassungsrechtlichen Verankerung des Schutzes des eigenen Marktes.
Durch die Erhöhung der Preisstabilität und eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit mexikanischer ProduzentInnen durch Importkontingente solle ferner unzulässigen Handelspraktiken wie dem Preisdumping der US-ProduzentInnen entgegengewirkt werden. Gleichzeitig forderten die Bauernorganisationen die Wiedereinführung des Artikels 27 der Verfassung. Dieser Artikel sicherte bis zu seiner Abschaffung durch die neoliberale Regierung unter Salinas de Gotari (1988-1994) die Unverkäuflichkeit des kommunalen Landbesitzes, das Ejido.
Darüber hinaus reklamierten sie eine Soforthilfe von 20 Milliarden Peso (cirka zwei Milliarden Euro), die Einstellung von Verfahren gegen 300 BauernaktivistInnen und die Umsetzung des Abkommens von San Andrés zur Kultur und regionaler Autonomie der indigenen Gemeinden.
Wie gewöhnlich reagierte die Regierung Fox auf die Kundgebungen und Forderungen erst einmal zurückhaltend. Fox selbst leugnete die Existenz einer Krise auf dem Land. Kurze Zeit später aber, um neuerlichen Konfrontationen und dem weiteren Sinken im öffentlichen Ansehen vorzubeugen, kam der präsidiale Rückzieher. Der Präsident berief für Mitte Februar diesen Jahres einen runden Tisch der Bauernorganisationen und der Regierung zum „nationalen Dialog“ ein, da Tausende Familien auf dem Land und in den indigenen Gemeinden marginalisiert und in Armut lebten.
Vorab sicherte die Regierung den campesinos bereits eine Maßnahme zu – eine Regelung die in ähnlicher Form ohnehin schon existierte: die Absenkung des Dieselpreises für landwirtschaftliche ProduzentInnen. Dadurch verringern sich die Energiekosten in der Produktion. Da die Regierung Fox aber wohl kaum vorsieht, ihren neoliberalen Kurs zu verlassen, schloss sie sich gleichzeitig mit den wenigen Organisationen zusammen, die zu den NAFTA-Gewinnern gehören. Neben den Großimporteuren ist das zum Beispiel der Consejo Nacional de Ganadera (Rat der Viehzüchter). Sie machte damit deutlich, dass bei den Verhandlungen beide Seiten zu berücksichtigen seien.

Unklare Vereinbarungen…

Das großspurig „Acuerdo nacional para el campo“ (Nationales Abkommen zum Land) genannte Abschlusspapier der Verhandlungen, das den Bauern und Bäuerinnen am 28.April 2003 letztlich zur Zustimmung vorgelegt wurde, trägt allerdings die deutliche Handschrift der Regierung. Es zeichnet sich vor allem durch eins aus: gute Willensbekundungen, unverbindliche Zugeständnisse, unzureichende Gelder und unklare Verteilungspolicen. So wurde die Einrichtung eines Nothilfe-Fonds von 2,8 Milliarden Peso (zirka 280 Millionen Euro) von Experten als unzureichend kritisiert. Zum einen sei es zu wenig Geld, um den notwendigen Wandel herbeizuführen (20 Milliarden Peso waren gefordert) und zum anderen fehlen Institutionen, die dieses Geld wirksam und transparent verteilen könnten.

… und faule Kompromisse

Zudem enthält das Abschlusspapier eine unverbindliche Regelung. Dieser zu Folge kann noch einmal über die Landwirtschafts-kapitel des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada beraten werden, um zum Beispiel eine andere Regelung für die Produkte Mais und Bohnen zu finden. Andererseits sinnierten Hardliner wie Landwirtschaftsminister Usabiaga immer wieder über den kooperativen Geist von NAFTA. Denn letztendlich stärke der Vertrag die Wirtschaft der drei Länder. Schlicht übergangen hat die Regierung dabei die wichtigsten Forderungen der Bauernorganisationen – nämlich die nach einer substanziellen Änderung des Vertrages, um den ungleichen Wettbewerb zwischen den USA, Kanada und Mexiko zu regulieren, sowie die Änderung des Artikels 27 und die Aufhebung der Haftbefehle gegen die 300 BauernaktivistInnen.
Dies trotzdem als Kompromiss und Lösung der Probleme auf dem Land zu verkaufen, zeugt einerseits vom Verhandlungs- und Verschleierungsgeschick der Regierung. Andererseits ist es auf das barsche Auftreten des Landwirtschaftsministers Usabiaga bei den Abschlussgesprächen zurückzuführen. Kurz vor der Unterzeichnung des Abkommens hatte er den campesinos noch einmal unter wütendem Gestikulieren lautstark klar gemacht, dass mit ihm nicht weiter zu verhandeln sei, und dass er keinen Widerspruch mehr dulde. Rückendeckung gab er damit Vicente Fox, der die Einheit zwischen Staat und Gesellschaft in schwammigen Phrasen vortäuschte, indem er den Vertrag als Beginn einer neuen Ära der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft beschrieb.
Am Ende unterzeichneten die vier großen Bauernorganisationen einschließlich der meisten ihrer Untergruppierungen zähneknirschend das Papier, um so die Einheit zwischen den gemäßigteren Gruppen CNC und CAP mit den kämpferischeren Organisationen El Barzón und „El campo no aguanta más“ aufrecht zu erhalten. Auch wenn sie das Abkommen als stark beschränkt und unzulänglich bezeichneten, und sie deshalb weiter für ihre Rechte kämpfen würden, handele es sich für sie immerhin um einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Die wenigen Gruppen, die nicht unterzeichneten, äußerten lautstark ihre Kritik: „für die Zukunft wird wohl erst einmal gelten “el campo sí aguanta más” (das Land hält noch mehr aus).”

„Zuerst muss man die Menschen verändern“

Ihr wohnt alle vier auf dem Land. Wie hat sich die Situation dort seit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens NAFTA 1994 verändert?

Mancilla Flor: Auf dem Land geht es abwärts, weil wir im Wettbewerb nicht mithalten können.
Wenn zum Beispiel ein Bauer einer Tortillería Mais anbietet, lehnt diese seinen Mais ab. Die BäckerInnen kaufen lieber Genmais. Er kommt aus den Vereinigten Staaten, ist billiger und bringt mehr Ertrag als der einheimische Mais. Außerdem ist er weicher und lässt sich besser verarbeiten.

Und was ist der Nachteil an diesem Genmais?

Mancilla Flor: Wenn man ihn erneut aussät, erntet man weniger. Er hält nur für eine Saison. Den einheimischen Mais hingegen kannst du dein ganzes Leben lang aussäen. Jedes Mal, wenn du erntest, behältst du Samen zurück und säst sie erneut aus. Die Genmais-Saat ist sehr teuer.
Valdovinos Rios: Oft überreden sie einen Bauern, Genmais auszusäen. Durch die Bestäubung übertragen sich die veränderten Gene auch auf Mais, der noch nicht genmanipuliert ist. Und wie gesagt, man kann diesen Mais nur einmal aussäen. Die Bauern werden auf diese Weise von den Firmen abhängig, bei denen sie die Samen kaufen.

Kann man mit dem Verkauf von Mais überhaupt noch Geld verdienen?

Santiago López: Die Preise verfallen. Zudem wird viel Werbung für chemische Produkte gemacht, die bei der landwirtschaftlichen Produktion nützlich sein sollen. Sie sind inzwischen auch notwendig, weil die Böden schon so ausgelaugt sind.
Allein um etwas für den Eigenbedarf zu ernten, muss man also schon einiges investieren. Die Leute überlegen sich daher, ob es sich überhaupt noch lohnt, Landwirtschaft zu betreiben. Viele gehen lieber weg vom Land. Sie suchen sich eine andere Arbeit und kaufen sich ihr Essen.

Wohin gehen sie?

Arreaga: Die meisten gehen in die USA, die anderen in die Städte. In vielen Fällen gehen die Kinder arbeiten und lassen ihre Eltern zurück, weil die in der Stadt erst recht nichts finden würden. Die Kinder kehren aber oft nicht zurück und vergessen ihre Eltern.
Mancilla Flor: Aus manchen Dörfern gehen vierzig bis fünfzig Prozent der BewohnerInnen. Sie haben keine andere Wahl. Es lohnt sich einfach nicht mehr, Land zu bewirtschaften. Durch die neue Stufe von NAFTA werden immer mehr Menschen emigrieren. Ich denke, genau das ist das Ziel der Politiker. Das war die Idee von Salinas de Gotari (siehe vorangegangener Artikel). Du bekommst deine Landtitel, und dann geht die Geschichte von vorne los: Das Land fällt in die Hände einiger Weniger, die ArbeiterInnen anstellen und mehr produzieren. Es ist sehr leicht, sein Land zu verkaufen. Die Leute, die emigrieren, verkaufen ihr Land. Sie lieben es nicht mehr, wollen nicht mehr säen, nicht mehr damit arbeiten, sondern es nur noch vergessen, weil es ihnen an allem fehlt: an Essen, an Transportmöglichkeiten, an Strom. Das ist traurig.

Wollt ihr, dass der Artikel 27 wieder eingeführt wird, also das kommunaler Landbesitz (ejidos) wieder unverkäuflich wird?

Arreaga: Ja, damit die Bauern, die das Land bearbeiten, wieder unabhängiger sind vom Markt. Um das zu erreichen, müssen wir kämpfen, Märsche machen, laut sein, versuchen uns Gehör zu verschaffen. Die Leute sind jetzt besser organisiert. Unsere Organisation zum Beispiel hat sich dem Schutz der Umwelt verschrieben. Sie kämpft für den Erhalt des Waldes, aber auch für sauberes Wasser. Auf lange Sicht gesehen ist es auch ein Kampf gegen den Staat beziehungsweise gegen die zwei oder drei Leute, die in einer Region die Macht über all die ejidos haben. Es gibt sehr viel Repression auf dem Land.
Mancilla Flor: Unsere Organisation DERGHO versucht, den einfachen Leuten auf dem Land die Bedeutung und den Einfluss von Freihandelsabkommen für ihr Leben zu vermitteln. Sie werden ja sonst nie über etwas informiert. Wir gehen zu den Leuten auf dem Land und erklären ihnen, was das nordamerikanische Freihandelsabkommen für sie bedeutet. Wir gehen auch in die Städte, um die Menschen dort zu erreichen.

Habt ihr damit Erfolg?

Mancilla Flor: Die meisten sind mehr damit beschäftigt, sich überhaupt zu ernähren –nach dem Motto „Ist mir egal, erst einmal habe ich Hunger“. Aber sie müssen sich darüber klar werden, dass diese Entwicklungen zwischen Mexiko und den USA ihren Hunger nur verstärken werden. Andere fangen aber schon an, nach Informationen zu fragen. Wir wollen von unten Informationen verbreiten, uns dann organisieren und an größeren Märschen zum Beispiel in Mexiko-Stadt teilnehmen.

Hofft ihr auf einen Regierungswechsel oder habt ihr das Gefühl, das jede Regierung die ländlichen Gebiete vergisst?

Mancilla Flor: Also mit Fox wird das schwierig. Wenn man die Menschen auf dem Land fragt, so sagen viele, dass sie hoffen, dass López Obrador, der derzeitige Bürgermeister von Mexiko Stadt, 2006 die Wahlen gewinnt.
Aber um wirklich etwas zu verändern, muss man zuerst die Menschen verändern, damit sie sich mehr für das Allgemeinwohl verantwortlich fühlen. Denn wenn es so weitergeht, mit irgendwelchen Regierungsprogrammen, dann vereinigen sich nur die Leute, die bei den Programmen mitarbeiten, und diese Programme sind vielleicht noch nicht einmal besonders gut.
Arreaga: Ich habe überhaupt kein Vertrauen in Regierungen. Das Wichtigste ist, dass wir uns organisieren und, wie Subcomandante Marcos sagt, gehorchend befehlen. Wir sind schon so lange so arm, die Mexikaner haben die Nase voll davon, und immer gibt es neue Reden, neue Programme. Es gibt bessere und schlechtere Regierungen, aber ich glaube nur an die Mexikaner selbst, die ihr Leben verändern, nicht an irgendetwas anderes.

Das klingt nach Zapatisten.

Arreaga: Mir gefallen die Zapatisten. Aber ich mag es nicht, dass sie Waffen benutzen. An Parteien glaube ich nicht, auch nicht, dass es einen Wechsel geben wird. Denn die eigentliche Macht haben die Nordamerikaner.

Ist es nicht schwierig von der Zivilgesellschaft auf der einen und den Parteien auf der anderen Seite zu reden, denn die PRI ist eine Riesenpartei mit vielen Mitgliedern? Wie ist denn die Arbeit mit priistischen Organisationen wie CNP und CAP?

Arreaga: Die Parteien sagen: „Du gibst mir deine Stimme, und ich gebe dir dafür eine Kuh.“ Das ist ihre Art der Kontrolle. Und wir kämpfen gegen sie und diese Kontrolle, die sie durch Geld ausüben. Diejenigen, die auf der kommunalen Ebene Stimmen kaufen, werden von der regionalen und der föderalen Regierung gestützt. Das ist das System.
Mancilla Flor: Einer der Repräsentanten, mit dem wir arbeiteten, war bei einer Nichtregierungsorganisation, und dann war er plötzlich bei der PRI. Sie kaufen dich einfach. Das macht mich wütend. Erst verteidigt ein Repräsentant uns Bauern und dann wechselt er die Seite – nur wegen ein bisschen mehr Geld und Bequemlichkeit. So geht jede Gemeinschaft kaputt.

Organización Ecologista de la Sierra de Petatlán y Coyuca de Catalán, Guerrero
(Umweltorganisation der Sierra de Petatlán und Coyuca de Catalán)
Zu der Selbsthilfeorganisation der Ökobauern und -bäuerinnen gehören die BewohnerInnen von 28 Dörfern der Coyuquilla-Täler und des Petatlán-Tales in der Region Costa Grande nördlich von Acapulco. In dieser Region findet seit Jahren ein erbitterter Kampf der Bauern und Bäuerinnen gegen den flächendeckenden Holzeinschlag statt, dem in den letzten acht Jahren rund 40 Prozent der Wälder in dieser Region zum Opfer fielen. Die Ziele der Ökobauern und -bäuerinnen sind die Erhaltung der natürlichen Umwelt, der Schutz der Biodiversität und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung. Die Umweltorganisation der Sierra de Petatlán und Coyuca de Catalán bewacht 3000 Hektar wiederaufgeforsteten Wald, um Waldbrände zu verhindern. Ebenso führt sie Projekte zur Erhaltung der Böden und zur Wiederaufforstung durch.
Vertreter/in: Felipe Arreaga und Celsa Valdovinos Ríos

Desarrollo Rural de Hidalgo A.C. (DERHGO), Hidalgo (Ländliche Entwicklung von Hidalgo)
DERHGO wurde 1978 in Tulancingo/Hidalgo mit dem Ziel gegründet, die Lebensbedingungen der kleinbäuerlichen indigenen und nicht-indigenen Bevölkerung der Region durch Hilfe zur Selbsthilfe zu verbessern. Ansatzpunkt ist das Recht auf (gesunde) Ernährung. DERHGO unterstützt die Bäuerinnen und Bauern durch Seminare und Beratung, unter anderem zu Bewässerung, Viehwirtschaft, Vermarktung von Milchprodukten, Wiederaufforstung und Infrastrukturverbesserung. Gemeinsam mit drei weiteren Organisationen hilft DERHGO den Bäuerinnen und Bauern bei der Aussaat, Verarbeitung und Vermarktung des während der spanischen Kolonialzeit verbotenen, hoch nährstoffhaltigen Amaranth. Aufgrund zahlreicher Verletzungen der bürgerlich-politischen Menschenrechte in der Region gründete sich 1990 als Nebenarm von DERHGO das Comité Sergio Méndez Arceo, Pro Derechos Humanos de Tulancingo, A.C.. Es betreut die Opfer solcher gewalttätigen Übergriffe und bietet Kurse und Seminare zum Thema Menschenrechte an.
Vertreter: Rey Mancilla Flor

Unión de Pueblos Chochomixtecos, Oaxaca (Union der Völker der Chochomixtecos)
Die Organisation gründete sich offiziell 1991, hat aber ihre Wurzeln in interkommunitären Versammlungen von TeilnehmerInnen des von der Organisation Enlace Rural A.C. eingeführten Programms „Sobrevivencia campesina“ (bäuerliches Überleben). Mittels der „campesino a campesino“ Methode (Erfahrungsaustausch der Bauern und Bäuerinnen untereinander) arbeitet die Organisation daran, die Techniken nachhaltiger Landwirtschaft unter den indigenen Kleinbauern und -bäuerinnen zu verbreiten. Zudem versucht sie die sozioökonomischen Bedingungen vor allem in den Bereichen Ernährung, Gesundheit und Ausbildung, der indigenen Bevölkerung in der Region Mixteca Alta zu verbessern.
Vertreterin: Rosalía Santiago López

Die Wiederentdeckung der Masse

Als im Dezember 2001 die Massen auf Kochtöpfen trommelnd durch die Straßen zogen, stand das krisengebeutelte Land im Medieninteresse der Welt. Doch die Rebellion ist nicht plötzlich entstanden. Piquetes, Escraches oder Cazerolazos, diese „neuen“ Protestformen haben sich bereits im Laufe der 90er Jahre entwickelt. Das verdeutlichen die AutorInnen des Colectivo Situaciones. Mit den Escraches wurden beispielsweise seit Mitte der 90er Jahre zunächst Militärs und Helfershelfer in ihrer Nachbarschaft mit Demonstrationen vor ihrer Haustür gebrandmarkt. Wenn die Justiz nicht funktioniert, dann müsse das Volk selbst für Gerechtigkeit sorgen, argumentiert die Organisation der Kinder von Verschwundenen, H.I.J.O.S. Seit 2001 werden nun auch jene, die vom Volk für die Situation des Landes verantwortlich gemacht werden, regelmäßig mit Farbbeuteln und Kochtöpfen heimgesucht. Mit dem 19. und 20. Dezember erreichten diese Formen, die bislang am Rande und ohne großartige Medienpräsenz vor sich gingen, eine breite Öffentlichkeit und werden seitdem als Teil einer Bewegung betrachtet – trotz unterschiedlicher Ziele und unterschiedlicher Mittel: „Piquete – cazerola: la lucha es una sola“ – egal ob Arbeitslosenbewegung oder Kochtopfdemo: der Kampf ist ein und derselbe!

“Alle sollen abhauen“

Der Aufstand hatte keine Urheber. Seine einzige Protagonistin ist die Menschenmenge auf den Straßen. Hinter dem Slogan „Qué se vayan todos (Alle sollen abhauen)“, der schnell zur Hymne des Widerstandes gegen die herrschende Politikerklasse erhoben wurde, verbirgt sich mehr als bloße Ablehnung. Er ist eher Ausdruck eines Vereintsein im Willen nach Veränderung, im Nicht-mehr-akzeptieren-wollen. Sozusagen ein kollektives Erwachen.
Nicht nur die Inhalte der Politik, sondern vor allem deren Form und Legitimation, suchen diese sozialen Bewegungen zu kritisieren und zu verändern. Im Mittelpunkt des Buches steht dementsprechend die Darstellung alternativer Formen sozial und politisch kollektiven Handelns. Stadtteilversammlungen, selbstverwaltete Schulen und Kindergärten, die Besetzung und Wiederinbetriebnahme von bankrotten Fabriken, Tauschringe, Volksküchen, Theaterprojekte sind nur Beispiele. „Preguntando caminamos“ (fragend gehen wir) diesen zapatistischen Satz schreibt sich das Colectivo Situaciones auf die Fahnen, das aus AutorInnen mit teils akademischem Hintergrund besteht, die sich als aus der Praxis kommend fühlen.

