Plan auf Pump

Im März letzten Jahres wurde der Plan Puebla Panamá (PPP) vom mexikanischen Präsidenten Vicente Fox vorgestellt, um dann im Juli bei Fox’ Treffen mit den Präsidenten Mittelamerikas auch deren Unterstützung zu erhalten. Der PPP umfasst den beeindruc-kenden Umfang von 500 Seiten und sieht zahlreiche Projekte vor, um die Entwicklung vom mexikanischen Bundesstaat Puebla bis Panama zu fördern. Die erste Hälfte des Werks besteht aus einer genauen Analyse der Situation in den entsprechenden Staaten. Danach beschreibt es die Vision der gemeinsamen Aktivitäten und Investitionen, die sich in sechs Bereiche gliedern: Infrastruktur, menschliche Entwicklung, Schaffung von Arbeitsplätzen, Wettbewerbsvorteile, Umwelt und Partizipation.
Was gut klingt, wie Investitionen in „menschliche Entwicklung“, also beispielsweise in Gesundheit und Bildung, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als schmüc-kendes Beiwerk. 80 Prozent der Investitionen werden in Infrastruktur erfolgen. Bis auf das Kapitel „Wettbewerbsvorteile“ wird keines der anderen Themen große Beachtung finden. Die Diskrepanz zwischen Worten und Taten zeigt sich zum Beispiel daran, dass auch ein gutes Jahr später noch keine einzige Maßnahme zur Partizipation der Bevölkerung stattgefunden hat.
Die Finanzierung des PPPs soll durch die Regierungen Mexikos und Mittelamerikas sichergestellt werden. Zum einen durch öffentliche und private Investitionen, zum anderen durch ausländische Unterstützung, also vor allem durch Kredite der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank (Banco Interamericano de Desarrollo, BID), der Banco Centroamericano de Integración Económica und anderer multilateraler Organisationen. Das bedeutet eine weitere Verschuldung der beteiligten Länder im Zuge des PPP, um die geplanten Investitionen zu ermöglichen. Dabei stellt die wachsende Auslandsverschuldung in allen ländlichen Regionen ein bedeutendes Problem dar. In manchen Ländern nähert sie sich schon den von der Weltbank als Limit gesetzten 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Die Investitionen im infrastrukturellen Bereich sind keinesfalls dafür gedacht, die Mobilität der Bevölkerung zu begünstigen. So gibt es im Rahmen des PPP beispielsweise in El Salvador das umstrittene Projekt des anillo periférico (Autobahnring). Die beabsichtigte Konstruktion dieses Autobahnrings wird als Lösung des hauptstädtischen Verkehrsproblems verkauft. Dabei ergibt sich aus einer Studie der Regierung selbst, dass das Projekt auf das Verkehrsaufkommen in San Salvador kaum Einfluss haben wird. Der Anillo Periférico dient also nicht dazu, wie den Leuten vorgegaukelt wird, dass sie schneller zur Arbeit und wieder nach Hause kommen, sondern kommt vielmehr dem Bedürfnis der UnternehmerInnen entgegen, zügig Rohstoffe und Produkte zu transportieren. Entsprechend ist entlang des geplanten Anillo Periférico die Errichtung von weiteren Maquiladoras zu erwarten, wie es sie jetzt schon an anderen Autobahnen in El Salvador gibt.
Welche Auswirkungen sind in Mexiko zu erwarten? Der PPP bedeutet einen enormen Anstieg der Investitionen, vor allem in Infrastruktur, wodurch die Arbeitsplätze in Maquiladoras und im Tourismus-Sektor sowie vorübergehend im Baugewerbe zunehmen.
Aus der Logik des Planes ergibt sich außerdem, dass eine Veränderung der Besitzstruktur im Süden Mexikos zu erwarten ist. Eine nicht ausgesprochene Absicht der mexikanischen Regierung ist es, im Zuge des PPP die Campesinos und Indígenas im Süden zu enteignen, zu vertreiben und privaten Investitionen in der ganzen Region vor allem in den Tourismus an der Atlantikküste und die Maquiladoras Tür und Tor zu öffnen. Der Besitz wird sich in den Händen mexikanischer und ausländischer Investoren konzentrieren, während die Campesinos auf die übliche elegante Art enteignet werden: Den Campesinos werden Landtitel erteilt, ohne sie jedoch mit Krediten oder ähnlichem zu unterstützen. So bleibt den neuen LandbesitzerInnen meist keine andere Möglichkeit, als ihr Stück Erde bald wieder zu verkaufen. Der Plan schafft damit landlose Campesinos und Indígenas, die dann den Maquiladoras als billige Arbeitskräfte dienen. Da schon die Fabriken im reichen Norden Mexikos ihren ArbeiterInnen nur 2,10 US-Dollar am Tag beziehungsweise 240 US-Dollar im Monat zahlen, kann man sich ausrechnen, wie hoch das Gehalt in einer Freihandelszone im Süden des Landes sein wird.
Wenn Mexiko allerdings die geplante Maquiladora-Zone und den Tourismus verwirklicht, hat dies auch auf Mittelamerika negative Auswirkungen. Der PPP kann die Exporte Mittelamerikas nicht steigern, da Mexiko den mittelamerikanischen Maquiladoras den Absatzmarkt rauben wird. Die potenzielle Arbeitskraft der Indígenas und Campesinos im Süden Mexikos wird billiger sein als die in Mittelamerika, und die mexikanischen Unternehmen haben einen besseren Zugang zum nordamerikanischen Markt.
Insgesamt werden sich die Investitionen auf Infrastruktur-Projekte und auf Maquiladoras konzentrieren, da dort der einzig entscheidende Wettbewerbsvorteil der am PPP beteiligten Länder zur Geltung kommt: die billige Arbeitskraft. Deren Preis wird im Zuge der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts sogar noch sinken. Schon jetzt reicht das Durchschnittsgehalt in El Salvador nicht einmal, um nur die Hälfte des Grundbedarfes zu decken und ein Gesetz zur Abschaffung des Mindestlohns ist auf dem Weg.

Unbezahlte ArbeiterInnen mit Diplom

In El Salvador hat die Ausbeutung billiger Arbeitskraft absurde Dimensionen erreicht. Ein vom Ministerium für Arbeit öffentlich vorgestelltes Projekt sieht vor, dass Jugendliche zwischen 17 und 25 Jahren zwei Jahre lang ohne Bezahlung in Unternehmen arbeiten. Die ArbeitgeberInnen bezahlen dafür ihre Sozialversicherung, und am Ende erhalten die Jugendlichen ein Diplom. Der Unternehmerverband ANEP kritisierte den Vorschlag des Ministeriums: Die Jugendlichen sollten doch etwas länger als zwei Jahre ohne Bezahlung arbeiten. Dieses Projekt zur Schaffung kostenloser diplomierter FabrikarbeiterInnen ist teilweise schon angelaufen.

Keine Umverteilung

Der PPP wird das Problem der Armut in der Region nicht lösen, da er keine Entwicklung nach innen sucht, das heißt also Wirtschaftswachstum und Wohlstand, die auf der Produktions- und Konsumkapazität der Bevölkerung beruhen. Dies ist logisch, wenn man bedenkt, dass ein solches Entwicklungsmodell gerechtere Einkommens- und Besitzverteilung voraussetzen würde, woran die UnternehmerInnen kein Interesse haben. Der Staat müsste über mehr Ressourcen für öffentliche Investitionen verfügen, was gegen den Trend der aktuellen Strukturanpassungsmaßnahmen geht.
Eine Regierung, die auf die Entwicklung ihres Exportsektors setzt, muss das Problem der Armut auch nicht lösen, da die KäuferInnen nicht im Inland, sondern im Ausland sitzen. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung kann beliebig hoch sein und stellt kein wirtschaftliches, sondern eben „nur“ ein soziales Problem dar.
Durch den PPP soll nicht der Export von Agrarprodukten, sondern der von billig produzierten Konsumgütern gefördert werden. Es sind keine Investitionen im Agrarsektor zu erwarten, der höchstens noch in Guatemala und in Nicaragua ins Gewicht fällt und dessen Anteil an der Produktion in den anderen Ländern der Region in den letzten Jahren enorm gesunken ist.
Diese Verringerung der landwirtschaftlichen Aktivität in der ganzen Region wirkt sich negativ auf die natürlichen Ressourcen Mexikos und Mittelamerikas aus. Besonders in Mexiko können die Auswirkungen des PPP auf die Umwelt dramatisch sein. Die neun südlichen Staaten Mexikos, die von den Investitionen betroffen sind, stellen ein aus ökologischer Sicht wichtiges Gebiet dar. So befinden sich dort allein die Hälfte der Fauna und 60 Prozent der Flora des Landes, die durch nationale und internationale Abkommen geschützt sind. Doch dieser Schutz existiert nur auf dem Papier, da es keine effektiven Mittel zur Durchsetzung gibt.

Regulierung der Migration

In Bezug auf die Migration gibt es eine weitere, nicht offiziell genannte Absicht des PPP. Die Regierung Mexikos will die Emigration von MittelamerikanerInnen in die USA verhindern. Die EmigrantInnen sollen – so die Idee – stattdessen in den Maquiladoras und im Tourismus-Sektor im südlichen Mexiko arbeiten. Auch der Bevölkerung des Nordens und der Mitte Mexikos sollen Arbeitsmöglichkeiten im Süden des Landes eröffnet werden. Ein Abkommen der mexikanischen Regierung mit den USA sieht vor, dass die in den USA lebendenden MexikanerInnen geduldet werden, während Mexiko im Gegenzug die Migration seiner Staatsangehörigen und der der Länder Mittelamerikas in die USA verhindert.

Zapatistischer Gegenwind

Die im Süden des Landes aktive zapatistische Guerilla und zahlreiche Gemeinden in der Region haben angekündigt, dass sie gegen den PPP Widerstand leisten werden. Die mexikanische Regierung gibt zwar vor, den seit Jahren andauernden Konflikt mit Hilfe des PPP lösen zu wollen. Aber es ist zu erwarten, dass sie versuchen wird, die Investitionen durchzusetzen ohne sich mit den ZapatistInnen zu verständigen. Gewalt ist also programmiert.

Indigene Autonomie vor Gericht

Die Indígenas stehen wieder einmal im Rampenlicht der Medien. In ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben in Würde und ihre Autonomie haben die indigenen Organisationen ein neues Kapitel aufgeschlagen. Zusammen mit dem Gouverneur von Tlaxcala und VertreterInnen des Kongresses von Chiapas bringen über 300 VertreterInnen von indigenen Gemeinden aus verschiedenen Bundesstaaten ihre Argumente gegen das Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie vor. Vor der Tür des Obersten Gerichts in Mexiko City nimmt der Protest bunte For-men an. Ein gesellschaftliches Ereignis wird mit indigener Musik und indigenem Tanz dort inszeniert. Im Gebäude des Obersten Gerichts laufen derweil die Anhörungen. Jede dauert nur knappe 30 Minuten, gerade einmal genug Zeit für die Anwesenden Personen Platz zu nehmen und ein paar Dokumente vorlegen zu können. Am 18. Juni werden die Anhörungen enden. So haben es die elf Richter des Obersten Gerichtshofes beschlossen. Warum die Richter diesen Beschluss ge-fasst haben, der die Anhörungen unter einen enormen Zeitdruck setzt, bleibt im Dunkeln. Vor diesem Beschluss hat keine öffentliche Diskussion über diesen Punkt stattgefunden.

Mexikanischen Gerichte auf dem Prüfstand

Nun ist die Neugier geweckt, und nicht nur die der Mexikaner sondern auch die von internationalen Organisationen: Ist das mexikanische System der Rechtsprechung korrupt oder schaffen sich die Gerichte, Anwälte und Staats-anwälte einen unabhängigen Raum, in dem Rechtsprechung möglich wird? Ein Bericht der UNO bezeichnet die Hälfte der mexikani-schen Gerichte als korrupt. So sehen viele BeobachterInnen diese Anhörungen als eine erste Prüfung für das juristische System nach dem Machtverlust der ehemals allmächtigen Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI).

Nur wertloses Papier

Die VertreterInnen der indigenen Gemeinden berufen sich in ihrer Argumentation auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO: International Labour Organization), eine Unterorganisation der UNO. Dieses Abkommen über die Rechte indigener Völker, wurde von der mexikansichen Regierung unterschrieben und ratifiziert. Danach muss jedes Gesetz, das die Belange von indigenen Gemeinden berührt, in den Gemeinden breit diskutiert und der Standpunkt der Betroffenen in die Gesetzgebung mit einbezogen werden. Eine Tatsache, die bei dem Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie nicht berücksichtigt wurde.
Die indigenen VertreterInnen wurden zwar gehört, aber ihre Haltung zu der Verfassungsreform wurde nicht mit einbezogen. Dreh und Angelpunkt für die indigenen VertreterInnen ist das Abkommen von San Andrés Larainzar aus dem Jahr 1996, das zwischen den ZapatistInnen und der mexikanischen Regierung geschlossen, aber nie wirklich in die nationale Gesetzgebung aufgenommen wurde. In diesem Abkommen wurden indigene Gemeinden als Subjekte öffentlichen Rechts verstanden. Dadurch wurde es ihnen ermöglicht, ihre Interessen auch juristisch durchzusetzten. In der Verfassungsreform aus dem letzten Jahr versteht der Staat die indigenen Gemeinden aber wie jeher: als Objekte öffentliches Interesses, denen so ein eigenverantwortliches Handeln verwehrt wird.

Verwirrende Koalitionen

Die mexikanische Verfassung besagt, dass ein nationales Gesetz von den einzelnen Bundesstaaten ratifiziert werden muss, ehe es auf nationaler Ebene bindenen Charakter bekommt. Das ist nicht geschehen.
Verschiedene Bundesstaaten haben das Gesetz abgelehnt, aufgrund unterschiedlicher Zusammensetzungen der einzelnen Parlamente. Die rechtskonservative PAN stimmte in den meisten Bundesstaaten für das Gesetz. Die sozialdemokratische PRD stimmte in den meisten Fällen gegen das Ge-setz und die PRI hatte keinen eindeutigen Standpunkt. In einigen Bundesstaaten votierte die PRI für eine Ratifizierung des Gesetztes in anderen dagegen. In Oaxaca zum Beispiel war die Sache schon lange klar. Das Gesetz wurde mit den Stimmen der PRI, die den Gouverneur stellt, und den Stimmen der PRD abgelehnt. Bereits kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes im Nationalen Kongress 2001 legte der Gouverneur von Oaxaca Klage gegen das Gesetz beim Obersten Gerichtshof ein. Diese Klage wurde jedoch aus formalen Gründen abgewiesen, da das Gesetz weder von Präsident Fox ausgefertigt und unterschrieben, noch im offiziellen Blatt der Regierung veröffentlicht war. Eine ausgesprochen formale Argumentation des Obersten Gerichtshofs, die den Eindruck bestärkt, dass dieser keine unabhängige Gewalt im Staat darstellt.

Inhaltlich breiter Protest

Die gegenwärtigen Proteste richten sich nicht nur gegen die Verfassungsänderung aus dem letzten Jahr. Auf dem fünften nationalen Konvent der indigenen Ver-treterInnen Anfang Mai wurde ein inhaltlich sehr viel breiterer Protest formuliert. Sauberes Trinkwasser und die Nutzung des Bodens einschließlich seiner Ressourcen stellen zentrale Punkte im Kampf der indigenen Gemeinden gegen den alles vereinnahmenden Staat dar. Außerdem wandten sich die VertreterInnen auf dem Nationalen Konvent gegen ein Gesetz aus dem Jahre 1999, das den Gebrauch von fast achtzig medizinischen Pflanzen verbietet. Eine Gefahr für Mensch und Natur sehen die VertreterInnen in der massiven Ausbreitung von Versuchsfeldern mit genetisch verändertem Mais und Tomaten . Besonders das Megaprojekt des Plans Puebla-Panamá wurde auf dem Indigenen Konvent als eine Ausbeutung des Menschen und der Natur abgelehnt (siehe vorheriger Artikel zum Plan Puebla-Panamá).
Viele BeobachterInnen fragen sich, wo denn die ZapatistInnen auf der Medienbühne bleiben und der wortgewandte Subcommandante Marcos mit seinen herzerfrischenden Kommunikees. Aus Berlin ist das schwer zu beurteilen, es sei aber daran erinnert, dass die ZapatistInnen bei ihrer Rückkehr vom Marsch für die indigene Würde nach Mexiko City im letzten Jahr von der chiapanekischen Bevölkerung mit Sprechchöhren begrüßt wurde: „Marcos ruh dich aus, das Volk holt auf!“ Und das hat die Zivilgesellschaft getan, was die offiziellen Anhörungen vor dem Obersten Gericht zeigen.

Terrorismus in Südchile ?

Eine Situation wie 1971 und ’72, als unter dem sozialistischen Präsidenten Allende Ländereien von Großgrundbesitzern besetzt wurden…“ Mit diesem Vergleich beginnt Hermógenes Pérez de Arce in der chilenischen Tageszeitung El Mercurio einen Artikel, in dem er massive Kritik an der seiner Ansicht nach laschen Haltung der Regierung gegenüber den Landbesetzungen durch die Mapuche übt.
Der Konflikt schwelt vor allem in der achten und neunten Region im Süden Chiles. Im Alto Biobío kämpft die indigene Bevölkerung seit Jahren gegen den Bau des Staudammes Ralco durch den multinationalen Energiekonzern ENDESA, der für sie den Verlust ihrer Ländereien mit sich bringt. Ralcovist der Zweite von insgesamt sechs Dämmen, der Erste Pangue wurde bereits 1997 in Betrieb genommen. Hervorgetan haben sich in diesem Kampf vor allem die Schwestern Quintreman, die den Konflikt auch über die Grenzen Chiles hinaus bekannt machten (s. LN 319). Die weiteren Landbesetzungen richten sich vor allem gegen die großen Forstwirtschaftsunternehmen, die einen Großteil des Landes, das einst den Mapuche gehörte, besitzen und wirtschaftlich ausbeuten. Organisationen wie der Rat aller Länder (Consejo de Todas las Tierras) und die Koordination Arauco-Malleco fordern einen Rückzug dieser Firmen zu Gunsten der indigenen Bevölkerung (s. LN 325/26).
Die Polizei geht immer wieder scharf gegen die Besetzer vor. Zugleich kauft die Regierung Ländereien, um sie an die Mapuche abzugeben und somit auf ihre Forderungen einzugehen. Diese Strategie wird allerdings von links wie von rechts als unzureichend angesehen, da die Unterstützung sich in der Vergabe der Länder erschöpft: Oft fehlen sowohl Kenntnisse als auch Geräte, um das Land richtig zu bebauen. Zudem empfinden die Mapuche diese Maßnahmen als heuchlerisch und unzureichend, da sie kein Konzept der politischen und kulturellen Autonomie ihres Volkes beinhalten.

Subversive Einflüsse?

Nun haben konservative Unternehmer und die chilenischen Medien, angeführt von der Tageszeitung El Mercurio, die Entführung des brasilianischen Unternehmers Olivetto durch Angehörige der linken chilenischen Organisationen Movimiento de Izquierda Revolucionario (MIR) und Frente Patriótico Manuel Rodriguez (FPMR) zum Anlass genommen, die Regierung massiv zu kritisieren und den Konflikt auf eine neue Ebene zu bringen. So sollen laut Mercurio, der sich auf „akademische Quellen der Universidad de Chile“ bezieht, einige Mitglieder der FPMR bei „paramilitärischen“ Aktionen der Indígenas dabei gewesen sein. Zudem interessiere sich die Organisation für den Konflikt, um sich politisch neu zu organisieren. Am 10. März veröffentlichte der Mercurio gemeinsam mit einer Hand voll Unternehmer, die an Investitionen in den beiden südlichen Regionen beteiligt sind, eine Anzeige, in der beklagt wurde, dass sich „der Terrorismus in den ländlichen Teilen der Neunten Region verbreitet“.
Die Vorwürfe sind nicht neu: Das neoliberale chilenische Forschungsinstitut Libertad y Desarrollo („Freiheit und Entwicklung“) hat bereits im Juli 2001 einen 36 Seiten starken Essay herausgegeben, der die Verbindungen der Mapuche sowohl zu MIR und „Rodriguisten“ als auch zu den Zapatisten, der MST und den baskischen ETA-Kämpfern beweisen will. Gemeinsam sei all diesen Organisationen, die ablehnende Haltung dem Neoliberalismus gegenüber und der Wille, das bestehende Staatssystem zu zerstören.
Auf ideologischer Ebene wird auch von Seiten der Mapuche bisweilen der Vergleich mit dem autonomen Baskenland oder palästinensischen Befreiungskämpfern gezogen. Das macht sie jedoch nicht, wie Libertad y Desarrollo es darstellt, zu Handlangern ausländischer Organisationen. Die Selbstdarstellung der Mapuche-Organisation Coordinadora Arauco-Malleco, die in dem Essay immer wieder als Beispiel herangezogen wird, bestätigt dies: Sie distanziert sich von jeglicher Vereinnahmung durch linke Organisationen und Parteien und wirft ihnen Rassismus und Ethnozentrismus vor. Im Allgemeinen legen die Mapuche-Organisationen großen Wert darauf, dass ihr Kampf ein unabhängiger ist, der allein zur Wiedererlangung der Rechte ihres Volkes dient.

