Abschiebungen à la Carte

Der Umgang mit AusländerInnen ist für einen Staat eine schwierige Sache. Einerseits sind sie mögliche Investoren und können in materieller Hinsicht nützlich sein. Andererseits sind sie potentielle Störenfriede, die den gewünschten Ablauf der Dinge durcheinanderbringen können. Zu letzteren gehören mit Sicherheit AusländerInnen, die sich aus politischen Gründen im Land aufhalten und/oder sich hier politisch betätigen. Diese AusländerInnen müssen gut überwacht werden.
In dieser Überwachung übten sich die mexikanischen Behörden in letzter Zeit wiederholt. Im Fall der Festnahme von vier Basken am 15. und 16. Januar in México D. F. gingen die Beamten der Einwanderungsbehörde noch einen Schritt weiter: Miguel Santiago Izpura García, Josu Gotzon Larrea Elorriaga, José Angel Ochoa de Eribe und Mikel Arrieta Yopiz wurden an den spanischen Staat ausgeliefert.
Derzeit erhärten sich die Hinweise darauf, daß die mexikanische Migrationsbehörde (INM) eng mit dem spanischen Geheimdienst zusammenarbeit. Im Vorfeld der Festnahmen waren die Aufenthaltsorte der vier Männer, denen von spanischer Seite Mitgliedschaft in der baskischen Separatistenorganisation ETA vorgeworfen wird, genau ausgeforscht worden. Wie Rafael Alvarez vom Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro beschreibt, werden AusländerInnen baskischer Herkunft in Mexiko verstärkt überwacht: „Die Aktivitäten der Basken in Mexiko werden andauernd kontrolliert. Ihre Aufenthaltsorte werden festgestellt, und sie werden auf der Straße fotografiert. Das macht die mexikanische Regierung nicht aus eigener Initiative, sondern auf Wunsch der Spanier.“

Erfolgreiche Auslieferung

Als mögliche Motive nennt Alvarez das Interesse der mexikanischen Regierung an einer festeren wirtschaftlichen Bindung an Spanien. Den Ausgelieferten war keinerlei Möglichkeit gegeben worden, sich juristisch zu verteidigen.
Nach der offiziellen mexikanischen Version wurden die vier Männer wegen illegalem Aufenthalt festgenommen und ausgewiesen. Das Außenministerium in México D. F. stritt ab, mit der Auslieferung aktiv in den Konflikt zwischen dem spanischen Staat und der ETA einzugreifen. Die Generalstaatsanwaltschaft verneint außerdem jegliche Zusammenarbeit mit ausländischen Agenten in Mexiko.
Demgegenüber stehen die Einschätzungen verschiedener Menschenrechtsorganisationen: Allein die Tatsache, daß seit der Amtsübernahme von Präsident Ernesto Zedillo 1996 zehn Bürger baskischer Herkunft an Spanien übergeben wurden, spricht nach Meinung von Miguel Agustin Pro eindeutig für eine Zusammenarbeit der mexikanischen und der spanischen Regierung. Und: Bei Unregelmäßigkeiten, die den Aufenthaltsstatus von AusländerInnen in Mexiko betreffen, sehen die Einwanderungsgesetze als letzte Maßnahme die Ausweisung in ein Drittland, keinesfalls aber die Abschiebung in das Herkunftsland, geschweige denn eine Auslieferung, vor. Zwischen Mexiko und Spanien besteht außerdem keinerlei offizielles Auslieferungsabkommen.
Den Abgeschobenen stehen Gerichtsverfahren wegen der angeblichen Teilnahme an verschiedenen Aktionen und Anschlägen der ETA in den achtziger Jahren bevor. Für Madrid bedankte sich der spanische Außenminister bei den mexikanischen Behörden für „die Hilfe im Kampf gegen den Terrorismus.“ Die Angeklagten gaben bekannt, sowohl von den mexikanischen als auch von den spanischen Behörden mißhandelt worden zu sein.
Zur gleichen Zeit startete die mexikanische Einwanderungsbehörde eine Kampagne zur „Humanisierung“ der Migrationspolitik. In einer Pressemitteilung der Behörde wurde allen Personen, die keinen gesicherten und ordentlichen Aufenthaltsstatus hätten, Unterstützung bei der Regulierung ihrer Situation angeboten. Die sonstigen bürokratischen Hindernisse einer Regulierung, wie Wartezeiten und das Verlangen schwer beschaffbarer Dokumente, sollten reduziert werden. Mit dieser Hilfe, so das INM, könnte für Betroffene das Risiko vermieden werden, sich „über zwielichtige Kontakte“ Dokumente beschaffen zu müssen. Das Angebot gilt für das ganze Land, sämtliche Amtsleiter der Distrikte haben bereits, so die Mitteilung, entsprechende Anweisungen erhalten.
Im Gegensatz zu diesen Ankündigungen zeigte die INM wiederum Härte, als sie Anfang des Monats 50 AusländerInnen, die im Umfeld von Menschenrechtsorganisationen im Bundesstaat Chiapas tätig waren, in ihre lokale Behörde nach Tuxtla Gutiérrez zitierte. Diese sollten zudem Vorwurf befragt werden, an der Jahresfeier der aufständischen EZLN (Nationale Zapatistische Befreiungsarmee) teilgenommen zu haben. Zu den Anhörungen erschien nur ein geringer Teil der Zitierten, die Mehrzahl reiste nach eigenen Aussagen aus Angst vor den mexikanischen Behörden direkt ab.