Momentaufnahmen und Einschätzungen

Die im Buch enthaltenden Aufsätze sind zum Großteil wenige Monate nach besagtem Dezember 2001 entstanden. Dementsprechend optimistisch erscheint streckenweise der Tenor über die mögliche Reichweite dieser Proteste. Veraltet sind die Texte deshalb aber noch lange nicht, weil sie versuchen, die Ereignisse aus der Sicht ihrer ProtagonistInnen zu reflektieren, ohne vorschnell Diagnosen anzustellen.
Den Momentaufnahmen fehlen jedoch zwangsläufig wichtige Schlussfolgerungen, die sich aus den inzwischen vergangenen knapp eineinhalb Jahren bis zur Präsidentschaftswahl im April 2003 ergeben. Zu diesen in der argentinischen Originalausgabe „Apuntes para el nuevo protagonismo social“ betitelten „Aufzeichnungen“ liefern die später verfassten Beiträge der deutschsprachigen AutorInnen die tiefgründige Ergänzung. Außenstehend und mit dem nötigen zeitlichen Abstand betrachten sie das Phänomen der argentinischen Revolte. Nennenswert sind dabei vor allem der Aufsatz von Alix Arnold über besetzte Betriebe und ein praxisnaher Beitrag über das Prinzip der Tauschbörsen von Stefan Thimmel.
Arnold zeigt, wie das Solidaritätsprinzip erfolgreich in die Praxis umgesetzt werden kann – trotz der Schwierigkeiten in der Konfrontation mit kapitalistischen und staatlichen Strukturen. Zwar entstehen die Besetzungen zunächst als „Überlebensprojekte in einer defensiven Situation (S. 146)“ – doch die vielen kulturellen und vor allem sozialen Engagements der ArbeiterInnen, wie es sich zuletzt bei der schnellen Hilfe für die Opfer der Überschwemmungen in Santa Fé und Entre Ríos gezeigt hat, verdeutlichen, dass darüber hinaus ein wichtiger nachbarschaftlicher Zusammenhalt entstanden ist. Sie zitiert einen Arbeiter der Fabrik Zanon: „Wir wollen die Fabrik in den Dienst der Allgemeinheit stellen, wir wollen so produzieren, dass es das Leben von allen verbessert. (S. 151)“ Als eindrückliches Beispiel dieser Solidarität wären die sich inzwischen ebenfalls organisierenden Altpapier sammelnden Cartoneros zu nennen, die von ihrem kargen Einkommen einige Peso in einen Fonds einbezahlen, mit dem sie Hungerleidende in der ärmsten Provinz Tucumán unterstützen.
Thimmel beschreibt dagegen Grenzen und Scheitern dieser Solidarität anhand der einst blühenden und von vielen als Alternative zum Kapitalismus gesehenen Tauschbörsen, die Clubes de Trueque. Nach dem Eindringen von marktwirtschaftlichem Interesse ging vielen von ihnen mittlerweile die Luft aus. Sie scheiterten quasi an ihrem massenhaften Erfolg. Zu viel Falschgeld war im Umlauf und zu viel einseitige Nachfrage machte das Konzept der „prosumición“, der „konsumierenden Produktion“, kaputt.

Überwindung der Angst

Die Zukunft der beschriebenen Alternativen sozialen Handelns ist ungewiss. Es gibt viele Ahnungen, tastende und stürmische Versuche. Manche scheitern, doch manchmal tragen sie Früchte. Wichtig ist die Hoffnung. Erstmals wurde in Argentinien wieder eine breite Öffentlichkeit erreicht und mitgerissen. Die Mittelschicht erhob sich aus dem Fernsehsessel. Die argentinischen EinwohnerInnen ließen sich die Unfähigkeit und Korruption der Politik, das Einfrieren ihrer Ersparnisse, den Niedergang des Landes nicht weiter stumm gefallen. Es war, als bräche endlich ein Damm und als wäre die Zeit reif für neue, unbeschrittene Wege einer anderen gesellschaftlichen Ordnung. „Die Zuschauer erstürmen die Bühne in einer massenhaften Invasion“ — so beschreiben die Autoren des Colectivo Situaciones die Aufstände des 19. und 20. Dezember, die das politische System Argentiniens zusammenbrechen ließen. „Eine Zeit der Illusionen und des Abwartens ging zu Ende (S. 39)“.
Wichtig ist dabei vor allem die Tatsache, dass die angstträge und einförmige Phase der Post-Diktatur zu Ende zu sein scheint. Die Demokratie als politische Ordnung gilt in Argentinien nicht mehr als unantastbar. Jetzt darf sie kritisiert werden, ohne in den Verdacht zu geraten, die „starke Hand“ des Militärs heraufzubeschwören. Jetzt weiß und spürt man, dass es auch dazu Alternativen geben muss – trotz drohender Repression: „Ohne feste Führung, ohne Modelle, ohne Versprechen und ohne Programme vollzieht sich einer der wichtigsten Aufstände der zeitgenössischen argentinischen Geschichte – und zugleich die erste große Gehorsamsverweigerung seit der Diktatur (S.42).“

Die Linke und die soziale Emanzipation

Die Anerkennung dieser Veränderungen in der argentinischen Gesellschaft, die nicht nur die ärmeren Teile der Bevölkerung, sondern auch die Mittelschicht zu mehr Solidarität bewegten, sind wesentlich wichtiger als Versuche, den Ereignissen in Argentinien einen verkrampft linkstheoretischen Mantel überzustülpen. Wer jedoch gerade aus dieser Intention heraus die sozialen Bewegungen in Argentinien als „gescheitert“ ansieht, nur weil auch weiterhin die alte politische Elite auf dem Regierungssessel sitzt, macht es sich in seiner Bewertung zu einfach. Genau das kritisiert auch das Colectivo Situaciones an der argentinischen „Linken“. Dem Colectivo geht es nicht darum, inwiefern die Proteste „scheitern“ oder welchen „Erfolg“ sie haben. Sie gehen sogar so weit zu sagen, dass auch die linken Parteien, die zetern, dass eine „revolutionäre Chance“ verpasst sei, „Teil des Alten“ und in der Lage seien, diese neue kollektive Erfahrung zu zerstören. Wie so häufig ist das Problem der linken Bewegung die Linke selbst. Zu uneins ist sie sich, zu unterschiedlich scheinen die Motivationen und Hintergründe, als dass man sich zu einem gemeinsamen Ziel, der Veränderung bestehender Machtverhältnisse vereinen könnte. „Qué se vayan todos“ – das beinhaltet auch die Linke.
Mit dieser Negation im Hinterkopf ist der Bewusstseinswandel in Argentinien zu sehen. In erster Linie sind all diese Bewegungen aus vielen verschiedenen Gründen entstanden – aus dem blanken Erfindungsgeist im Kampf ums Überleben, aus der Wut heraus, aus der Erkenntnis, dass auch der Rückzug ins Private nicht mehr funktioniert. Sicherlich waren es die wenigsten, die sich gedacht haben: „Wir setzen jetzt den sozialistischen Gedanken einer besseren Zukunft in die Praxis um.“ Aus den Entwicklungen Argentiniens lässt sich ablesen, dass soziale Emanzipation nicht durch einen revolutionären Machtwechsel zu erreichen ist. Das haben inzwischen auch diejenigen verstanden, die noch vor einem Jahr in Fernseh-Castings aus TeilnehmerInnen von Asambleas die zukünftigen politischen VertreterInnen finden wollten. Ein starkes solidarisches Fundament von unten ist nötig, um nicht wieder in dieselben Schemata zu verfallen. Dass dies aber seine Zeit braucht ist offensichtlich. Zumindest sei aber „der sprichwörtliche argentinische Egoismus und die Arroganz“ gebrochen worden: „Subjektive Veränderungen, die zu einem anderen Alltagshandeln führen“, schreibt Thimmel als einen positiven Ausblick für die Zukunft. Der Enthusiasmus ist leiser geworden, die Straßensitzungen der Asambleas übersichtlicher.
„Qué se vayan todos“, das sind unfertige Denkskizzen, die zur Diskussion anregen möchten. Das Buch ist nicht als großer theoretischer Wurf konzipiert, auch wenn es dann doch stellenweise den Anschein erregen möchte.

Colectivo Situaciones, ¡Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien. Herausgeben von Ulrich Brand, erschienen im Verlag Assoziation A, Berlin/ Hamburg/ Göttingen, 2003, 180 Seiten, 14,- Euro.

Handbuch zum Taschenbuchpreis

Das erste deutschsprachige Buch, das den Aufstand der Zapatistas in umfassender Weise darstellt, bringt ihn auch in Zusammenhang mit der jüngeren mexikanischen Geschichte und Politik, dem zapatistischen Politikverständnis und analysiert seine Ausstrahlung auf die weltweite Antiglobalisierungspolitik. Zwar hat es in den letzten sieben Jahren eine Reihe von Büchern gegeben, doch angefangen bei dem „Aufstand der Indios in Chiapas“ (Schmidt, 1996) bis hin zu „FOXtrott in Mexiko“ (Boris & Sterr 2002) unterscheiden sich diese Bücher vom Vorliegenden darin, dass sie nur zeitlich, geographisch oder inhaltlich begrenzte Teile des Konflikts beleuchteten.
¡LA LUCHA SIGUE! ist in drei Teile untergliedert.
Der erste, „Hintergrund: Mexiko – Politik und Gesellschaft“, das etwa ein Drittel des Buches einnimmt, beginnt im ersten Abschnitt mit einer knappen Darstellung der mexikanischen Revolution von 1910-17. Im Folgenden befasst es sich mit dem politischen System (Präsidialherrschaft, Parteien, Parlament) und den gesellschaftlichen Akteuren (Gewerkschaften, Frauen- und Studentenbewegungen, Indígena- und Campesino-Organisationen, Guerilla-Gruppen, Kirche). Gesonderte Abschnitte sind der neoliberalen Wirtschaftspolitik und ihren Abkommen (NAFTA, ALCA) sowie dem Plan Puebla Panama gewidmet.
Der zweite Teil – „Der zapatistische Aufstand in Chiapas“ – geht von der Entwicklung der Landfrage seit 1822 aus, die gemeinam mit der wirtschaftlichen Struktur, dem starren Herrschaftsgefüge, der Diskriminierung und der Marginalisierung insbesondere der indigenen Bevölkerung, zu den Hauptursachen des zapatistischen Aufstandes von 1994 zählt. Jeder dieser und weitere Aspekte kommen in einem eigenen Abschnitt zur Sprache.
Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) ist nur zu verstehen, wenn man sie als Einheit aus zivilen Unterstützungsbasen und der Guerilla selbst versteht. Diese beiden „Sektoren“ des zapatistischen Aufstandes werden in ihrer zeitgeschichtlichen Entwicklung, beginnend in der Mitte der 70er Jahre, analysiert. Dabei behandelt der Autor eingehend die spezielle Rolle der Frauen in der EZLN. Der zapatistische Aufstand wird anhand des zwölftägigen Bürgerkriegs, den – bislang erfolglosen Friedensverhandlungen, den Landbesetzungen, dem Autonomiekonzept der Zapatistas sowie den regelmäßigen, umfangreichen Bemühungen der „Medienguerilla“ zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene geschildert. Schließlich werden in diesem Teil auch Entwicklungen aus jüngster Zeit wie zum Beispiel die Hintergründe der drohenden und zum Teil bereits realisierten Vertreibungen ganzer Siedlungen zapatistischer Sympathisanten aus dem Gebiet der Montes Azules diskutiert.

Die Politik der EZLN

Im kurzen, aber wichtigen Schlußteil –“Reflexion: Entwicklungen des zapatistischen Aufstands“ wird das zapatistische Politikverständnis beleuchtet, zu dem in den vergangenen Jahren bereits viel publiziert wurde. Die Kernpunkte der linken Diskussion zu diesem Thema werden hier noch einmal zusammengefasst und kritisch gewertet, Stichworte wie indigene Identität, das Verhältnis zu Macht und Herrschaft, Tradition, Nation, Nationalstaat und Würde werden auf ihren Inhalt geprüft. Würde, beispielsweise, ist „ein Wort, welches weder in der kapitalistischen Wirtschaftslogik noch in der marxistischen Theorie (..) Bedeutung gegeben wird.“ Zu Unrecht, ist doch die Würde die positive Kehrseite dessen, was bei Marx unter dem Begriff Entfremdung erscheint und „kann so zu einem Gewinn an Eigenständigkeit führen.“
Wichtig auch, dass mit klaren Worten auf die aus eurozentrischer Sicht formulierte Kritik am „Nationalismus“ der EZLN eingegangen wird: „Gerade für die Diskussion in Europa ist es wichtig herauszustellen, dass die EZLN unter keinen Umständen als nationalistisch zu beurteilen ist (…) Die ‘nación’ ist (..) keineswegs gleich bedeutend mit der Nation’ der westlichen Linken. Während unsereins stets – und gerade in Deutschland – zu einer konstruierten Nation gehörte, zu der wir nicht gehören wollen, sind die Indígenas Mexikos … stets aus der Nation ausgeschlossen worden….. Die ‘nación’ der EZLN ist daher eher mit ‘Gesellschaft’ denn mit ‘Nation’ zu übersetzen.“

Pflichtlektüre

Der flüssig zu lesende Text wird durch Fußnoten ergänzt, die wichtige Detail- und Hintergrundinformationen bieten. Das Buch ist so gegliedert, dass man sich mühelos darin zurechtfindet und die gezielte Suche nach Informationen leicht fällt – womit es ein Nachschlagewerk zu diesem Abschnitt der mexikanischen Geschichte darstellt. Mit seinen knapp 300 gut recherchierten Quellenangaben ist es praktisch das erste deutsche Handbuch zum Thema, dass zum Taschenbuchpreis verkauft wird. Ein Grund mehr, es zur Pflichtlektüre für alle zu erklären, die sich mit Mexiko im Allgemeinen und Chiapas im Besonderen befassen oder an Fragen der globalen Rezeption des zapatistischen Politikverständnisses arbeiten.
Bleibt zu wünschen, dass das Buch im deutschsprachigen Raum als Korrektiv für das ungerechtfertigte Nachlassen der Resonanz auf die Inspirationen, die von dem zapatistischen Projekt ausgingen und ausgehen, wirkt. Die Qualität dafür hat es.

Weltreise einer Sojabohne: Über das Geschäft mit dem Hunger

Am 15. April fand in Bochum die Premiere des Theaterstücks „Terra! Terra! Eine Sojabohne packt aus“ statt. Das neue Stück der Berliner Compagnie ist eine Komödie über das globalisierte Agrarbusiness, über Großgrundbesitzer und Landlose in Brasilien und eine misshandelte Kuh in Oldenburg. Anlass der Premiere war der internationale Tag der Landlosen, Veranstalter waren der Bahnhof Langendreer und die Menschenrechtsorganisation FIAN. In einem ausverkauftem Haus stieß die Berliner Compagnie auf große Begeisterung.
„Ich habe eine Mission. Ich werde den Hunger in der Welt stillen“ verkündet Sojaja. Die junge, von Selbstzweifeln geplagte Sojabohne glaubt, für ihr Leben endlich einen Sinn gefunden zu haben. „Gedüngt mit der geilsten Chemie, geschützt mit den reinsten Pestiziden und am Ende geerntet mit den schärfsten Maschinen der Welt“, werde sie unzählige Menschen vom Hungertod erretten, hat ihr Mr. Gift von der Global International Food Trust Bank versprochen. Sojaja willigt ein, sich „veredeln“ zu lassen, ihre Heimat und ihren geliebten Schwarzbohnrich aufzugeben und auf Weltreise zu gehen. Auch mit dem verschuldeten Großgrundbesitzer Dom Pedro Alonso Hazienda da Finca schließt Mr. Gift einen Pakt: die KleinbäuerInnen zu vertreiben, Soja in hoch technisierter Monokultur anzubauen und nach Europa zu exportieren. Zu den Vertriebenen gehört auch Schwarzbohnrich.
Anders als erwartet landet Sojaja nicht in einem hungrigen Kindermund, sondern in einem Kuhstall in Oldenburg. Die letzte Stufe ihrer Veredelung führt durch den Magen einer Kuh, die vor ihrer Henkersmahlzeit noch ihr trauriges Dasein fernab jeder grünen Wiese beklagt. Zu einem Steak verarbeitet, gelangt Sojaja in den Supermarkt. Dort wird sie ihrer letzten Illusion beraubt. Durch den jüngsten Lebensmittelskandal aufgeschreckt, lässt der deutsche Kunde sie links liegen. Von dem Gepa-Kaffee im zapatistischen Revoluzzergewand erfährt Sojaja dann, dass LandbesetzerInnen die Fincas von Dom Pedro in Besitz genommen haben. Ihr Anführer ist Schwarzbohnrich. Nach Ablauf ihres Verfallsdatums gelingt es Sojaja, in Gestalt einer Wurst nach Brasilien zurückzukehren: als hochsubventionierter Billigexport. Die Komödie endet mit einem glücklichen Wiedersehen von Schwarzbohnrich und Sojaja. Gemeinsam landen sie in der Pfanne der LandbesetzerInnen und erfüllen endlich ihren Traum: die Bekämpfung des Hungers.

Ein Mythos wird entlarvt

Sojaja geleitet das Publikum durch alle Produktionsstufen einer globalisierten und industrialisierten Landwirtschaft. Entgegen der vermeintlich hehren Mission, die Welt zu ernähren, streben deren Protagonisten vor allem nach größtmöglichem Profit: Der Großgrundbesitzer im Süden wie der multinationale Lebensmittelkonzern im Norden. Auf die Menschenrechte von KleinbäuerInnen nehmen sie ebenso wenig Rücksicht wie auf die Gesundheit von VerbraucherInnen. Ein weiterer Verlierer ist die Umwelt – Artenvielfalt, Boden und Wasser. Der Raubbau an diesen begrenzten Ressourcen gefährdet langfristig das Überleben der gesamten Menschheit, im Süden und im Norden. Witz und große Sachkenntnis verbinden sich in dem Theaterstück zu einer intelligenten bissigen Satire auf das Agrarbusiness. Die These, dass zur Hungerbekämpfung vor allem die Nahrungsmittelproduktion gesteigert werden müsse, wird als Mythos entlarvt. Er dient der Legitimierung eines unlauteren Geschäfts, das wenigen Profite bringt, vielen aber Hunger und Armut.
Mit „Terra! Terra! Eine Sojabohne packt aus!“ gelingt es der Berliner Compagnie wieder einmal, komplexe Strukturen einer ungerechten Weltordnung aufzudecken, ohne zu pauschalisieren oder gar das Publikum zu ermüden. Die Truppe verzichtet wohltuend auf Moralkeule und erhobenen Zeigefinger: Der Eine-Welt-bewegte Zuschauer kann sich ein selbstironisches Schmunzeln kaum verkneifen, als Schlagworte wie „Neoliberalismus“ und „Klassenkampf“ liebevoll auf die Schippe genommen werden. Im Gewissenskonflikt des kritischen Konsumenten obsiegt die Lust auf das saftige Steak. Nur das abgelaufene Verfallsdatum hält ihn am Ende vom Kauf ab. Auch der tapfere Landbesetzer Capitano hatte zuvor erwogen, hilflose Indigene zu vertreiben und ein Stück Amazonas für seine Familie urbar zu machen. Das Stück überzeugt durch rührende und widersprüchlich gezeichnete Charaktere.