Ausländische Unterstützung

In einer vom Mercurio zitierten Broschüre kritisiert Libertad y Desarrollo unter anderem die Unterstützung der Mapuche durch ausländische Nichtregierungsorganisationen. Nach Meinung des Instituts rechtfertigen diese Gewalt als legitimes Mittel und missachten das Recht auf Eigentum, indem sie die Indígenas beim „Raub“ von Land unterstützen.
Neben zahlreichen Organisationen aus der ganzen Welt wird das Institut für Theologie und Politik in Münster genannt. Laut Olaf Kaltmeyer, einem Mitarbeiter dieses Institutes, basiert die Studie von Libertad y Desarrollo nicht auf solider Information. Die einzige Quelle für die Verbindung zwischen dem Institut für Theologie und Politik und Mapuche-Organisationen sei eine Internetseite gewesen, die über die Deutschland-Rundreise des Mapuche-Dirigenten und derzeitigen Bürgermeisters von Tirúa in der achten Region, Adolfo Millabur, informierte. Die konkreten Vorwürfe von Libertad y Desarrollo weist er zurück mit dem Hinweis, dass schon der Begriff des Rechtes auf Eigentum fragwürdig ist. Es handele sich um Eigentum, dass die Forstwirtschaftsunternehmen während der Zeit der Diktatur durch von Pinochet erlassene Gesetze erworben hatten. Diese Gesetzgebung hatte zum Ziel, das den Mapuche gehörende Land zu parzellieren und der Forstwirtschaft zugänglich zu machen.

Die Regierung im Zugzwang

Die chilenische Regierung mag sich den Vorwürfen des Terrorismus bis jetzt noch nicht anschließen. Präsident Lagos wies die Terrorismus-Anschuldigungen gegen die Mapuche als ungerechtfertigt zurück und Innenminister Insulza beschwerte sich über die verzerrte Darstellung des Konfliktes in den Medien. Sein Groll richtete sich vor allem gegen den Fernsehsender TVN, der behauptet habe, Insulza habe eine Verstärkung der Polizeikräfte in der Region gefordert. Dies habe er so nie gesagt, so der Minister, die Äußerung sei ohne Zusammenhang dargestellt worden. Außerdem waren in dem Bericht Bilder von kämpfenden Indígenas gezeigt worden, die schon Wochen alt waren und nicht die aktuelle Situation wiedergaben.
Von Seiten der Mapuche wird der Vorwurf des Terrorismus nicht nur zurückgewiesen, sondern auch zurückgegeben: Diejenigen, die die Mapuche seit Jahrhunderten unterdrücken und gewaltsam ihren Widerstand brechen wollen, seien Terroristen. Und für die Schwestern sind die Terroristen jene, die den Konflikt zwischen Mapuche, Wirtschaft und Staat in diesen Kontext stellen. Auf der Internet-Nachrichtenseite Mapuexpress.net findet man unter der Überschrift „Das ist Terrorismus!“ Bilder von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Mapuche und Polizei, von Verletzten im Krankenhaus und von schwer bewaffneten Uniformierten, die den Staudammbau am Alto Biobío verteidigen.

Regierung droht “mit harter Hand”

Die Kritik der Mapuche richtet sich nicht nur gegen die Meinungsmacher im Mercurio, sondern auch gegen die Regierung Lagos. Die Ankündigung des Präsidenten im Zusammenhang mit dem Ralco-Konflikt, in der Region den Rechtsstaat „mit harter Hand“ zu verteidigen, bezeichnen sie als offensichtliche Drohung gegen das Volk der Mapuche. Auch Innenminister Insulza bekam das zu spüren. Er wurde bei seiner Eröffnungsrede des Semesters an der Universität Valdivia von DemonstrantInnen unterbrochen, die ein Plakat mit der Aufschrift „No a Ralco“ trugen.
Ende März betonte Insulza auf einem Treffen mit Mitgliedern der Produktions- und Handelskonföderation, dass die Regierung keine von Mapuche besetzten Ländereien kaufen und hart gegen die Gewalttäter vorgehen werde. Auf dem Treffen versammelten sich genau die Unternehmer, die am 10. März die Anzeige im Mercurio veröffentlicht hatten.
Ihnen kommt die seit dem 11. September verbreitete Angst vor dem Terrorismus sehr zu Gute. Die Entführung Olivettis diente für sie als Beweis dafür, dass auch in Chile die Sicherheit in Gefahr sei. Die Mapuche, die auch zuvor schon häufiger als Terroristen bezeichnet wurden, geben die perfekte Zielscheibe für eine populistische Angstkampagne ab. Durch die so geschürten Ängste steigen Ablehnung und Rassismus, was die Bereitschaft zum Kampf auf Seiten der Mapuche erhöht. Und darin sehen die Unternehmen wiederum einen Grund, von der Regierung harte Reaktionen zu fordern. Diese ist zunehmend im Zugzwang, da die Angst die WählerInnen eher in die Arme derer treiben wird, die „Null Toleranz“ gegenüber den „Terroristen“ versprechen.

Die Beherrschten nutzen das herrschende Recht

Nach dem beachtlichen Medienerfolg der ZapatistInnen Anfang letzten Jahres war es still geworden um die vermummten FreiheitskämpferInnen aus dem südmexikanischen Urwald. Enttäuschung und Frustration hatten sich in der mexikanischen Gesellschaft breit gemacht.
Zur Erinnerung: Im Februar und März letzen Jahres waren die ZapatistInnen zusammen mit den am Nationalen Indígena-Kongress teilnehmenden Organisationen nach Mexiko-Stadt marschiert, um ein Gesetz zur indigenen Autonomie und Kultur durchzusetzen. Die Verabschiedung eines Gesetzes auf der Basis der Verhandlungsergebnisse zwischen Regierung und EZLN in San Andrés 1996 stellte eine Forderung der Zapatisten für die Rückkehr zum Friedensdialog mit der neuen Regierung dar. Am 28. März 2001 sprachen die ZapatistInnen vor dem nationalen Kongress. Der Präsident Vicente Fox war nicht zugegen, sondern unterwegs in den USA.
Was jedoch schließlich als Gesetz zur indigenen Autonomie und Kultur verabschiedet wurde, war eine herbe Entäuschung und führte zur Aufkündigung der Dialogbereitschaft der EZLN. Der Passus zur regionalen Selbstverwaltung und gemeinschaftlichen Nutzung der natürlichen Ressourcen war ersatzlos gestrichen worden. In dem Gesetzestext wurden die indigenen Völker nicht als Subjekte öffentlichen Rechts, sondern als Subjekte öffentlichen Interesses verankert – um die sich ein paternalistischer Staat zu kümmern habe.

Revision des Gesetzestextes?

Damit jedoch das Gesetz in Kraft treten konnte, musste es die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten passieren. Und nun ist das passiert, was noch nie in der mexikanischen Verfassungsgeschichte geschehen ist. Zehn Parlamente haben gegen das Gesetz gestimmt. Zudem sprechen sich immer mehr Abgeordnete des Bundeskongresses gegen das Gesetz aus, das sie selbst vor einem Jahr noch verabschiedet haben. 168 Abgeordnete haben sich für eine Revision des Gesetzes ausgesprochen. Ende Februar reichten mehr als 150 VertreterInnen indigener und sozialer Organisationen beim Obersten Gerichtshof ein Gesuch zur Überarbeitung des Gesetzestext ein. In öffentlichen Anhörungen legten die AnwältInnen der Indígenas Beweise für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes dar. In der Öffentlichkeit wird dem Thema der indigenen Autonomie nun wieder mehr Interesse entgegengebracht. Nur die ZapatistInnen halten sich mit Stellungnahmen zurück. Seit ihrem Kommunikee in Reaktion auf die Verabschiedung des Gesetztes, das sie als „verfassungsmäßige Anerkennung der Rechte und Kultur von Grossgrundbesitzern und Rassisten“ darstellten, haben sich die ZapatistInnen und ihr „Sub“ Marcos zu diesem Thema nicht mehr in die mediale Öffentlichkeit begeben.

Alte Positionen neu formuliert

Die politische Debatte dreht sich im Kreis. Alte Argumente zu der Frage, wer den ersten Schritt zur Wiederaufnahme des Dialogs machen solle, werden wieder neu aufgelegt. Xóchitl Gálvez, Leiterin des Büros für indigene Angelegenheiten, spricht von der Möglichkeit, sich der historischen Schuld an den Indígenas anzunehmen, und betont, dass die Initiative vom Kongress ausgehen müsse, da das verabschiedete Gesetz eine Verballhornung der Forderungen der Indígenas darstelle. Der Regierungsbeauftragte für den Frieden in Chiapas Luis H. Álvarez sieht die Verantwortung für die Aufnahme des Dialogs dagegen bei den ZapatistInnen. Sie hätten sich aus dem Dialog zurückgezogen. Álvarez forderte deshalb von den ZapatistInnen zuerst Eindeutigkeit in ihren Botschaften. Generell signalisierte er zudem Dialogbereitschaft seitens der Regierung.
Manuel Bartlett, Präsident der Verfassungskommission des Senats und rechter Hardliner, bezeichnete eine neue Gesetzesinitiative als absurd. „Sollen wir etwa in ein paar Monaten für etwas stimmen, gegen das wir uns damals ausgesprochen haben?“ Er erinnerte daran, dass die BefürworterInnen eines neuen Gesetzes über keine Mehrheit im Kongress verfügen. In der Tat sind 168 Abgeordnete noch keine Mehrheit. Aber der Gouverneur von Chiapas Pablo Salazar bezeichnet die bröckelnde Front der GesetztesbefürworterInnen als einen Beweis dafür, dass das Gesetz die Erwartungen, die es erfüllen sollte, enttäusche.
Die Koalition der Autonomen Organisationen aus Chiapas (Coaech) verweist auf den viel beschworenen Geist des Abkommens von San Andrés aus dem Jahr 1996 und ließ verlauten: „Die indigenen Völker warten weiter auf eine Antwort hinsichtlich der Forderungen, die von den Zapatisten vor dem Kongress gestellt wurden. Denn die verabschiedete Reform hat unsere Forderungen nicht erfüllt.“

Ein Erfolg in der Niederlage

Noch nie wurden in Mexiko rechtliche Schritte auf nationaler Ebene eingeleitet, um das Missfallen gegenüber einer Verfassungsreform auszudrücken. Bei der Änderung des Artikels 27, der den Landbesitz regelt, wurden Anfang der neunziger Jahre zwar Demonstrationen und Mahnwachen gegen die Aufhebung der Unverkäuflichkeit von Kommunalland organisiert, aber keine rechtlichen Schritte eingeleitet. Die indigenen Völker zeigen heute, dass das Recht benutzt werden kann, um in den Gesetzgebungsprozess einzugreifen, ein Mechanismus, den die ZapatistInnen zu etablieren versuchen.

Teilen und Herrschen in Chiapas

Seit Beginn des Aufstandes der Nationalen Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) vor acht Jahren leben die zapatistischen Gemeinden im erklärten Widerstand gegen den Staat. In den zahlreichen selbstverwalteten Landkreisen wollen sie beweisen, dass absolute Unabhängigkeit möglich ist. In der Praxis heißt das: Alles, was von der Regierung oder den Oppositionsparteien finanziert wird, ist für die Zapatisten tabu. Egal ob Schulen, Krankenhäuser oder subventionierte Lebensmittel – Selbstverwaltung bedeutet radikale Eigenversorgung.
Die 46-jährige, hochschwangere Rosa muss deshalb mit ihren Töchtern einen einstündigen Fußmarsch in das Nachbardorf zurücklegen, um einen unabhängigen Arzt aufzusuchen. Außerdem bezahlt sie umgerechnet 13 Euro für Arzneien – den Gegenwert von drei Tageslöhnen oder einem Zentner Mais in dieser Region. In der staatlichen Gesundheitsstation, nur 100 Meter von ihrem Haus entfernt, bekäme sie Behandlung und Medikamente kostenlos. „Aber nur, nachdem sie unsere Namen aufgeschrieben haben“, erklärt Rosa ohne eine Spur von Bedauern. „Und das kommt für uns nicht in Frage.“ Ebensowenig wie der Einkauf in einem der drei Geschäfte im Dorf, die günstige, von der Regierung subventionierte Produkte anbieten. Denn damit würde sie sich auf die Seite der „rajones“ begeben: So heißen die Deserteure, die die Zapatisten meist in der Hoffnung auf materielle Vorteile verlassen.

Interne Konflikte

So bildet sich eine unsichtbare aber allgegenwärtige Grenze in den Dörfern, die zwischen der Minderheit der Zapatisten und der Mehrheit regierungstreuer oder parteigebunderner Gruppen verläuft.
Genaue Zahlen, wie viele Anhänger die Rebellen in den vergangenen Jahren verloren haben, gibt es nicht. Fest steht aber: Die Strategie der mexikanischen Regierung, die aufständischen Indígenas durch Geldgeschenke und die Verbesserung staatlicher Schulen und Krankenhäuser zu ködern und damit zu spalten, scheint aufzugehen. Beispielsweise bietet die Regierung allen Bauern Subventionen zum Kauf von Saatgut an – vorausgesetzt, sie können eigenen Landbesitz nachweisen. Einige Überläufer versuchen deshalb, sich ihren Teil von dem gemeinschaftlich genutzten Land zu sichern, das sie vor Jahren mit Hilfe der Zapatisten reichen Großgrundbesitzern abgenommen hatten. In den autonomen Gebieten aber gilt eine klare Regel: Wer die Bewegung verlässt, verliert auch sein Land.
Über diese internen Konflikte berichten vor allem internationale Beobachter, die seit Jahren in Chiapas leben. Die Einheimischen selbst reden kaum oder nur äußerst ungern darüber. „Es ist wahr, viele sind müde geworden“, sagt Rosa zögernd. „Vielleicht, weil der Widerstand viel Arbeit kostet.“ Und was bedeutet das für das Zusammenleben im Dorf und in den Familien? „Es gibt keine Probleme“, versichert sie. „Man redet miteinander.“
Mit diesen Worten beschleunigt sie ihre Schritte, um rechtzeitig zur Mittagszeit wieder zu Hause zu sein und die traditionelle Posole, eine Art kalte Maissuppe zuzubereiten. Seit zwei Monaten sitzen vier zusätzliche Esser an dem großen Holztisch in ihrer Küche. Zwei Männer und zwei Lehrlinge, die versuchen, für die autonome Gemeinde ein Tischlerei-Kollektiv auf die Beine zu stellen. Sie arbeiten täglich zehn Stunden in einem stickigen, kleinen Schuppen – mit minimalem Fachwissen, stumpfen Werkzeugen und der Hoffnung, in einigen Monaten alle zapatistischen Familien in ihrem Landkreis mit Möbeln aus dem Kollektiv zu versorgen.

Ist der Ofen aus?

Für Rosa und ihre Töchter heißt das vor allem, mehr Tortillas zu backen als vorher. Denn GenossInnen, die für die Bewegung arbeiten und dabei kein Feld bestellen können, werden von der Gemeinschaft versorgt. Das gilt für die Guerilla-Soldaten ebenso wie für Handwerker oder Lehrer.
An diesem Nachmittag backt die 20-jährige Carmen die Tortillas, während ihre zehnjährige Schwester sich mit der Maismühle abmüht und Rosa die Bohnen zubereitet. Bis vor kurzem arbeitete Carmen in dem Bäckerei-Kollektiv der Zapatista-Frauen. In einem großen, traditionellen Lehmofen stellten sie süße Brötchen für den Verkauf im Dorf her. „Es macht Freude, im Kollektiv zu arbeiten“, sagt sie in einem Ton, der klingt wie aus einem kommunistischem Schulbuch gelernt. Trotz ihrer Freude war Ende letzten Jahres der Ofen aus. Aus welchem Grund? „Ich weiß nicht. Einige Frauen wurden krank, konnten die Hitze nicht mehr ertragen oder wurden einfach nur die Arbeit leid.“ Bis auf eine Frau aus dem Kollektiv, die einen eigenen Backofen in ihrem Hof bauen ließ und nun Brötchen aus dem Familienbetrieb auf eigene Rechnung verkauft.
Doch Carmen und Rosa klagen nicht – weder über gescheiterte Arbeitskollektive, die wachsende Zahl von fremden Essern an ihrem Tisch noch über die dürftige Schulbildung, die die Kleinen in der Familie genießen.

Mit leeren Händen

Zwar wurden im vergangenen Jahr überall in ihrem Landkreis autonome Schulen gebaut, oft in Form primitiver Holzhütten, die in starkem Kontrast zu den vergleichsweise großzügigen Steinhäusern der staatlichen Schulen stehen. Doch die jugendlichen Lehrer – die meisten sind zwischen 14 und 17 Jahre alt – stehen mit großen Idealen und leeren Händen vor ihren Schülern. Es gibt weder Lehrbücher noch Papier und Bleistifte für die Kinder. Die Lehrerausbildung besteht aus einer einmonatigen Schulung und der Arbeitslohn aus Bohnen und Tortillas am Tisch einer Compañera. An der Tafel der Schule, die Rosas Jüngste besuchen, sind Artikel aus der UNICEF-Deklaration über die „Rechte der Kinder“ in Spanisch aufgelistet, obwohl die Kleinen weder lesen können, noch Spanisch sprechen. Die Frage, was Thema des Unterrichts sei, beantworten die blutjungen Lehrer eher vage: „Wir sprechen über die universellen Rechte der Kinder, das Leben Zapatas und die Revolution in Chiapas.“

Hoffnung EZLN

An der Bildungsfrage war vor dem Bau der autonomen Schule der Widerstand vieler ehemaliger Zapatista-Mütter zerbrochen. „Was sollte ich tun?“, sagt eine der Überläuferinnen resigniert. „Meine Kinder hatten drei Jahre lang keinen Unterricht erhalten. Ich muss doch an ihre Zukunft denken.“ Wie die meisten Dorfbewohner weiß sie aber auch, dass sie den Eifer der Regierung, für eine bessere Infrastruktur zu sorgen, einzig den Zapatisten zu verdanken hat. „Eigentlich können wir nur hoffen, dass die EZLN durchhält“, kommentiert ihr Ehemann. Denn sobald die mexikanische Regierung die Bewegung als „erledigt“ ansehe, würden die Hilfsprogramme versiegen – darin sind sich die meisten Menschen in diesem Dorf einig. Diesseits und jenseits der unsichtbaren Grenze.

Eine neue Art von Kampf

Wie entstand die Idee zum Projekt und welche Ziele verbanden sich damit?

Das Medienprojekt Chiapas ist eine US-amerikanisch-mexikanische Organisation, die 1998 anfing zu arbeiten. Die Idee entstand bereits 1995. Einer Compañera, die mit einer Hilfskarawane durch Chiapas zu den indigenen Gemeinden reiste und einen Dokumentarfilm darüber drehte, fiel auf, dass die Leute in den Dörfern sehr interessiert an der Videoausrüstung waren, viele Fragen zu Preis und Technik stellten und ob es schwer sei, die Kamera bedienen zu lernen. Angesichts des großen Interesses in den Gemeinden lag die Idee nahe, die Kameras den Indigenas zur Verfügung zu stellen. Das Ziel ist, den Prozess der Kommunikation durch die Aneignung neuer Medien, der Videotechnologie und der Informatik, zu fördern und damit die Stimme der indigenen Gemeinden in Süd-Mexiko zu Gehör zu bringen.

Also war es die Idee der Menschen in den Gemeinden?