… mißglückter Abschiebungsversuch

Der US-Amerikaner Kerry Andrew Apple, Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Global Exchange in Chiapas, wurde nach der Befragung durch die INM zur Ausreise aufgefordert. Zudem verhängte die Behörde ein dreijähriges Einreiseverbot gegen ihn.
Das jesuitische Menschenrechtszentrum Pro Juárez bezeichnete das Vorgehen der INM als „ausländerfeindliche Politik und legalisierte Repression“. Zahlreiche frühere Fälle, in denen MenschenrechtsaktivistInnen ausgewiesen wurden, sind bekannt. An die Öffentlichkeit kam in diesem Zusammenhang auch, daß einem anderen US-Amerikaner namens Tedford Lewis, der ebenfalls in den Diensten von Global Exchange steht, jüngst von der mexikanischen Botschaft in Washington das Einreisevisum verweigert wurde.
Die rechtlichen Grundlagen für das Vorgehen der mexikanischen Einwanderungsbehörde sind zumindest zweifelhaft. Der vielzitierte Artikel 33 der Verfassung – Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes -, oftmals gegen unliebsame AusländerInnen angewandt, gehört eigentlich nicht in das Instrumentarium der Behörde. Seine Anwendung ist dem Innenministerium selbst vorbehalten. Vielleicht aufgrund dieser Koordinierungsschwierigkeiten der Behörden gelang es Kerry Apple mit Unterstützung verschiedener humanitärer Organisationen schließlich, erfolgreich Widerspruch gegen seine Ausweisung einzulegen.
Die Aktivitäten der Einwanderungsbehörden erklärte Alejandro Carrillo Castro, Leiter der INM, in einem Interview mit der Tageszeitung La Jornada so: „Die Regierung hat generell größtes Interesse an der Überwachung. Die Aktivitäten von Ausländern werden nicht verboten, aber kontrolliert.“
Auch die Regulierung des Aufenthaltsstatus für AusländerInnen dient, unter diesem Aspekt betrachtet, in erster Linie der Erfassung möglicher Störenfriede. Ein willkommener Nebeneffekt dieser Einschüchterungsversuche könnte sein, daß die Zahl der BeobachterInnen der im Juli stattfindenden Präsidentschaftswahlen geringer wird und deswegen leichter unter Kontrolle zu halten ist.

Der Widerstand einer verlorenen Generation

In Eurer Zeitschrift bezeichnet Ihr die Streikenenden als Angehörige einer „Generación Güey“. Was soll dieser Terminus bedeuten?