Ansporn zu eigenem Engagement

Stilprägend war bei der Erarbeitung des Stücks nicht zuletzt die Kooperation mit der SAN FRANCISCO MIME TROUPE, „der ältesten und wahrscheinlich besten politischen Theatergruppe überhaupt“, wie es in einem Faltblatt der Berliner Compagnie heißt. Von den KalifornierInnen haben sie vor allem die Techniken der Commedia dell´Arte übernommen. Slapsticks, farbenprächtige Kostüme, venezianische Masken und Songs à la Dreigroschenoper lassen die Komödie rundum zu einem bunten Theatergenuss werden. Stilistische Raffinessen stehen allerdings, wie nicht anders zu erwarten, hinter dem politischen Anspruch des „Aktivierungstheaters“ zurück. Wie Mitautorin Helma Fries betont, wollen die BerlinerInnen vor allem aufrütteln und zum Engagement für Veränderung anspornen. Zu den VeranstalterInnen der Premiere gehörte daher nicht zufällig die Bochumer Lokalgruppe von FIAN, der internationalen Menschenrechtsorganisation für das Recht auf Nahrung. Mit der Kampagne „Brot, Land und Freiheit“ setzt sich FIAN gemeinsam mit dem weltweiten Kleinbauernnetzwerk La Vía Campesina gegen Vertreibungen und für Agrarreformen ein. Die Premiere war ein gelungener Beitrag zu den Protesten und Demonstrationen zum Tag der Landlosen am 17. April.

“Land und Freiheit“ durch freie Landmärkte?

Mexiko steht beispielhaft für die Geschichte von Landreformen in Lateinamerika. Mit ihrem Ruf nach „Land und Freiheit“ hatten die Bäuerinnen und Bauern um Emiliano Zapata der mexikanischen Revolution von 1910-20 eine starke agrarische Prägung verliehen. Artikel 27 der Revolutionsverfassung von 1917 bildete die rechtliche Grundlage für die erste Agrarreform in Lateinamerika: Sie ermöglichte die entschädigungslose Enteignung von Großgrundbesitz zu Gunsten von Bäuerinnen und Bauern in Gemeindeland, PächterInnen und LandarbeiterInnen. Bis 1940 kamen über die Hälfte der ländlichen Armen in den Genuss dieser Umverteilung. Sie umfasste insgesamt etwa fünfzig Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, den größten Teil davon unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas zwischen 1934 und 1940.
1992 wurde Artikel 27 aus der mexikanischen Verfassung gestrichen: Um Mexikos Tauglichkeit für die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA unter Beweis zu stellen, wurde die Möglichkeit weiterer Landumverteilungen faktisch abgeschafft und Gemeinbesitz für veräußerlich erklärt. Der Beschluss markierte einen Meilenstein in der Umsetzung neoliberaler Landpolitik in Lateinamerika: Fortan sollte der Boden nicht mehr denen gehören, die ihn bearbeiteten, sondern denen, die ihn sich leisten konnten. Dieser Paradigmenwechsel erfasste im weiteren Verlauf der 90er Jahre auch Kolumbien, Brasilien, Guatemala und Honduras. Besonders in jüngster Zeit bekommt er jedoch starken Gegenwind. Schon der Aufstand der neuen ZapatistInnen am 1. Januar 1994, pünktlich zu Mexikos NAFTA-Beitritt, hatte angekündigt, dass die Bäuerinnen und Bauern die Abschaffung von Landreformen nicht widerstandslos hinnehmen würden.

Agrarreformen in Lateinamerika: eine unerledigte Aufgabe

Die Einführung so genannter „marktgestützter Landreformen“ wurde von ihren Verfechtern häufig mit dem vermeintlichen Scheitern staatlich gelenkter Agrarreformen begründet. Tatsächlich fällt die Bilanz lateinamerikanischer Agrarreformen durchwachsen aus. Alain de Janvry und Elisabeth Sadoulet von der kalifornischen Universität in Berkeley gingen 1989 in einem viel zitierten Aufsatz so weit, das „Spiel lateinamerikanischer Agrarreformen“ für verloren zu erklären: „Die Landreformen haben es eindeutig nicht geschafft, die Bipolarität lateinamerikanischer Bodenbesitzverhältnisse aufzubrechen.“ Die AutorInnen schätzen, dass insgesamt lediglich 15 Prozent des potenziell zu enteignenden Landes von Landreformen erfasst worden seien und nur 22 Prozent der potenziellen Begünstigten davon profitiert hätten. Immer noch verfüge die Hälfte aller Betriebe über nur zwei Prozent des Landes, während 26 Prozent der Betriebe etwa 90 Prozent des Landes kontrollierten. Den Grund dafür sehen sie vor allem darin, dass die meisten Agrarreformen der 60er und 70er Jahre an erster Stelle die Modernisierung der Haciendas und erst als zweite Option deren Enteignung und Umverteilung an Landlose angestrebt haben. Durch Modernisierung konnten sich GroßgrundbesitzerInnen gleichzeitig der Umverteilung entziehen und ihre gesteigerte ökonomische Macht zur Verhinderung einer umfassenderen Reform nutzen. Diese Agrarreformen, etwa in Peru, Ecuador und Kolumbien, waren durch die US-amerikanische Initiative „Allianz für den Fortschritt“ angestoßen worden. Diese sollte nach der kubanischen Revolution weiteren revolutionären Erhebungen frühzeitig vorbeugen.

Die marktgestützte Landreform

Die neoliberale Kritik an den Agrarreformen radikalisierte sich in den 90er Jahren und mündete in eine ökonomisch begründete Ablehnung staatlicher Enteignungen per se. Diese Position vertreten Klaus Deininger und Hans Binswanger, die bei der Entwicklung der Landpolitik der Weltbank federführend waren. Erst die Enteignungsdrohung habe den Widerstand von LandbesitzerInnen heraufbeschworen, der für das Scheitern der Umverteilung verantwortlich sei.
Die Festlegung von Landbesitzobergrenzen habe kaum umverteilende Wirkung gezeigt. Begünstigte von Landreformen seien oft nicht in der Lage gewesen, das Land auf Dauer produktiv zu nutzen: „Die meisten Landreformen beruhten auf Enteignungen und waren erfolgreicher in der Schaffung aufgeblähter Bürokratien und der Besiedlung von Grenzregionen als in der Umverteilung der Ländereien von Großgrundbesitzern an Kleinbauern“, lautet ihr vernichtendes Urteil.
Um diese Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden, propagieren Deininger und Binswanger das Modell einer auf freiwilligen Verhandlungen basierenden marktgestützten Landreform. Eine erfolgreiche Landreform, so die zu Grunde liegende These, setze Anreize zu einer freiwilligen Beteiligung der GroßgrundbesitzerInnen voraus.
Daher verzichtet das marktgestützte Landreformmodell auf die Enteignung von GroßgrundbesitzerInnen und setzt auf das nachfrageorientierte Prinzip des „willing buyer – willing seller“. Mit Hilfe einer flexiblen Kombination aus Krediten und Subventionen sollen Zusammenschlüsse von landlosen Bäuerinnen und Bauern den verkaufswilligen Grundbe-sitzerInnen Ländereien abkaufen und notwendige Erstinvestitionen zu deren Bewirtschaftung tätigen. Die sofortige Auszahlung des vollen Marktpreises soll den Widerstand der LandbesitzerInnen aufweichen, die Landmärkte stimulieren und für die Begünstigten darüber hinaus den Anreiz zu einer effizienten und marktorientierten Produktion schaffen.
Nur wer die zum Landkauf aufgenommenen Kredite zuzüglich Zinsen innerhalb einer bestimmten Frist zurückzahlt, darf das Land behalten. Dies stellt nach Meinung der BefürworterInnen des Modells sicher, dass das Land nur in die Hände „effizienter“ ProduzentInnen gerät. Die Weltbank behauptet, durch das marktgestützte Modell die Ziele des wirtschaftlichen Wachstums und der nachhaltigen Armutsreduzierung miteinander in Einklang zu bringen.

Anspruch und Wirklichkeit

Umgesetzt wird das marktgestützte Modell – in jeweils unterschiedlicher Ausprägung – seit 1994 in Kolumbien, seit 1995 in Südafrika und seit 1997 in Brasilien. Unabhängige Analysen der betreffendenden Programme zeigen, dass das Modell seinem Anspruch nicht gerecht wird. In allen drei Ländern sind die Ergebnisse der Pilotprojekte weit hinter den Erwartungen der Weltbank zurückgeblieben.
In Südafrika, wo die Landreform weitgehend den Empfehlungen der Weltbank folgt, sollten von 1995 bis 1999 30 Prozent der kommerziell genutzten Agrarfläche Südafrikas ihre Besitzer wechseln. Tatsächlich wurden bis März 1999 nur 650.000 Hektar Land umverteilt, was weniger als einem Prozent des kommerziellen Agrarlandes entspricht. Auf Grundlage zweier Weltbankstudien und einer Studie der UN-Welternährungsorganisation FAO kommt der Entwicklungssoziologe Saturnino Borras zu dem Ergebnis, dass auch in Brasilien die vorausgesagte Beteiligung von GroßgrundbesitzerInnen ausgeblieben ist. „Lediglich kleine und mittlere, kaum genutzte und verlassene Farmen“ seien im Rahmen des Pilotprojektes Cédula da Terra verkauft worden.
Von einer tatsächlichen Armutsorientierung könne nur bedingt die Rede sein, da die Einkommen der „Begünstigten“ vor Anlauf des Projektes durchschnittlich weit über der Armutsgrenze gelegen hätten. In fast allen Fällen sei dennoch eine rechtzeitige Rückzahlung der Kredite unwahrscheinlich, womit den Bäuerinnen und Bauern der Verlust des Landes drohe. Die meisten Begünstigten verzeichneten seit dem Landerwerb Einkommensverluste. Sehr unbefriedigend sind auch die Ergebnisse in Kolumbien: Nur knapp zehn Prozent der angepeilten Fläche von einer Million Hektar wurden zwischen 1994 und 1998 umverteilt. Noch schlechter als in Brasilien ist in Kolumbien die Qualität der meist sehr abgelegenen Ländereien, die mit Hilfe des Projektes zu völlig überhöhten Preisen verkauft wurden. Die Folge ist, dass nahezu alle Begünstigten aus dem Jahre 1998 bereits jetzt in Zahlungsverzug sind. Dabei müssen sie, anders als in Brasilien, „nur“ dreißig Prozent des Landpreises plus Zinsen aufbringen.

Die Weltbank in der Defensive

Gegen marktgestützte Landreformen hat sich inzwischen eine starke internationale Opposition aus Nichtregierungs-, Bauern- und Landlosenorganisationen gebildet. Die Menschenrechtsorganisation FIAN und das weltweite Kleinbauernnetzwerk La Vía Campesina forderten in einer Petition im Dezember 2000, die Förderung marktgestützter Agrarreformen auszusetzen, solange die Auswirkungen der Programme auf die ländliche Armut nicht von unabhängiger Seite geprüft worden seien. Die Umverteilung von Land könne nicht dem Markt überlassen werden, sondern sei eine Verpflichtung des Staates, die sich aus dem Menschenrecht auf Nahrung ergebe. Auf zwei internationalen Agrarreformkonferenzen, im Dezember 2000 in Tagaytay City, Philippinen, und im März 2001 in Bonn, haben NRO, Bäuerinnen und Bauern ihre Ablehnung bekräftigt. „Marktgestützte Landreformen sind in einem Umfeld hoher sozialer Ungleichheit unzureichende Instrumente und dürfen umverteilende Agrarreformen nicht ersetzen“ heißt es in der Abschlusserklärung der 125 anwesenden VertreterInnen von Regierungen, zwischenstaatlichen Organisationen, Bauern- und Nichtregierungsorganisationen.
Die Weltbank selber hat in ihrem Entwurf zu einem Policy Research Report im November 2002 das Scheitern der Programme zumindest in Kolumbien und Südafrika weitgehend eingeräumt. Ob diese Einsicht zu einem Kurswechsel in ihrer Förderpolitik führen wird, ist aber unwahrscheinlich. Aller empirischen Evidenz und den weltweiten Protesten zum Trotz waren schon im Jahre 2000 die Programme in Brasilien und im Januar 2002 in Kolumbien mit Hilfe neuer Weltbankkredite verlängert und erheblich ausgeweitet worden. Gleichzeitig erfuhren die staatlichen Agrarreformbehörden INCRA respektive INCORA in den letzten Jahren immer wieder massive Kürzungen. In Honduras und Guatemala wurden weitere Pilotprojekte gestartet. Wenngleich die Weltbank immer wieder behauptet, lediglich einen komplementären Ansatz zu verfolgen, betreibt sie faktisch einen Paradigmenwechsel, der staatliche Programme zur Landumverteilung finanziell austrocknet.
Saturnino Borras hat die neoliberale Kritik an staatlichen Agrarreformen, die ideologische Grundlage marktgestützter Landreformen, als undiffenziert und „empirisch nicht fundiert“ zurückgewiesen. Staatliche Agrarreformen hätten etwa in Mexiko, Kuba, China, Japan, Taiwan und Südkorea durchaus substanzielle Veränderungen der Landbesitzverhältnisse erzielt. Diese hätten mittelfristig die Lebenssituation der Begünstigten verbessert und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung dieser Länder wesentlich gefördert. Entgegen der Weltbankrhetorik zeichneten sich diese Agrarreformen gerade durch massive Enteignungen und niedrige Entschädigungssummen für die betroffenen GroßgrundbesitzerInnen aus. Neben dem jeweils günstigen internationalen Umfeld sei die relative Unabhängigkeit der Regierungen von den Landoligarchien sowie eine enge Zusammenarbeit mit Bauernbewegungen für den Erfolg ausschlaggebend gewesen.

Frischer Wind aus Brasilien

Der Zusammenhang zwischen erfolgreicher Umverteilung und dem Grad sozialer Mobilisierung ist auch in Brasilien offensichtlich. Untersuchungen der Zeitschrift Vox Populi von 1996 zufolge wurden dort rund die Hälfte der Landübertragungen erst durch gezielten sozialen Druck erreicht. Allein über die Landbesetzungen durch die Bewegung der Landlosen (MST) sind bisher schätzungsweise 250.000 Familien in den Besitz legaler Landtitel gelangt: „eine wirkliche Agrarreform von unten“, wie Peter Rosset vom US-amerikanischen Institute for Food and Development Policy hervorhebt. Seit dem fulminanten Wahlsieg von Inácio da Silva scheint die Möglichkeit einer von Borras als „Sandwich-Strategie“ bezeichneten Zusammenarbeit zwischen Regierung und sozialer Bewegung so realistisch wie nie zuvor. Lula hat die Agrarreform zu einer wichtigen Säule in seinem „Null-Hunger-Programm“ erklärt und die Umverteilung nicht produktiv genutzter Agrarflächen angekündigt. Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre verkündete der neue Minister für ländliche Entwicklung, Miguel Rosseto, das Programm der marktgestützten Landreform sei wegen Unregelmäßigkeiten einstweilen suspendiert worden.
Der Erfolg einer neuen Agrarreform wird vor allem davon abhängen, ob die brasilianische Regierung weiterhin die enge Zusammenarbeit mit den Landlosen suchen wird. Auch eine Unterstützung notwendiger Enteignungen durch die internationale Gemeinschaft könnte auf den Prozess einen positiven Einfluss nehmen. Zur langfristigen Sicherung des Erfolgs muss die Landreform in ein umfassendes Programm zur ländlichen Entwicklung eingebettet werden, das den Schutz und die Förderung von Kleinbäuerinnen und -bauern beinhaltet. Sollte die Entwicklung und Umsetzung eines alternativen Agrarreform- und Landwirtschaftsmodells gelingen, könnte das für andere Länder Lateinamerikas einen wichtigen Impuls bedeuten. Die Agrarreform bleibt für den ganzen Kontinent eine der zentralen Herausforderungen.

Vertreibung aus dem Urwald

Mit einer großen Demonstration zum neunten Jahrestag des Aufstandes von 1994 haben die Zapatisten das Jahr 2003 eingeläutet. In der Nacht zum 1. Januar besetzten ungefähr 20.000 vermummte zapatistische Bauern die Stadt San Cristóbal de las Casas in Chiapas und führten so der Öffentlichkeit vor Augen: „Wir sind ganz bestimmt nicht in der Versenkung verschwunden und unser Kampf hat gerade erst begonnen!“
In den letzten zwei Jahren hatte man von der Nationalen Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) nichts mehr gehört. Der für seine politisch-poetische Sprache bekannte Subcomandante Marcos hatte keine Kommuniqués und öffentlichen Stellungnahmen mehr verfasst. Die Zapatisten hatten sich von dem Dialog mit der mexikanischen Regierung über die indigenen Rechte zurückgezogen, da sie sich von der Regierung betrogen fühlten. Das Gesetz zur indigenen Autonomie, das vom mexikanischen Parlament im Jahr 2001 verabschiedet wurde, entsprach in wichtigen Teilen nicht dem vorher ausgehandelten Kompromiss. So ermöglicht es den indigenen Völkern keinen rechtlichen Zugriff auf die Bodenschätze und die Biopatente, die sich auf ihrem Territorium befinden. Sie werden in dem Gesetz nicht als Subjekte öffentlichen Rechts bezeichnet und können deshalb nicht für ihre Rechte streiten.

Vertreibung mit System

Ein wichtiger Punkt in den Reden am 1. Januar in San Cristóbal war die zunehmende Bedrohung und Gewalt der paramilitärischen Gruppen gegen zapatistische Gemeinden im Bioreservat Montes Azules im Lakandonischen Urwald. Comandante Davíd richtete seine Grußbotschaft an die Opfer von Vertreibung, die ihre Gemeinden verlassen hatten, da sie die Gewalt der paramilitärischen Gruppen fürchteten. Die Paramilitärs arbeiten bei diesen Vertreibungen mit System. Im Rahmen des Plan Puebla Panama soll Montes Azules menschenleer werden, damit diese Zone ohne Hindernisse der Biopiraterie zur Verfügung steht. Der Plan Puebla Panama wird zum großen Teil von der Weltbank finanziert und folgt US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen. Er umfasst eine enorme Infrastrukturentwicklung im Raum von Puebla in Mexiko bis zum Panamakanal. Mit seinen reichen Öl- und Wasservorkommen bildet Chiapas das Herzstück in diesem Entwicklungsprogramm. An verschiedenen Stellen finden bereits Ölprospektionen statt, und Coca Cola hat sich bereits Rechte am Wasser gesichert.
„Mit uns wird es keine friedliche Vertreibung aus Montes Azules geben! Wir stehen zu unseren Gemeinden“, ließ Subcomandante Marcos in einem Kommuniqué verkünden. Seit einigen Monaten wird zunehmend von gewalttätigen Konflikten aus dieser Region des Lakandonischen Urwalds berichtet. Die mexikanische Regierung versucht, diese Konflikte zwischen BewohnerInnen der Gemeinden und den paramilitärischen Gruppen als interethnische Konflikte darzustellen, in dem dann die mexikanische Armee als Vermittler auftreten kann. Um diesen Konflikt zu verstehen, muss man jedoch wissen, dass die Paramilitärs von der mexikanischen Armee ausgebildet und mit Waffen beliefert werden. Außerdem werden sie von der Polizei gedeckt. Eine solche Darstellung verschleiert die politischen Verhältnisse und Interessen in diesem Konflikt, der immer noch als Krieg niederer Intensität bezeichnet werden muß, in dem die Paramilitärs die “Drecksarbeit” übernehmen.