Das Interesse war da, aber die Idee, ein Projekt zu entwickeln, das Ausbildung und Kameras bereitstellt, kam von außen. Im Projekt werden die indigenen Videomacher in der Bedienung der Video- als auch der Schnitttechnik eingeführt. Es wurden bereits mehr als 120 Personen ausgebildet, die aus gut 30 Gemeinden stammen. Und es gibt einen Kern von ungefär 20 aktiven, ausgebildeten Videomachern, die eine konstante Arbeit leisten.

Und worin besteht deine Arbeit?

Ich bin Projekt-Koordinator für Chiapas. Als Ausbilder arbeite ich im Moment kaum noch. Diese Arbeit übernehmen die 20 Indígenas, die den Kern der Gruppe bilden und von Anfang an, seit nunmehr über drei Jahren, mit der Videotechnik arbeiten. Sie sind bereits sehr fortgeschritten, machen Digital-Schnitt und realisieren ihre eigenen Projekte, um sie ins Netz zu stellen.

Und welche Gemeinden erhalten Kameras?

Wir arbeiten in den Aguacalientes. Es sind fünf Videogruppen entstanden, eine für jedes Agua-calientes, also der Struktur folgend, die sie selbst in den autonomen Regionen entwickelt haben. Die Aguacalientes sind das Zentrum des zapatistischen Widerstandes, der politischen Arbeit. Ihr Name spielt auf die historische Versammlung in Aguacalientes an, einer Stadt im Zentrum Mexikos, wo 1914 Zapata, Carranza und andere über die Zukunft Mexikos und die Verankerung der Forderungen der mexikanischen Revolution in der Verfassung diskutierten. Das Gebiet des zapatistischen Einflusses ist aufgeteilt in Gemeinden, die in Bezirken, den Aguacalientes, zusammengefasst sind. Diese Bezirke haben ein Zentrum, einen Versammlungsplatz, wo die Gemeinden, mit der EZLN in Kontakt treten kann.

Warum arbeitet ihr hauptsächlich in den Aguacalientes?

Wir arbeiten solidarisch mit dem Prozess der Autonomie der indigenen Gemeinden. Ich bin auch Indígena, ich bin Nahua, aus dem Zentrum des Landes. Also kenne ich den indigenen Prozess gut und erkenne die Wichtigkeit, die Notwendigkeit einer politischen Struktur im Land, die die Bedürfnisse der Vielfalt der Bevölkerung repräsentiert, und deshalb unterstütze ich das Projekt der indigenen Autonomie.

Sind alle Gemeinden, mit denen ihr arbeitet, autonom?

Ja. Das heißt, wir arbeiten zwar auch mit Gemeinden, die nicht autonom sind, aber auf einer anderen Ebene. Mit den autonomen Gemeinden haben wir eine direkte und stetige Abmachung zur Zusammenarbeit, während wir mit einigen anderen Gemeinden, die am Projekt interessiert sind, in sehr spezifischen, sehr konkreten Dingen zusammenarbeiten. Zum Beispiel mit der Gemeinde Nicolas Ruiz, eine Gemeinde im Widerstand, die aber nicht zapatistisch ist, sondern PRDistisch. Sie verfolgen dieselben Ziele wie die Zapatisten: Demokratie, Gerechtigkeit und die Anerkennung der indigenen Rechte. Wir arbeiten mit ihnen zusammen, aber nicht als Teil einer weitereichenden politischen Makrostruktur, sondern als spezifische, begrenzte Zusammenarbeit wie zum Beispiel in der Video-Ausbildung der Menschenrechtsverteidiger in den Gemeinden.

Worin besteht diese Zusammenarbeit?

Vor drei Jahren begannen wir mit einigen Leuten zusammenzuarbeiten, die ein Netzwerk der Verteidiger der Menschenrechte in den Gemeinden initiierten und Menschenrechtler ausbildeteten, die aus den Gemeinden selbst kamen. Im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen und Einschüchterungstaktiken ist der Zugang zu legalen Verteidigungsmitteln der Schlüssel zu einem wirksamen Widerstand. Um in einer unmittelbaren Form erste Hilfe in Sachen Menschenrechte leis-ten zu können, war die Aneignung der Videotechnik unerlässlich. Wir unterstützen also die Video-Ausbildung dieser Leute, damit sie Menschenrechtsverletzungen dokumentieren können.

Was lernt man während einer solchen Ausbildung?

Die Einführungsschulung beinhaltet den Grundgebrauch der Kamera, Interviewtechniken, Dokumentation von Beweisen und Aufnahme unter schweren Bedingungen. In der Gemeinde Nicolas Ruiz, in der seit Juni 1998 die Polizeitruppen stationiert sind, hat kürzlich einer der Videoaktivisten einen Übergriff auf die Gemeinde durch die Polizei dokumentiert. Einige Leute wurden verletzt. Die Verwundeten wurden interviewt und ihre Wunden als Beweis auf Video aufgezeichnet. Diese Videoband war kürzlich als Beweismittel vor Gericht in Tuxtla Guttierez und klagte die Präsenz der Polizei in dieser Gemeinde an.

Die Videoaufnahmen dienen als Beweismittel für Menschenrechtsverletzungen. Ist das das hauptsächliche Ziel des Chiapas-Medienprojekts?

Nein, nur im spezifischen Fall des Netzwerks, dort dienen die Aufnahmen als Beweismittel. Die Dokumentationen werden verwendet bei der UNO, beim Internationalen Gerichtshof und anderen nationalen und internationalen Foren. Das Medienprojekt Chiapas selbst widmet sich der Ausbildung der Videomacher im Allgemeinen. Auch sie haben Fälle von Menschenrechtsverletzungen aufgezeichnet, die als Beweismittel in Fällen von Gewalt des Militärs gegenüber den Gemeinden oder gegenüber Einzelpersonen genutzt wurden. Aber wir glauben, dass unsere Arbeit darüber hinausgeht, dass die Kommunikationsmedien eine vielfältige Funktion haben. Sie dienen nicht nur zur Anzeige und Denunzierung, sondern auch vielen anderen, konstruktiveren Aspekten. Wir sagen nicht, zeichnet die Menschenrechtsverletzungen auf, und fertig, zeichnet eure Feste auf, und fertig.

Die Leute entscheiden also selbst, was sie filmen wollen?

Ja, wir stellen nur die Technik zur Verfügung und führen die Ausbildung durch, aber sie sind diejenigen, die wissen, wofür sie diese Kenntnisse benutzen. Anfangs wollten sie sie hauptsächlich für die Anzeige der Menschenrechtsverletzungen nutzen, doch mit der Zeit wurde ihnen bewusst, dass dieses Werkzeug für viele Dinge dienen kann. Ein Compañero, den wir ausgebildet haben, sagte uns in einem Interview, was er über Video denkt: „Ich denke, die Videokamera ist wie eine neue Machete. Ein Werkzeug, mit dem ich arbeiten gehen kann, mit dem ich anbauen kann, dass ich in schweren Zeiten und in Zeiten der Freude nutzen kann. Ich kann es nutzen, um mich zu verteidigen, aber auch, um zu feiern.

Wie reagiert das Militär auf die Videokameras? Sind die Kameras Schutz oder Gefahr für die Gemeinde?

Manchmal waren wir sehr besorgt deswegen. Schließlich stellt die Armee seit dem zapatistischen Aufstand 1994 einen Faktor dar, der die indigene Bevölkerung demobilisieren soll. Die Regierung hat durch das Militär einen Krieg der niederen Intensität erklärt. Die Gemeinden sind einer passiven Aggression ausgesetzt, durch eine Präsenz, die sich manifestiert in Helikopterflügen über den Dörfern, in ständigen Patrouillen und der Präsenz von Militärlagern. In der gesamten Region gibt es circa 250 Stützpunkte, das ist eine unglaublich hohe Zahl. Der Konflikt mit den Militärs ist, dass sie eine Bedrohung darstellen, die hauptsächlich auf moralischer und psychologischer Ebene das Leben der Gemeinde erschwert. Außerdem werden die Militärs von den Paramilitärs unterstützt, Zivilpersonen, die gegen die soziale Bewegung sind und vom Militär ausgebildet und mit Waffen ausgestattet werden. Es heißt, wir haben eine Militarisierung in Chiapas, weil es eine Guerilla gibt. Aber wir haben auch in anderen Staaten, wo es keine Guerilla gibt, eine Militarisierung. Aber die Menschen in unserem Projekt haben gelernt, die Gefahren abzuschätzen, sie haben die Fähigkeit entwickelt, zu entscheiden, in welcher Situation der Einsatz der Kamera den Konflikt verschlimmern könnte, und dann unterlassen sie es eben. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass der Einsatz der Kameras positive Folgen hat. In einem Fall drang das Militär in eine Gemeinde ein, um einen Militärstützpunkt zu installieren. Die Gemeinde zwang die Soldaten sich zurückzuziehen, indem sie sie, bewaffnet mit Stöcken, verfolgte. Auf dem Rückzug warfen die Soldaten mit Steinen, man kann auf dem Video sehen, dass es Steine von ungeheuerer Größe waren, und einer dieser Steine verletzte ein Kind und es wurde blind auf einem Auge. Mit Hilfe des Videos gelang es, den Fall vor Gericht zu gewinnen.

Wovon handeln die Videos, abgesehen davon, dass sie Militäraktionen aufzeichnen, was ja nur eines von vielen Themen ist, wie du vorhin angedeutet hast?

In allen Filmen geht es darum, was das indigene Leben ausmacht und um die Perspektive des Autonomieprozesses. Die Filme sprechen von der Unterdrückung und dem Vergessen, auch wenn es um eine Bäckerei geht oder um einen kollektiven Gemüsegarten. In allen Filmen tauchen dieselben Elemente auf, die mit der Entwicklung von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung im autonomen Modell zu tun haben.Und alle sind aus einer internen Perspektive gesehen, aus den Gemeinden, und zeigen wie sie denken, wie sie leben. Um einige zu erwähnen, es gibt ein Video über die Kooperative Mut Vitz, die Kaffee für den Export produziert, eines handelt von den traditionellen Heilern, die die alten Maya-Rituale fortführen, ein anderes Video erzählt vom Widerstand der Dörfer. Ein Film zeigt die Ereignisse von San Andres, wo 1995 Polizeieinheiten den zapatistischen Bürgermeister stürzten und das Rathaus besetzten, woraufhin am nächsten Tag 3000 Bauern den Bezirk San Andres friedlich zurückbesetzten.

Sind die Videos öffentlich zugänglich?

Es gibt zum einen jene Videos für die Gemeinden, die der Information dienen, von Versammlungen, organisatorischen Fragen und so weiter. Sie werden in ihrer Sprache produziert und niemand außer ihnen sieht sie. Dann gibt es Videos zum Beispiel über die Feste, die für ein allgemeineres Publikum sind und in größerem Umfang publiziert werden. Und es gibt Produktionen, die speziell für die nationale und internationale Öffentlichkeit bestimmt sind. Es gibt also eine Fülle von Produktionen. Bisher sind es 12 Filme.

Existiert das Projekt nur für Chiapas oder arbeitet ihr auch in anderen Bundesstaaten?

Wir arbeiten auch in Guerrero. Dort finden viele Menschenrechtsverletzungen statt, aber ihnen kommt keine Aufmerksamkeit zu, es gibt kaum Informationen über die Zustände in Guerrero im Gegensatz zu Chiapas. Guerrero befindet sich wahrscheinlich in einer schlimmeren Situation als Chiapas im Bezug auf Isolation. Deshalb empfanden wir es als notwendig, die Erfahrung unseres Projekts auf Guerrero auszudehnen. Wir sprachen mit den Menschen dort, sie waren sehr interessiert. Unter den Ersten, mit denen wir in Kontakt kamen, waren die Campesinos Ecologistas. Das Video „die Wälder retten” erzählt vom Fall Teodoro Cabrera und Rodolfo Montiel , zwei Bauern von dieser ökologischen Organisation. Die Mitglieder der Organización de Campesinos Ecologistas erzählen von ihrem Kampf gegen die Abholzung der Wälder durch die transnationale Boise Cascade Corporation und von der Kampagne der mexikanischen Regierung, ihre Organisation durch die Verhaftung und Folter ihrer Gründer Cabrera und Montiel zu zerstören. Die Boise Cascade Corporation verursachen im Zusammenspiel mit der Korruption im Staat Guerrero die Abholzung und Zerstörung des Waldes innerhalb einer riesigen Zone. Eine Gruppe von Bauern stellt sich dem entgegen, weil es ihr Lebensraum ist, der da zerstört wird. Jetzt ist dieser Fall sehr bekannt, weil sie einen sehr bedeutenden internationalen Umweltschutzpreis erhalten haben, aber auch durch die Ermordung ihrer Strafverteidigerin, der Anwältin Digna Ochoa im vorigen Oktober

Kasten:
Zur Person: Paco Vasquez ist der Koordinator des Chiapas-Medienprojekts. Er ist ausgebildeter Fotograf, der nach seinem Studium in Mexiko-Stadt in der Welt der Mode und Fotomodelle arbeitete, während er sich parallel in einer Nichtregierungsorganisation für die Anerkennung indigener Rechte einsetzte. 1998 kam er nach Chiapas und baute das Chiapas-Medienprojekt mit auf. Im Interview für LN erzählt er von der Arbeit des Projektes in den zapatistischen Gemeinden, vom Konflikt mit dem Militär und den Mitteln zur Verteidigung gegen die Agressionen und Menschenrechtsverletzungen.

Leben in Chiapas aus der Innenperspektive

“Einige Indígena-Stämme glauben, dass ihr Auftauchen auf einer Fotografie sie in Gefahr bringt, ihre Seele zu verlieren. Man muss damit rechnen, verbal und körperlich angegriffen zu werden, wenn man ohne Genehmigung fotografiert.“ Reiseführer warnen den touristischen Besucher der Dörfer im Hochland von Chiapas davor, Fotos von der einheimischen Bevölkerung und deren heiligen Stätten und Ritualen zu machen.
Der Erfolg eines Fotoprojekts indem Indigenas selbst zur Kamera greifen und ihre Lebenswelt dokumentieren zeigt, dass diese Vorstellung ein Klischee ist und nicht für alle Indígenas gilt.
Bereits Hunderte von Jahren vor der Ankunft der spanischen Eroberer haben die Maya ihre Geschichte in einer komplizierten Hieroglyphenschrift auf Pergament geschrieben und in Stein gemeisselt. Diese Chroniken erzählten jedoch nur vom Leben der Herrschenden. Dann verbrannten die Spanier ihre Bücher, zerschlugen ihre Stelen und machten es sich zur Aufgabe, die Geschichte der Mayas nach ihrem eigenen Gutdünken und ihren Vorurteilen aufzuschreiben. Bis heute sind Forscher und Schriftsteller, Anthropologen und Fotografen von der indigenen Kultur der Nachfahren der Maya fasziniert, und meterlange Regale füllen die Bibliotheken aller Welt mit ihren Veröffentlichungen. Das Bild der Indígenas, wie es die westliche Welt kennt, ist geformt durch die Sichtweise Außenstehender, die von ihrem kulturellen Hintergrund aus diese fremde Kultur beschrieben und beurteilten. Auch in der Geschichte der Fotografie sind die Indígenas immer die passiven Modelle der Fotokamera gewesen.
„Sie haben Studien über unsere Kultur geschrieben. Wahrscheinlich sind sie gut. Aber wie können wir es wissen? Sie sind in ausländischen Sprachen geschrieben und in fernen Ländern veröffentlicht.“ Dies erklärten 1982 die indigenen Schauspieler und Schriftsteller des Kulturvereins Sna Jtz’ibajom vor dort versammelten Gelehrten. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Kulturen zu bewahren und zu verbreiten, indem sie Literatur in ihrer jeweiligen Muttersprache, Tzotzil und Tzeltal, verfassen und Theaterstücke traditioneller Sagen und Geschichten aufführen.
1992 kam Carlota Duarte mit dem Vorschlag indigenes Leben in Fotografien festzuhalten. Sie hatte das Fotoprojekt als ein Lehrprogramm für die indigene Bevölkerung ins Leben gerufen. Die Idee war und ist, den Indígenas Zugang zu fotografischen Werkzeugen und Materialien zu verschaffen und sie zum Gebrauch der Fotografie für ihre eigenen Ziele anzuregen, ohne konzeptionell und ästhetisch in die Bildgestaltung einzugreifen. Sie wählen ihre eigenen Themen und setzen sie in ihrer spezifischen Art zu sehen um. Von Anfang an hatte Duarte auch ein persönliches künstlerisches Interesse zu sehen, welche Art von Bildern jene erschaffen würden, die nicht vertraut sind mit der Geschichte der Fotografie und deren Kultur weit weniger von Fotos beeinflusst ist als die unsrige. Zusammen mit einigen Interessierten richtete sie eine Dunkelkammer ein und brachte ihnen die Grundtechniken der Fotografie bei. Sie betont, dass die Ausbildung und Unterstützung, die sie anbietet, rein technischer Natur sei und dass die FotografInnen ihre eigenen Ideen und Bildsprache umsetzen und gerade diese andere Art die Dinge wahrzunehmen uns bereichern kann. Ihr Ziel ist ein emanzipativer Prozess. „Die Indígenas sollen sich gegenüber der Welt selbst repräsentieren“, sagt Maruch Santiz Gomez, Tzotzil-Schriftstellerin und Fotografin des Archivo Fotografico Indígena, „damit nicht diese anderen Indígenas in Mexiko und in anderen Ländern bekannt werden. Auf diese Weise bewahren und dokumentieren wir unsere traditionellen Kulturen und verbreiten sie, damit zukünftige Generationen sich erinnern und lernen können.“
Während ihre Maya-Urahnen nur die Geschichte der Herrschenden für die Nachwelt festhielten, dient die Fotokamera nun der Darstellung des Lebens der einfachen Menschen. Trotz der Übereinstimmung in der Motivwahl könnten diese Fotos nicht unterschiedlicher sein. Die aus einer Innenperspektive gemachten Aufnahmen der Indígenas suchen nicht einfach nach «typischen» Ereignissen. Gabriela Vargas Cetina vom Forschungszentrum für Studien der sozialen Anthropologie von Mexico (CIESAS) sagt: „Die indigenen Fotografen machen Fotos, die von niemand anderem gemacht werden können. Sie haben einen Zugang zu diesen Dingen, der sich sowohl inhaltlich als auch vom Blickpunkt von dem des Fremden unterscheidet. Sie sind keine Fremden in ihrem eigenen Leben.“
Die Region ist bekannt für ihre Geschichte des indigenen Unabhängigkeitskampfes und das politische Klima ist weiterhin gespannt. Die Bilder aus Chiapas, die um die Welt gingen und gehen, legen einen einseitigen Fokus auf die ZapatistInnen. Sie zeigen Männer, Frauen und Kinder mit über den Kopf gezogenen schwarzen Strumpfmasken, bewaffnete Guerrilleros in den Wäldern des chiapanekischen Hochlandes, von militärischen Stützpunkten abgeriegelte Dörfer und die provisorischen Behausungen aus Plastikplanen der Vertriebenen.
Die Bilder der Foto-Kooperative hingegen zeichnen nicht den bewaffneten Kampf der Indígenas nach. Sie greifen andere als nur die zapatistische Perspektive auf und erweitern damit unser Bild von Chiapas. Angesichts dessen, dass Militarisierung und Gewalt eine Konstante in Chiapas sind, zeigen die Indígenas uns die angenehme Seite ihres Lebens. Denn trotz der Konflikte in Chiapas und der Angst vor Gewalt haben diese Menschen weiterhin Fotos gemacht; selbst nach Belästigungen und Anfeindungen seitens der Polizei. Die Beamten hatten sie gefragt, woher sie die Kameras hätten und wollten nicht glauben, dass es ihre eigenen waren.
Im Archivo Fotográfico Indígena arbeiten heute fest angestellt sechs indigene FotografInnen, drei Frauen und drei Männer mit Carlota Duarte zusammen. Das Fotoarchiv bildet die FotografInnen aus und regt sie zur Förderung ihrer künstlerischen Arbeit an. Außerdem dient es der Archivierung der Arbeiten und der ethnografischen Dokumentation und enthält mittlerweile 75.000 Negative. Mehr als 200 FotografInnen verschiedener Ethnien stellen ihre Fotografien dem Archiv zur Verfügung. Duarte hofft, dass bald zu den von Indígenas realisierten fotografischen Arbeiten auch solche von Forschern und Bildjournalisten, die in der Region gearbeitet haben, hinzukommen: „Wir glauben, dass es wichtig ist diese Bilder in Chiapas aufzubewahren. Für den Gebrauch der Indígenas, für aktuelle und zukünftige Forschungen über die Region und für den Gebrauch der Öffentlichkeit im Allgemeinen.“
Die FotografInnen des Archivo Fotográfico Indígena haben mittlerweile die Aufmerksamkeit der mexikanischen und internationalen Öffentlichkeit gewonnen. Die Fotos der Kooperative sind bereits von Mexiko-Stadt bis Reykjavik ausgestellt worden, von New York bis Johannesburg, wo sie zum Beispiel auf der Biennale mit dem Titel „Decolonizing our minds“ präsentiert wurden.
Eines ihrer kurzfristigen Ziele ist es, dass jedeR der sechs FotografInnen eines seiner Projekte als Buch realisiert. Im August diesen Jahres ist bereits das vierte Buch erschienen: Mi hermanita Cristina (Meine kleine Schwester Cristina) von Xunka’ López Díaz. Dieses sowie ein weiteres, Creencias de nuestros antepasados (Lebensweisheiten unserer Vorfahren) von Maruch Sántiz Gómez werden hier vorgestellt.