„Güey“ ist ein Slangausdruck. Das Wort bedeutet in etwa „amigo“ (Freund). „Hola güey“, „¿Cómo estás, güey?“ „adiós güey“ – das Wort wird in freundlichem Tonfall benutzt. Aber auch beleidigend oder abwertend, z.B. „pinche güey“ etc. Der Terminus „Generación Guey“ soll die diskursive Begrenztheit dieser Generation beschreiben. Ihre ganze Welt paßt in fünf Sätze: „Hola güey“, „Qué onda, güey“, „Cómo estás, güey“, „pues aquí, güey“, „Me vale madre, güey“. Damit können die Jugendlichen ihr soziales Leben ohne Probleme bestreiten.
Wir benutzen den Terminus, um eine Generation von Jugendlichen zu bezeichnen, die durch die kommerzielle Kulturindustrie geprägt ist. Diese versucht die Errungenschaften von 1968 zurückzudrehen – im Bereich der sexuellen Freiheiten, der politischen Freiheiten und des kritischen Denkens, die in den 70er und bis in die 80er Jahre mit der Explosion des Punks in unserem Land die jugendlichen Generationen charakterisiert hatten. Auch die 80er Jahre haben neue Formen, rebellisch zu sein, hervorgebracht. Aber es scheint, daß in den 90er Jahren die kulturellen Institutionen bei der Kontrolle der Jugendlichen sehr gut funktioniert haben. Bei der „Generación Güey“ handelt es sich um eine Generation, die durch ihren Individualismus und durch einen hohen Grad an Entfremdung und Anonymität charakterisiert ist. Das ist das Ergebnis des kulturellen Klimas, das die Institutionen in unserem Land herbeigeführt haben. Es ist eine Generation von Fernsehabhängigen mit einer sehr reduzierten Weltsicht. Was wir allerdings beim Streik zur Zeit beobachten, ist das Aufwachen dieser Generation mit einem sehr wütenden, sehr rebellischen Geist gegenüber der Gesellschaft.

Wie ist es möglich, daß eine offensichtlich recht apolitische Jugendgeneration plötzlich eine Streikbewegung trägt, die alle Rekorde bricht? Was sind die sozialen Grundlagen einer Bewegung, die seit neun Monaten von einigen tausend Jugendlichen mit einer erstaunlichen Energie und Radikalität in einem feindlichen gesellschaftlichen Kontext vorwärts getrieben wird?

In unserem Land haben nur dreizehn von hundert Jugendlichen Zugang zu höherer Bildung. Das ist halb soviel wie in einem Land wie Costa Rica. Das ist eine dramatische Situation, die durch die Politik der neoliberalen Modernisierung herbeigeführt wurde, die in Mexiko sehr drastisch verlaufen ist. Diese Politik hat auf Biegen und Brechen versucht, die Anzahl der Studierenden zu reduzieren, die staatlichen Bildungseinrichtungen auf ein Mindestmaß einzuschränken und die Privatisierung der Bildungseinrichtungen durchzuführen. Und das, obwohl in unserem Land die staatliche und kostenlose Bildung ein konstitutionelles Recht ist.
Wir haben also diese Minderheit von dreizehn Prozent der Jugendlichen, die es auf die Universität schafft. Im Fall der staatlichen Universitäten, wie der UNAM, gehören sie zu den verarmten Mittelschichten. In unserem Land erleben wir seit 1982 einen brutalen Zerstörungsprozess der Mittelschichten. Ein großer Teil der Mittelschicht hat den ungezügelten Zerfall ihres Lebensstandards und ihres sozialen Status erlebt. Es ist eine Generation des wirtschaftlichen Desasters. Die Jugendlichen der 80er Jahre wurden als die „Kinder der Krise“ bezeichnet. Diese Generation hat bereits den unaufhaltbaren Zerfall ihres Lebensstandards erlebt. Aber die heutige Generation von Jugendlichen hat überhaupt keinen Wohlstand erlebt. Sie hatten seit sie geboren sind, keinen Zugang zu Wohlstand. Ihre Familien sind zerbrochen, auf allen Ebenen.
Die Jugendlichen haben erlebt, wie ihre Familien mit großen Kraftanstrengungen versuchten, gegen den Verarmungsprozess zu kämpfen. Es ist eine Generation, die aus einer sehr defensiven Kultur kommt, einer Kultur des Widerstandes. Viele der Eltern der Streikenden haben selbst Erfahrungen in den Kämpfen der Linken gemacht.
Die Jugendlichen müssen während des Studiums arbeiten, um sich über Wasser halten zu können. Die meisten arbeiten im Servicebereich, in kleinen Unternehmen. Es handelt sich also um eine Generation mit großen sozialen und wirtschaftlichen Problemen, aber mit hohen Konsumansprüchen, die durch die kommerzielle Kulturindustrie, das Fernsehen etc. provoziert werden. Es gab niemals eine Generation mit einem Zugang zu so unterschiedlichen potentiellen Konsummöglichkeiten, obwohl sie es sich nicht leisten können, diese zu nutzen. In diesem Kontext hat die angekündigte Erhöhung der Studiengebühren eine unglaubliche Wut entzündet. Denn es dreht sich nicht nur um die Gebühren, sondern schlicht um die Verweigerung der Zukunftschancen dieser Generation.