Seit Jahren auf der Flucht

Die ethnischen Verhältnisse im Lakandonischen Urwald sind tatsächlich nicht homogen. Neben den Lakandonen siedeln dort auch Familien anderer Ethnien aus dem nördlichen Hochland Chiapas: Tzoziles, Tzeltales und Choles. Anfang der 90er Jahre sind einige Familien aus dem Norden von Chiapas nach Süden gezogen, da sie in ihrer Region kein Land mehr fanden, das sie bebauen konnten. Sie siedelten sich im südlichen Tiefland von Chiapas an, wurden aber im Jahr 2000 von der paramilitärischen Gruppe Movimiento Campesino Regional Independiente (MOCRI) vertrieben, die mit dem damaligen Gouverneur in Verbindung stand. Erst seit Oktober letzten Jahres leben diese Familien nun in Montes Azules und werden seit dieser Zeit vom Militär und der Polizei bedroht.
Verschiedene US-amerikanische Naturschutzorganisationen sind bereits in dem Bioreservat Montes Azules tätig und argumentieren auf ihren Homepages (zum Beispiel http://maya.ucb.edu/pril/el-eden/home.html) gegen die traditionelle Landwirtschaft der Bevölkerung. Bei einer hohen Siedlungsdichte kann dieser Brandrodungsfeldbau zu einem Problem werden. Die Regenerationsphasen der einzelnen Felder werden zu kurz und die Böden laugen deshalb aus. Was aber wohl kein Problem für die Ökoorganisationen zu sein scheint, ist der geplante Bau eines Luxushotels am Río Lakanha. Ökotourismus ist auch ein wichtiger Bestandteil des Plan Puebla Panama. Die Verhandlungen zwischen den Gemeindevertretern von Lakanha und dem Investor sind aber erstmal gescheitert, da die Lakandonen sich gegen den Bau des Hotels ausgesprochen haben.
Das mag verwundern. War es nicht gerade eine Forderung der Zapatisten und der indigenen Völker, an den Entscheidungsprozessen beteiligt zu werden und als „Subjekte öffentlichen Rechts“ verstanden zu werden? Die Lakandonen haben in Mexiko auf Grund eines präsidialen Dekrets eine besondere Stellung seit Mitte der 70er Jahre, was ihnen eben solche Rechte zuspricht. Das hat dazu geführt, dass die Lakandonen als einziges indigenes Volk Mexikos das Abkommen zwischen den Zapatisten und der mexikanischen Regierung zur Regelung der indigenen Rechte von San Andrés abgelehnt haben. Das verwässerte Gesetz, das vom mexikanischen Parlament 2001 verabschiedet wurde, haben die Lakandonen wiederum unterstützt.
Mit dem Plan Puebla Panama wurde auch ein Projekt aus den 70er Jahren wieder aus der Schublade gezogen. Der Río Usumacinta soll an drei Stellen aufgestaut werden. Folge davon wäre, dass die Tempelpyramiden der Maya von Yaxchilán in einem Stausee versinken würden.
Das Gesetz zu den indigenen Rechten und Kulturen verhindert in seiner jetzigen Form eine nachhaltige und soziale Entwicklung, da nur ein kleiner Teil der betroffenen Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen beteiligt wird. So kann ein Infrastrukturplan vom Kaliber des Plan Puebla Panama gesamtgesellschaftlich nicht erfolgreich sein. Rechtliche Ungleichbehandlung von verschiedenen indigenen Völkern hat schon zu bösem Blut geführt. Gesellschaftlicher Erfolg basiert nicht nur auf finanziellem Erfolg sondern vor Allem auch auf einem Klima des friedlichen Miteinanders. Internationale Institutionen wie die Weltbank müssen an den Taten gemessen werden, die sie ihrer globalisierungskritischen Rhetorik folgen lassen. Mexiko steht in einer juristischen Schuld, da das Gesetz zu den indigenen Rechten einem internationalen Abkommen der UNO widerspricht, das Mexiko bereits ratifiziert hat (Abkommen 169 der internationalen Arbeitsorganisation).

„Du gibst dem zu essen, der mich umbringt“

Im Kampf der Zapatisten hat die indigene Autonomie die zentrale Bedeutung. Was bedeutet die indigene Autonomie in Chiapas für Mexiko und wie kann man sich diese Autonomie vorstellen?

Die mexikanische Bevölkerung im allgemeinen interessiert sich nicht für die Autonomiefrage. Autonomie kann als eine weitere Verwaltungsebene des Staates begriffen werden. Es gibt eine national-föderative Verwaltungsebene, eine bundesstaatliche und es gibt Landkreise, die so genannten municipios. In einigen Fällen sind die indigenen Gemeinden über verschiedene municipios verteilt. Wir brauchen also eine weitere, die der autonomen indigenen Gemeinden. Dann wird ein Raum geöffnet werden, in dem die Entscheidungen der indigenen Gemeinden wirken und legal sind. Das bedeutet nicht, dass die autonomen Gemeinden sich außerhalb der Verfassung stellen wollen, sie werden weiterhin Teil der einzelnen Landkreise sein. Es wäre ein weiteres System von kulturellen und sozialen Werten und politischen Gesetzen, ein partikulares Rechtssystem, das in ein anderes eingegliedert wäre.

Die staatliche Unterstützung für Chiapas floss verstärkt seit dem Aufstand der Zapatisten in diesen Bundesstaat. Warum lehnen viele indígenas die Hilfe ab?

Es gibt viele Regionen in der Selva Lacandona, wo keine staatlichen Lehrer mehr hingehen. Und fast immer identifizieren sich die staatlichen Lehrer mit den Dörfern, die von der PRI regiert werden und nicht mit den autonomen Gemeinden. Einige Lehrer gehören sogar zu den Paramilitärs, wie zum Beispiel Paz y Justicia.
In verschiedenen Regionen von Chiapas engagieren sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und eben nicht der Staat. Gemeinden, die paramilitärische Gruppen unterstützen, bekommen eine breite staatliche Unterstützung. Diese Gemeinden werden sozusagen staatlich gekauft. Also reagieren die indígenas, wenn sie die staatliche Hilfe ablehnen, mit großer Würde: „Du gibst dem zu essen, der mich umbringt, und du willst, dass ich den gleichen Mais nehme, wie jener, der mich töten will. Sag diesem Mann, dass er mich nicht tötet, dann können wir alle von dem Mais essen.“

Gibt es Anzeichen, dass die EZLN mit ihrem Projekt der Autonomie als Terroristen abgestempelt wird?

Mit Präsident Bush in den USA laufen wir alle Gefahr als Terroristen angeklagt zu werden. In Mexiko gibt es die Strategie, Gruppen aus der Region zu bewaffnen, damit diese die zapatistischen Gemeinden angreifen. So kann die Regierung die Konflikte als bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen indigenen Gemeinden darstellen und nicht als einen Konflikt zwischen den Zapatisten und der nationalen Armee. Die Armee führt die paramilitärischen Gruppen wie eine Marionettenfigur. Man wird nicht den Vorwurf des Terrorismus äußern, sondern sagen dass die indigenen Gemeinden nicht friedlich leben können. Und dann muss die Armee dort für Ordnung sorgen.

Welche Rolle spielt die Sprache in den indigenen Kulturen Mexikos?

Es ist ein sehr wichtiger Bestandteil. In vielen öffentlichen und religiösen Zeremonien hat das Wort eine sehr wichtige Aufgabe. Bei Zeremonien, in denen die traditionellen Autoritäten wechseln, ist die Sprache wichtiger als die Autoritäten selbst. Oder bei den religiösen und medizinischen Zeremonien ist die Sprache oft wichtiger als das traditionelle Heilmittel. Aber in einem solchen Fall ist es eine magisch-heilige und spirituelle Sprache, nicht die alltägliche Sprache, sondern es ist eine rituelle Sprache, die sich aus den Zeiten vor der Eroberung erhalten hat.

Wie gestaltet sich diese Erneuerung im Mexiko des 21. Jahrhunderts?

Um diese rituell-magische Sprache gibt es eine Erneuerung des Glaubens und der kulturellen Identität. Wenn man sich die aktuellen indigenen Schriftsteller anschaut, dann wird deutlich, dass die Literatur keine persönliche Angelegenheit ist, sondern die Schriftsteller machen so ihre kulturelle und historische Identität bewusst. Die Schriftsteller schaffen mit ihrer Literatur ein Bewusstsein aus einer historischen Verantwortung heraus.

Wer liest denn die Bücher, die in den indigenen Sprachen verfasst werden?

Der Analphabetismus in den indigenen Sprachen ist weit verbreitet. Normalerweise lesen und schreiben die Leute auf Spanisch und nicht in den indigenen Sprachen. Der Schriftsteller, der in indigenen Sprachen schreibt, tut es mit dem Gedanken, dass in der Zukunft seine Kultur wieder erstarken wird und Literatur in seiner Sprache gelesen wird. Das macht den indigenen Schriftsteller zu etwas anderem als zu jenem, den wir normalerweise aus dem Deutschen oder Spanischen kennen. Er wird so zu einem Förderer der Sprache, ohne so sehr auf seinen persönlichen Erfolg als Schriftsteller zu achten.

Also gibt es eine Auseinandersetzung, um das gesellschaftliche Bewusstsein von Identität. Wo werden diese Auseinandersetzungen geführt?

Es ist ein Kampf an vielen Fronten: Die indigenen Schriftsteller kämpfen auf ihre Weise. Bezogen auf die Schulerziehung gibt es viele indigene Lehrer, die die Erziehungspolitik im Sinne der indigenen Völker verändern. Der Kampf der Zapatisten ist eine andere Front. In den Bergen von Guerrero und Oaxaca treten neue indigene Organisationen auf, zum Beispiel die politische Allianz der Zapoteken vom Isthmus. Alle haben das gleiche Ziel, die Stärkung der indigenen Rechte.

In San Andrés Larainzar gab es einen langen Dialog zwischen indigenen Vertretern und der mexikanischen Bundesregierung, der sich um die indigenen Rechte drehte. Man hat viele schöne Worte aufs Papier gebracht. Im Parlament wurde dann ein Gesetz verabschiedet, das eher eine Schwächung der indigenen Position bedeutet. Wie interpretieren Sie das Schweigen der Zapatisten seit letztem Jahr?

Eines ist klar geworden: Es gibt keine Möglichkeit für einen Dialog mit der gegenwärtigen Regierung. Warum soll man verhandeln, wenn die Regierung das eine sagt und das andere macht. Oder 20 Sachen sagt und eine macht, die mit diesen 20 nichts zu tun hat. Die gegenwärtige Regierung von Präsident Fox fährt nur die Politik der alten Regierungen fort: in der Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und in der militärischen Strategie gegen die Zapatisten. Vicente Fox wollte nur ein Foto, um der Welt zu zeigen, dass er der Freund der Zapatisten und des Subcomandante Marcos ist. Aber er ist nicht an einem Dialog und schon gar nicht an Verbesserungen bei den indigenen Rechten interessiert.

Natalio Hernández, einer der indigenen Schriftsteller (vgl. LN 341) hat die gesellschaftliche Situation nicht so negativ eingeschätzt und gewisse Fortschritte in der Politik zu den indigenen Rechten erkannt.

Die indigenen Gruppen mit den größten Erfolgen in den letzten 40 Jahren sind die zweisprachigen Lehrer. Diese Lehrer haben auf eine ganz leise Art Veränderungen in der Schulbildung und in den Strukturen der Erziehung, die mit der indigenen Welt zusammenhängen, bewirkt. Das bedeutet aber noch lange keine Veränderung in territorialen, wirtschaftlichen, kulturellen und juristischen Fragen. Was auf dem Spiel steht, ist die Negation der territorialen Rechte und der Autonomie der indigenen Völker. Das wird durch die Bemühungen um eine Veränderung im Bildungssektor natürlich nicht erreicht werden.

Sind indigene Themen in den Medien und der mexikanischen Gesellschaft präsent?

Nein, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Es gibt keinen Dialog in der mexikanischen Gesellschaft zu den indigenen Rechten. Noch heute weiß ein Großteil der Mexikaner sehr wenig über die indigenen Themen. Die Zapatisten sind vielleicht der wichtigste Faktor für die Verbreitung einer Vorstellung von der indigenen Wirklichkeit. Bevor die Zapatisten an die Öffentlichkeit getreten sind, ist diese soziale Realität einfach ignoriert worden. Als die Zapatisten aufgetreten sind, waren die Mexikaner genötigt, die indigene Realität in ihre Welt zu integrieren. Aber weil es in der mexikanischen Gesellschaft ein weit verbreitetes Unverständnis und eine Unkenntnis den indígenas gegenüber gibt, entwickelte sich eine Angst in der Gesellschaft, ihnen ihrer Rechte zu gewähren.

Zahlreiche indigene Gemeinden hatten im Sommer des Jahres 2002 ihre verfassungsrechtlichen Einwände gegen das verabschiedete Gesetz zu den indigenen Rechten vor den Obersten Gerichtshof gebracht. Anfang September lehnte es das Oberste Gericht ab, über das Gesetz zu urteilen, weil es sich für nicht zuständig erklärte. Was bedeutet das?

Das bedeutet natürlich eine totale Verweigerung für einen Dialog. Schaun sie: Die Exekutive negiert die Zapatisten und wendet sich von ihnen ab. Die Legislative stößt die indigenen Gemeinden auch zurück, denn das Gesetz, das sie im letzten Jahr verabschiedet haben, ist das Gegenteil von dem, was in San Andrés Larainzar ausgehandelt wurde. Und die juristische Gewalt hält sich zurück und lehnt es ab, über die Legislative zu urteilen. Also die drei Gewalten haben den Dialog mit der EZLN abgelehnt. Die drei Gewalten haben die Anerkennung der indigenen Rechte abgelehnt. Mit wem sollen sie jetzt sprechen und wozu? Schließich hat sie der komplette Staat zurückgewiesen.

Und trotzdem beruft sich der mexikanische Staat auf die indigenen Kulturen. Im anthropologischen Museum von Mexiko-Stadt sind die indígenas in einem musealen und exotischen Raum. Welches Konzept hat der mexikanische Staat von den indígenas?

Dieses Museum ist für den abstrakten „Indio“ erbaut worden. Für das Konzept des vorspanischen „Indio“, der mit einer Blüte der Zivilisation verbunden wird, die nichts mit der gegenwärtigen Situation zu tun hat. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen der üppigen Austattung des Erdgeschosses, wo die vorspanischen Kulturen ausgestellt werden und der armseligen Ausstattung des ersten Stockes mit der ethnografischen Sammlung. Dieses Museum ist ein Monument der Vergangenheit und nicht für die Gegenwart. Der Mexikaner hat die Idee, dass er von diesen großen Kulturen und von den Spaniern abstammt. Er fühlt sich als Nachfahre der Erbauer der großen Pyramiden, weil sie nicht existieren. Sie sind nur Konzepte. Aber zu den gegenwärtigen indígenas, den wirklichen Nachkommen der Erbauer der Tempelanlagen, leugnet er jegliche Verwandschaft. Sie sind nicht einmal entfernte Verwandte. Dieses Museum ist ein Symbol für die Entstehung der mexikanischen Nation, die den realen indigena ausschließt. Der „Indio“ ist immer da, aber nur als abstraktes Konzept in der chemisch reinen Form der glorreichen Vergangenheit und nicht in einer sozial verunreinigten Form der Gegenwart

Welche Möglichkeiten sehen sie, diesem Rassismus zu begegenen?

Das einzige, was man dagegen tun kann, ist eine Veränderung in der Bildung, und zwar der nicht-indianischen Bevölkerung. Sie müssen mehr Informationen über die Lebenswelten der gegenwärtigen indigenen Kulturen bekommen. Und es muss Respekt für ihre territoriale und politische Identität vermittelt werden. Ich sehe keine andere Möglichkeit.

Welche Vorstellung verbinden die indigenen Gemeinden mit der Globalisierung?

Man hat in den indigenen Gemeinden nicht die leiseste Ahnung von der Globalisierung. Die Globalisierung sieht man in Mexiko oder Argentinien anders als z.B. in den USA oder in Deutschland. Es gibt Länder, die in der Lage sind, zu globalisieren und andere werden eben globalisiert. Es wäre präziser, von einer neuen Form des Kolonialismus zu sprechen, die jetzt als Globalisierung bezeichnet wird.

Was ist das Neue an dieser Form des Kolonialismus?

Diese Form des Kolonialismus stellt sich als etwas Natürliches dar, etwas das nicht zu verhindern ist, fast als eine Art Naturgesetz. Die Expansion der internationalen Konzerne lässt wenig Luft zum Atmen für die globalisierten Gesellschaften. Und die Globalisierung ist vielmehr eine US-Amerikanisierung der Weltwirtschaft. Die USA verlangen offene Grenzen für Waren- und Kapitalströme und verschlossene Grenzen für die Arbeiter und Migranten.
Interview: Harry Thomaß

Das Schweigen der Bewegung

Wie organisieren die zapatistischen Gemeinden ihre Autonomie?

Lass uns über die Schulbildung in den autonomen Gemeinden sprechen, dazu kann ich etwas sagen.
Die Kinder in den autonomen Gemeinden gehen nicht in die staatlichen Schulen, sondern die Bevölkerung organisiert den Lehrbetrieb in autonomen Schulen. In den autonomen Regionen gestalten die Zapatisten ihre eigenen Lehrpläne und wenden sich gegen die Lehrpläne, die von der Regierung gemacht sind. Sie gestalten neue Inhalte, in denen die indigenen Sprachen eine wichtige Rolle spielen. Staatliche Hilfe jeglicher Art lehnen sie ab. Sie akzeptieren nur die Unterstützung von mexikanischen oder ausländischen NGO’s.

Woher kommen die Lehrer in den autonomen Gemeinden?

Sie kommen aus den selben Gemeinden, denn sie bilden sich gegenseitig aus und helfen sich gegenseitig in den Unterrichtsstunden. Und die Unterrichtsmaterialien werden von NGO’s geliefert. Die zapatistischen Gemeinden haben von dem Haus der SchriftstellerInnen, dem Sna Jtz’Bajom in San Cristobal de las Casas, zum Beispiel Unterrichtsmaterialien angefordert, um ihre Kinder in Tzeltal und Tzozil zu unterrichten und so die eigene Kultur zu stärken.

Man hat lange nichts von den Zapatisten gehört. Sind die Gemeinden an einen Punkt angelangt, an dem sie erreicht haben, was sie wollen?

Nein, der Kampf ist noch lange nicht beendet. Es geht in diesem Kampf um Respekt. Und deshalb lernen die Kinder im Rahmen dieser neuen Schulen,
ihre eigene Kultur zu respektieren. Die Ausbildung geht weiter.

Wie sind die autonomen Gemeinden politisch organisiert?

Im gebirgigen Norden von Chiapas liegt zum Beispiel San Andrés Larainzar, wo der Dialog zwischen der nationalen Regierung und der EZLN 1995 bis 1996 stattfand. San Andrés ist heute gespalten. Es gibt einen autonomen Bürgermeister und einen offiziellen von der PRI. Die autonomen Gemeindemitglieder wenden sich mit ihren Angelegenheiten natürlich an den autonomen Gemeindepräsidenten und lösen ihre Probleme gemeinsam, aber ohne den offizellen Bürgermeister. Dieses System wird permanent korrumpiert. Die von der PRI mischen sich oft mit Gewalt in die Angelegenheiten der autonomen Gemeinde und versuchen dieses paralelle System zu zerstören. Sie wollen, dass die Autonomen wieder zu Anhängern der PRI werden. Es ist hier wie in Deutschland, über die Mauer konntest du nicht rüber. Nur dass es in Chiapas etwas freier ist. Die Autonomie ist in Sektoren unterteilt, in PRI und Autonome, und die vermischen sich nicht.