Der Kürbis auf der Türschwelle holt den Hund heim

Maruch Santiz Gomez lebt in einem abgeschiedenen Dorf in Chiapas, in San Juan Chamula, und war Schäferin bevor sie sich als Mitglied von Sna Jtz’ibajom zuerst der Literatur und später der Fotografie zuwandte.
Als Carlota Duarte ihr 1993 eine Kamera in die Hand gab, um ihre Welt zu fotografieren hatte sie sich zuerst gegen die Skepsis ihrer Umwelt durchzusetzen. Es wurde als unpassend angesehen, dass eine Frau ihren künstlerischen Ambitionen nachgehen wollte.
Sie blieb jedoch dabei und gehörte zu den ersten Frauen, mit denen Duarte 1992 die Arbeit im Archiv aufnahm. Statt einer Schulung über konzeptionelle und ästhetische Möglichkeiten der Fotografie, bekam sie eine Einführung in den technischen Gebrauch des Instruments. Das Ergebnis war ihre eigene kreative Aneignung des Mediums. Sie beschloss, die traditionellen Weisheiten ihres Volkes aufzunehmen und ihnen somit eine neue Form zu geben. Insgesamt enthält ihr 1998 veröffentlichtes Buch Creencias 48 dieser Weisheiten.
„Ich schrieb die Creencias und ihre Bedeutungen auf, damit sie nicht aus der Chamula-Kultur und -Tradition verschwinden. Um die Bedeutungen herauszufinden, arbeitete ich mit den Dorfältesten zusammen, um unsere uralte Kultur und unsere Sprache zu bewahren und zu verbreiten. Im Moment besinnen wir uns auf dieses alte Wissen nicht allzu sehr. Deshalb habe ich es aufgeschrieben, sodass von den nachkommenden Generationen gelesen werden kann, was schon fast vergessen ist.“
Die Redensarten bieten praktische Ratschläge für fast jede Situation. Zum Beispiel stellt man, um einen verlorenen Hund zurückzurufen, einen kleinen Tonkrug in die Mitte der Türschwelle und klopft auf die Krugöffnung, währenddessen man den Namen des Hundes drei Mal ausspricht. Der Hund wird am nächsten oder aber am dritten Tag nach Hause kommen. Wenn man keinen Krug hat, kann man alternativ einen Kürbis auf die Türschwelle stellen und drei Mal hineinblasen.
Jede dieser Weisheiten hat die Künstlerin verbildlicht indem sie jeweils einen Gegenstand des täglichen Lebens der mit der Redensart in Verbindung steht, wie zum Beispiel ein Wollknäuel, Hühnerkrallen, einen Holzscheit oder einen Tonkrug, auf den trockenen Sandboden ihrer Hütte legte und fotografierte. Vorher putzte sie den Boden und beseitigte alles, was sie nicht mit auf dem Bild haben wollte, aus der Umgebung. Sie liebt es, nahe an die Dinge ranzugehen, sodass diese das ganze Bild ausfüllen.
Sie bevorzugt das sanfte Licht der Morgenstunden und versucht in den meisten Fällen, Schatten zu vermeiden. Die mit einer Pentax aufgenommenen Schwarz-Weiss-Fotografien bestechen durch ihre Direktheit und Einfachheit sowie durch ihre formale Schönheit. Ein kleiner Holzkamm auf der rissigen Erde erzählt auf diese Weise von der Gefahr sich des Nachts zu kämmen. Dies bedeute, so der Glaube, dass die Mutter stirbt.
Auf dem Foto, das die Geschichte vom verlorenen Hund erzählt, stehen Tonkrug und Flaschenkürbis im schwarzen Schlagschatten der Türschwelle, die sich als hell erleuchtete weiße horizontale Linie durch das querformatige Bild zieht. Die Gegenstände sind so aufgenommen, wie die Person sie sehen würde, die gerade im Begriff ist, sich hinunterzubeugen um den Hund zurückzurufen.
Formal betrachtet wirken diese schlichten Aufnahmen alltäglicher Objekte wie konzeptionelle oder minimalistische Kunst. In Verbindung mit den Texten enthüllen sie eine Mystik und Spiritualität, die diese Gegenstände in heilige Ikonen verwandelt, die ein uraltes Wissen offenbaren.
In ihrer Präsentation haben die Dinge eine Seele, in dem Gegenstand verbirgt sich die Gegenwart des Glaubens. In der bedeutsamen Einfachheit der Fotos manifestiert sich die Beziehung der Chamulas zu ihrer Umwelt: das Göttliche ist nie abstrakt, sondern wohnt allen Dingen inne. Chamula ist noch nicht zum Ort industrieller Abfälle geworden. Die Gegenstände sind hier nicht zum Wegwerfen. Eine geöffnete Dose ist jahrelang im Gebrauch, und eine Plastiktüte hat acht Leben. Der praktische und symbolische Gehalt jedes Objektes ist sehr hoch. Diese Wertschätzung spiegelt sich in den Fotos wider.
Maruch Sántiz Gómez porträtiert nicht das Leben, sondern konstruiert Bilder von dem, was man im Leben nicht sehen kann. Sie visualisiert Ideen, benutzt dafür jedoch konkret gegenständliche Objekte – Dinge, die man im Leben sehen kann.
Sie nutzt die Fotografie, um Weisheiten zu verbildlichen, die gleichzeitig Geschichten sind. „Das Foto kann man lesen und es ist einfacher zu verstehen als Texte, denn viele Menschen können keine Schrift lesen.“ Jedes Foto wird jedoch auch von einem kurzen Text begleitet, in Tzotzil und Spanisch, der die jeweilige Glaubensvorstellung beschreibt. Doch die eigentliche Macht und Magie liegt in den Bildern, in denen sie in das Herz der Dinge vordringt und es schlagen lässt.
Der Ruhm, der ihr mit diesem Fotoband zugekommen ist, ist nicht bis in ihr Dorf vorgedrungen. So sagte ihre Mutter, die weder lesen noch schreiben kann, dass sie kein Buch anfassen will, weil sie schmutzige Hände hat.

Die Wiedererschaffung der verlorenen Kindheit

Bis Carlota Duarte ihr 1996 eine Kamera in die Hand drückte, hätte Xunka’ López Díaz sich nie vorstellen können, Fotografin zu werden. Wie ihre Mutter und alle Frauen des Dorfes widmete sie sich dem Haushalt. Auf ihren ersten Fotos, erinnert sie sich, fehlten den Personen noch Köpfe und Füße.
Im August 2001 hat sie nun ein Buch veröffentlicht: Mi hermanita Cristina – una niña de Chamula, das Porträt ihrer kleinen Schwester Cristina und gleichzeitig ihre eigene Geschichte, die Aufarbeitung ihrer eigenen Kindheit. In einem begleitenden Text erzählt Xunka’ von der Vertreibung der evangelischen Familie aus ihrem Heimatdorf Chamula, in dem die politisch bestimmenden Autoritäten Anhänger eines katholischen Synkretismus sind. Damals war sie vier Jahre alt und der Wechsel aus dem traditionellen Gefüge des Dorfes in die bindungslosen Strukturen der Stadt bedeutete einen Bruch in ihrer Identität. Nach der traumatischen Erfahrung der gewalttätigen Vertreibung waren Xunka’ und ihre Familie gezwungen, sich in der Stadt eine Arbeit zu suchen, die keinen Bezug zur Landwirtschaft hatte, wovon die Familie früher lebte. Sie mussten sich in die Realität der Stadt integrieren und neue Lebensformen aneignen.
Das Leben in der Stadt transformierte auch die Kultur, die sie aus dem Dorf mitbrachten. Dennoch sind Xunka’ die Traditionen ihres Dorfes Chamula ein wichtiges Anliegen.
In dem Buch verwebt sie ihre eigene Geschichte mit der ihrer Schwester, deren Körper sie für zweierlei benutzt, einmal um das Leben eines Kindes aus Chamula von heute zu schildern und um gleichzeitig ihre eigene Kindheit zu erzählen, aus der keine Fotos erhalten sind.
Sie zeichnet die Unterschiede zwischen den beiden Generationen auf und erzählt, wie die Zeit und die Stadt die Gebräuche verändert haben. Xunka’ zeichnet ein Bild der jungen Generation, die lieber fernsieht als sich beispielsweise den traditionellen Techniken des Webens zu widmen. Andererseits ist Cristina auch Teil einer neuen, privilegierten Generation von Frauen, die in der Stadt unter besseren Lebensbedingungen aufwachsen und neue Zukunftsperspektiven haben.
In dem fotografischen Essay lässt Xunka’ die Realität der Stadt außen vor. Sie zeigt die kleine Schwester, ein Kind der Stadt, in verschiedenen traditionellen Chamula-Gewändern, man entdeckt keinen Hinweis auf städtisches Ambiente: keine Straßen, keine Autos. Zu sehen ist sie bei verschiedenen täglichen Tätigkeiten, beim Kämmen, beim Haarewaschen, bei der Zubereitung des Essens, beim Spielen und mit ihrer Mutter auf dem Markt.
Die Schwester und ihre Art, sich zu kleiden, stehen im Mittelpunkt der Fotoreportage: man sieht sie von vorn, im Profil und von hinten, „damit man ihre Kleidung besser sieht“, wie Xunka’ sagt. In weiteren Fotos erscheinen die Kleidungsstücke ohne Schwes- ter als Protagonisten des Bildes, auf dem Fußboden ausgebreitet: ihre Bluse, ihre Schuhe, ihre Zopfschleife. Die Identität der Schwes-ter, so scheint es, ist die eines Kleiderständers. Die Kleidung überdeckt jegliche Individualität. Doch muss man sich seinen westlichen Blick vergegenwärtigen: die in unserer Zivilisation so hochgeschätzte Individualität zählt in Chamula wenig. Die Identifikation erfolgt über die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, zu einer Ethnie mit gleicher Sprache und eben gleicher Kleidung. Insofern ist das, was uns zunächst befremden mag, vielleicht tatsächlich ein „intimes“ Porträt, da es die Dargestellte durch das charakterisiert, woraus sie ihre Identität bezieht. Dennoch erscheinen die Fotos aus unserer Perspektive distanziert und wie eine systematische Bestandsaufnahme. Sie stehen in ihrer Sterilität in starkem Gegensatz zur Romantisierung und Mystifizierung der Indígenas, wie sie in der Geschichte der mexikanischen Fotografie (nicht-indigener Fotografen) verbreitet sind.
Das Buch erzählt ein Stück Geschichte aus sehr persönlicher Sicht. Es ist der Erfahrungsbericht einer Indígena. Die Fotografie hat es ihr ermöglicht, die Perspektive der Ethnografin einzunehmen, von der aus sie auf sich selbst blickt. Mit der Kamera kann sie ausdrücken, was sie über sich und ihr Dorf, wer sie sind und was sie leben, sagen will.

Die Webseite des AFI ist http://chiapasphoto.wabash.edu/
Weitere Fotos gibt es auf der Seite des Center of Latin American Studies: http://violet.berkeley.edu:7001/Gallery/chiapas/index.html
Auszüge aus den Creencias von Maruch Santiz Gomez unter http://arts-history.mx/maruchsantiz/

Die Würde der MigrantInnen

Vier kleine Mädchen stehen mit dem Rücken zum Betrachter am Rande eines Sandweges, einander die Arme um die Schultern gelegt. Neben ihnen steht ihre Mutter mit drei weiteren Geschwistern. Auch sie schaut wie die anderen die Straße hinunter, an deren Horizont man als kleinen Punkt den Mann und Familienvater erkennen kann. Das Foto Salgados, aufgenommen im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, zeigt eine alltägliche Situation: Gehen die Männer frühmorgens auf die Felder, fürchten Frauen und Kinder, dass sie nie wiederkehren. Ermordungen von Bauern gehören in Chiapas zum Alltag.
Auf allen Kontinenten werden täglich zigtausende Menschen gegen ihren Willen aus ihrer Heimat vertrieben. Andere machen sich voller Hoffnung auf den Weg in eine Stadt oder in ein anderes Land.
Sebastião Salgado widmete sich mit seinem neuesten Projekt den Menschen, die auf der Flucht sind oder auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Heimat verlassen, die vom Land in die Großstädte drängen oder noch weiter bis in die Vereinigten Staaten beziehungsweise nach Europa. Das Ergebnis seiner Arbeit veröffentlichte Salgado in den zwei Fotobänden Migranten und Kinder der Migration und setzte seine Idee um, das Projekt als Ausstellung zeitgleich auf allen Kontinenten zu zeigen. Damit hoffte er, eine weltweite Diskussion über die Situation der Vertriebenen und Flüchtlinge, der Opfer von Krieg, Armut und Naturkatastrophen zu entfachen.

Kinder zwischen Beton

300 Fotos, verteilt auf fünf Themenbereiche, sind ab Oktober im Kronprinzenpalais ausgestellt: „Migranten und Flüchtlinge. Der Überlebensinstinkt“, „Die Afrikanische Tragödie – Kontinent der Entwurzelten“, „Lateinamerika: Landflucht und Chaos in den Städten“, „Asien: das neue urbane Gesicht der Welt“ und „Kinder von heute, Männer und Frauen des neuen Jahrhunderts“.
Im Ausstellungsteil zu Lateinamerika hat Salgado folgende Themen versammelt: die AmazonasindianerInnen, die Landflucht in Ecuador, die Vertriebenen der zapatistischen Gemeinden im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, der Exodus in die Metropolen und die brasilianische Bewegung der Landlosen.
Ein Foto von Sebastião Salgado, aufgenommen in São Paulo, zeigt vor der Kulisse hochaufragender Betonneubauten spielende kleine Kinder auf dem teerigen Flachdach eines Zentrums der Jugendwohlfahrtsstiftung. Sie wurden verlassen in den Straßen der Stadt gefunden oder von den Eltern, die sie nicht mehr ernähren konnten, im Zentrum abgegeben. Diese dreißig auf dem kalten Beton umherkrabbelnden Kinder spiegeln auf erschütternde Weise eine der Folgen des Überlebenskampfes in den Großstädten wieder.
Die Armut in den ländlichen Gebieten führt weltweit zu einer Zuwanderung in die Städte. Auf Fotos aus Ecuador zeigt Salgado die Dörfer im Hochland, in denen nur noch Frauen und Kinder leben, weil die Männer ausgewandert sind. Diese und eine unzählige Masse anderer MigrantInnen überschwemmen die Städte, die mit dem Ansturm hoffnungslos überfordert sind. Viele Städte auf der ganzen Welt sind davon gleichermaßen betroffen: Mexiko-Stadt ist mit 20 Millionen Einwohnern die weltweit größte
Metropole, dicht gefolgt von São Paulo mit mittlerweile 18 Millionen.
Aber auch Salgados Fotos aus Asien zeigen das unkontrollierte urbane Wachstum. Das Bild dieser Großstädte ist, wie Salgados Fotografien eindrücklich dokumentieren, auf der ganzen Welt fast ununterscheidbar: riesige Elendsviertel an den Stadträndern, Scharen von BettlerInnen und Straßenkinder, die Klebstoff schnüffeln.

Zeit des Wartens

Viele Menschen wurden durch Kriege aus ihrer Heimat vertrieben und leben in Flüchtlingslagern, in behelfsmäßigen Hütten aus Plastikplanen oder in alten Güterwagons, wo sie darauf warten, irgendwann in ihre Dörfer zurückkehren zu können.
In dieser Situation des Wartens hat Salgado Menschen auf allen Kontinenten angetroffen und porträtiert, in Chiapas genauso wie in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon oder
Syrien, oder im ehemaligen Jugoslawien.
In Mosambik können nun nach dem Ende des Bürgerkrieges hunderttausende Flüchtlinge aus den Lagern in ihre Heimat zurückkehren. Auf einem Foto, aufgenommen 1994 in Mosambik, sieht man zerschlissene Taschen, Säcke und Strohmatten verstreut auf einem sandigen Platz, dazwischen, auf dem Boden, wartende Menschen. Unter ihnen, als Einzige auf einem Stuhl sitzend, befindet sich eine junge Frau. Sehr gerade, die Hände nebeneinander in den Schoß gelegt, sitzt sie da und schaut ernst in die Kamera. Ruhe und Festigkeit liegen in ihrem Blick. Für das Wiedersehen mit ihren Verwandten hat sie ihr schönstes Kleid angezogen. Man ist beeindruckt von ihrem Stolz inmitten von Staub und Lumpen.
Salgados Fotografien zeigen immer auch die Würde der Dargestellten. Sie enthüllen nicht, um zu verletzen.
Salgado spielt nicht mit ersten Eindrücken, er lernt erst die Leute und die Orte kennen und verbringt Monate damit, die Lebensformen, das Verhalten der Menschen zu studieren, bevor er sie fotografiert. Seine Fotos unterscheiden sich von der makabren, obszönen Zurschaustellung von Katastrophen vieler PressefotografInnen, die in eiligen Besuchen zu den Schauplätzen von Verzweiflung und Gewalt aus einem Helikopter steigen und den Auslöser betätigen. Im Gepäck ein paar Aufnahmen mit blutigen Motiven, kehren sie von ihrem Tagesgeschäft zurück, ohne sich auf die Menschen eingelassen zu haben.

Facetten der Migration

Salgado hingegen verweilte fünfzehn Monate in der Sahel-Wüste für eine Reportage über die dortige Hungersnot, sieben Jahre lang reiste er durch Lateinamerika für ein paar Aufnahmen. Auch für das MigrantInnen-Projekt hat er sich sechseinhalb Jahre Zeit genommen, bevor er eine Auswahl präsentierte. 47 Länder hat er bereist, um ein größtmögliches Spektrum der Formen von Migration zu beobachten.
Einerseits vermittelt Salgado zwar durch die Vielzahl der Länder das globale Ausmaß der Migration, andererseits tritt die Verschiedenartigkeit der einzelnen Konflikte zurück und die heterogenen Ursachen werden nicht deutlich gemacht. Er hält in seinen Fotos nicht die Gründe der Flucht, die Gewalt und die Vertreibung, die Täter fest, sondern konzentriert sich darauf, die Auswirkungen, die Spuren des Leidens in den Gesichtern der Menschen einzufangen. Das setzt ihn der Kritik aus, dass das Leid losgelöst von den Strukturen, die es verursachen, dargestellt wird. Einige KritikerInnen werfen ihm deswegen zum einen die Ästhetisierung des Elends, zum anderen eine unkritische Sicht auf die Welt vor, in der Unglück, Krieg und Armut als schicksalhaft wahrgenommen werden.
Seine Fotos, in strengem Schwarz-Weiß gehalten, zeigen das Grauen, das Elend in bizarrer Schönheit. Gerade dieser Widerspruch macht sie so bewegend, so intensiv, aber eben auch so umstritten.

Die Bildbände zur Ausstellung – Migranten und Kinder der Migration – erschienen bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2000, kosten 99,- bzw. 35,- DM.