Der Streik hat eine Jugendkultur hervorgebracht, die wir in Europa so nicht kennen. Es ist eine Fusion unterschiedlicher Elemente, die uns aus etablierten Jugendkulturen wie dem Punk, SKA und Hiphop bekannt sind. Aber es ist trotzdem etwas anderes. Wie läßt sich die Strömung beschreiben?

In der Universität gab es nie eine so vielfältige Explosion kultureller und gegenkultureller Optionen von urbanen „Stämmen“ wie heute, die von konformistischen Jugendlichen bis zu Punks und Post-Punks reichen. Der urbane „Stamm“, der am deutlichsten hervortritt, ist hier als die „eSKAtos“ bekannt. Sie hören SKA Musik. Ska ist in Mexiko seit den 80er Jahren ein direkter Nachfahre des Punks. Es ist eine sehr vorwärtstreibende, rhythmische Musik, die sehr gut tanzbar ist. In der Universität gibt es jede Menge SKA-Bands. Der Inhalt ihrer Texte ist klar als links zu bezeichnen. Sie drehen sich um den Widerstand, die Kämpfe der Indígenas in Chiapas, die Verzweiflung dieser Generation, die Arbeitslosigkeit, Gewalt auf den Straßen. Die Texte sind sehr kritisch. Allerdings muß man sagen, daß innerhalb der Streikbewegung kein urbaner „Stamm“ dominiert. Es ist vielmehr ein Mosaik kultureller Optionen. Die Mehrheit der Streikenden hat sich vor dem Streik keinem urbanen „Stamm“ zugeordnet. Aber jetzt kämpfen sie um eine Identität.

Du beschreibst die Kultur als SKA, aber es ist zumindest im Vergleich zu Europa etwas anderes. Dort ist SKA zwar auch politisch und links, aber vor allem spaßbetont. Was bei den Streikenden der UNAM auffällt, ist aber ihre Entschlossenheit, ihre Verzweiflung und ihr Durchhaltevermögen bis zur kompletten Erschöpfung. Wie erklärst Du Dir das?

Was aus dieser Bewegung etwas Neues macht, ist, daß sie von Beginn an horizontale Organisationsformen angenommen hat. Ganz im Gegensatz zu früheren Studentenbewegungen wie 1986/87, in denen immer sehr lokalisierte Führungsgruppen aufgetaucht sind, in denen immer dieselben geredet und die Versammlungen geleitet haben. Damals wurde der Streik faktisch von drei Personen angeführt, die heute von der PRD kooptiert sind. In dieser Bewegung haben es die Streikenden von Anfang an nicht erlaubt, daß es feste Repräsentanten gibt. Das ist ein Element, das sie von den Zapatisten übernommen haben. Alle repräsentativen Kommissionen sind rotierend. Auch auf den zentralen Versammlungen des Consejo General de Huelga (CGH) – des Obersten Streikrates –, an denen die Delegierten der 40 bestreikten Institute teilnehmen, wird die Versammlungsleitung rotierend bestimmt. Auch der Ort der CGH-Versammlungen wird ständig gewechselt. Sie finden nicht mehr im mythischen Auditorio Che Guevara, das von den Streikenden von 1968 so getauft wurde, statt, sondern in verschiedenen Fakultäten, auch in den Schulen in den Peripherien der Stadt. Das verleiht dem Streik einen sehr horizontalen Charakter.
Wir denken, daß diese horizontale, sehr demokratische Struktur der Bewegung die hauptsächliche Quelle der Kraft der Bewegung darstellt. Es ist eine sehr widerständige Bewegung, die alle Rekorde gebrochen hat. Sie hat gezeigt, daß diese Generation über eine enorme Fähigkeit des Widerstands verfügt.
Allerdings enthält diese Organisationsweise auch ihre Schwächen. Sie hat die Zeithaushalte gegenüber anderen Bewegungen komplett verändert. Es ist eine soziale Bewegung, die langsamer funktioniert als andere. Alle Vorschläge, die im CGH diskutiert werden, müssen auf den Versammlungen in den Instituten besprochen und abgestimmt werden. Wenn das geschehen ist, tragen die Delegationen der Institute die Beschlüsse wieder in den CGH. Das ist sehr interessant, weil dadurch etwas entstanden ist, was es früher nicht gab: Jugendliche, die früher unpolitisch waren, mußten einen politischen Lernprozeß durchlaufen. Sie müssen jeden Schritt, den die Bewegung geht, diskutieren. Jeder Streikende sieht die Probleme der Organisation und der Bewegung als seine eigenen an.

Kannst Du ein bißchen genauer erklären, wie der CGH funktioniert?