Natalio Hernandez, ein anderer indigener Schriftsteller (vgl. LN Nr. 341), bezeichnete das Schweigen der Zapatisten als eines, das klingt und nicht stumm ist. Wie interpretieren sie das Schweigen der Zapatisten?

Für die Zapatisten bedeutet das Schweigen sehr viel. Obwohl im Moment die Waffen schweigen, ist überall Bewegung. Sie ist kaum wahrnehmbar und nicht mehr so stark wie 1994. Aber in San Cristobal und in Ocosingo in der Selva Lacandona gibt es Demonstrationen, nicht sehr große aber permanente Demos kultureller, wirtschaftlicher und politischer Art. NGO’s engagieren sich gegen den Krieg. Die Vereinigungen der Zivilgesellschaft versuchen Konfrontationen zwischen den verfeindeten Bevölkerungsteilen zu verhindern, vor allem innerhalb der eigenen Dörfer. Aber viele Menschen, ich betone das hier noch mal, viele Personen der PRI, suchen die Konfrontation und wollen die Autonomie zerstören. Sie suchen eine Form, um dieses Schweigen zu zerstören.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Vor kurzem gab es einige Zusammenstöße in der Selva an den zapatistischen Kontrollpunkten. Holzfäller versuchen weiterhin Tropenhölzer aus dem Wald zu holen. Aber die Zapatisten haben an der Grenze zu ihrem Gebiet Wachposten eingerichtet und lassen die Holzfäller nicht passieren. Sie wollen nicht, dass in ihrem Gebiet weiterhin abgeholzt wird. An einen solchen Kontrollpunkt entwickelte sich ein gewaltätiger Konflikt.

Wie ist die gegenwärtige Situation in Chiapas?

Also die Bewegung ist nicht am Ende. Zapatisten und Militär stehen sich gegenüber, greifen sich aber nicht an. Das einzige wirklich gefährliche sind die Paramilitärs, die sich in den autonomen Gemeinden befinden.

Wie? Die sind in den autonomen Gemeinden?

Ja, sie gehen maskiert in die autonomen Gemeinden und suchen Möglichkeiten, einen Streit vom Zaun zu brechen. Aber die Bevölkerung organisiert sich gegen diese Verdächtigen, die sogar in Häuser eindringen und Zerstörung anrichten.
Die Polizei des Bundesstaates ist in die Gemeinden gegangen und hat die Häuser durchsucht, um herauszufinden, wer die Zapatisten sind. Gegen die Paramilitärs geht die Polizei aber nicht vor. Die Regierung spielt ein falsches Spiel.

Also gibt es eine direkte Verbindung von den Paramilitärs zur PRI?

Ja, natürlich! Sie wurden sogar von der PRI ausgebildet. Seit 7 Jahren leben die Menschen in den autonomen Gemeinden in großer Besorgnis, denn sie werden von den Paramilitärs beraubt. Sie überfallen Reisebusse und sind vermummt wie die Zapatisten.

Interview: Harry Thomaß

Kein zweites Brasilien

Lange Jahre waren die ArgentinierInnen dem großen und mächtigen Nachbarn Brasilien mit ambivalenten Gefühlen begegnet. Öffentlich spottete man über dessen EinwohnerInnen, denen man den Spitznamen „Monos“ (Affen) gegeben hatte. Insgeheim neidete man ihnen ihre Stellung als wichtigste südamerikanische Volkswirtschaft. Das Konkurrenzdenken der Menschen in den beiden Schwellenländern trieb nicht nur im Sport seltsame Blüten: Die Frage, wer denn nun der größte Fußballspieler aller Zeiten sei, Pelé oder Maradona, beschäftigte Hirne und Herzen der Menschen, band Ressourcen, die besser anderswo genutzt worden wären. In der selben Zeit stagnierte der wirtschaftliche und kulturelle Austausch zwischen den beiden Ländern.
Zwar war man zusammen mit Brasilien einem gemeinsamen Markt, dem Mercosur, beigetreten, und beide Länder stellten füreinander einen der wichtigsten Handelspartner dar. Aber beim kleinsten Anzeichen dafür, dass nationale Interessen gefährdet waren, mehrten sich die Stimmen, die de facto nie ganz abgebauten Zollschranken wieder herunterzulassen. Argentinische Politiker verfolgten die Weiterentwicklung und den Ausbau des Mercosurs daher nur halbherzig. Man war weit davon entfernt, eine gemeinsame Währung einzuführen oder eine konzertierte Handelspolitik zu betreiben.

Die Achse des Guten

Doch seit dem 27. Oktober 2002 ist nichts mehr, wie es war. Der überragende Triumph von Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, im zweiten Wahlgang der brasilianischen Präsidentschaftswahlen hat auch im Denken der ArgentinierInnen einen Stein ins Rollen gebracht. Zum einen versprach Lula noch in der Wahlnacht rasche wirtschaftliche Hilfe für das Nachbarland in seiner bislang schwersten Krise, zum anderen stellte er seine Idee von einem lateinamerikanischen Block vor, einem Zusammenschluss mehrerer Länder, um den USA in den Verhandlungen um die panamerikanische Freihandelszone ALCA Paroli zu bieten. Für Brasilien käme dabei Argentinien eine Schlüsselrolle zu. Wenn Argentinien zusammenbräche, verlöre auch Brasilien seinen Verhandlungsspielraum gegenüber Washington.
Das hörten die ArgentinierInnen gern: Da weder oppositionelle Kräfte noch die Bevölkerung Vertrauen in die eigene politische Elite setzen, soll nun Abhilfe aus dem Nachbarland kommen. Von Lula lernen, heißt siegen lernen. So dachte es zumindest eine Delegation von PolitikerInnen aus Buenos Aires, die kurz vor dem zweiten Wahlgang nach São Paulo in die Kommandozentrale der PT (Partido dos Trabalhadores) fuhr. Aníbal Ibarra, der amtierende Bürgermeister von Buenos Aires von der Frente Grande und einige Mitglieder der ARI (Aktion für eine Republik von Gleichen) gratulierten Lula und nahmen dessen Ratschläge entgegen.

Lulas Rat

Vier Schritte, so Lula, würden auch die argentinische Opposition zum Erfolg führen: Erstens eine starke Partei, in der viele Strömungen koexistieren, diese sich aber einem gemeinsamen Ziel unterordnen. Zweitens ein Programm, nicht notwendigerweise ein sozialistisches, aber eines, das Veränderungen und Verbesserungen beinhalte. Drittens die Bereitschaft, Wagnisse einzugehen und die eigenen Grenzen zu überschreiten. In anderen Worten, sich wie Lula zu getrauen, den politischen Gegner – in seinem Fall den Unternehmer José Alencar – einzubinden, ihn sogar zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten zu machen. Und viertens sich professionell beraten zu lassen: Eine gute Wahlkampfkampagne, die ein volksnahes Image vermittle, sei ein unverzichtbarer Baustein für den Erfolg an den Urnen.
Die argentinischen PolitikerInnen kehrten zurück, doch nichts erschien ihnen zuhause schwieriger umzusetzen als Lulas Vorschläge. Warum ist in Argentinien keine Entwicklung wie in Brasilien möglich? Warum gibt es im Augenblick keine der PT vergleichbare Partei? Und warum kann sich die Opposition auf keine(n) gemeinsame(n) PräsidentschaftskandidatIn einigen?
Die Unterschiede zwischen den beiden Situationen sind leicht aufgezeigt: Lula eint, wo die argentinische Opposition spaltet. Lula bewegt sich auf die Mitte zu, wo sich die argentinische Opposition radikalisiert. Und Lula hat eine Basis, wo die argentinische Opposition händeringend nach einer Verankerung in der Bevölkerung sucht. Warum dies so ist und vor allem, warum es niemandem gelingt, die Hindernisse auf dem Weg zur Macht auszuräumen, lässt sich wesentlich schwerer bestimmen. Ein Grund ist der desolate Zustand der Parteienlandschaft: Die regierende peronistische Partei (Partido Justicialista) hat de facto ein zweites Olivos-Abkommen (benannt nach dem Präsidentenpalast) mit der anderen argentinischen Volkspartei, den Radikalen (Unión Cívica Radical, UCR), geschlossen, um die Regierbarkeit des Landes zu garantieren. Nach dem ersten Pacto de Olivo hatte der bereits zum kommenden Präsidenten gewählte Peronist Carlos Menem 1989 vorzeitig das Amt von seinem Vorgänger Alfonsín (UCR) übernommen.
Somit gibt es im argentinischen Kongress nur eine kleine Opposition: Einzelne aus der Allianza, der ehemaligen Regierungskoalition aus UCR und Frepaso (Frente para un País Solidario), ausgetretene Abgeordnete, ehemalige Peronisten, die Demokratischen Sozialisten, die Abgeordneten von A y L (Autonomía y Libertad) und die der traditionellen linken Splittergruppen. Aber nicht nur ihre Heterogenität verhindert, dass die Opposition eine tragende Rolle im politischen Diskurs spielt, auch ihre internen Zwistigkeiten unterhöhlten bislang noch jedes gemeinsam begonnene Projekt.

Das gescheiterte Bündnis

Noch im argentinischen Winter hatten sich drei der wichtigsten PolitikerInnen der Oppositionsbewegung, Elisa Carrió (ARI), Victor de Gennaro vom Gewerkschaftsdachverband CTA (Zentrale der argentinischen Arbeiter) und der ehemalige Trotzkist Luís Zamora (jetzt A y L) zu einem Bündnis zusammengefunden. Für die Dauer eines Monats ließen die drei ihre ideologischen Differenzen beiseite, Carrió und Zamora setzten sogar ihre Wahlkampagnen für die Präsidentschaftswahlen aus – damit reagierten sie auf Forderungen der unabhängigen Piqueteros von der Vereinigung Aníbal Verón, die sich trotz dieses Entgegenkommens nicht an dem Bündnis beteiligten.
Nach zwei Protestmärschen war es mit der Einheit der Opposition auch schon wieder vorbei: Das Bündnis zerbrach an den unterschiedlichen Haltungen zu den Präsidentschaftswahlen .
Ursprünglich hatten sich die drei Oppositionellen für die Aufhebung aller politischen Mandate (Regierung, Parlament, Senat, Provinzregierungen und Oberster Gerichtshof) eingesetzt. Damit wollten sie der Forderung der Bevölkerung „Alle sollen verschwinden“ Nachdruck verleihen und einen institutionellen Ausweg aus der politischen Krise vorzeichnen. Eine verfassungsgebende Versammlung sollte die Aufhebung der Mandate beschließen und dringend notwendige politische Reformen in Angriff nehmen. Doch der Zuspruch für das Bündnis fiel bei der Bevölkerung geringer aus als erwartet. Elisa Carrió, die bis dahin in den Meinungsumfragen vorne gelegen hatte, büßte ihre Spitzenposition ein. Sie gab im Nachhinein Zamora die Schuld für ihr Ausscheren aus dem Bündnis: Die Nähe zu Zamora habe sie Stimmen gekostet und ihren eigentlichen Wählerkreis, die WählerInnen der Mitte, verschreckt.
Zamora hatte auch schon vor dem Bündnis mit Carrió mehrfach beteuert, der ehemaligen Radikalen inhaltlich zu misstrauen. Sie beharrte zu sehr auf einer „moralischen“ Lösung. Ein Austausch von Gesichtern, ehrlich gegen unehrlich, war Zamora nicht genug: Was gerade dabei sei zu verwesen, könne nicht mehr gerettet werden, überführte Zamora seine Zweifel am herrschenden politischen System in ein plastisches Bild. Die Krise ist seiner Ansicht nach strukturell. Deshalb müsse nicht nur die politische Klasse ausgetauscht, das ganze System müsse reformiert werden. Zamora kommt aus einem traditionellen linken Milieu, lange Jahre war er Mitglied der trotzkistischen MAS (Bewegung zum Sozialismus).
Vieles, was Zamora heute denkt und verbreitet, hat er von der sich selbst organisierenden Bevölkerung in Argentinien, von der brasilianischen Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST) und den mexikanischen Zapatisten gelernt. Zamora sucht entgegen seines privilegierten Status als Abgeordneter des argentinischen Parlaments die Nähe der neuen Protestbewegung, die allen Institutionen radikal misstraut und es auch ablehnt, KandidatInnen in den Präsidentschaftswahlen zu unterstützen. So hat Zamora in einer langen Nacht Ende Oktober beschlossen, selbst nicht zu den Wahlen anzutreten. Er kandidiere nicht, weil dies bedeute, das Illegitime zu legitimieren, erklärte er, ohne zu beschönigen. Statt den Forderungen der Bevölkerung zu entsprechen, alle politischen Amtsträger neu zu bestimmen, würden in den Wahlen am 30. März 2003 nur Präsident und Vize ausgetauscht. Damit suchte er den Anschluss an die neuen sozialen Bewegungen, wie die Nachbarschaftsversammlungen, die Bewegung der wieder in Betrieb genommenen Fabriken und der Piqueteros. Zamoras neue Vision Politik zu machen, hat nicht die Machtübernahme als primäres Ziel, sondern die Selbstorganisation und den Aufbau von Basisbewegungen.
Elisa Carrió hat sich von dem Experiment, sich der Protestbewegung anzunähern, indes verabschiedet und eine eigene Partei gegründet. Aus ihrer Aktion für eine Republik der Gleichen (ARI) wurde am 9. November auf dem Gründungskongress offiziell die Partei PARI. Auch zu der sozialistischen Partei (PS) um Alfredo Bravo hat sie inzwischen ein gespanntes Verhältnis. Die PS hatte die Abgeordnete seit Oktober 2000 nach ihrem Austritt aus der UCR unterstützt.
Der Einzige, mit dem sie sich immer noch versteht, ist Víctor de Gennaro vom nicht peronistischen Gewerkschaftsdachverband CTA. So ist es wahrscheinlich, dass sie zumindest mit der CTA ein Bündnis für die nächsten Wahlen eingehen wird. Schon in den vorherigen Wahlen hatte die CTA Parteien mit Werbung und KandidatInnen unterstützt. Die letzten Äußerungen Gennaros deuteten in die Richtung, dass er Carrió als nächste Präsidentin favorisiere. Er dachte Anfang November auch laut über Carriós Aufforderung nach, eine der brasilianischen PT vergleichbare Partei aufzubauen: Argentinien fehlten aber schlichtweg die Industrie, die Arbeiter und die Universitäten, um an die Entwicklungen in Brasilien anknüpfen zu können.
Die Unterstützung für die ehemalige Regierungskoalition Alianza durch die CTA ist einer der Hauptgründe, warum radikalere Piquetero-Organisationen wie die MTD Solano und die CTD Aníbal Verón ein Bündnis mit dem Gewerkschaftsdachverband und in weiterer Konsequenz einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten ablehnen: Die ArbeitslosenaktivistInnen wollen sich ihre Unabhängigkeit bewahren. Die CTA und ihre Piqueteros hätten mit der Regierung gemauschelt, so ihr Vorwurf. Und es verwundert schon, dass in der Kommission, die über die Vergabe der staatlichen Hilfen für die Bedürftigsten entscheidet, nur die Piqueteros der CCC (Klassenkämpferische Strömung) und FTV (Vereinigung Land und Wohnraum) teilnehmen. Beide Organisationen sind mit der CTA assoziiert. Die unabhängigen Piqueteros sind dort nicht vertreten.

Arbeitslosenbewegung dreigeteilt

So ist auch das Feld der ArbeitslosenaktivistInnen inzwischen drei geteilt. Auf der einen Seite gibt es die Organisationen wie die FTV und die CCC, die sich auf Verhandlungen mit der Regierung eingelassen haben und die „Regierbarkeit“ erhalten möchten, auf der anderen Seite die Piqueteros vom Bloque Nacional, die den traditionellen Linksparteien verbunden sind. Deren Ausrichtung nach klassischer vertikaler Manier und die Verteidigung des leninistischen Avantgardegedankens wird von dritter Seite, den unabhängigen Piqueteros der Aníbal Verón und der MTD Solano („Bewegung Boden und Arbeitslose“) heftig kritisiert. Sie verstehen sich als wirkliche Basisbewegung: Alle Entscheidungen werden gemeinsam gefällt, es gibt keine formellen Hierarchien, Rotation und Weisungsgebundenheit zeichnen ihre politischen Gremien aus. Für die Piqueteros von der Aníbal Verón steht die Machtfrage nicht auf der tagespolitischen Agenda. Es geht ihnen in nächster Zeit darum, die Strukturen an der Basis aufzubauen. In dem Getöse um die PräsidentschaftskandidatenInnen sehen sie nur die sich selbst entlarvenden Machenschaften der politischen Elite. Die Macht könne nicht übernommen werden, wie Pater Spagnolo von der MTD erklärt, sie müsse langsam konstruiert werden.
Die Nachbarschaftsversammlungen halten sich bisher aus dem Wahlkampf heraus. Der einzige Kandidat, der auf größere Zustimmung bei den Bürgern traf, war Luís Zamora. Mittlerweile haben sich die Versammlungen längst wieder den alltäglichen Problemen der BürgerInnen zugewendet. Und erreichen manchmal sogar Erstaunliches: Die Versammlungen aus dem Süden der Stadt setzen gerade eine alte Brotfabrik wieder in Gang. Mit dem Brot könnten alle Volksküchen der Zone beliefert werden.

Wahl zwischen „Arm und Reich“

Die Überraschungen machen im südamerikanischen Superwahljahr auch vor Ecuador nicht halt. Bei 34 Prozent Wahlenthaltung – Rekord unter den Ländern, in denen Wahlpflicht herrscht – gewann am 20. Oktober der 45-jährige Ex-Oberst Lucio Gutiérrez in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit 20,5 Prozent der Stimmen. Eine Woche vor der Stichwahl am 24. November hatte er beste Chancen, seinen Siegeszug fortzusetzen. Umfragen sahen ihn mit rund 18 Prozent vor seinem Kontrahenten Alvaro Noboa, dem wahrscheinlich reichsten Mann des Landes.
Mit exzessiven Kampagnenausgaben, die derzeit von der Wahlkommission überprüft werden, kaufte sich der Bananenmulti Noboa regelrecht den zweiten Platz. Auf 1,2 Milliarden US-Dollar wird dessen Vermögen geschätzt, wovon er im Wahlkampf gönnerhaft einen Bruchteil unter die arme Bevölkerung verteilt hatte. Noboa ist Besitzer von 170 Firmen, unter ihnen der riesige Bananenkonzern Bonita. Ihm gehört eine Bank, eine Fluglinie und 34 Frachtschiffe. Dennoch wisse er zu unterscheiden, was seine Firmen sind und was dem Staat gehöre, erklärte der Bananenmulti gewissenhaft in Interviews. Recht glauben will ihm das niemand. Für den Einzug in die Stichwahl ließ sich Noboa von Anhängern und Angestellten in einer seiner Firmen feiern. Politik lässt sich halt nicht immer vom Geschäft trennen. Für Noboa ist Politik Geschäft. Dass auf seinen Bananenplantagen Kinder schuften müssen und er laut einem Bankkunden nicht Präsident aller EcuadorianerInnen sein könne, wenn seine eigene Banco del Litoral Kredite mit 19 Prozent Zinsen verleihe, sei nach Noboa eine Frage von Angebot und Nachfrage.