KASTEN:
Sebastião Salgado

Geboren 1944 in Aimores, im Staat Minas Gerais in Brasilien, studierte Sebastião Salgado Wirtschaft in São Paulo und Paris und arbeitete von 1968 bis 1973 als Ökonom in Brasilien und England. Anfang der 70er Jahre, während eines Afrika-Aufenthaltes als Vertreter der International Coffee Organization, begann er, sich ernsthaft der Fotografie zuzuwenden.
Der Mensch und seine selbst unter den schwierigsten Lebensbedingungen bewahrte Würde stehen im Mittelpunkt seiner Fotografien. Mit seiner erschütternden Reportage der Hungersnot im Sahel, die er 1984/85 in der Wüste aufnahm, während er 15 Monate lang die Arbeit der „Ärzte ohne Grenzen“ begleitete, erlangte Salgado internationale Anerkennung. Es folgte das Projekt „Workers“ (1986-92), eine Dokumentation über den Überlebenskampf der arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt, aufgenommen in 26 verschiedenen Ländern.
Von 1980 bis 1996 arbeitete er in Brasilien an einem Projekt über die LandarbeiterInnen und ihren Kampf um die Zurückgewinnung des Bodens, dessen ungerechte Verteilung die Ursache ihres Daseins in Abhängigkeit und Ausbeutung darstellt.
Ab 1993 richtete er seinen Blick auf die Massenwanderungen von Menschen, worauf in den folgenden sechs Jahren eine Fotodokumentation über die MigrantInnen entstand, die nun in Auszügen in der Berliner Ausstellung im Kronprinzenpalais zu sehen sein wird.
1984 wurde Salgado als erster Lateinamerikaner Mitglied der renommierten Fotoagentur Magnum. Salgado gilt als einer der bedeutendsten Dokumentarfotografen der Gegenwart. Sein Werk widmet sich dem Leben der Unterprivilegierten, ein Werk, das zehn Bücher und viele Ausstellungen füllte und für das er mit mehr als 50 internationalen Preisen ausgezeichnet wurde.

Katalysator emanzipativer Politik

Als Subcomandante Marcos am 11. März diesen Jahres vor mehreren hundertausend Menschen auf dem Hauptplatz in Mexiko-Stadt das Wort ergriff, warteten die meisten auf die große Rede schlechthin, an deren Ende klare Vorschläge für das weitere Vorgehen stehen würden. Die Ansprache ging, wie auch die seiner VorrednerInnen der EZLN-Kommandantur, unter die Haut, es war ein wirklich historischer Augenblick in der Geschichte sozialer Bewegungen Mexikos. Das Ende der Reden von Marcos und den Anderen war zur Überraschung Vieler jedoch sehr zurückhaltend. „Mexiko, wir sind nicht gekommen, um dir zu sagen, was zu tun ist, wir sind nicht gekommen, um dich irgendwo hinzuführen; wir sind gekommen, um dich bescheiden und mit Respekt zu bitten uns zu helfen.“ Einige Minuten vorher ging es um die verborgenen und schmerzenden Mexikos: „Wir sind nicht dein Lautsprecher, wir sind eine Stimme zwischen diesen Stimmen… Wir sind Reflexion und Schrei.“ In dieser Szene drückt sich bereits ein zentraler Aspekt des Neuen der mexikanischen Zapatistas aus: Ihr Anti-Avantgardismus. Das steht zweifellos in einer gewissen Spannung mit den an sie herangetragenen Erwartungen. Viele wollen in Marcos einen neuen líder sehen, den Che Guevara des 21. Jahrhunderts. Doch dies wäre dem „zapatistischen Politikverständnis“ diametral entgegengesetzt.

Zapatismus ist mehr als die EZLN

Die Zapatistas stehen hinsichtlich ihrer politisch-strategischen Ausrichtung für etwas Anderes. Es geht ihnen nicht um das Abschreiten eines vorgegebenen Weges der Emanzipation/Revolution, der in der Übernahme staatlicher Macht gipfeln soll. Anders als in dieser vorherrschenden Orientierung revolutionärer Bewegungen im 20. Jahrhundert, verstehen die mexikanischen RebellInnen sich als Teil eines „Suchprozesses“, der natürlich nicht beliebig ist. In dem Motto preguntando caminamos (fragend schreiten wir voran) verdichtet sich ein Politikverständnis, das sich als Prozess und Reflexion begreift. Dieser Suchprozess zeigt sich auch in ihrer manchmal etwas ungenauen Sprache. Wie Ana Esther Ceceña und John Holloway in einem jüngst erschienenen Interview verdeutlichen, geht es den Zapatistas beim Begriff „Zivilgesellschaft“ weniger um analytische Korrektheit, als vielmehr darum, neuen Sachverhalten und Prozessen eine Sprache zu geben. Mit dem Begriff der sociedad civil, der heute allerorten positiv besetzt ist, meinen sie die „zapatistischen Teile“ sowohl der mexikanischen als auch der Weltbevölkerung. Sie sprechen weder von Klasse, da der Begriff andere Widersprüche nicht aufnimmt, noch von Proletariat, weil diese Bezeichnung sich historisch zumindest derzeit als politische erschöpft hat. Entsprechend umfasst „Zapatismus“ nicht nur die EZLN und ihre Unterstützungsbasen im engeren Sinne, sondern eine breitere und durchaus widersprüchliche Bewegung in Mexiko.
Neben der begrifflichen gibt es eine sachlich-politische Neuerung. Der Anti-Avantgardismus der Zapatistas führte zu verschiedenen Versuchen, Menschen im übrigen Mexiko zur Selbstorganisation jenseits von Parteien zu bewegen – sie also nicht lediglich als „politisches Vorfeld“ einer Guerilla zu sehen. Diese Vorschläge waren immer sehr offen gehalten und führten nicht unbedingt in die erstrebte Richtung, was mit dem Wunsch vieler nach einer neuen Avantgarde wie auch mit den verschiedenen Vorstellungen emanzipativer Politik zusammenhängt. Aus diesem Dilemma kommen die Zapatistas nicht heraus und es wäre auch gar nicht gut, es aufzulösen. Gesellschaftliche Veränderung geht mit breiten Lern- und Organisierungsprozessen einher, ist widersprüchlich und basiert darauf, dass Menschen von einem anderen Handeln überzeugt sind. In diesem Sinne sind sie nicht nur anti-avantgardistisch, sondern auch anti-instrumentell gegenüber den MitstreiterInnen.

Die Radikalisierung der Würde

Ansonsten liefen die Zapatistas Gefahr, bestehende Machtverhältnisse – in emanzipativer Absicht – zu reproduzieren. Am deutlichsten wird das an ihrem Staatsverständnis: Sie verzichten bekanntlich auf die Option, um die Übernahme staatlicher Macht zu kämpfen. Es geht nicht um das Auswechseln an der Spitze des Staates, sondern um die grundlegende Veränderung seiner Strukturen. Das ist für undogmatische Linke in Europa nicht so sensationell, in Lateinamerika durchaus. Aufhorchen lässt es hier zu Lande, weil in Zeiten scheinbar alternativloser Realpolitik auf der schwierigen Suche nach grundlegenden Alternativen bestanden wird. Das linke Politikverständnis ist in den meisten Ländern etatistisch: gesellschaftliche Veränderungen sollen über den Staat erreicht werden. Allerdings mit einer anderen Orientierung: Nicht zur Überwindung, sondern zur Zähmung des Kapitalismus samt der Sicherung attraktiver Posten.
Ein weiterer Aspekt ist, dass die chiapanekischen RebellInnen Begriffen eine orientierende Funktion geben, die überraschen. Ich will nur zwei Beispiele herausgreifen. Dignidad (Würde), das hat hier zu Lande eher den Geschmack von Kirchentagen und Gutmenschentum. Der Begriff wird durch die Aufforderung radikalisiert, Würde nicht abstrakt zu verstehen, sondern als Anlass, sich über die konkreten unwürdigen Lebensverhältnisse Klarheit zu verschaffen – und sie zu verändern. Unwürdige Lebensbedingungen haben eben nicht nur die „armen Indios“, sondern sie gibt es überall. Den Zapatistas geht es wohl darum, die rebellischen Anteile eines jeden Menschen zu stärken. Entsprechend gibt es auch kein vorbestimmtes Subjekt emanzipativer Veränderung, sondern es geht um komplizierte und durchaus konflikthafte Lern- und (Selbst-) Veränderungsprozesse.
Beispielhaft sind auch die zutiefst bürgerlichen Begriffe Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Warum werden sie von Indigenen verwendet, die ja nie in den Genuss dieser bürgerlichen Rechte kamen? Auch hier zeigt sich die Absicht der Radikalisierung. Die bestehenden Verhältnisse, deren Apologeten die drei Begriffe dauernd im Mund führen, müssen sich an den Gehalten der Begriffe messen lassen. Damit wird deutlich, dass viele damit verbundenen Ansprüche real negiert werden. Dabei wissen die Zapatistas sehr gut, dass sie Teil von Definitionskämpfen um konkrete Vorstellungen von „Demokratie“, „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ sind.
Die Zapatistas sind, einem eigenen Ausdruck zufolge, Katalysator. Das scheint mir der geeignete Begriff, denn sie regen an, eigene Praxen zu überdenken, sie motivieren, weil es „am Ende der Geschichte“ noch dynamische emanzipative Bewegungen gibt, sie binden ein, ohne Vorgaben zu machen. Und sie versuchen eine andere Sprache, einen andere Ton zu finden, der nicht „Wahrheiten“ verkündet, sondern auf Paradoxien verweist und sich über Macht lustig macht. Paradox ist beispielsweise die Aufforderung auf die Frage, wer denn nun hinter der Maske des Sub stecke, doch bitte schön in den Spiegel zu sehen. Todos somos Marcos. Und subversiv ist die Aussage, dass wenn es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft nicht außer Kraft zu setzen sei, eben doch die Schwerkraft außer Kraft gesetzt werden müsse.

Eine Suche in Resonanz

Doch es geht nicht nur um eine katalytische Wirkung für andere Prozesse. Der Zapatismus, verstanden als Suchprozess emanzipativer Praxis, entwickelt sich erst in Resonanz mit anderen Teilen der Gesellschaft (vgl. etwa Anne Huffschmid in Brand/Ceceña). Daher ist Reflexion, die in der Rede auf dem Zócalo von Mexiko-Stadt erwähnt wird, so wichtig. Radikale Praxis benötigt eine Reflexion der bestehenden Bedingungen, gegen die sie agiert, und muss sich ihrer eigenen Widersprüche vergewissern.
Die konkreten Bedingungen linker Politik in Mexiko, Lateinamerika und weltweit sind der weiterhin ungebrochene Durchmarsch neoliberaler Politik – Seattle zum Trotz. Der Erfolg neoliberaler Politik liegt gerade darin, dass zentrale Merkmale wie die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit oder Standortpolitik von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr in Frage gestellt werden. In Lateinamerika paart sich das mit offener Gewalt, wie am Plan Colombia, aber auch in Chiapas deutlich wird.
Ein Kriterium emanzipativer Politik war und ist radikale Herrschaftskritik. Das ist in Chiapas verständlich auf Grund der über 500 Jahre währenden Erfahrungen unter rassistischen und ausbeuterischen Verhältnissen. Herrschaftskritik erschöpft sich nicht in Staatskritik und ist kein verbalradikales Unterfangen, sondern muss in allen gesellschaftlichen Bereichen praktisch stattfinden.
Die Zapatistas befinden sich in einigen Dilemmata, die auch für andere emanzipative Bewegungen gelten. Zum einen ist ihre Aufmerksamkeit nicht nur einfach einer „anderen Politik“ geschuldet, sondern einem guten Teil der klugen Inszenierung des Sub. Dies als „undemokratisch“ zu kritisieren, wäre unsinnig. Aber die Fokussierung auf die Figur wird von den Zapatistas selbst als Problem gesehen. „Wir denken, dass ein Bild von Marcos geschaffen wurde, das nicht der Realität entspricht, was wiederum mit der von den Medien beherrschten Welt zu tun hat. Der (in den Medien entworfene Marcos) hat nicht mehr Verbindungen zu den Menschen, sondern entschied, Verbindungen mit der politischen Klasse zu haben.“ (Marcos im Interview in Proceso, 11.03.2001 oder im Interview mit Vázquez Montalbán, S. 122f.)
Eng damit verbunden ist zweitens die Gefahr der Romantisierung. Die Zapatistas werden als die neue Bewegung hingestellt, die mit historischen Erfahrungen bricht. Zum einen geht damit eine recht pauschale und unhistorische Abwertung früherer und anderer heutiger Emanzipationsbewegungen einher. Zum anderen droht ein enttäuschtes Abwenden von den verehrten Zapatistas, sobald in der Bewegung Widersprüche deutlich werden, wie beispielsweise zwischen dem radikaldemokratischen Anspruch und der Tatsache, dass die EZLN als Guerilla militärisch organisiert ist.
Ein drittes Dilemma jeglicher gesellschaftsverändernden Politik besteht darin, dass sie sich staatskritisch versteht, sich aber dem Staat als Garant von Rechten in vielen Fragen nicht entziehen kann. Dies wurde in Mexiko jüngst beim Versuch deutlich, ein Gesetz zu indigenen Rechten und Kultur durch das Parlament zu bringen. Dies hätte eine enorme materielle und orientierende Wirkung gehabt. Gleichzeitig soll der Staat – die Zapatistas sprechen hier von Regierung – als zentrales Herrschaftsmoment grundlegend verändert werden. Praktisch äußert sich das darin, dass viele „zivile Zapatistas“ in der linksliberalen Partei der demokratischen Revolution (PRD) aktiv sind. Gerade hier wird die Notwendigkeit deutlich, über politische Praxen zu reflektieren. Eine andere Frage ist, soll nicht der bürgerlich-kapitalistischen Trennung von Politik und Ökonomie aufgesessen werden, wie ökonomische Verhältnisse grundlegend verändert werden können.
Und schließlich besteht eines der Probleme im angedeuteten Wunsch vieler Linker, den Weg „gewiesen“ zu bekommen und damit Gesellschaftsveränderung als Annäherung an vorgegebene Alternativen zu sehen. Darin liegt ein Problem, auch für anti-avantgardistische Politik: Wenn auch alternative Großmodelle weitgehend zu den Akten gelegt wurden, so muss die Attraktivität dessen deutlich werden, warum sich Menschen für etwas einsetzen, kämpfen, Denkweisen und Handeln verändern. Wenn der Begriff aus der Nachhaltigkeitsdebatte nicht so abgelutscht wäre, könnte man von notwendigen „Leitbildern“ sprechen. Doch wer entwickelt die, wie entstehen sie aus Bewegungen heraus?

Stolperstein der wilden Globalisierung

Abschließend noch eine Bemerkung zur Wahrnehmung/Interpretation emanzipativer Bewegungen. Viel zu oft wird lediglich darauf geblickt, was sich in der Öffentlichkeit artikuliert, wo „Terraingewinne“ verbucht werden konnten. Dies liegt dem Marcos-Hype zu Grunde, der natürlich auch von vielen Linken reproduziert wird. „Fox gegen Marcos“, das kommt gut und suggeriert Macht für beide – sozusagen auf Augenhöhe. Die Berater des neuen mexikanischen Präsidenten haben übrigens sehr gut verstanden, dass sie hier ansetzen müssen. Der Präsident half kräftig mit, Marcos zum Star aufzubauen und lud dann zum persönlichen Gespräch, einer Art medialen Show-down. Wohlweislich lehnte der Sub ab, wissend, dass außer Fotos für die Weltpresse nicht viel herauskäme und so zu einer Schwächung führen würde.
Es müsste stärker auf die kleinen Veränderungen, die „Fermentierungsprozesse“ geblickt werden, die es ja überhaupt erst ermöglichen, dass emanzipative Prozesse jenseits des medialen Geklappers nachhaltig sind. Die Zapatistas sind so stark, weil es sich um eine Bewegung handelt, die glaubwürdig in Chiapas die eigenen Lebensverhältnisse verbessert und darüber hinaus aktiv wird. Ein Marcos, der nicht in dieser Bewegung ruhen würde, verkäme zum klugen, aber ganz „normalen“ Intellektuellen.
Dieses notwendig breite Fundament provoziert eine wichtige Überlegung. In den nächsten Jahren wird sich beispielsweise zeigen, wie „nachhaltig“ die emanzipativen Anteile der internationalen Protestbewegungen sind. Das hängt von viel mehr ab als von Großdemonstrationen und der Mobilisierung dorthin. Schon könnte der Verdacht aufkommen, dass die Demos zu den EU-, Weltbank/IWF-, Davos und G7-Gipfeln zum routinisierten Protest werden.
So wie in den 90er Jahren die „Gegenkonferenzen“ von NRO zu den UNO-Gipfeln recht bald jegliche Dynamik verloren. Business as usual. Das muss nicht nur für alternative Expertise vieler NRO, sondern kann auch bald für die „Entglasung“ von McDonald´s-Filialen gelten. Beides kann sich kurzfristig mächtig fühlen. Öffentlichkeit und dort artikulierte Kritik, wozu auch das Plattmachen von Monsanto-Versuchsgeländen gehört, sind fraglos wichtig. Tief greifende gesellschaftliche Veränderungen benötigen jedoch gleichsam umfassende „kulturrevolutionäre“ Prozesse. Dies findet heute in Mexiko, einer sehr autoritären Gesellschaft samt einer autoritären und staatsgläubigen Linken, statt. Das haben die Zapatistas verstanden und sie versuchen es, aller Ambivalenzen zum Trotz, zu praktizieren.
International sind sie in gewisser Weise „der Stolperstein der wilden Globalisierung“ wie der spanische Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán sein Interview-Essay mit Marcos beendet. Das sind sie aber nur, weil sie Resonanzen entwickeln, weil sie rezipiert werden und Unterstützung erfahren.
Bislang wird in einem Land wie Deutschland der Zapatismus von Linken jedoch noch stark im Sinne „gut, dass es die gibt“ wahrgenommen. Einen Schritt weiter ginge es, wenn bestimmte Aspekte des Politikverständnisses hier stärker diskutiert würden. Und zwar nicht nur des „zapatistischen“, sondern auch anderer Erfahrungen und Bewegungen hier zu Lande oder in anderen Teilen der Welt; auch historischer wie etwa in den radikalen Teilen der neuen sozialen Bewegungen und der Neuen Linken. In einem anti-avantgardistischen Sinne versteht sich.

Zum Weiterlesen:
– Ulrich Brand / Ana Esther Ceceña: Reflexionen einer Rebellion. „Chiapas“ und ein anderes Politikverständnis. Münster 2000.
– Interview mit Ana Esther Ceceña und John Holloway über den Zapatismus in der Zeitschrift „Das Argument“, Juli 2001, Nr. 241.
– REDaktion: Chiapas und die Internationale der Hoffnung. Köln 1997.
– Manuel Vázquez Montalbán: Marcos. Herr der Spiegel. Berlin 2000.

Links bleiben, ohne sich linken zu lassen

Mein Name ist Esther, aber das ist nicht wichtig. Ich bin eine Zapatista, aber auch das ist in diesem Augenblick nicht wichtig. Ich bin eine Indígena und eine Frau, und das ist das Einzige, was jetzt wichtig ist.“ Die Worte sitzen. Nie zuvor ist eine indigene Frau, eine, die nicht zum Establishment gehört, im mexikanischen Kongress ans Mikrofon getreten. Und niemand hätte erwartet, dass ausgerechnet das im Mittelpunkt ihrer Rede steht, was normalerweise als Grund gilt, schweigend zu gehorchen, zumal in einem Land wie Mexiko, einer ausgemachten Hochburg des Machismo: ihr indianisches Frausein. Damit machte sie den angeblichen Nebenwiderspruch zum Kern der Sache.

Mexiko – Hochburg des Machismo

Nach ihrem Marsch auf die Hauptstadt und zähen Vorverhandlungen erreichen die ZapatistInnen am 28. März dieses Jahres ihr Ziel, im mexikanischen Kongress ihre Forderungen nach Umsetzung der Verträge von San Andrés vorzutragen. Comandanta Esther ergreift als Erste aus der 27-köpfigen Delegation das Wort. Und sie teilt nach beiden Seiten aus. Nicht nur prangert sie die Unterdrückung durch die Gesetze des mexikanischen Staates und die Diskriminierung durch die Weißen an. Sie legt sich ebenso mit Sitten und Bräuchen in den indianischen Gemeinden an, die die Frauen zu Menschen zweiter Klasse machen. Ein unerhörter Akt. So unerhört offenbar, dass trotz riesiger Medienpräsenz, trotz ungeteilter Aufmerksamkeit zahlreicher nationaler wie internationaler BeobachterInnen niemand diesen Aspekt später aufgreift. Dass eine Frau als Erste gesprochen hat und nicht Subcomandante Marcos, das ja, das wird erwähnt. Aber dass sie die Perspektive verrückt, ja verkehrt hat, das fällt auch diesmal wieder durch die Wahrnehmungsraster.
Die Verträge von San Andrés Larraínzar würden einen großen Fortschritt in der Geltung indianischer Rechte und Kulturen bedeuten, so sie denn in ihrem Geist und nicht in der nun verabschiedeten verwässerten Version umgesetzt würden. Bei den Verhandlungen, die zu den Verträgen führten, gab es ursprünglich auch eine Arbeitsgruppe zu Frauenrechten und Autonomie. Deren Empfehlungen wurden jedoch von der Regierung nicht akzeptiert und fehlen im endgültigen Text. Die zapatistische Seite kritisierte dies zwar, beim Ersten Treffen indigener Frauen beschlossen sie dennoch, sich für die Verträge von San Andrés einzusetzen, weil sie einen „Ausgangspunkt, und nicht einen Endpunkt“ darstellten.