Der CGH umfaßt die Delegationen der unterschiedlichen bestreikten Institute und Schulen. Es lohnt sich anzuschauen, wie die Delegationen in die Versammlung kommen. Die Szene erinnert an den Film „Warriors“, in dem die Delegierten verschiedener Gangs aus New York zu einer Versammlung in einem Stadion einlaufen. Dasselbe geschieht beim CGH. Es kommen die Delegierten verschiedener „Stämme“. Es sind viele Post-Punks dabei, viele Hip-Hoppers, die cholos mit ihren weiten Hosen, die „eSKAtos“. Die Delegationen stecken im Versammlungssaal ihr Territorium ab und ordnen sich nach verschiedenen politischen Strömungen. Meistens nehmen zwischen 1.000 und 1.500 Leute an den wöchentlichen CGH-Marathonsitzungen teil. Die Diskussion fängt abends an und dauert immer bis zum nächsten Vormittag, oft auch bis zum Nachmittag. Die längste ununterbrochene Diskussion dauerte 36 Stunden. Zuerst lesen die Delegierten die Resolution ihres Instituts vor. Sie müssen sich dabei persönlicher Meinungen enthalten und wortwörtlich vorlesen, was ihre Versammlung beschlossen hat. Danach – so etwa um drei Uhr morgens – zieht sich die Diskussionsleitung zu einer Beratung zurück, um aus den Resolutionen der Delegationen Abstimmungsvorlagen zu erarbeiten. Ab halb fünf Uhr morgens wird dann diskutiert bis alle notwendigen Entscheidungen gefällt wurden.

Der CGH wird von der Presse aber auch vielen kritischen Intellektuellen als „ultra“ bezeichnet. Die Kritik lautet, es handele sich um eine Organisation von Extremisten.

Die große Mehrheit der Streikenden hat bisher in keiner Weise an politischen Prozessen teilgenommen. Die meisten existierenden politischen Studentenorganisationen wurden durch die Bewegung überholt und überrascht. Die Streikgeneration hat einen großen Mangel an politischer Bildung. Sie drückt eher ein Gefühl als eine politische Vision aus. Diese Jugendliche haben keine Utopie wie die Generation der 70er Jahre. Sie wissen, daß sie ein hartes Leben vor sich haben und stets im Widerstand gegen eine feindliche und gewalttätige Gesellschaft leben werden müssen. In den urbanen „Stämmen“ finden sie soziale Formen, wie sie in einer kaputten Gesellschaft überleben können. Es handelt sich um eine sehr emotionale Bewegung mit vielen leidenschaftlichen und irrationalen Aspekten.
Sie kämpft gegen jede Autorität und hat sich einen sehr eigentümlichen Diskurs zu eigen gemacht. Es ist sehr merkwürdig: Sie nehmen aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Mao, Marx und Presidente Gonzálo vom „Leuchtenden Pfad“, was eine wirklich barbarische Bewegung war, und mischen sie mit Zitaten von Subcomandante Marcos und John Lennon oder Jim Morrison. Die Streikenden nehmen diese Zitate auf, ohne über eine politische Bildung oder politische Konzepte zu verfügen. Die Jugendlichen, die ihre Streikbrigade „Roter Oktober“ nennen und mit Marx- und Leninzitaten herumwerfen, haben keine marxistische Schulung. Ihre Annäherung an diese Ikonen, an diese Bilder, ist ähnlich der Verwendung dieser Ikonen durch Andy Warhol. Es ist ein Pop-Phänomen und ein gegenkulturelles Phänomen. Es geht ihnen hauptsächlich um die Provokation.
Diese Provokation richtet sich auch gegen die politisch-korrekten progressiven Intellektuellen, die sich in ihre Intimfeinde verwandelt haben. Dieser Streik mußte sich gegen alle und alles durchsetzen. Der Streik hat einigen der Studenten das Leben gekostet, viele sind im Knast gelandet. Mädchen sind nach Streikversammlungen von „Unbekannten“ vergewaltigt worden. Andere Mitglieder des CGH sind von „Unbekannten“ entführt und gefoltert worden. Die Jugendlichen sind in einem sehr gewalttätigen Kontext aufgewachsen. Sie sind sehr roh in ihren Umgangsformen, auch untereinander. Ihre mangelnde politische Bildung, ihre mangelnden diskursiven Fähigkeiten, ihre kulturelle Beschränktheit drückt sich in ziemlich rauhen Umgangsformen aus.
Die linken Intellektuellen, die sich um die PRD bewegen und großes Interesse an politischer Stabilität haben, distanzieren sich von der Streikbewegung. Selbst Intellektuelle wie Carlos Monsivaís, der immer einen kritischen Geist gefördert hat, wendet sich gegen sie. Als er gesehen hat, wie sich die Jugendlichen seine Werkzeuge des Humors und der Satire zu eigen gemacht haben, um die Heuchelei der staatlichen Institutionen und auch der PRD zu entlarven, ist er erschrocken. Nur wenige Intellektuelle versuchen, die Bewegung zu verstehen.