“Arm gegen Reich“

Mit Noboa und Gutiérrez treffen zwei Personen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein können: Noboa ist die Hoffnung der Eliten und Gewinner der Dollarisierung. Gutiérrez vertritt die Armen und stellt die sozialen Belange in den Vordergrund. Analysten proklamierten die Stichwahl daher nicht zu Unrecht als Urnengang von „Arm gegen Reich“. Wer die Mehrheit bildet, steht außer Frage. Von zwölf Millionen EcuadorianerInnen leben 71 Prozent unter der Armutsgrenze. Nur Bo-livien und Nicaragua stehen im kontinentalen Vergleich schlechter da. Ein verarmtes Potenzial, dass Gutiérrez als deren Hoffnungsträger nicht nur im Oktober nutzen konnte, sondern bereits vor zwei Jahren.
Aufmüpfige Militärs unter Führung von Gutiérrez und Indígenas des mächtigen Dachverbandes CONAIE zettelten am 21. Januar 2000 eine Rebellion gegen die Politik der Ausgrenzung und des Sparkurses bei Sozialausgaben an, die jedoch in einem Armeekomplott mündete (siehe LN 308). Zwar konnte der damalige Präsident Jamil Mahuad aus dem Amt gedrängt werden, doch sein Vizepräsident Gustavo Noboa wurde mit Hilfe einer elitetreuen Militärspitze in den Präsidentenpalast gehievt. Gutiérrez landete wegen Anstiftung zur Rebellion für mehrere Monate im Knast. Erst eine Amnestie ermöglichte ihm den Beginn seiner politischen Laufbahn. Umso bemerkenswerter war nun sein Etappenerfolg auf institutionellem Weg in so kurzer Zeit.

Wundermittel US-Dollar

Ecuador gilt laut einer Studie des Instituts „Internationale Transparenz“ nach Paraguay als das Land, das auf dem Subkontinent am stärksten unter der Korruption zu leiden hat. Rund zwei Milliarden US-Dollar verschwinden jährlich in den Kanälen staatlicher Institutionen. Bei einem Bruttosozialprodukt von rund 13,9 Milliarden US-Dollar laut Analysten genug, um den unterfinanzierten Haushalt bei Bildung und Gesundheit zu sanieren.
Als einzig probates Mittel zur Bekämpfung der seit 1998 anhaltenden Wirtschaftskrise, das vehement durch den Internationalen Währungsfond IWF gefordert wurde, galt die Einführung des US-Dollar. Dieser kursiert seit März 2000 als offizielles Zahlungsmittel in Ecuador. Die Rebellion unter Gutiérrez konnte ihn nicht verhindern. Wirtschaftsstrategen erhofften sich mit dem US-Dollar neue Anreize für Investoren, ein Stoppen der Hyperinflation und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum durch Finanzmarktstabilität.
Von Erholung ist jedoch kaum etwas zu spüren: Zwar kann sich das Land auf ein statistisches Wachstum von knapp fünf Prozent berufen, doch die erdrückenden und steigenden Auslandsschulden von 14,3 Milliarden US-Dollar lassen keinen Raum für staatliche Investitionspolitik. Über 31 Prozent der Exporteinnahmen müssen für den Schuldendienst abgestellt werden. Das Land exportiert alle Rohstoffe, die es zu bieten hat, auf Kosten der Umwelt und Bewohner, um Devisen ins Land zu bekommen. Besonders Erdöl.
Die Inflation konnte gedrosselt werden, trotz Dollareinführung ist sie dennoch weit höher als in den USA. Mitte 2002 lag sie bei 10 Prozent. Die Folge: mehr Armut durch rasant steigende Preise, Abbau von Subventionen, keine Absatzmöglichkeiten für inländische Firmen im Ausland und weitere Verschuldung des Staates, um die Gehälter im öffentlichen Dienst zahlen zu können. Die Preise haben sich in den letzten zwei Jahren teils verfünffacht, die Lebenshaltungskosten entsprechen in bestimmten Sektoren bereits US-Niveau.
„Wir wollen, dass diejenigen, welche die wirtschaftliche Macht haben, verstehen. Wenn es keinen sozialen Ausgleich gibt, wird das Land wie ein sinkendes Schiff untergehen. Dann versinkt alles, davor werden sich auch die Reichen nicht retten können“, sagte vor gut einem Jahr Gutiérrez kämpferisch. Die Bevölkerung ergreift die Flucht. Monatlich, so wird geschätzt, kehren rund 20.000 EcuadorianerInnen ihrem Land den Rücken in Richtung Europa oder den USA. Rund 12 Millionen Menschen leben in Ecuador, auf rund zwei Millionen Menschen soll die Auslandsgemeinde, die sich mit Billigjobs durchschlägt, bereits angewachsen sein.
Dennoch gehört diese Gemeinde zum größten Wirtschaftszweig: Jährlich überweisen die AussiedlerInnen über 1,5 Milliarden US-Dollar ins Land, um ihre Familien etwas zu unterstützen. Für Gutiérrez ein soziales Desaster: „Kinder müssen ohne ihre Väter aufwachsen, weil sie im Ausland wie Sklaven schuften müssen. Die Familien werden zerstört. Dank der Ungerechtigkeiten, Korruption und fehlender Beschäftigung.“

Kontinentalbündnis gegen Auslandsverschuldung

Seine Ziele stellt Gutiérrez in einen internationalen Kontext. Denn die Probleme Ecuadors sind nicht hausgemacht, eher Folge internationaler Wirtschaftspoltik. Eine Lösung will er deswegen nicht nur im nationalen Rahmen suchen, sondern in einer kontinentalen Kraftanstrengung herbeiführen. Auf dem Ersten Weltsozialforum in Porto Alegre versuchte er Ideen zu sammeln, in Mexiko beobachtete er den Marsch der Zapatistas in die Hauptstadt. Gutiérrez setzt sich für ein kontinentales Bündnis ein, „das einen globalen Vorschlag gegen die Auslandsschulden der lateinamerikanischen Länder umfasst“. Dies würde Neuverhandlungen unter besseren Gesichtspunkten ermöglichen, so seine Anschauungen. Unterstützung wurde ihm aus Kolumbien zuteil. Die dortige linke parlamentarische Bewegung Polo Democrático forderte Gutiérrez, Lula und Chávez in einem Brief Anfang November auf, eine Schuldenbank einzurichten, welche die Zahlungs-modalitäten der drei Länder neu definieren soll. Auf rund 751 Milliarden US-Dollar werden die Schulden Lateinamerikas veranschlagt, knapp die Hälfte davon tragen Brasilien, Ecuador und Venezuela.
Obwohl er inzwischen hoffähig ist, deuten die politischen Aussagen und Ziele des ehemaligen Militärs Gutiérrez auf Konfrontation hin. Was unter den ärgsten Feinden bereits jetzt das Bild eines kubatreuen Kommunisten heraufbeschwört. Alvaro Noboa konzentrierte seinen Wahlkampf auf diese Angst: „Die Menschen haben die Wahl zwischen einem gefährlichen Kommunisten und mir, der Arbeitsplätze und Stabilität verspricht“, so der Multimillionär. Eine Schmutzkampagne sollte im November folgen: Der Sprecher von Noboa bezichtigte Gutiérrez der Misshandlung seiner Frau. Gutiérrez selber wies diese Anschuldigungen ab und klagte Noboa des Versuchs an, Dokumente zu fälschen, um ihn als Oberst des illegalen Waffenhandels mit der kolumbianischen FARC-Guerilla zu überführen.
Gutiérrez ruft mit einem „entpolitisierten Programm“, dessen Inhalt bisher reichlich wenig definiert ist, zwar zur Einheit auf, doch Konfliktpunkte kristallisieren sich heraus. Er gilt als klarer Gegner des Plan Colombia, der zur ernsten Gefahr für Ecuador werden könnte. „Ein großes Morden“ sieht er hinter den Militärplänen, die im Nachbarland Kolumbien mit US-Unterstützung durchgeführt werden. Eine Bekämpfung des Drogenanbaus kann er darin nicht erkennen, sondern allein eine Methode zur Erhaltung der US-Hegemonie. Die Folgen für sein Land seien weitreichend: „Neben den Tausenden Vertriebenen, welche durch die Besprühungen ihr Land Richtung Ecuador verlassen, kommen auch die Drogenhändler.
Wenn in Kolumbien die Bedingungen für Kokafelder und Labore nicht mehr gegeben sind, werden sie hier weiter machen. Deswegen bringt die Strategie der Drogenbekämpfung nichts als Tote und weitere soziale Verschärfung“, so Gutiérrez, der eine Einbindung seines Landes in den benachbarten Krieg strikt ablehnt. Die Gründe für den kolumbianischen Konflikt haben nach seiner Sicht einen sozialen Hintergrund, was ihm langfristig den Groll aus Washington im Falle eines Wahlsieges einbringen könnte. Dort gilt die Guerilla als terroristische Vereinigung.
Dennoch zeigte sich die US-Regierung nach dem Überraschungserfolg von Gutiérrez ungewohnt sprachlos, obwohl er auch die US-Militärbasis Manta, an der nördlichen Pazifikküste gelegen, in Frage stellt. Dort sind mehrere hundert US-Soldaten und private US-Söldner ansässig, die den Luftraum der Region überwachen und von dort Sprüheinsätze zur Kokafeldervernichtung an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze fliegen. „Die Basis wurde unter nicht verfassungskonformen Bedingungen vereinbart. Weder der Präsident mit seiner Unterschrift noch das Parlament mit einer Abstimmung haben die Stationierung von US-Truppen legitimiert. Wir wurden damit in einen Krieg involviert, der nicht unserer ist“, so Gutiérrez.

Kredit oder Konfrontation

Ob er die Stärke besitzt, die USA im Falle der Militärbasis zu Neuverhandlungen zu zwingen oder sie gar schließen zu lassen, bleibt abzuwarten. Denn von den Beziehungen zu den USA, die den IWF und die Weltbank politisch dominieren, hängt das Schicksal Ecuadors ab. Das Land braucht dringend Geld, wenn es seinen Schuldenzahlungen und der Haushaltskonsolidierung nachkommen will. Der Rahmen für Gutiérrez in Sachen politischer Neuausrichtung ist daher äußerst eng. Anfang Oktober ließ der IWF Verhandlungen für einen neuen Kredit platzen, nachdem immer unsicherer wurde, wer die Wahlen gewinnen würde. Der Fonds erlaubte sich die Dreistheit zu fordern, mit allen Kandidaten Vorgespräche über wirtschaftliche Programme zu führen. Ein Wahltipp des IWF blieb aber aus, nachdem der bis dato treue Präsident Gustavo Noboa dem Ansinnen eine Abfuhr erteilte. Der IWF zog sich zurück, ein Kredit von 240 Millionen US-Dollar kam nicht zustande.
Für Gutiérrez bleiben nur wenige Alternativen. „Keine weitere Verschuldung“, ließ er allerdings nach dem Wahlsieg verlauten. So bliebe ihm jedoch nur ein Schuldenmoratorium, womit die bisher geleisteten Kredite nicht zurück gezahlt würden. Eine Konfrontation mit der internationalen Finanzwelt, an der Ecuador Ende der neunziger Jahre wirtschaftlich zerbrochen war, wäre vorprogrammiert.
Will er neue internationale Kredite, kommen die USA ohne Zweifel ins Spiel. Gutiérrez wird sich im Falle der US-Basis Manta und der Unterstützung des Plan Colombia die Zähne ziehen lassen müssen. Und dieses Szenario erscheint wahrscheinlicher, nachdem auch Gutiérrez eingestanden hat, dass in dem fragilen Moment des Landes an der Dollarisierung nicht gerüttelt werden dürfe. Es bedürfe ausländischer Investoren, deren US-Dollar und niedriger Produktionskosten im Land, meint Gutiérrez. Solange diese jedoch nicht kommen, müsste wohl auch er auf Anleihen zurück greifen. Bei einem Besuch in Washington und Miami Anfang November versuchte er, Vertrauen zu gewinnen. Er sei kein Kommunist, auch kein Chavist. Diese Bedenken wolle er ausräumen. Ob er auf einen Konfrontationskurs in Sachen US-Basis geht, ist daher ungewiss. Doch mit Lula in Brasilien, Chávez in Venezuela und Gutiérrez in Ecuador könnte eine neue Epoche beginnen, welche der permanenten Schuldenfalle lateinamerikanischer Länder einen Ausweg zeigt.

Schmutziger Krieg in Loxicha

Am 28. August 1996 kehrte der Krieg nach Loxicha zurück. Im Bundesstaat Oaxaca, in dessen Südwesten die Region Loxicha liegt, kam es an mehreren Orten gleichzeitig zu Auseinandersetzungen zwischen der Revolutionären Volksarmee (EPR) und Sicherheitskräften des Staates. Auf der Suche nach AnhängerInnen der EPR begannen Militär und Polizei einen Krieg niedriger Intensität in Loxicha.
Trotz der brutalen Repression durch das Militär und die paramilitärischen Gruppen, mit denen die Kaziken, die lokalen Machthaber ihre Herrschaft durchsetzen, gelang es der Bevölkerung Anfang der 70er Jahre, die zerstörten kollektiven und demokratischen Strukturen der zapotekischen Gesellschaft wieder aufzubauen. 1984 fanden erstmals wieder Gemeindewahlen nach zapotekischen Traditionen statt.
Das Rathaus und die Markthalle, Inbegriff der politischen und ökonomischen Macht der Kaziken, wurden zerstört und die Familien Vazquez und Martínez zum Verlassen der Region gezwungen. Die Ausbeutung auf den Kaffeeanpflanzungen, die mit Hilfe der Pistoleros aufrechterhalten worden war, sollte beendet, Ungerechtigkeit, Marginalisierung, Analphabetismus und extreme Armut gemeinsam überwunden werden.

Krieg gegen die Bevölkerung

Seit 1996 ist dieser Traum vorbei. Um einen Krieg niedriger Intensität in Loxicha beginnen zu können, nahmen Militär und Regierung zwei Vorkommnisse zum Anlass: Einerseits war bei den Auseinandersetzungen ein Mann getötet worden, der ehemals der Finanzverantwortliche der Gemeinde Loxicha gewesen war; andererseits fanden Straßenkontrollen bei einem Mann aus Loxicha Flugblätter der FAC-MLN (Einheitsfront für den Aufbau der Nationalen Befreiungsbewegung). Er wurde verhaftet und unter Folter zu der Aussage gezwungen, Mitglied der EPR zu sein.
Loxicha wurde daraufhin zum Kerngebiet der EPR erklärt und die militärische und polizeiliche Repression gegen die hauptsächlich indigene Bevölkerung begann. Der Polizei- und der Militärapparat, die seit dem Aufstand der EZLN ( Nationales Zapatistisches Befreiungsheer) 1994 in der Region verstärkt agieren, wurden aktiviert und ausgebaut. Neue Militärbasen wurden an strategisch günstigen Punkten eingerichtet. Bei Straßenkontrollen wurden alle, die in das Gebiet einreisten bzw. das Gebiet verließen, beobachtet und es kam immer wieder zu Schikanen. Ausländischen BesucherInnen wurde klar gemacht, dass sie in der Region nicht erwünscht waren.
Weil sie angeblich zur EPR gehörten, verhaftete die Polizei massenhaft Männer und auch einige Frauen und zwang sie, Geständnisse zu unterschreiben, deren Inhalt sie nicht kannten, und obwohl sie ihre Unschuld beweisen konnten. Andere Festgenommene verschwanden monatelang, verschleppt von Polizei und Militärs. Misshandlungen und Schikanen, wie willkürliche Hausdurchsuchungen und sexuelle Übergriffe, waren an der Tagesordnung. Insgesamt wurden seit dem 30. August 1996 über 250 angebliche Guerillamitglieder verhaftet, zum Großteil gefoltert und zu Geständnissen gezwungen.

Solidarität mit den Gefangenen

Die Bevölkerung von Loxicha reagierte von Anfang an mit Protestmärschen auf die Repression. Statt der Militarisierung der Region forderten sie von der Regierung die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Dörfern. Familienangehörige begannen, sich gemeinsam mit den willkürlich Festgenommenen zu organisieren. Aber weder Protestcamps noch Unterschriftenlisten konnten verhindern, dass immer mehr Militär in die Region verlagert wurde.
Als ein kleines Zugeständnis an die widerständige Bevölkerung aus Loxicha kann höchstens das Amnestiegesetz betrachtet werden, das im Dezember 2000 von der Regierung verabschiedet wurde und durch das einige Gefangene nach mehreren Jahren Haft freigelassen wurden. Da eine Freilassung mit der Bedingung verknüpft war, eine Beteiligung an der EPR unwiderruflich zuzugeben, blieben die erlittene Folter, die Erpressungen und Ungerechtigkeiten ohne strafrechtliche Verfolgung.
Noch immer sind fast 50 Männer aus Loxicha in Gefangenschaft. Einige waren bei ihrer Festnahme erst 16 Jahre alt, andere sind alte Männer, die teils schwer krank sind. Die Prozesse, wenn sie nach Jahren im Gefängnis überhaupt zustande kommen, stützen sich auf erfolterte Geständnisse, erkauften bzw. erpressten Verrat und falsche Beweise. Ob auch nur ein Gefangener bei der EPR war, ist zweifelhaft.

Rückkehr der Kaziken

Die sozialen Auswirkungen der Repression sind verheerend: Die Atmosphäre in Loxicha ist aufs Neue von Unterdrückung geprägt und die gerade aufgebauten sozialen Strukturen sind erneut zerstört. Die Bevölkerung ist gespalten in diejenigen, die den Staat und seinen Krieg unterstützen und diejenigen, die von der Repression betroffen sind. Die schon vorher extreme Armut verschlimmert sich, da viele Männer im Gefängnis, ermordet oder geflohen sind und die Familien ohne deren Hilfe die Felder mit dem Nötigsten nicht mehr bestellen können. Außerdem verwenden die Familien viel Zeit darauf, zu Behörden und in die Gefängnisse zu gehen. Wegen der schlechten Straßenverhältnisse nimmt so ein Besuch immer mehrere Tage in Anspruch. Erneut sehen sich viele Familien gezwungen, die Region ganz zu verlassen.
Mit der zunehmenden Präsens des Militärs in Loxicha gewannen die Kaziken und die paramilitärischen Gruppen erneut an Einfluss. Die politische Situation ist jetzt so von Intrigen, Affären und Gewalt geprägt, dass sich die neuen Bürgermeister, die durch Wahlbetrug und Stimmenkauf an die Macht kamen, gegenseitig ermordeten. Jetzt gibt es keinen Bürgermeister mehr, sondern nur noch einen von der Landesregierung in Oaxaca eingesetzten Verwalter, der die Gemeindegeschäfte führt.
Warum wird eine abgelegene Region so in eine Spirale der Gewalt gezogen? Wenn die indigenen Gemeinden ihre Forderungen auf kollektive Selbstbestimmung durchsetzen, muss die Regierung befürchten, dass in Oaxaca, wie vorher schon in Chiapas, Teile des rohstoffreichen Landes der kapitalistischen Verwertung entzogen werden. Auch die verstärkten Bemühungen um den Plan Puebla-Panamá (PPP) und – in einem größeren Zusammenhang – um die gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA, lassen einen Zusammenhang zwischen regionaler Repression, Destabilisierung der regionalen, teilweise subsistenzwirtschaftlichen Strukturen und nationalen wirtschaftlichen Interessen erkennen. In mehreren Regionen Oaxacas werden regionale Konflikte zwischen einzelnen Gemeinden als Vorwand benutzt, um militärisch aufzurüsten.