Dreifache Verachtung

Wenige Tage vor ihrem Auftritt im mexikanischen Kongress, zum Frauentag am 8. März, hatte Comandanta Esther von der dreifachen Verachtung (nicht Unterdrückung!) gesprochen, unter der ihresgleichen leide: als Frau überhaupt, als indigene Frau und als arme Frau. Und dagegen gelte es anzugehen. In den autonomen Gemeinden haben Frauen inzwischen eigene Versammlungen und eigene Ladenkollektive eingerichtet. Nur unter Frauen zu sein, berichten sie, hilft, endlich Scham und Angst zu verlieren. Selbstbewusstsein zu schaffen, um Forderungen formulieren zu können, ist für sie das Wichtigste.
30 Prozent der ZapatistInnen, heißt es, sind Frauen. Der Frauenanteil – auch in bewaffneten – Befreiungsbewegungen war und ist in Lateinamerika bemerkenswert hoch. Die Fotos großer Gruppen lächelnder FARC-Kämpferinnen, zu propagandistischen oder pressereißerischen Zwecken aufgenommen, vermitteln ein keineswegs falsches Bild von ihrer Präsenz in der kolumbianischen Guerilla. Von Seiten von FARC-Guerilleras drang bislang noch keinerlei Kritik an männlichen Machtstrukturen innerhalb der Organisation an die Öffentlichkeit. Unter anderen Umständen und in anderen Ländern war dies aber durchaus schon der Fall.

Männlichkeitsverhalten in Frage gestellt

In der salvadorianischen FMLN begannen die Guerillakämpferinnen Ende der 80er Jahre massiv, das traditionelle Männlichkeitsverhalten ihrer ansonsten doch so revolutionär gesinnten Kameraden in Frage zu stellen. Es waren gerade die Frauen aus der Guerilla, die die Anfang der 90er Jahre mit dem Ende des Krieges schnell erstarkende Frauenbewegung El Salvadors trugen und autonome Frauengruppen wie die Dignas oder die Mélidas gründeten, die bis heute sehr aktiv sind. Zum einen, sagten sie, habe der Krieg ihnen geholfen, die Küche zu verlassen, zum anderen hätten sie irgendwann nicht mehr eingesehen, den compas dennoch regelmäßig die Socken zu waschen.
Die drei, vier FMLN-Kämpferinnen, die Ende 1990 auf dem lateinamerikanischen Feministinnentreffen in Argentinien auftauchten, kamen mit der Angst, ihre Organisation zu verraten, und waren noch eine Sensation. 1994 traten in El Salvador bereits 40 Frauengruppen mit einer gemeinsamen „Feministischen Plattform“ an die Parteien heran, um sie selbstbewusst in Sachen Frauenfreundlichkeit abzuklopfen.
Auch im Nachbarland Nicaragua hatte sich Frauenemanzipation zunächst innerhalb des Sandinismus als revolutionärem politischen Projekt artikuliert. Der Frauenverband AMNLAE war sozusagen Teil des sandinistischen Apparates, solange die SandinistInnen an der Macht waren. Der Bruch bereitete sich erst allmählich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre vor.
Die Entwicklung verläuft immer wieder ähnlich: Frauen, die mit dem Status quo nicht zufrieden sind, engagieren sich in linken beziehungsweise revolutionären Projekten, stellen dort aber nach einer gewissen Zeit fest, dass die Geschlechterverhältnisse keineswegs Teil des Umsturzplans der männlichen Kollegen sind. Die Emanzipation aus der linken Struktur gelingt, sobald diese Risse zeigt. Die lange Zeit sichtbar starke Frauenbewegung Perus entstand auf der Basis von Frauen, die in den 70er Jahren nach und nach die linken Parteien verlassen hatten und sich damals dem Vorwurf aussetzen mussten, den Klassenkampf zu spalten.
Trotz vieler Unkenrufe, der Schwung sei weg und aus der Frauenbewegung sei eine Frauen-Projekte-Bewegung geworden, waren es nach dem Wahlbetrug Fujimoris im Jahr 2000 wieder Frauen, die in großem Stil auf der Straße protestierten: Im Mai und Juni versammelten sich die „Frauen für die Würde“ jeden Dienstag um 12 Uhr vor dem Regierungspalast, um diesen gegen Ungeziefer symbolisch auszuräuchern. Die „Breite Frauenbewegung“ veranstaltete jeden Donnerstag ein Sit-In mit Musik und künstlerischen Einlagen vor dem Justizpalast. Die „Demokratische Frauenfront“ protestierte mit Mahnwachen. Die Frauen der Partei Perú Posible machten wöchentliche Märsche durch Limas Innenstadt. Die „Frauen für die Demokratie“ zogen am 27. Juni, als der OEA-Generalsekretär César Gaviria Lima besuchte, in Trauerkleidung mit einem Sarg, in dem die gestorbene Demokratie lag, zu dessen Hotel und wurden mit Tränengas auseinander getrieben.
Wirklich bekannt geworden ist das nicht. Wie bei Comandanta Esther „vergisst“ die Medienberichterstattung, dass bis zu 80 Prozent der sozialen Bewegungen in Lateinamerika von Frauen getragen werden. In Demonstrationszügen laufen oft überwiegend Frauen, aber die Redner sind Männer.

Globalisierung aus feministischer Sicht

In vielen linken Parteien Lateinamerikas haben Frauen inzwischen Mindestquoten für Listenplätze durchgesetzt, Frauenbüros geschaffen, an Frauenförderplänen mitgeschrieben. Aber ist es wieder einmal nur der pure Zufall, dass eine Arbeitsgruppe des Foro de São Paulo, ein Zusammenschluss von Linksparteien Lateinamerikas, im Juli 2001 nach Europa reist und auf der 15-köpfigen Teilnehmerliste keine einzige Frau steht?
Während des Amerika-Gipfels in Santiago de Chile im Jahre 1998, auf dem der damalige US-Präsident Bill Clinton für eine gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA oder engl. FTAA) warb, entstand aus dem Gegengipfel heraus die Alianza Social Continental (ASC), ein breites Bündnis von FreihandelskritikerInnen von Kanada bis Chile mit dem Ziel, Alternativen zu dem geplanten Integrationsprojekt von oben zu entwerfen und gemeinsam zu propagieren (siehe Artikel S.47-51). Sehr schnell bauten die Frauen dieses Netzwerkes eigene Strukturen auf, um den geschlechterblinden Fleck in den Entwürfen ihrer männlichen Mitstreiter zu füllen. ALCA, so ihr Tenor, vertiefe bestehende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit und sei daher abzulehnen.
Obwohl das Wort „Gender“ in dem Zusammenhang wesentlich häufiger auftaucht als der Begriff „Feminismus“, scheinen sich Männer, die ja auch ein „Gender“, also eine Geschlechterrolle haben, sich nicht angesprochen zu fühlen, diese zu analysieren. Offenbar schaffen es auch alternative Ökonomen und Engagierte immer noch nicht in ausreichendem und dokumentierbarem Maß, den Gender-Aspekt mit einzubeziehen.
Die Auseinandersetzung mit den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Globalisierung ist in Frauenzusammenhängen dagegen in den vergangenen Jahren enorm in den Vordergrund gerückt und ist gleichzeitig Grund, neue Reflexions- und Aktionsbündnisse überhaupt erst zu schmieden. Allein in Brasilien sind mindestens sieben Netzwerke entstanden, die zu den Themen Wirtschaft, Handel und internationale Finanzinstitutionen aus Frauen- und Gendersicht arbeiten.
Der Weltmarsch der Frauen, eine Idee der Frauenföderation von Québec/Kanada, um gemeinsam und weltumspannend gegen Armut und Gewalt gegen Frauen zu protestieren und eine Abkehr von Neoliberalismus und Patriarchat zu fordern, endete am 17. Oktober 2000 nach monatelangen Aktionen an allen möglichen Orten (und erschreckend geringer Resonanz in Deutschland) vor dem UNO-Gebäude in New York. Teilgenommen hatten weit mehr Frauen als erwartet: mehr als 5.400 Gruppen aus 159 Ländern, rund 20 Prozent davon aus Lateinamerika.
Ein Grund für die starke Beteiligung, schreibt die Bolivianerin Jael Bueno in einer der Auswertung des Frauenmarsches gewidmeten Ausgabe der schweizerischen Frauenzeitschrift Olympe (Heft 13, Dezember 2000), sei die starke feministische Vernetzung auf dem Kontinent seit den 80er Jahren, die sich in regelmäßig stattfindenden kontinentweiten Feministinnentreffen ausdrückt.

Lateinamerikanische Feministinnentreffen

Vor 20 Jahren, 1981, trafen sich zum ersten Mal 300 Feministinnen aus allen Teilen Lateinamerikas in Bogotá, Kolumbien. Das Einende bei den folgenden Treffen waren nicht nur Themen wie Gewalt gegen Frauen und Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Anspornend wirkte auch die Erfahrung, dass von Mal zu Mal mehr Frauen hinzustießen, bis die Treffen in den 90er Jahren zu einem Jahrmarkt der Möglichkeiten gerieten und die bei allen guten Vorsätzen vorhandenen blinden Flecken der Bewegung zutage traten: Die Lesben begehrten auf, die schwarzen Frauen klagten eigene Räume ein, die Indígena-Frauen sahen sich diskriminiert.
Das achte Treffen 1999 in der Dominikanischen Republik bedeutete eine Zerreißprobe. Verunsicherung und Streit zwischen „Autonomen“ und „Institutionalisierten“, aber auch das bis an die Grenze der Beliebigkeit strapazierte Schlagwort „Diversität“ prägten die Vorbereitungsatmosphäre. Beim Treffen selbst wuchsen dann doch wieder die Hoffnungen. Eine neue Generation von Feministinnen verschaffte sich unerwartet energisch Gehör und weckte bei vielen Frauen, die zu Beginn nicht einmal sicher waren, ob überhaupt noch gemeinsame Perspektiven existieren, Erwartungen an eine Erneuerung der Bewegung.

Feminismus und Globalisierung

Das Vorbereitungskomitee für das neunte Treffen im November 2002 in Costa Rica (weitere Informationen: www.9feminista.org) hat inzwischen optimistisch das Thema der nächsten Zusammenkunft festgelegt. Es geht um nichts weniger als „Feminismus und Globalisierung“. In ihrer Ankündigung schreiben sie: „Wir brauchen dringend eine Erneuerung der Allianzen und Pakte von Frauen aus unterschiedlichen sozialen Sektoren, wir müssen zurückkehren zum Konkreten, wir wollen den Wiederaufbau des Feminismus, mit breit gefächerten Pakten zwischen den Geschlechtern“ – was immer Letzteres bedeuten mag.
Derzeit läuft ein Wettbewerb für die Gestaltung des Veranstaltungslogos. Eingereichte Vorschläge sollen kreisen um die Zuschreibungen: „rebellisch, grenzüberschreitend, fröhlich, protestierend, anders“ – alle Adjektive, versteht sich, stehen ausdrücklich in weiblicher Form.

Rückendeckung für die Opposition

Wenn man die kolumbianischen Guerillaorganisationen betrachtet, fällt auf, dass diese die großen Krisen der lateinamerikanischen Guerillas um 1970 und 1990 nicht nur überlebt haben, sondern sogar gestärkt aus ihnen hervor gegangen sind. Für das paradoxe Phänomen gibt es eine einfache Erklärung: Die kolumbianische Linke hatte keine andere Wahl, als bewaffnet zu kämpfen. Der Satz, dass es in Kolumbien ungefährlicher ist, in die Berge zu gehen, als eine Gewerkschaft zu gründen, ist mehr als eine ironische Überspitzung.
Seit mehr als 100 Jahren setzen die Eliten des Landes auf eine konsequente Vernichtungspolitik gegen jeden Ansatz sozialer Opposition. Ob man nun das Massaker an den Plantagenarbeitern der United Fruit 1928 oder die Ermordung des Oppositionsführers Gaitán 1948 und die darauf folgenden Vertreibungen nehmen will – auf Bewegungen von unten wird stets mit Waffengewalt reagiert.
Besonders deutlich zeigt sich die Bereitschaft, bei der Verteidigung der Privilegien bis zum Äußersten zu gehen, am paramilitärischen Projekt. Als 1983/84 im Rahmen eines Waffenstillstands UntergrundkämpferInnen von FARC, EPL und M-19 in die Legalität zurückkehrten und im ganzen Land soziale und politische Oppositionsgruppen entstanden, organisierten das politische und ökonomische Establishment den Terror. Finanziert von Großgrundbesitz, Industrie und Drogen-Mafia und mit der logistischen Unterstützung von Armee und (zumindest zeitweise) auch der US-Geheimdienste geht der Paramilitarismus seitdem unerbittlich gegen alles vor, was links ist oder auch nur sein könnte. 4000 AktivistInnen der Partei Unión Patriótica wurden ermordet, die drei Präsidentschaftskandidaten der Opposition Jaime Pardo, Bernardo Jaramillo und Carlos Pizarro wurden erschossen, fast jeden Tag stirbt in Kolumbien ein Gewerkschafter. Was bleibt der Linken da schon anderes übrig, als die Kriegserklärung anzunehmen?

Militarisierung des sozialen Konflikts

Insofern hat die häufig gestellte Frage nach der Legitimität des bewaffneten Kampfes in Kolumbien etwas Absurdes. Der Terror der Oberschicht ist – anders als von Paramilitär-Kommandant Castaño behauptet und von den kolumbianischen Medien häufig wiederholt – keine Antwort auf die Guerilla, sondern eine Strategie zur Bekämpfung sozialer Bewegungen. Es geht um die Zerschlagung des Protests und die Vertreibung der Bauernbevölkerung aus ökonomisch interessanten Gebieten. Auf diese Weise wird den ausländischen Investoren der Zugang zu den Rohstoffvorkommen erleichtert, der Arbeitsmarkt flexibilisiert (indem Gewerkschaften ausgeschaltet werden) und für die zügige Privatisierung öffentlicher Einrichtungen gesorgt.
Interessanter als die Debatte, ob die Guerilla nach 37 Jahren noch eine Daseinsberechtigung besitzt, ist deshalb die Frage, ob die Politik, die die Guerilla betreibt, politisch und moralisch in die richtige Richtung weist. Die Liste der Vorwürfe gegen FARC und ELN ist lang und allgemein bekannt: Entführungen, Tötung von Zivilisten, mangelnder Respekt gegenüber indigenen Gemeinden und so weiter. Erst Anfang Juli ließ Human Rights Watch-Sprecher Miguel Vivanco dem FARC-Kommandanten Manuel Marulanda einen Brief zukommen, in dem die Guerilla wegen standrechtlicher Erschießungen und der Rekrutierung von Minderjährigen scharf kritisiert wurde. Zwar hatte der Brief einen seltsamen Beigeschmack – zum einen bejubelte die bürgerliche Presse Kolumbiens zum ersten Mal einen Menschenrechtsbericht, zum anderen bewies Human Rights Watch, dass es einen sehr eingeengten Begriff von Menschenrechten besitzt (Probleme wie Gesundheit, Erziehung und Ernährung tauchen gar nicht erst auf) –, aber er machte dennoch ein grundlegendes Problem des kolumbianischen Konflikts deutlich. Die Militarisierung der Auseinandersetzung hat die sozialen Ursachen unkenntlich gemacht und auch die linken Akteure verändert. Was bis 1990 für jeden Beobachter eindeutig als Kampf zwischen Eliten und Unterschicht zu identifizieren war, scheint heute nur noch eine Auseinandersetzung um die politische Macht zu sein.
Das ist auf der einen Seite Folge des repressiven Klimas, in dem es unmöglich ist, über die Konzepte der Guerilla auch nur zu diskutieren. Auf der anderen Seite hat die Entwicklung aber auch mit der Politik von FARC und ELN zu tun. Ausgehend von der These, dass Oppositionsgruppen in Kolumbien militärische Rückendeckung brauchen, haben die Guerilla-Organisationen seit 1990 den Aufbau von Armeestrukturen vorangetrieben. Wer sich besser bewaffnen will, braucht aber auch mehr Geld, und weil die großen Unternehmen sich heute von britischen und US-amerikanischen Söldnern schützen lassen, sind die Guerilla-Gruppen dazu übergegangen, ihre Entführungsopfer immer häufiger in der städtischen Mittelschicht zu suchen. Jeder Schritt in der Eskalation zieht auf diese Weise eine weitere Verschärfung des Konflikts nach sich. Die Verfolgung von Familienangehörigen der Guerilla durch die Armee hat den Trend verstärkt, Minderjährige in die Guerilla zu integrieren. Auf die skandalöse Ausbeutungspolitik der Öl-Multis reagiert die ELN mit einer Ausweitung ökologisch desaströser Pipeline-Anschläge, und gegen vorrückende Armee-Einheiten werden immer neue Minenfelder gelegt. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.
Dabei ist nicht alles für die Bevölkerung schlecht, was die Guerilla in diesem Zusammenhang macht. Der Einsatz von Landminen hat dazu beigetragen, den Vormarsch der Paramilitärs im Süden Bolívars zu bremsen. Nur dank der Stärke der FARC sind im Juni an die 100 Gefangene aus menschenunwürdigen Haftbedingungen befreit worden (16 bei einem Gefangenenaustausch, die anderen bei einer Befreiungsaktion in Bogotá). Und schließlich hat auch die Occidental Company nicht deswegen weitere Erdöl-Investitionen in Kolumbien auf Eis gelegt, weil die U’wa-Indígenas in Arauca seit 10 Jahren mit Unterstützung von Bauernverbänden und Gewerkschaften gegen die Zerstörung ihres Landes protestieren, sondern weil die ELN seit Anfang des Jahres die Pipeline Caño Limón-Coveñas mehr als 100 Mal gesprengt und damit den Ölexport der Occidental völlig lahm gelegt hat.

Konzepte von FARC und ELN

Die Militarisierung des Konflikts hat die Ziele der Guerilla also bisweilen unkenntlich gemacht, aber deswegen zu behaupten, FARC und ELN hätten keine politischen Ziele, ist dennoch falsch. Die politischen Projekte der beiden Organisationen sind klar umrissen – auf jeden Fall klarer als das Meiste, was die politischen Parteien Kolumbiens zur Krise des Landes zu sagen haben.
Die Politik der FARC ist auf das vermeintliche Machtzentrum ausgerichtet: den Staat, und verfolgt eine Doppelstrategie. Die Organisation hat die Regierung an den Verhandlungstisch gezwungen und dort ein politisches und soziales Reformprojekt vorgelegt, das man am ehesten als linkssozialdemokratisch bezeichnen kann; gleichzeitig jedoch bereiten sich die FARC auf eine Verschärfung des Kriegs vor und rüsten sich für einen Marsch auf Bogotá.
So unglaublich es klingt – sowohl eine Lösung am Verhandlungstisch als auch ein Sieg der Guerilla sind (genauso wie ihre strategische Niederlage) vorstellbar. Im Juni haben die FARC Präsident Pastrana dazu aufgefordert, mit ihnen eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden und die Verfassung so zu modifizieren, dass das ausschließlich die Oberschicht repräsentierende Zweiparteiensystem nach 170 Jahren endlich entsorgt werden kann. Im Gegensatz zur M-19, die sich Anfang der 90er Jahre ohne inhaltliches Konzept ins politische System integrierten, wollen die FARC mit einer Regierungsbeteiligung die Sozial- und Wirtschaftspolitik grundlegend verändern. Die Privatisierungen sollen gestoppt, eine Landreform durchgeführt, die Bodenschätze nationalisiert und die neoliberale Öffnungspolitik zurückgenommen werden. Alles in allem Forderungen, die sich nicht allzu sehr von denen der brasilianischen PT oder der Linken im Cono Sur unterscheiden – nur dass die FARC dank ihrer realen Macht im Land auch in der Lage wären, dieses Programm in einer Regierung umzusetzen.
Erstaunlicherweise hat Pastrana auf den Vorschlag nicht mit Ablehnung, sondern mit der Umbildung seiner Verhandlungskommission reagiert. Die bis dahin aus Politikern aller Parteien und Kirchenleuten zusammengesetzte Kommission wurde aufgelöst und durch eine neue, aus Funktionären der Regierung bestehende Gruppe ersetzt. Es war dieser Schritt, der den sich hartnäckig haltenden Gerüchten von einem Geheimabkommen zwischen Pastrana und den FARC neue Nahrung verschafft hat. Alles andere als verträumt sind auch die Vorstellungen der FARC hinsichtlich einer militärischen Lösung. Bei der einseitigen Freilassung von mehr als 200 Kriegsgefangenen im Caquetá erklärten die FARC-Sprecher, Soldaten und Rebellen würden sich in den Städten wiedertreffen, denn die Guerilla habe nicht länger vor, ihr Leben im Dschungel zu fristen. Die Befreiungsaktion im Gefängnis La Picota, für die 100 Stadtguerilleros Ende Juni ein Viertel im Süden Bogotás besetzten, hat gezeigt, dass das mehr als Aufschneiderei ist. Trotz des Plan Colombia wächst der Einflussbereich der Organisation weiter.
Insofern kann man sagen, dass die Perspektiven der FARC, in den kommenden Jahren Regierungspolitik mitzugestalten, nicht schlechter sind als die der parlamentarischen Linksparteien auf dem Kontinent. Im Unterschied zu diesen hätten die FARC darüber hinaus realistische Chancen, nicht nur Minister zu stellen, sondern auch real Macht im Land auszuüben. Der entscheidende Haken an der FARC-Politik ist deshalb weniger ein Mangel an Realismus als das zu Grunde liegende Konzept von Befreiung. Ganz in der Tradition klassischer Linksparteien scheinen die FARC davon überzeugt, die Gesellschaften von Regierungsämtern aus verändern zu müssen. Eigenständige soziale Bewegungen sind in einem solchen Konzept nur Transmissionsriemen für die Politik von oben. So meinen die FARC, wenn sie von einer „Regierung des Volkes“ sprechen, eine Regierung im Namen der Bevölkerung, nicht aber eine basisdemokratische Umwälzung der Gesellschaft.
Anders gelagert ist der Fall bei der ELN. Die kleinere Guerilla vertritt seit Anfang der 80er Jahre das Konzept des Poder Popular, der „Volksmacht“, das darauf abzielt, die bestehenden Machtstrukturen durch räteähnliche Selbstorganisierung der Bevölkerung auszuhöhlen und zu ersetzen. Das Projekt ist nicht so radikal wie das der mexikanischen Zapatisten, die eine Abschaffung der Macht propagieren: Unter Poder Popular versteht die ELN eine Kombination von linker Regierungsmacht und Basisdemokratie. Doch auch mit dieser Einschränkung geht das Konzept weit über das hinaus, was zentralamerikanische Gruppen im gleichen Zeitraum vertreten haben.
Das Problem an der Sache ist allerdings, dass der Paramilitarismus für derartige Projekte, mit denen die ELN in den 80er Jahren beachtenswerte Erfolge erzielt hat, keinen Spielraum mehr lässt. Selbstorganisierung und die Ausübung direkter Demokratie sind in einem Land, in dem das bloße politische Interesse schon verfolgt wird, lebensgefährlich. Das ist der Grund, warum die ELN Mitte der 90er Jahre den Vorschlag der „Nationalkonvention“ entwickelt hat: eine Versammlung von VertreterInnen aller gesellschaftlichen Gruppen, die über die Krise Kolumbiens und mögliche Friedenslösungen debattieren soll. Erstaunlicherweise konnte die ELN für diesen zunächst utopisch klingenden Vorschlag breite Unterstützung im Land mobilisieren. 1998 verpflichteten sich alle wichtigen gesellschaftlichen Gruppen zur Durchführung der Konvention. Gescheitert ist die Umsetzung bisher daran, dass Pastrana das Ende 2000 unterzeichnete Abkommen, wonach für die Nationalkonvention ein Gebiet westlich von Barrancabermeja unter Kontrolle der ELN und einer internationalen Überwachungskommission gestellt werden soll, bis heute nicht umgesetzt hat. Die Ultra-Rechte in Regierung, Armee und Industrie sowie das fehlende Interesse Pastranas an einem – vergleichsweise demokratischen – Verhandlungsmodell haben das Projekt gestoppt.
An dem Fall zeigt sich die Crux der kolumbianischen Verhältnisse. Sicher ist ein Friedens- und Reformprozess unter Mitwirkung der Bevölkerungsmehrheit sympathischer als bilaterale Verhandlungen zwischen Guerilla und Regierung. Und sicher ist auch, dass die ELN selbstkritischer mit Militarismus und Autoritarismus umgeht als die FARC. Doch was nützen gute Konzepte, wenn man sie nicht durchsetzen kann? Die Regierung Pastrana hört den FARC zu, weil diese der Armee seit 1996 immer wieder schwere Niederlagen zugefügt haben. Und das wiederum war den FARC möglich, weil sie (im Gegensatz zur ELN) den Koka-Handel besteuern, deshalb besser ausgerüstet sind und in ihren eigenen Reihen strenge militärische Disziplin eingeführt haben. Die ELN ist hingegen in den vergangenen 10 Jahren von einem (für eine Guerilla) ausgesprochen un-autoritären Stil geprägt gewesen, sie hat die politische Arbeit mit den Gemeinden höher als Militäroperationen bewertet und sich dem Koka-Geschäft verweigert. Das sind nicht die einzigen Gründe für ihre vergleichsweise geringe militärische Schlagkraft, aber doch drei sehr wichtige. Wer politisch in Kolumbien ernst genommen werden will, muss nicht nur Konzepte, sondern vor allem reale Macht vorweisen können. Es klingt bitter und ist für die Idee einer emanzipierten Gesellschaft nicht gerade verheißungsvoll – aber in Kolumbien lautet die Frage nicht so sehr, ob der Guerillakampf noch eine politische Perspektive besitzt, sondern eher, ob die Linke ohne Guerilla eine Perspektive hätte.

„Das Autonomie-Gesetz ist eine Totgeburt“

Der mexikanische Kongress hat Ende April den Gesetzesvorschlag der Cocopa (Kommission der Eintracht und Befriedung) zur indigenen Autonomie verabschiedet. Ist für Sie das Gesetz aufgrund der wesentlichen inhaltlichen Änderungen gegenüber dem Vorschlag – wie es die Zapatisten formulierten – ein Schlag ins Gesicht der Indigenas?

Ja, das ist es. Die Hauptforderung des Zapatistischen Befreiungsheeres (EZLN) war ja von Beginn an die Anerkennung der Autonomie der indigenen Völker als höchster Ausdruck ihrer Selbstbestimmung. Nach dem Gesetzesvorschlag der Cocopa sollte diese Autonomie unter anderem das Recht der indigenen Völker beinhalten, die natürlichen Ressourcen ihres Territoriums zu nutzen. Das Recht der gemeinschaftlichen Ressourcennutzung war naturgemäß der umstrittenste Punkt des Gesetzesvorschlages, da es nicht wie etwa das Recht auf eine selbstgewählte Regierung oder auf eine eigenständige Justiz bloß politische, sondern eben ganz erhebliche wirtschaftliche Interessen berührt. Denn eines darf man nicht vergessen: Chiapas ist in Mexiko einer der an natürlichen Ressourcen reichsten Bundesstaaten. Das Recht der Ressourcennutzung war Essenz und zugleich Seele des Gesetzesvorschlages der Cocopa. Denn im Gegensatz zur wirtschaftlichen Autonomie wird die politische Autonomie bereits jetzt de facto in vielen Kommunen praktiziert, auch wenn sie bisher noch nicht in der Verfassung verankert ist. Im Zuge der Gesetzesverabschiedung im mexikanischen Kongress wurde nun jedoch dieses für die indigenen Völker so wichtige Recht der Ressourcennutzung ersatzlos gestrichen.
Außerdem wird in dem Gesetzestext die Autonomie nur noch als ein „Recht des öffentlichen Interesses“ bezeichnet. An keiner Stelle wird den indigenen Völkern – wie von der Cocopa gefordert – öffentlich-rechtliche Subjektivität verliehen. Damit hat das vom Kongress verabschiedete Gesetz letztlich nur noch sehr wenig mit der Vereinbarung von San Andrés von 1996 und mit dem Gesetzesvorschlag der Cocopa zu tun. Für mich ist das Gesetz eine Totgeburt, die juristisch gesehen weder Wirkungen haben kann noch wird.

Wie beurteilen Sie dann im nachhinein den Marsch der EZLN von Chiapas in die mexikanische Hauptstadt? Kann man bei dem Ergebnis einer gesetzestechnischen Totgeburt noch von einem Erfolg der Zapatisten sprechen?

Doch, ohne Zweifel war der Marsch ein immenser Triumph der EZLN, weil er gezeigt hat, dass die zapatistische Bewegung auch auf nationaler Ebene über großen Rückhalt in der Bevölkerung des Landes verfügt, und zwar auch in den nicht indigenen Teilen. Die mexikanische Regierung wollte den Konflikt mit der EZLN ja stets regionalisieren, indem sie ihn als ein Problem allein von Chiapas darstellte. Diese Taktik kann nun nach dem Marsch endgültig nicht mehr aufrechterhalten werden. Ganz wesentlich war zudem, dass die VertreterInnen der EZLN bis zum letzten Moment ihre Würde gewahrt haben. Natürlich ändert dies nichts daran, dass das jetzt verabschiedete Gesetz zur indigenen Autonomie mit all seinen Defiziten eine herbe Enttäuschung ist, wenn auch für mich keine allzu überraschende.

Wie beurteilen Sie die Rolle der neuen mexikanischen Regierung Fox bei den Verhandlungen zu diesem Gesetz? Hat mit dem Regierungswechsel in Mexiko im letzten Jahr auch ein Wechsel in der Dialogführung mit der EZLN stattgefunden?

Ich würde sagen, dass es einen rein oberflächlichen Wechsel gab, nämlich in der öffentlich und medial kundgegebenen Haltung der beiden Präsidenten. Der neue Präsident Vicente Fox zeigte nach seinem Amtsantritt eine wesentlich offenere Haltung gegenüber der EZLN als sein Vorgänger Ernesto Zedillo. Er wollte sich ja sogar mit Subcomandante Marcos und den KommandantInnen der EZLN treffen. Oberflächlich gesehen hatte er also die volle Bereitschaft zum Dialog, was natürlich auch eine Art Pflicht für ihn war nach dem Regierungs- und Parteienwechsel und dem so genannten endgültigen Übergang Mexikos zur Demokratie. Tatsächlich jedoch war Fox von Beginn an ebenso wenig wie Zedillo bereit, mit der EZLN zu verhandeln.

Ernsthaftere Absichten scheint Fox dagegen bei seinem Projekt der Steuerreform zu haben. Er sagt, er wolle mit seinem Reformvorschlag die Armut in Mexiko bekämpfen …

… was eine völlig absurde Behauptung ist. Wenn Fox vorschlägt, die bisher von der Mehrwertsteuer ausgenommenen „básicos“, also insbesondere Nahrungsmittel und Medikamente, in Zukunft zu besteuern, dann ist doch jedem klar, dass darunter gerade die 54 Millionen MexikanerInnen, die in extremer Armut leben, leiden werden. Statt eine solche absurde Reform der Steuergesetzgebung anzugehen, wäre es an der Zeit, soziale Reformen anzupacken, die wenigstens einen Teil dieser Armen in den Arbeitsmarkt integrieren beziehungsweise reintegrieren.

Ein kleiner Trost bleibt: unter der neuen Regierung Fox kam es immerhin zu der völkerrechtlich historischen Entscheidung, den in Mexiko verhafteten argentinischen Ex-Fregattenkapitän und Menschenrechtsverbrecher Miguel Angel Cavallo an Spanien auszuliefern. Glauben Sie an eine Umsetzung dieser Entscheidung, wird also der spanische Untersuchungsrichter Garzón bald die Verbrechen von Cavallo aburteilen können?

Die durch den Außenminister bestätigte Entscheidung des mexikanischen Richters, Cavallo nach Spanien auszuliefern, war enorm wichtig, sowohl für das Völkerstrafrecht als auch für Mexiko. Es hat sich hier – ganz klar als eine Konsequenz des Falles Pinochet – ein neues Bewusstsein in der mexikanischen Justiz und Politik entwickelt, sich an die vom mexikanischen Staat unterzeichneten internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte gebunden zu fühlen. Diese Entwicklung geschah natürlich unter beachtlichem Druck durch die internationale Völkergemeinschaft, die ihre Augen auf die Entscheidung im Fall Cavallo gerichtet hatte. Ich bin nun jedenfalls recht optimistisch, was die Auslieferung Cavallos angeht.

Wie sieht Ihre persönliche Bilanz des 1994 von den USA, Kanada und Mexiko unterzeichneten Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA aus?

Diese Bilanz lässt sich sehr einfach darstellen: das Freihandelsabkommen NAFTA hat unzweifelhaft zu einer Verbesserung der Lebensqualität der US-AmerikanerInnen und KanadierInnen, hingegen zu einer Verschlechterung der Lebensqualität der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung geführt. Ein Teil der 25 Familien von Multimillionären in Mexiko mag von dem Abkommen profitiert haben, doch gesamtgesellschaftlich hat der Freihandel schlimme Entwicklungen in Mexiko ausgelöst. Dazu zählen insbesondere die Ruinierung der kleinen und mittelständischen Unternehmen und das Phänomen der „maquiladoras“ an der nördlichen Grenze Mexikos.
Die Migration in die USA ist eines der deutlichsten Zeichen dieser negativen Bilanz des Freihandelsabkommens für Mexiko: hätte das Abkommen auch nur annähernd die für Mexiko erhofften Vorteile gebracht, würden nicht täglich immer mehr MexikanerInnen auf der Suche nach einem besseren Leben in Nordamerika die Grenze überqueren wollen und dabei oftmals ihr Leben lassen.

Sie haben in Berlin als Prozessbeobachterin bei dem Prozess gegen fünf mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Zellen wegen des Vorwurfs des Terrorismus und zuvor auch an den Demonstrationen zum 1. Mai in Kreuzberg teilgenommen. Wie fällt nach diesen Eindrücken ein Vergleich zwischen dem deutschen und dem mexikanischen Rechtsstaat aus? Hat der deutsche Rechtsstaat Modellfunktion?

Als Menschenrechtsanwältin in Mexiko ist es meine Hauptaufgabe, von den Autoritäten die Einhaltung der rechtsstaatlichen Grundsätze einzufordern. Denn der mexikanische Staat verletzt fortwährend die Menschenrechte, etwa durch die sehr verbreiteten willkürlichen Festnahmen und Folterungen. Angesichts dieses täglichen Kampfes in Mexiko um den Rechtsstaat und seine Grundsätze erscheint mir nach meinen bisherigen Eindrücken hier in Deutschland eine exzessive Variante des Rechtsstaats zu bestehen. So gibt es hier zwar diese reife Form der Demokratie, die den Menschen erlaubt, etwa für die sexuelle Diversität auf die Straße zu gehen, was zur Zeit in Mexiko noch unvorstellbar ist. Allerdings sind die Freiheiten, die der deutsche Staat seinen BürgerInnen gibt, mit einer subtilen Kontrolle verbunden. Alles ist streng reglementiert, der deutsche Rechtsstaat wirkt sehr disziplinierend auf die Gesellschaft. Insoweit hat der deutsche Rechtsstaat meines Erachtens keine Modellfunktion.
Die Demonstration am 1. Mai in Kreuzberg ist ein gutes Beispiel für dieses Phänomen der Disziplinierung durch Legalität: meiner Ansicht nach war das Verhalten der Polizei dort in vielerlei Hinsicht exzessiv. Doch da die Demonstration ein paar Tage zuvor von den Berliner Verwaltungsgerichten verboten worden war, war dieses Verhalten eben legal. Man hatte es ja nun mit einer gerichtlich verbotenen Demonstration zu tun.

Interview: Niels Müllensiefen

KASTEN:
Zur Person: Alejandra Ancheita

Während ihres Studiums spezialisierte sich die mexikanische Rechtsanwältin Alejandra Ancheita auf die Rechte der Frauen und der indigenen Völker. Im vergangenen Jahr zeigte sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für das lateinamerikanische Zentrum für Gerechtigkeit und Völkerrecht (CEJIL) Menschenrechtsverletzungen vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte an. Zur Zeit arbeitet Ancheita in Mexiko-Stadt für eine Nichtregierungsorganisation, die sich vor allem für die Rechte von ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen einsetzt. Ende April diesen Jahres reiste die 1976 geborene Anwältin auf Einladung des Bildungswerks der Heinrich-Böll-Stiftung nach Berlin, um an einer Konferenz zum Thema „Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika“ teilzunehmen. Sie referierte über die Situation der Menschenrechte in Mexiko und über Diskriminierungen von Frauen in Argentinien, Peru und Guatemala. Bereits Ancheitas Vater hatte sich in Chiapas als Rechtsanwalt für die Rechte der indigenen Völker eingesetzt. 1985 wurde er von der Polizei festgenommen, gefoltert und ermordet.

Ein Schlag ins Gesicht der Indígenas

Nachdem die Zapatisten mit dem Marsch nach Mexiko-Stadt für die Würde der Indígenas die Zivilgesellschaft mobilisiert und begeistert hatten, verabschiedete der mexikanischen Kongress Ende April eine Verfassungsänderung, die die Rechte der Indígenas neu regelte. Hohe Erwartungen waren an die Parlamentarier gestellt worden. Umso größer waren Wut und Entäuschung bei den Vertretern der indigenen Völker und den Sympathisanten der Zapatisten, als sie erfuhren, dass der Gesetzesvorschlag der Komission für Eintracht und Frieden (Cocopa), der den Parlamentariern zur Abstimmung vorlag, in zentralen Punkten verändert worden war. Der Geist des Abkommens von San Andrés aus dem Jahr 1996, auf den dieser Vorschlag zurückging, wurde nicht beachtet, obwohl von verschiedenen politischen Parteien immer wieder gefordert worden war, sich an diesem einzigen Konsens zu orientieren. Aber nichts dergleichen passierte. In der Verfassungsreform wurde die Möglichkeit für die indigenen Völker, ihre Autonomie zu gestalten, auf die Gemeinde-Ebene beschränkt. Der Passus zur Eigenverwaltung des Territoriums wurde ersatzlos gestrichen, aus Furcht vor einer „Balkanisierung“ des mexikanischen Staates. Es sind aber nicht die Indígenas mit ihren selbstverwalteten Territorien, die zu einer Balkanisierung führen, sondern die Großgrundbesitzer und Caciques mit ihrer eigenen Hausmacht, den Paramilitärs. Das Konzept der Territorialität spielt eine zentrale Rolle im Denken der Indígenas. Ist das Territorium doch die materielle Grundlage für die gesellschaftliche Reproduktion und Ausdruck der unauflöslichen Einheit von Mensch-Erde-Natur. Der kollektive Nutzen an den natürlichen Früchten wie zum Beispiel Ernte, Holzeinschlag und Fischereirecht wurde zu Gunsten der Rechte Dritter, insbesondere der Großgrundbesitzer und Caciques, eingeschränkt. Im Gesetzesvorschlag der Cocopa wurden die indigenen Völker als Subjekt öffentlichen Rechts mit Rechten und Pflichten begriffen. In der Verfassungsreform werden sie wieder als das gehandelt, was sie immer waren: Subjekte öffentlichen Interesses, um die sich ein paternalistischer Staat kümmern soll. Das bedeutet, dass die Rechte an den natürlichen Früchten nur noch von einzelnen Betroffenen eingeklagt werden können und nicht mehr durch eine Gemeinschaft der Indígenas.
Die Antwort der Zapatisten auf die Verfassungsreform ließ nicht lange auf sich warten: „ Diese Verfassungsreform behindert die Ausübung der indigenen Rechte und bedeutet einen Schlag ins Gesicht der Indígenas und der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft. Mit dieser Reform wird die Tür zum Dialog und zum Frieden geschlossen. Sie verhindert die Lösung der Probleme, die zum Aufstand der Zapatisten geführt haben und gibt den verschiedenen bewaffneten Gruppen Recht, da diese Reform den Prozess des Dialogs und der Verhandlungen entwertet. …“

Geheime Verhandlungen im Parlament

Verschiedene Parlamentarier der sozialdemokratischen PRD bezeichneten den Tag der Verabschiedung als den schwärzesten Tag der jüngsten mexikanischen Geschichte. Wohl auch deshalb, weil ein Großteil ihrer eigenen Partei für diese Verfassungsreform im Abgeordnetenhaus stimmte. Dass die alte Regierungspartei PRI und die konservative PAN für die Reform stimmten, verwunderte niemanden. Warum aber stimmte die PRD mehrheitlich für die Reform? An fehlender Information lag es jedenfalls nicht. Der Experte zu indigenem Recht, Gilberto López y Rivas, ein ehemaliges Mitglied der Cocopa, informierte vor der Abstimmung die Fraktion der PRD, dass die vorliegende Reform nicht im Interesse der indigenen Bewegung sei. López y Rivas äußerte später seine grobe Verärgerung darüber, dass viele Abgeordente der PRD für die Reform stimmten, und dass die parlamentarischen Verhandlungen zu der Verfassungsreform fast ausschließlich im Geheimen abliefen.
Damit die Verfassungsreform gültig wird, muss sie von den einzelnen Bundesstaaten verabschiedet werden. Die Cocopa hofft auf eine zweite Chance für ihren Reformvorschlag, falls die Reform in den Parlamenten der einzelnen Bundesstaaten scheitert.
Dass die Zapatisten in ihrem Kommuniqué zur Verfassungsreform explizit die anderen bewaffneten Gruppen in Mexiko erwähnten, ist neu. Hatten die Zapatisten sich doch bis jetzt von den anderen Guerillas in Guerrero und Michoacan abgegrenzt und sich als eine Guerilla präsentiert, die nicht im herkömmlichen Sinn die Regierung stürzen, sondern einen Bewusstseinswandel in Politik und Zivilgesellschaft bewirken wollte.
Das mexikanische Militär wurde aus Chiapas nie abgezogen, sondern dort nur in andere Stellungen verlegt. Sieben Stellungen wurden, wie von den Zapatisten gefordert, vom Militär aufgegeben. Doch kommt es neuerdings wieder zu Truppenbewegungen. Verschiedene Beobachter gehen davon aus, dass das Militär in Alarmbereitschaft versetzt wurde.Der militärische Druck auf die Zapatisten wurde wieder erhöht, nachdem die EZLN den Dialog aufgekündigt hatte.
Freigelassene Paramilitärs begriffen die Verfassungsreform als eine Niederlage der Zapatisten und als ihren Sieg. Sie drangen in zapatistische Dörfer ein und marschierten triumphierend durch die Straßen.