Indigene Selbstbestimmung stört

Der mexikanische Süden gehört zu den ärmsten Teilen des Landes. Im Rahmen des PPP sollen diese Gebiete im Sinne des Neoliberalismus modernisiert und als eine Region der unbeschränkten Warenzirkulation dem globalen Markt geöffnet werden. Im Hinblick auf ALCA, die 2005 in Kraft treten soll, möchte die mexikanische Regierung die Wettbewerbsfähigkeit ihres „Standortes“ sichern, indem sie die Region einerseits durch billige Arbeitskräfte und niedrige arbeits- und umweltschutzrechtliche Auflagen, andererseits aufgrund ihres Reichtums an Erdöl, Erdgas, Biodiversität, Wasserenergie und Holz für ausländische InvestorInnen attraktiv machen will. Militär und Polizei sollen deren Investitionen sichern.
Die Versuche der indigenen Gemeinden, endlich ihre Selbstorganisation und die Selbstbestimmung über ihre Gebiete durchzusetzen, stören dabei. Somit ist der Kampf der Bevölkerung von Loxicha und vieler anderer Gemeinden nicht nur ein Kampf um die bedingungslose Freilassung ihrer politischen Gefangenen, sondern gleichzeitig ein Kampf um ein lebenswertes Leben, um soziale Gerechtigkeit, um das Recht auf Selbstbestimmung und eigenständige Lebensweise und gegen die Interessen der industriellen Verwertung ihrer Natur- und Bodenschätze.

Eine weitere Chance verspielt

Am 12. Oktober waren in zahlreichen Städten Lateinamerikas tausende Menschen auf den Straßen und demonstrierten gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik. Anlass für die Demonstrationen vom Rio Grande bis nach Santiago de Chile war die Landung der Spanier vor 510 Jahren in Amerika und die darauf folgende politische und kulturelle Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung bis hin zur physischen Vernichtung der indigenen Bevölkerung.
Die DemonstrantInnen stellten einen direkten Zusammenhang zwischen der kolonialen Ausbeutung und den neoliberalen Großprojekten wie dem Plan Puebla-Panama oder der gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA her. In Santiago de Chile gingen die Mapuche auf die Straße und protestierten gegen die Besetzung ihres Landes seit mehr als 500 Jahren. In Kolumbien gedachte man der 500 indigenen Führer, die in den letzten 25 Jahren umgekommen sind. In den zentralamerikanischen Ländern Guatemala, Honduras, El Salvador, Costa Rica und Nicaragua schlossen sich verschiedene Gruppen für die Demonstrationen zusammen. GewerkschaftlerInnen, Bauern, Indígenas, Schwarze und GlobalisierungskritikerInnen brachten gemeinsam ihre Wut und Unzufriedenheit gegen die herrschende Politik zum Ausdruck. In der Hauptstadt von Chiapas im Süden Mexikos, Tuxtla Gutierrez, forderten die DemonstrantInnen die Erfüllung der Abkommen von San Andrés, dem Friedensabkommen zwischen der EZLN und der mexikanischen Regierung von 1996. Im Raum um San Cristobal besetzten AktivistInnen symbolisch verschiedene militärische Einrichtungen und blockierten die Panamerikana. In Chiahuahua tanzten und sangen die Indígenas aus der Sierra Tarahumara die ganze Nacht auf dem zentralen Platz der Landeshauptstadt und brachten auf diese Weise ihren Protest zum Ausdruck.

Worthülsen für ein gutes Image

An der Grenze zu den USA in Ciudad Juarez wurden internationale Grenzübergänge blockiert, um gegen die Nordamerikanische Freihandelszone zu protestieren. Diese regelt nur den Handel mit Gütern und legalisiert nicht die Arbeitsmigration aus dem Süden in die USA. Hier an der Grenze zwischen Mexiko und den USA war auch die Furcht vor einem bevorstehenden Krieg gegen den Irak ein zentrales Thema des Protests.
Der Präsident Mexikos Vi-cente Fox Quesada ließ es sich natürlich nicht nehmen, an diesem symbolischen Tag eine Erklärung abzugeben. Er sagte der indigenen Bevölkerung seine volle Unterstützung in ihrem Kampf um Gerechtigkeit zu. In seiner Ansprache betonte er, dass mit seiner Wahl zum Präsidenten und der Abwahl des PRI-Autoritarismus der Übergang zur Demokratie und der Wandel hin zur Gerechtigkeit bald für alle Mexikaner spürbar sein wird. Wann dieses „bald“ sein soll, ist unklar. Seit zwei Jahren ist er bereits im Amt.
Vor der Wahl hatte Fox noch großspurig getönt, er würde den Konflikt in Chiapas in einer Viertelstunde lösen, in einem Männergespräch unter vier Augen mit seinem Freund Marcos aus dem lakandonischen Urwald. Daraus ist nichts geworden. Glücklicherweise, muss man wohl sagen, denn das wäre nur wieder eine Wiederholung der altbekannten Politik gewesen: Große Männer lenken die Geschicke der Nationen und die Bevölkerung wird, wenn überhaupt, erst später darüber informiert.

Zapatisten fühlen sich betrogen

Aber Fox hatte bereits verschiedene Möglichkeiten, die indigene Bevölkerung in ihrem Anliegen nach Autonomie und Gerechtigkeit zu unterstützen. Er hat sie alle ungenutzt verstreichen lassen. Im letzten Jahr wurde das Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie von dem Kongress verabschiedet, nachdem die Zapatisten in einer Aufsehen erregenden Tour nach Mexiko-Stadt marschiert waren. Als die Zapatisten im Namen aller indigenen Völker Mexikos vor dem Kongress gesellschaftliche Gerechtigkeit einforderten, hatte der Präsident Wichtigeres vor und war bei seinem Nachbarn in Kalifornien. Das vom Kongress verabschiedete Gesetz zu den indigenen Rechten war vorher in zentralen Punkten verändert worden. In der vorliegenden Form widerspricht es aber dem Abkommen 169 der internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das der mexikanische Staat längst ratifiziert hat. Die Zapatisten fühlten sich betrogen und haben daraufhin den Dialog mit der Regierung abgebrochen.
Seit Mai 2001 schweigen die Zapatisten. Die indigene Bewegung hat in dieser Zeit aber nicht geschwiegen. Über 300 indigene Gemeinden aus ganz Mexiko haben sich mit einer strittigen Frage an das oberste Gericht gewendet: Ist das Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie verfassungswidrig? Am 6. September diesen Jahres haben die elf Richter des Obersten Gerichts von Mexiko über die Streitfrage entschieden und sich für nicht zuständig erklärt. Es war das erste Mal, dass vom Obersten Gericht über eine Änderung der Verfassung ein Urteil verlangt wurde. Streng juristisch gesehen liegt es zwar nicht in seinen Aufgabenbereich, das Recht des Obersten Gerichts über Verfassungsänderungen zu urteilen, muss aber nicht explizit in der Verfassung aufgeführt sein. In der Rechtsgeschichte der USA, Vorbild für die Verfassung von Mexiko, hatte sich der Oberste Gerichtshof schon sehr früh für zuständig erklärt, Verfassungsänderungen zu bewerten, obwohl es nicht in der Verfassung verankert ist. In Mexiko haben sich acht der elf Richter für die strikte Einhaltung der Verfassung entschieden. Einer der drei Richter, die sich für zuständig erklärt hatten, sagte: „Das Urteil musste so ausfallen, ob es einem nun gefällt oder nicht, denn wir konnten uns nicht über die Verfassung stellen. Mit diesem Urteil bestätigt das Oberste Gericht seine Position als Garant der Verfassung.“ Der UNO-Beauftragte für die Rechte Indigener Völker und mexikanische Ethnologe Rodolfo Stavenhagen bezeichnete das Urteil als ein trauriges Resultat, „da der Oberste Gerichtshof zwar streng juristisch entschieden hat, aber nicht gerecht. Das juristische Argument, nicht-zuständig-zu-sein, wiegt natürlich schwer. Aber völlig vernachlässigt wurden die legitimen Beschwerden der indigenen Gemeinden, die sich durch die Verfassungsänderung vom letzten Jahr betrogen fühlen.“

Eine gute Nachricht?

Aber Stavenhagen weist auch auf positive Zeichen in Chiapas hin. Am 13. September wurden 25 Mitglieder der paramilitärischen Organisation Paz y Justicia festgenommen, die von Menschenrechtsorganisationen für verschiedene Massaker verantwortlich gemacht wird. Miguel Ángel de los Santos Cruz, Anwalt vom Netzwerk der gemeinschaftlichen Menschenrechtsverteidiger (Red de Defensores Comunitarios de los Derechos Humanos) ist hingegen nicht so optimistisch, denn die Paz y Justicia hat bereits eine Strategie entwickelt, um sich aus der Affäre zu ziehen. Nahezu tausend Mitglieder desertieren, um einer Verurteilung zu entkommen: „Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt zurzeit gegen Paz y Justicia, wenn die Organisation aber nicht mehr existiert, werden die Ermittlungen eingestellt.“, befürchtet er. Seit dem 13. September haben die Militärkontrollen stark zugenommen und unterschiedliche Polizeieinheiten bedrohen die Bevölkerung. Die Verhaftungen mutmaßlicher Mitglieder wurden dermaßen brutal vorgenommen, dass eine permanente Spannung im Norden Chiapas herrscht. Die Bevölkerung wird nun beschuldigt, Unterstützung für die Zapatisten zu leisten und die Verhafteten ungerechtfertigterweise angezeigt zu haben.

Kein gesellschaftlicher Dialog

Die Zapatisten haben den Dialog mit der Regierung unterbrochen, da sie sich mit dem verabschiedeten Gesetz betrogen sahen. Aber auch der Rest der Gesellschaft versucht nicht, über die unterschiedlichen Positionen einen Dialog zu führen. Ein Beschluss vom Obersten Gericht hätte ein neues Forum für unterschiedliche gesellschaftliche Akteure geschaffen, mit einer gewissen Ausdauer einen öffentlichen Diskurs anzustoßen. In Mexiko behindern mächtige Feinde die Anerkennung der indigenen Rechte. Auf der einen Seite fordern die indigenen Gemeinden, über die Bodenschätze ihres Territoriums frei zu verfügen.
Dem entgegen stehen transnationale, ökonomische Interessen, die das rohstoffreiche Chiapas zum Kerngebiet des Puebla-Panama-Plans erklären. In der mexikanischen Gesellschaft sehen rassistische Teile ihre „natürlichen“ Privilegien gefährdet, wenn Indígenas als gleichberechtigte Bevölkerungsteile anerkannt werden. Nationalisten fürchten um die Einheit der Nation, wenn man den Indígenas eine weit reichende Autonomie zugesteht und reaktionäre Kreise verstehen jegliche Zugeständnisse an eine Guerilla als eine Schwächung des Staates und des herrschenden Systems.

KASTEN:
Anspruch und Wirklichkeit

Die indigenen Gemeinden werden in der Gesetzesvorlage der parlamentarischen Friedenskommission (COCOPA) als Subjekte öffentlichen Rechts betrachtet, also Rechtspersonen mit der Möglichkeit zu unabhängigen Handlungen. Das verabschiedete Gesetz versteht sie jedoch als Objekte öffentlichen Interesses, um die sich wie eh und je ein paternalistischer Staat kümmert. Im Gesetzesvorschlag der COCOPA können die indigenen Gemeinden sich nach ihren eigenen Normen und Werten eine Verfassung geben. Im Gesetz können sie sich aber nur dann eine eigene Verfassung geben, wenn diese von einem staatlichen Gericht abgesegnet wird. Und das angestrebte Recht auf Vereinigung mit anderen indigenen Gemeinden kommt im Gesetz gar nicht mehr vor.

Die Welt mit anderen Augen sehen

Wenn von indigener Literatur die Rede ist, herrscht meist der Plural vor. Muss das literarische Schreiben von Indigenen stets zugleich als kultureller Widerstand gelesen werden?

Tatsächlich waren am Anfang die Indio-Bewegungen der Siebzigerjahre diejenigen, die gegen die „Zwangskastellanisierung“ zweisprachige Bildung forderten. In den Achtzigern wurden die ersten Akademien für indigene Sprachen gegründet, 1990 begannen wir Schreibenden uns zu treffen, es gab die ersten Symposien, Stipendienprogramme und Literaturpreise. Einerseits sollten dabei die prähispanischen Traditionen wiederbelebt werden, wie etwa der legendäre Nahua-Dichter Nezahualcóyotl, andererseits ging es um zeitgenössische Manifestation. Zweifellos hatte die indigene Literatur zuerst die Funktion politischer Poesie, die dem Kampf um die eigene Existenz und Anerkennung Ausdruck verleiht. Mit der Zeit und in den neuen Generationen, also denjenigen, in denen die heute zwischen 30- und 40-jährigen sind, wird diese Lyrik reifer. Sie befreit und löst sich von diesen Aufträgen und wird experimentierfreudiger. Die Wunden vernarben allmählich. Diejenigen, die nach uns kommen, sind längst nicht mehr so verletzt, machen nicht mehr so fordernde Literatur und haben die Last des Politischen ein wenig hinter sich gelassen.

Dabei weicht offenbar der Idee einer homogenen Kollektivstimme einer sozial unterdrückten Gruppe zunehmend die Diversität einzelner Stimmen. Ist indigene Literatur überhaupt auf einen Nenner zu bringen?

Wenn überhaupt, sollten wir von einer mesoamerikanischen Literatur sprechen, ausgehend davon, dass wir – über die Sprache hinaus – dem gemeinsamen Nenner der Kulturen Mesoamerikas entstammen. Der Begriff indigen hat diese koloniale Konnotation. Je reifer und souveräner wir werden, desto eher werden wir in der Lage sein, diesen kulturellen Wurzeln auf je eigene Weise in Bilder, Rhythmen, Metaphern und Stilen Ausdruck zu verleihen. Aber das braucht Zeit. Wir haben über 500 Jahre der Leugnung hinter uns und sogar von linguistischer Verfolgung, während derer die Kinder dafür bestraft wurden, die Sprache ihres Dorfes und ihrer Eltern zu sprechen. Da wuchsen Generationen heran, die voller Ressentiments gegenüber ihrer Muttersprache waren. So mussten wir die Dinge lange Zeit hinausschreien. Das muss man heute noch ab und zu, aber nicht ständig. Wir dachten immer, wir befinden uns am Rande der Gesellschaft. Dabei sind wir mitten im Zentrum. Während der nächsten 10, 20 Jahre werden wir eine Blüte indigener Literatur erleben.

Diese wird in Dutzenden verschiedener Sprachen verfasst. Was bedeutet diese Vielsprachigkeit, die sich paradoxerweise meist nur über das Spanische verständigen kann?

Über Jahrhunderte gab es von oben ein Projekt der Homogenisierung und Standardisierung. Dabei sind die einzelnen Regionen immer schon multikulturell und mehrsprachig gewesen. In meiner eigenen Heimat, der Sierra Huasteca, hätten wir als Nahuas in der Schule Otomi oder auch Huasteco lernen müssen, um mit unseren Nachbarn reden zu können. Diese Mehrsprachigkeit galt lange als Nachteil, mittlerweile sehen wir sie als enormen Reichtum. Denn Diversität ist das Paradigma des 21. Jahrhunderts, nicht nur für Mexiko, für die ganze Welt. Ich denke, die nachfolgenden Generationen werden automatisch in einem mehrsprachigen Kontext aufwachsen. Die Kinder in meiner Gemeinde benutzen heute schon mit sechs oder sieben ganz selbstverständlich, wenn auch mehr im Dorfleben als in der Schule, Spanisch und Náhuatl. Sie wertschätzen ihre Sprache und Kultur, von da aus greifen sie auf das Spanische zu und später wird sich auch das Englische für sie nicht mehr als aufgezwungene Fremdsprache anhören. Sondern als weitere Sprache, die die Welt mit anderen Augen zu sehen erlaubt. Und so wird es einen multilingualen Kontext geben, in dem ein horizontaler Dialog möglich wird – lokal aber ebenso international, also auch mit Englisch, Französisch oder Deutsch.

Sie selbst sind ja Ihr ganzes Leben lang zweisprachig gewesen.

Aber ich selbst habe etwa 45 Jahre gebraucht, um wahrhaft und bewusst bilingual zu werden, denn das Spanisch kann ich erst seit rund zehn Jahren wirklich genießen. Vorher war die Zweisprachigkeit aufgezwungen. In unseren Dörfern mussten Kinder und Frauen, die in ihrer Muttersprache redeten, sich noch zur Strafe mit Steinen in den Händen hinknien. Náhuatl und Spanisch haben immer in mir gekämpft. In den Achtzigerjahren sollte alles in Náhuatl sein. Ich sah gar nicht ein, dass das auch in Spanisch erscheinen sollte, es war schließlich mein Ureigenes. Bis zu meinem ersten Mestizen-Buch, darin gibt es Gedichte, die in Náhuatl zu mir gekommen sind und solche, die in Spanisch kamen. Letztes Jahr habe ich dann einen zweiten Durchbruch erlebt, als einige meiner Gedichte – teilweise sogar direkt – ins Englische übersetzt wurden. Das Buch heißt „Der Kolibri der Harmonie“, und es gibt darin Texte in Náhuatl, in Englisch und Spanisch. Ich will jetzt selber Englisch lernen, das hätte ich schon in der Sekundarschule tun müssen. Und dann muss ich auch Otomi noch besser sprechen lernen. Ich will die Vielfalt endlich leben und genießen.

Ist das Schreiben als einsamer Akt ein Risiko oder auch eine Herausforderung – oder vielleicht sogar eine Art Befreiung vom kommunitären Kollektiv?

Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall. Und zwar genau die, die die indigenen Völker heute angesichts der Globalisierung leben. Als man mich vor zwanzig Jahren mit der Frage des Weltbürgertums konfrontierte, habe ich noch gesagt: “Wie grässlich! Ich bin doch kein Weltbürger, ich bin aus einem Dorf in Veracruz.” Heute ist mir klar, dass ich ein Bürger der Welt bin, mit einem eigenen Antlitz, einer Geschichte und einer Sprache. Das ist die Herausforderung für den Schriftsteller: wie kann er das Eigene im globalen Dorf bewahren?
Ich habe von den Banden gesprochen: Seit etwa zwanzig Jahren beteilige ich mich an der traditionellen Zeremonie, die wir Jahr für Jahr in meinem Heimatdorf machen, um den Göttern zu danken, die ihren heiligen Platz in der Huasteca haben. Und da bin ich Lehrling und Helfershelfer der Alten, ich nehme ihre Anweisungen entgegen. Viele sagen zu mir, wie kannst du das machen, wenn du doch längst ein internationaler Mensch bist. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Wenn ich alle paar Monate in mein Dorf fahre, werde ich zu einem von ihnen, zum Allerkleinsten und Bescheidensten dieser Gemeinschaft.

Auf diese Differenz, und das Plädoyer für Diversität, wird immer wieder in den Reden der Zapatistas verwiesen. Welche Bedeutung messen Sie diesen bei der Verbreitung dieses Paradigmas bei?

Die zapatistische Armee hat nicht nur die sozialen und politischen Strukturen erschüttert sondern die Strukturen des Bewusstseins, bis in die intellektuellen und akademischen Sphären hinein. Hier ging es um mehr, um einen anderen Diskurs: das hegemoniale Modell ist 1994 wirklich gebrochen worden, die EZLN wird zum Katalysator für diese Reflektion und schafft Räume, für indigene und nicht-indigene Denker, Akademiker und Aktivisten. Die Idee stammt jedoch schon, wenn auch nicht mit diesen Worten, aus den Siebzigerjahren: auf dem ersten Indígena-Kongress 1974 haben wir auch schon Zeitungen in unseren Sprachen gefordert und eine Ausbildung, bei der wir das Spanische lernen, aber eben auch Tzeltal, Tzotzil und Tojolobal.