Die große Enttäuschung

Die Hoffnung der indigenen Völker auf Autonomie und eine Integration ihrer Rechte in Verfassung und nationales Recht wurde durch diese Verfassungsänderung völlig entäuscht. Die militärische Situation in Chiapas und die Freilassung von Paramilitärs kann zu einer Eskalation der Gewalt führen und die niedrige Intensität des Krieges im Süden der Nordamerikanischen Freihandelszone Nafta wieder steigern. Selbst Bill Clinton hatte während seiner Amtszeit nicht mäßigend auf die mexikanische Regierung eingewirkt. Der Hardliner Bush wird dies noch weniger tun. Die EU forderte die Zapatisten auf, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren und schob die Verantwortung für die Situation der EZLN zu. In diesem Jahr haben Mexiko und die EU ein Freihandelsabkommen unterzeichnet, insofern werden die transatlantischen Beziehungen enger. Präsident Fox versteht es gut, sich international als Hoffnungsträger zu stilisieren, der die Vorherrrschaft der PRI gebrochen und die Demokratie nach Mexiko gebracht hat. Am Ende ihres langen Marsches sieht es heute wieder so aus, als ob die Zapatisten noch einmal von vorne beginnen müssten, unter neuen, aber gleichbleibend schlechten Ausgangsbedingungen.

Cumbia Cocopana

Der März und April, bevor die Regenzeit in Chiapas beginnt, sind die Zeit der Aussaat. Die Zapatisten sind vielmehr Bauern als Politiker oder Guerilleros. So waren sie etwas besorgt um ihre Felder, nachdem sie sechs Wochen in der Republik unterwegs waren. Aber als sie bemerkten, dass die Regenzeit noch nicht eingesetzt hatte, verflogen ihre Sorgen. Begeistert wurden die Comandantes begrüßt, als die Autokarawane in La Realidad, Chiapas, gegen Mitternacht des 5. Aprils ankam. Tausende von Männern und Frauen standen an der Straße nach Aguascalientes und applaudierten den vorbeifahrenden Zapatisten. Sprechchöre waren zu hören: „Marcos, ruh dich aus, das Volk macht Fortschritte!“ Auf einen Schlag wurden alle Lichter im Dorf angeschaltet, eine Band spielte Cumbia und die Party begann.
Marcos beendete den Marsch mit einer Rede in der er sich für die breite Unterstützung bei den unterschiedlichen Akteuren bedankte. Dass die Sympathie und Solidarität mit den Zapatisten solche Ausmaße annehmen würde, hatte auch er nicht erwartet. Er äußerte die Hoffnung, dass die letzten gefangenen Zapatisten aus den staatlichen Gefängnissen frei gelassen, die Militärbasen der mexikanischen Armee in Chiapas aufgelöst und dass die Verfassungsreform zu den Rechten und Kultur der Indígenas verabschiedet würden. Dann wurde gefeiert.
Der Sub und die Comandantes feierten bis früh in den Morgen. Marcos gab in dieser Nacht keine Interviews: „Im Moment kann ich gar nichts sagen, der Ball ist auf einem anderen Spielfeld.“

Comandanta Esther vor dem Kongress in Mexiko

Nachdem die vier Comandantes der Zapatisten am 28. März vor dem mexikanischen Kongress gesprochen haben, sind nun die politischen Institutionen des mexikanischen Staates gefordert. Es war die Kommandantin Esther, als Frau und Indígena doppelt marginalisiert, die zur Überraschung aller die zentrale Botschaft der EZLN für das politische System verkündete und nicht wie erwartet der Subcomandante.
„Wir sind nicht gekommen um zu betteln, um jemanden zu besiegen oder jemanden von seinem Platz zu verdrängen, sondern wir sind gekommen um zuzuhören und gehört zu werden.“
Sie entwarf ein ideales Bild von der mexikanischen Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen nicht dazu führten, das eine Gruppe unterdrückt werde, sondern gerade die Differenz zwischen Indígenas und Nicht-Indígenas die Möglichkeiten für einen Dialog darstellten, in dem die Normen des gemeinsamen Miteinanders verhandelt würden.
Besonders die indigenen Frauen würden in der mexikanischen männerdominierten Gesellschaft am Rand stehen und weniger Rechte haben. Land dürften zum Beispiel nur Männer besitzen. Somit seien Frauen auch von den Versammlungen der Bauern ausgeschlossen. Aber vor allem seien sie von der Armut betroffen, die bei ihren Kindern zur Unterernährung und zum Tod führe. „Ich erzähle ihnen dass nicht, damit sie uns bemitleiden oder uns aus dieser Situation erlösen, nein, wir kämpfen um diese Lage zu ändern, und wir werden weiter kämpfen. Aber es ist notwendig, dass dieser Kampf Eingang in die Gesetzte findet. Der Moment ist gekommen, den Gesetzesvorschlag der Cocopa zur indigenen Autonomie im Kongress zu verabschieden.“

Bedingungen für einen Dialog

Dieses Gesetz sieht eine Anerkennung der kulturellen und politischen Autonomie der indigenen Gemeinden vor. Konkret bedeutet das, dass die politische Organisation einer Gemeinde, die Organisation der Arbeit und die Verteilung des Landes die Gemeinde selbst bestimmt. Ihre eigenen Ausdrucksformen religiöser, sprachlicher und medizinischer Art werden in diesem Gesetz anerkannt. Den Frauen werden die gleichen Rechte zu gesprochen wie den Männern. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist eine Bedingung der Zapatisten für die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen der Regierung und EZLN.
Die zweite Bedingung ist der Rückzug des Militärs aus Chiapas. Am 20. April wurden drei Stellungen in der Selva Lacandona vom Militär verlassen, was die Zapatisten als ein ehrliches Friedensangebot interpretierten. Auch zur dritten Forderung der EZLN, der Freilassung der zapatistischen Gefangenen, scheint die Regierung aktiv zu werden. In seiner abschließenden Rede bei der Ankunft in La Realidad sagte Marcos, dass die meisten der Gefangenen bereits freigelassen worden sein.
Im Kongress und seinen Ausschüssen wird seit dem Marsch der Zapatisten nach Mexiko-Stadt über den Gesetzesvorschlag der Cocopa diskutiert. „Die politische Logik verlangt es, dass der Vorschlag verabschiedet wird, damit ein Frieden in Chiapas erreicht und die Situation der indigenen Völker und der mexikanischen Gesellschaft gelöst wird. Nun ist der Moment gekommen, in dem gehandelt werden muss, um das Begleichen der sozialen Schuld nicht weiter zu verzögern.“ So erklärte der Regierungssekretär Santiago Creel die Position von Präsident Fox. Als “zu vage und zu unpräzise“ kritisierte Jesús Ortega von der sozialdemokratischen PRD die Position der Regierung und meinte, der einzige Zweck einer solchen Äußerung sei das positive Echo in den Medien.
Wie nun dieser historische Moment genutzt werden kann, darüber besteht bei den politischen Technokraten Mexikos Uneinigkeit.

Hektischer Aktivismus im Senat

Eine Mehrheit von PRI, PAN und Grünen setzte sich im Senat durch und machte Nägel mit Köpfen. Am 24. April wurde das Gesetz zur indigenen Autonomie verabschiedet und zur ersten Lesung in das Abgeordentenhaus gegeben.
Dass der Gesetztesvorschlag der Cococpa bis zur bevorstehenden Parlamentspause ab dem 30. April unbedingt durchgebracht werden musste, kann als Versuch interpretiert weden, eine eingehend Diskussion zum Thema der indigenen Rechte zu vermeiden. So kam es zu einem solchen hektischen Aktivismus, nachdem die Zapatisten nach Mexiko-Stadt marschiert waren, wohlgemerkt ganz ohne Eile. Seit sechs Monaten liegt der Gesetzesvorschlag dem Senat zur Abstimmung bereits vor. Die Inhalte um die es geht, die Rechte der indigenen Völker wurden bereits 1996 in San Andrés verhandelt und stehen außerdem seit 500 Jahren auf der Agenda der Menschenrechte. Einzig und allein die PRD vertrat den Standpunkt, man könne das Gesetz auch nach der Parlamentspause verabschieden. Für die PRD ist es wichtig, dass in diesem Gesetz der Geist des Abkommens von San Andrés nicht verletzt wird, doch gegen eine Koalition von PRI und PAN ist im Kongress keine Entscheidung möglich. Von Vertretern der beiden größten Parteien wird die Gefahr der Balkanisierung des mexikanischen Staates befürchtet. Die Möglichkeit einer Vereinigung der indigenen Völker wurde daher aus dem Gesetzestext gestrichen.
Auf die Frage eines Journalisten an Präsident Fox nach der Entscheidung des Senats, ob er eine Nachricht an die Zapatisten habe, antwortet dieser: „Nein, nein, nichts, alles läuft hervorragend!“

Eine Autonomie, die keine ist

Dieser schnelle Beschluss des Senats ermöglicht es dem Präsidenten das Bild einer handlungsfähigen Demokratie zu präsentieren und auf den enormen Medienerfolg der Zapatisten zu antworten.
Der Gesetzesvorschlag ist im Senat nur mit grundlegenden inhaltlichen Änderungen verabschiedet worden. So wurde der Pasus zur Territorialität und dem gemeinschaftlichen Nutzen der natürlichen Ressourcen ersatzlos gestrichen. In dem neuen Gesetzestext werden die indigenen Völker nicht mehr als Subjekte öffentlichen Rechts bezeichnet, was zur Folge hat, dass sie nicht als eine juristische Einheit auftreten können.
„Das ist keine Autonomie. So wird den indigenen Völkern die Möglichkeit genommen, als Subjekte öffentlichen Rechts eigene Entscheidungen zu fällen.“ Der Anwalt Adelfo Regino Montes vom Congreso Nacional Indígena (CNI) äußert sich sehr besorgt zu der Version, die vom Senat verabschiedet wurde. Das Konzept eines gemeinschaftlichen Territoriums und der gemeinsamen Nutzung werde durch das neue Gesetz ausgehölt. Genau das ist einer der zentralen Kritikpunkte der Zapatisten an der politischen Sprache Mexikos: Sie ist inhaltsleer und ohne Seele.
Wer gehofft hatte, dass der Marsch der Zapatisten die Betonköpfe der konservativen Politikern dazu bewegt hätte, wirklich zuzuhören, der wird von der Eile mit der dieses Gesetz in wenigen Tagen durchgepeitscht werden soll, enttäuscht.

mehr Infos im Internet unter:
www.ezlnaldf.org
www.narconews.com/zapatistacarvan.html

“Hier sind wir und Spiegel sind wir”

Das zapatistische Befreiungsheer EZLN hat Mexiko-Stadt mit friedlichen Mitteln eingenommen. Unbewaffnet gelangen die 23 Comandantes an ihr Ziel. 3000 Kilometer haben sie auf ihrem Marsch, den sie den „Marsch der Würde“ tauften, zurückgelegt. Zwei Wochen haben sie dafür benötigt. Sie selbst sagen, es seien sieben Jahre gewesen, und dass sie keine Eile gehabt hätten, weil sie diese nicht kennen würden. Sie sagen, sie hätten gelernt zu warten und Widerstand zu leisten, denn dieser dauere nun schon 500 Jahre.
Ein wenig mehr als sieben Jahre ist der Aufstand der Zapatisten her, sieben Jahre auch, dass Zehntausende von Menschen den Zócalo füllten, um für einen Waffenstillstand und eine politische Lösung des Konflikts zu demonstrieren. Fast 200 000 Personen finden sich an diesem 11. März auf dem Hauptplatz der Stadt ein, um den Guerilleros zuzuhören und mit ihnen eine Verfassungsreform auf Grundlage der Beschlüsse von San Andrés zu fordern. Für ein Mexiko, in dem viele Mexikos Platz haben.

Die Reise beginnt

An jedem Ort, an dem die Zapatisten auf ihrer Reise halt machen, sind die Reaktionen unterschiedlich. Zum Teil begleitet ein Fanatismus wie bei den Backstreetboys die Rundreise. Subcomandante Marcos war es selbst, der vor kurzem sagte, er entwickele sich unfreiwillig zu einem „Ricky Martin der Armen“. Auf dieser Reise versucht er, dem ein wenig Abhilfe zu schaffen. In seinen Reden hält er sich kurz, seine Sprache ist meist konkret und schlicht.
Auf der anderen Seite ist die Unterstützung zahlreicher indigener Gemeinden und Organisationen immens. So zum Beispiel in Oaxaca, dem Nachbarstaat von Chiapas und der ersten Etappe der Reise. In der dort verlesenen Stellungnahme danken sie bewundernd der großen Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde und dem Kampfgeist der Compañeros. Der Öffentlichkeit erklären sie: „Wir wollen nicht in die Vergangenheit zurück. Aber wir wollen auch nicht in ihr weiterleben und weitersterben. Wir wollen die Wissenschaft und die Technik, aber nicht um die Erde und das gute Denken zu zerstören, sondern um beide besser und reicher zu machen. Wir wollen aus der Sklaverei heraus, in die uns der Mächtige zwingt, aber nicht, um ihm gleich zu werden, dumm also und pervers. Wir wollen in der Gegenwart leben und uns allen gemeinsam eine Zukunft aufbauen. Was wir aber nicht wollen, ist aufhören Indígenas zu sein…“

Das große Treffen der Indígena-Organisationen

Nach einer Woche treffen die Guerilleros in Michoacán ein, um am Nationalen Indígena Kongress (CNI) teilzunehmen und gemeinsam über die Anerkennung ihrer Rechte zu debattieren.
Zur selben Zeit übertragen fünf Fernsehkanäle ohne Werbepausen das vierstündige Megakonzert „für den Frieden“ in Mexiko-Stadt. Seit Wochen sammeln die Sender zusammen mit einigen Supermarktketten Unterschriften „für den Frieden“ und vertreiben grüne Schleifen zum Anstecken als „Erkennungszeichen für den Frieden“. Das Konzert ist der wichtigste Moment in der Medienkampagne, um den „Marsch der Würde“ für die Öffentlichkeit in einen „Marsch für den Frieden“ umzudeuten.
„Heute wollen sie uns zur Mode machen. Heute wollen sie aus uns ein Spektakel machen. Eine vorübergehende Nachricht. Heute wollen sie uns vergänglich, flüchtig, verwerflich vorhersehbar, entbehrlich machen“, so die Zapatisten zeitgleich auf dem CNI jenseits der Scheinwerfer.
Während die eine Seite des Konfliktes die öffentliche Meinung als den Ort der Politik versteht, begreift die Andere ihn als einen Ort des politischen Kampfes, aber als Einen unter vielen.
Die Abschlussrede des EZLN auf dem Kongress ertönt wie eine Legende: „Und so ist es, dass uns unsere ältesten Häuptlinge sagten: Es ist die Zeit des Wortes. Verwahre also die Machete, und schärfe die Hoffnung… Lerne mit dem Herzen zu sprechen, das in dem Anderen pocht. Sei klein gegenüber dem Schwachen und mach dich groß mit ihm. Sei groß gegenüber dem Mächtigen und willige nicht stumm ein in die Erniedrigung, die uns widerfährt.“

Weiter nach Guerrero

Einen Tag später, am vierten März setzen die Zapatisten den Marsch fort, der ab jetzt auch der Marsch des CNI ist. Und sie gelangen nach Guerrero, einem der ärmsten Bundesstaaten, wo in den siebziger Jahren bedeutende Guerillagruppen agierten, die samt ganzer Dörfer ausgelöscht wurden. Die Bauern haben Tagesreisen zu Fuß zurückgelegt, um den Zapatisten zuzuhören, ohne Verherrlichung, aber mit ernsthafter Aufmerksamkeit. Hier, wo die politische und militärische Repression mit am schlimmsten war und ist, formierten sich seit 1994 zwei neue Guerillagruppen. Die Erfüllung der drei Forderungen für die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen (Räumung von Militärstützpunkten, Freilassung aller zapatistischen Gefangenen, Verfassungsreform auf Grundlage der Beschlüsse von San Andrés) sei die Möglichkeit, eine weitere Unterdrückung und Radikalisierung dieser bewaffneten Gruppen zu verhindern. Sie sei “die Tür für einen wahrhaftigen Dialog, ohne Militarisierung und politische Gefangene“, so die Zapatisten in Guerrero.
„Vicente Fox steht vor einer Herausforderung“, spricht der Subcomandante Marcos, „einer Herausforderung für die er eine Vision für den Staat braucht.” Aber nicht nur er, sondern auch die Legislative stehe vor dieser weitsichtigen Herausforderung, die beinhalte, „mit den Abgeordneten des Kongresses ernsthaft zu diskutieren und die höchste Bühne der Republik zur Verfügung zu stellen, damit sie alle miteinander reden und sich gegenseitig zuhören könnten.“

Einzug in die Hauptstadt

11. März: Der CNI und das EZLN erreichen den Zócalo der Hauptstadt. Die Versammlung wird bezeichnender Weise nicht im Fernsehen übertragen. Die Anwesenden hören die Namen der 52 indigenen Ethnien des Landes. In absoluter Stille lauschen sie den Guerilleros: „Hier sind wir und Spiegel sind wir. Nicht das Licht, sondern gerade einmal der Funken. Nicht der Weg, sondern gerade einmal ein paar Schritte. Nicht der Wegweiser, sondern lediglich ein paar Richtungen, die ins Morgen führen. Wir sind nicht gekommen, um dir zu sagen, was du machen sollst, auch nicht, um dir den Weg zu weisen. Wir sind gekommen, um dich bescheiden und respektvoll zu bitten, dass du uns hilfst. Dass du nicht zulässt, dass es Tag wird, ohne dass diese Fahne (die Nationalflagge) auch für uns einen würdigen Platz hat.“

Übersetzung: Anne Becker

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