Seit dem Frühjahr 2001 ist kein öffentliches Wort von den sonst so wortgewaltigen Zapatistas zu vernehmen. Wie lesen Sie dieses Schweigen?

Das ist kein stummes Schweigen, sondern eines, das klingt. Ich denke, dass diese Gesellschaft lernen muss, die Arten von Stille zu entziffern. Das Schweigen der Völker seit vier- oder fünfhundert Jahren ist keine Stille, die nicht erklingen würde, die Menschen sind da, mit ihren Mechanismen des Überlebens und des Widerstands. Auch Chiapas schweigt ja nicht, im Innern gärt es doch. Es reicht nicht, darauf zu warten, dass Marcos spricht, um zu verstehen, was los ist. Man muss sich den Eingeweiden nähern, um dem Lärm dieses Schweigens zu lauschen. Und auch das, was daraus an Vorschlägen entsteht.

Schuld am Schweigen ist die Verfassungsreform über indigene Rechte und Kultur, die im April 2001 vom Kongress – im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf der parlamentarischen Friedenskommission COCOPA – so extrem verwässert wurde, dass die Zapatistas und viele indigene Gruppen das Reformpapier als Verrat bezeichneten und jede weitere Verhandlung mit Kongress oder Regierung ablehnen. Sie sind nun einer der Unterstützer der Gesetzesinitiative über „Linguistische Rechte“, die dem Parlament seit ein paar Jahren vorliegt. Widerspricht sich das?

Überhaupt nicht. Die so genannte COCOPA-Initiative ist eine Verfassungsreform, unser Entwurf ist auf einer anderen Ebene angesiedelt, nämlich als Ausführungsgesetz zu der 2001 beschlossenen Reform. Dazu muss man ein bisschen ausholen: Seit den Siebzigerjahren hinterfragt die indigene Bewegung das Modell einer homogenen und hegemonialen Kultur und Sprache. In den Achtzigerjahren tritt das etwas in den Hintergrund, Ende der Achtziger gewinnt die Forderung wieder an Gewicht und wird in der Mobilisierung um 1992 (der 500. Jahrestag der so genannten Entdeckung Amerikas, A.H.) unüberhörbar. Das mündet dann in den Verfassungsreformen von 1992, in der Mexiko erstmals als plurikulturelle Gesellschaft festgeschrieben wird. Doch dieser Paragraph bleibt zunächst folgenlos, nicht so sehr als totes Papier denn als Keimzelle, die auf ihre Zeit wartet, wie der Mais, der auch nicht stirbt, sondern auf fruchtbaren Boden wartet. Es gibt also keine Gesetze zu dieser Reform. Bei dem 1996 mit der EZLN unterzeichneten Abkommen von San Andres wird noch einmal ganz klar festgelegt, dass es ein Gesetz zur Förderung indigener Sprachen und Kulturen geben muss. 1997 gibt es dann einen Aufruf indigener SchriftstellerInnen über ethnische, linguistische und kulturelle Diversität und 1998 beginnen wir, die Initiative für eine multilinguale Staatspolitik auszuarbeiten. Die liegt erstmal in der Schublade, wie auch die COCOPA-Initiative, und erst in dieser Legislaturperiode wird sie wieder aufgegriffen. Es gab 10 Anhörungen zum Thema und gegenwärtig liegen dem Kongress immerhin drei Initiativen vor, eine davon von uns, dem indigenen SchriftstellerInnenverband. Wir gehen davon aus, dass spätestens in ein oder zwei Jahren das Gesetz verabschiedet wird.

Das klingt bei Ihnen alles recht optimistisch, im Unterschied zu den Stimmen, die seit dem Sturz des alten Regimes weit und breit kein „neues Mexiko“ entdecken können. Wie beurteilen Sie den Grad der Erneuerung aus indigener Perspektive?

Es ist nicht einfach, einen Jahrhunderte währenden Prozess der Beherrschung und Diskriminierung umzukehren. Im Kampf zwischen Konservativen und Liberalen im 19. Jahrhundert existiert die Urbevölkerung gar nicht, dasselbe passiert bei der Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts. Und ein Wandel hängt heute nicht vom Präsidenten, sondern von der gesamten Gesellschaft ab. Aber ich glaube, dass es unter Fox Bemühungen und Signale gibt. Zum Beispiel unsere Abteilung: wir unterstützen Projekte, die von den Dörfern, ihren SchülerInnen und LehrerInnen, selbst konzipiert und verwaltet werden. Zwei, drei Jahrzehnte lang ging der Kampf nur um die Grundschulen. Heute geht es auch darum, dass indigene Sprachen an den Gymnasien gelehrt werden, dass die Universitäten multilinguale Fachbereiche eröffnen, dass es universitäre Lehrerausbildungen gibt. Und zweisprachige Bildung wurde lange Zeit nur als Angebot für die Indios verstanden – und nicht, wie heute vorgeschlagen wird, als interkulturelle Erneuerung für das gesamte Land. Der größte Widerstand dagegen kommt nicht vom Präsidenten, sondern von den Parteien. Da sind viele noch in den Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts verhaftet, und zwar quer zu den politischen Lagern.

Einschließlich der Linken?

Durchaus. Die Parteilinke hat einen sehr ideologischen Diskurs, der die Fähigkeiten indigener Völker noch gar nicht verinnerlicht hat. Nehmen wir die Hauptstadt: dort regiert die Linke und hat kein Bewusstsein für kulturelle Diversität. Vielleicht ein bisschen für Sozialpolitik, aber in der Kulturpolitik handelt sie, als gäbe es die Indigenen gar nicht. Im neu gegründeten Kultursenat gibt es keinen einzigen Zuständigen für indigene Kultur. Und Forderungen nach linguistischen Rechten wird als etwas indio-spezifisches gesehen und nicht als Vorstufe zu einer wirklich plurikulturellen Gesellschaft.

Interview: Anne Huffschmid

Gegen Staudämme und Biopiraterie

Im Rahmen des Plan Puebla Panamá (PPP/siehe Kasten) sollen in der Region vom Süden Mexikos bis nach Panamá insgesamt 70 Staudämme gebaut werden, davon 32 in Chiapas. Der Strom, der mittels der Staudämme produziert wird, ist hauptsächlich für den Export in die USA und für Projekte im Rahmen des PPP bestimmt, zum Beispiel für die in dieser Region entstehenden Maquiladoras. Vom 21. bis 24. März 2002 fand dazu in Guatemala das mesoamerikanische Foro por la Vida (Forum für das Leben) statt.
Das Forum sollte Öffentlichkeit über diese Pläne und deren katastrophale Auswirkungen für die betroffene Bevölkerung herstellen. Zwischen den Menschen, die mit den Auswirkungen bereits existierender Staudämme leben müssen, und den Betroffenen der geplanten Projekte wurden Informationen und Erfahrungen ausgetauscht. Die Organisierung von überregionalem Widerstand gegen diese Bauvorhaben und die damit verbundene Vertreibung der Bevölkerung war ein Schwerpunkt des Forums.

Das Forum für das Leben

Ort des Treffens war die Bauernkooperative Unión Maya Itzá im Regenwald El Petén. Diese Region ist durch fünf geplante Staudämme des Grenzflusses Usumasinta bedroht. Ungefähr 350 Menschen aus verschiedenen mittelamerikanischen Ländern, aus Kolumbien und der Dominikanischen Republik, sowie einige Nichtlatinos nahmen am Forum teil und wurden bei den Familien der Kooperative untergebracht. Während des Krieges in Guatemala flüchteten diese Familien nach Mexiko, dessen Regierung sie 1993/94 wieder zurück nach Guatemala schickte. Seither haben sie sich dort ein neues Leben aufgebaut. Es gibt eine Schule, Versammlungsräume und einen Krankenraum in dem ein kubanischer Arzt arbeitet, da Kuba Guatemala auf medizinischem Gebiet unterstützt. In der Kooperative wohnen ungefähr 100 Familien in weit auseinander liegenden, meist aus Wellblech gebauten Hütten. Es gibt keinen Strom, das Wasser wird von Frauen und Mädchen an einer Zisterne oder am nahe gelegenen Fluss geholt. Die BewohnerInnen halten Hühner, Truthähne, Ziegen und Schweine.

Der Staudamm von Rio Chixoy

Am ersten Tag des Forums berichteten mehrere Organisationen aus verschiedenen Ländern von ihren Protesten und Kämpfen gegen die Staudammprojekte. In den Jahren 1976-83 wurde beispielsweise in Guatemala der Staudamm von Rio Chixoy gebaut. Damals wurden mehr als 20 Gemeinden überflutet. In dieser Zeit herrschte in Guatemala ein Krieg, in dem 140.000 Menschen von den Militärs ermordet wurden, darunter viele, die sich gegen den Bau des Staudamms organisierten.
Die Regierung versprach den vom Bau des Staudamms betroffenen BewohnerInnen neue Häuser, fruchtbares Land, Lastwagen und Boote um den Staudamm überqueren zu können. Nichts davon wurde eingehalten. Das Land, das ihnen zugewiesen wurde, war so klein, dass es nicht einmal genügend Platz für die Tierhaltung gab. Die Lebensbedingungen haben sich grundlegend verschlechtert und durch die Enge haben Nachbarschaftskonflikte stark zugenommen.
Drei Männer aus der betroffenen Comunidad Río Negro berichteten auf dem Forum, dass in diesem Zusammenhang über 400 Menschen ermordet wurden. Nüchtern zählten sie auf: Am 30. Februar 1982 wurden 70 Campesinos ermordet, am 3. März 1982 wurden 70 Frauen und 107 Kinder ermordet.
Die Männer erzählten, dass sie damals keine Vorstellung davon hatten, was ein Staudamm ist. Sie befragten die Ältesten im Dorf, deren Meinung war, dass von Menschen Hand kein Fluss so vergrößert werden könne, die Macht dazu hätte nur Gott alleine. So gab es hier nur relativ wenige, die sich gegen den Bau des Staudamms aussprachen. Der Tag an dem das Tal überflutet wurde, brachte den Menschen eine soziale und ökologische Katastrophe.
Die ihnen versprochenen Boote haben sie nie erhalten, so dass es bis zum heutigen Tag für die Menschen der jeweils anderen Seite des Stausees keine Möglichkeit mehr gibt, sich zu treffen und so auch der Handel mit Waren nicht mehr stattfinden kann. Vor dem Bau wurde ihnen erzählt, dass der See acht Kilometer lang werden wird, heute hat er eine Länge von 52 Kilometern. Auf dem Forum beinhalteten alle Berichte die übereinstimmende Erfahrung, dass die zuvor gegebenen Versprechungen der Regierungen aus Ländern wie Costa Rica, Belize, Kolumbien und der Dominikanischen Republik nach Fertigstellung der Staudämme so gut wie nie eingehalten wurden.

Geplante Zwangsumsiedlungen in Montes Azules

Zwangsumsiedlungen werden nicht nur vor dem Hintergrund von Staudammprojekten durchgesetzt. Im Rahmen des Forums wurde auch die Bedrohung der Gemeinden von Montes Azules thematisiert.
An diesem Gebiet im Südosten von Chiapas besteht auf Grund der dort vorkommenden reichhaltigen Ressourcen großes internationales Interesse. 35 Gemeinden sollen angeblich aus Naturschutzgründen zwangsumgesiedelt werden. Diese Gemeinden bestehen zum Teil schon seit den fünfziger Jahren, andere entstanden später durch Kriegsflüchtlinge aus anderen Regionen Chiapas. Das Gebiet wurde erst viel später, in den siebziger Jahren, zum Naturreservat erklärt. Die damals zugesagten Landtitel haben die BewohnerInnen nie erhalten.
Die EinwohnerInnen mancher Dörfer sind zapatistisch, andere Gemeinden sind von Anhängern der Partido Revolucionario Institucional (PRI) oder der indigenen Bauernorganisation ARIC bewohnt. Weil die PRI, die jahrzehntelang an der Macht war, vor zwei Jahren die Wahl verloren hatte, fand eine bereits geplante Vertreibung zunächst nicht statt.
Aber Montes Azules ist einer der „Hotspots“ der Biodiversität in Chiapas, es gibt Erdölvorkommen und große Mengen sauberen Wassers. Zwei der weltweit größten Biotech- und Pharmakonzerne, Monsanto und Novartis, haben sich „großzügig“ bereit erklärt, nach der Räumung des Gebietes den Naturschutz zu gewährleisten. Drei der Gemeinden werden nicht geräumt, sie sollen vermutlich Teil eines ökotouristischen Projektes werden. Solche Projekte sind auch Teil des PPP.
Eingebettet in wunderschöne Natur sollen von großen Tourismuskonzernen Hotel- und Freizeitanlagen für den exklusiven Geldbeutel errichtet werden. Schöne Flüsse, Seen und Höhlen werden dann auf Privatgelände liegen und nicht mehr für die Allgemeinheit zugänglich sein. Die verbleibende Bevölkerung dient dann als billige Arbeitskraft und sorgt für eine folkloristische Kulisse.

Biopiraterie im Regenwald

Die geplanten Zwangsumsiedelungen in Montes Azules sind aber auch auf andere Weise Bestandteil des Plan Puebla Panamá, da die große biologische Artenvielfalt für die Biotech- und Pharmakonzerne sowie für die Agrarindustrie von großer Bedeutung ist. Die noch vor kurzem getrennten Bereiche der Pharma- und Agrarindustrie verschmelzen zunehmend zu großen Biotechnologiekonzernen.
Geplant sind mehrere Bioprospektionsprojekte, die gezielte Suche nach Pflanzen und Tieren, die nützliche und verwertbare Substanzen enthalten. Die DNA vieler Pflanzen soll entschlüsselt und patentiert werden. Die Konzerne wollen sich die Exklusivrechte auf Heilpflanzen und deren Wirkung, sowie auf wichtige Grundnahrungsmittel wie Mais und Bohnen sichern. Alleine die Pharmaindustrie verdient jährlich rund 40 Milliarden US-Dollar an Medikamenten, die auf der Grundlage von Pflanzen und traditionellem Heilwissen entwickelt wurden. Indigene Rechte auf „ihre“ Pflanzen werden dabei ignoriert.
Schon 1996 wurde für die Koordinierung der verschiedenen Projekte in diesem Bereich ein Plan entworfen, der sich Coridor Biológico Mesoamerica nennt und heute zum Kern des PPP gehört. Aus Veröffentlichungen der Weltbank, die einen Großteil der Finanzierung der Projekte sicherstellt, geht hervor, dass die Kommerzialisierung der biologischen und genetischen Vielfalt ein wichtiges zu erreichendes Ziel ist. Durch die Kommerzialisierung der Biodiversität wird der davon betroffenen indigenen Bevölkerung die Lebensgrundlage entzogen, da sie beispielsweise ihre Heilpflanzen nur noch nach Genehmigung des Patent innehabenden Konzerns nutzen darf.

Die Widerstandsperspektiven

Wie aber soll der Widerstand gegen die Vorhaben organisiert werden? Bei den fertig gestellten und geplanten Staudammprojekten sind es vor allem indigene Bauern, die von den verheerenden Auswirkungen dieser Projekte betroffen sind. Hunderttausende verlieren ihr Land, ihre Häuser und nicht zuletzt ihre Kultur. Die Beteiligten des Forums waren sich darüber einig, wie wichtig es sein wird, in Zukunft stärker, auch Länder übergreifend zusammenzuarbeiten und dass die verschiedenen Organisationen aus den einzelnen Ländern ihre Zwistigkeiten begraben müssen, wenn es eine Chance auf erfolgreichen Widerstand geben soll. „Wenn diese Pläne uns allen aufgezwungen werden, müssen wir uns auch zusammen wehren“, so ein Forumsteilnehmer.
Das Abschlusskommuniqué wurde von 98 Organisationen aus 21 Ländern unterzeichnet: „Agua, Luz y Tierra para el Pueblo“, Wasser, Strom und Land für das Volk. Die TeilnehmerInnen des Forums sprachen sich gegen den Bau von Staudämmen, gegen den Plan Puebla Panamá, das geplante Freihandelsabkommen für Amerika (ALCA) und gegen Biopiraterie aus.
Alle Institutionen, die diese Projekte finanzieren, wurden verurteilt und aufgefordert, diese Vorhaben zu stoppen. Die lateinamerikanische Bevölkerung wurde aufgerufen, sich am Widerstand zu beteiligen, und die Regierungen aufgefordert, diese Art von Projekten sofort einzustellen, weil sie gegen die Interessen der Gemeinden und Dörfer gerichtet sind. Mit allen lateinamerikanischen Bewegungen, die gegen Staudämme kämpfen, erklärte man sich solidarisch.

KASTEN:
Der Plan Puebla Panamá (siehe auch LN 336)

Guatemala, Belize, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama sowie die neun südlichsten Bundesstaaten Mexikos sind vom Megaprojekt PPP betroffen. Internationale Konzerne und die USA verplanen diese Länder auf mehreren Ebenen. Ziel ist es, die dort vorhandenen billigen Arbeitskräfte und die vielfältigen natürlichen Ressourcen (Tiere, Pflanzen, fruchtbarer Boden, Wasser und Rohstoffe) vor allem transnationalen Unternehmen zugängiglich zu machen.
Die Arbeitskraft im Süden Mexikos gilt als 40 Prozent billiger als in den freien Produktionsstätten, den so genannten Maquiladoras, im Norden Mexikos. Es gibt hier ein großes „Potenzial“ armer und ungebildeter Menschen in nächster Nähe zu den USA. Dies soll bald auch im Süden Mexikos und in Mittelamerika in einer ganzen Reihe von geplanten Maquiladoras eingesetzt werden, um so billig und ohne soziale Absicherung für den Weltmarkt produzieren zu können.

Monokulturen

Großflächige Plantagenpflanzungen von beispielsweise Eukalyptus oder der Palma Africana sind ein weiterer Bestandteil des PPP. Diese zur industriellen Papier- und Ölherstellung verwendeten Pflanzen sind in subtropischem Klima schon nach sechs Jahren ausgewachsen, in Skandinavien zum Beispiel benötigen sie 80 Jahre. Der für die Plantagenpflanzungen benutzte Boden ist nach diesen sechs Jahren allerdings komplett ausgelaugt und für einen längeren Zeitraum unbrauchbar. Aus diesem Grund wird geplant, den Indígenas das entsprechende Land nicht abzukaufen, sondern es lediglich zu pachten. Die Erträge dieser mit Pestiziden und Dünger gezüchteten Monokulturen sind für den Export bestimmt, die entsprechenden Gebiete fehlen den Menschen zum Anbau ihrer eigenen Grundnahrungsmittel.

Die geostrategische Bedeutung des PPP

Als Alternative zum Panamakanal sollen zwischen dem Pazifik und dem Golf von Mexiko eine Verbindungsstraße und neue Häfen gebaut werden. Am Istmus von Tehuantepec, zwischen Oaxaca, Veracruz und Chiapas, kann somit über eine nur 240 Kilometer lange Straße der Gütertransportweg zwischen den Produktionsstätten der Ostküste der USA und Asien enorm verkürzt werden. Es existieren Gerüchte, wonach entlang dieser Linie eine neue, innerstaatliche Grenze Mexikos errichtet werden soll. Im Gegensatz zu der 3000 Kilometer langen Grenze zwischen den USA und Mexiko könnten hier MigrantInnen noch effektiver zurückgehalten werden.

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