Gerangel im Vorwahlkampf

Mexikos Regierungssystem wurde oft als die „perfekte Diktatur“ bezeichnet. Doch auch die perfektionierteste Machtmaschine kann verschleißen, zu sehr prägen mitlerweile soziale Auseinandersetzungen und politische Konflikte, Korruptionsaffären und Gewalt den politischen Alltag. Aus dem einstigen Wunderknaben der nachholenden Industrialisierungspolitik und späteren Vorzeigekandidaten neoliberaler Modernisierungwünsche ist ein Land geworden, von dem viele Beobachter behaupten, es „kolumbianisiere“ sich. Und sie liegen nicht falsch damit: In Chiapas und Guererro prägen Konflikte zwischen linksgerichteten bewaffneten Gruppen und der Bundesarmee den Alltag. Die Studierenden der nationalen Universität UNAM und die Beschäftigten der staatlichen Elektrizitätsbetriebe proben seit Monaten den zivilen Aufstand. Drogenhandel, Korruption und Machtmißbrauch haben die staatlichen Organe durchdrungen. Während eine schmale Elite immer reicher wird, leben einer Studie der Weltbank zufolge heute 40 Prozent der MexikanerInnen von einem Einkommen von unter zwei Dollar pro Tag. 15 Prozent muß sich sogar mit weniger als einem Dollar begnügen. Und das ist auch in Mexiko so gut wie unmöglich. Eine Regierungskommission gab kürzlich bekannt, daß der Reallohnverlust der MexikanerInnen während der Amtszeit Zedillos 30 Prozent beträgt. Diese erschreckende Zahl gewinnt eine nahezu zynische Dimension, wenn man weiß, daß Zedillo 1994 die Wahl mit dem Slogan „Wohlstand für Deine Familie“ gewonnen hat.

PRI-populistisches enfant terrible gegen Technokraten Angesichts dieser Situation ist es nicht verwunderlich, daß die MexikanerInnen die hektischen Aktivitäten des Vorwahlkampfes sowohl mit Hoffnung aber auch mit Mißtrauen betrachten. Die Regierungspartei PRI hat den Wahlkampf bereits im Frühjahr eingeleitet. Im Mai beschloß sie, ihren Kandidaten durch eine Volksabstimmung am 7. November zu bestimmen. Dies stellte eine kleine Revolution dar, denn bisher war es üblich, daß der amtierende Präsident seinen Nachfolger bestimmte. Der eigentliche Urnengang war dann nur noch Formsache und diente mehr dem symbolischen Einholen des Einverständnisses der Bevölkerung. Falls sich das Wahlvolk bockig zeigte, half die PRI und der mit ihr verwachsene Staatsapparat mit unfeinen Mitteln nach.
Jetzt sollte also alles anders werden. Zedillo verzichtete demonstrativ auf sein verbrieftes „Recht“ und forderte zu Kandidaturen auf. Aber statt durch einen scheinbaren Schritt zur Demokratisierung Stabilität zu schaffen, erreichte er das Gegenteil: Die Auseinandersetzungen zwischen den vier Anwärtern auf die PRI-Kandidatur brachten die Partei in eine Zerreißprobe. Der Hauptgrund dafür ist, daß statt des von Zedillo und maßgeblichen Teilen des Parteiapparates favorisierten ehemaligen Innenministers Francisco Labastida der Querulant Roberto Madrazo das Rennen machen könnte.
Während Labastida für die Fortsetzung der Politik Zedillos steht, also die Weiterführung neoliberaler Wirtschaftsreformen und der „sanften“ Repression gegen alle, die sich dagegen wehren, ist Madrazo das unkalkulierbare enfant terrible der Staatspartei. Er war lange Zeit Gouverneur des Bundesstaates Tabasco und machte sich vor allem durch zwei Dinge einen Namen: Seine Verwicklung in den Drogenhändlersumpf und seine harte Hand gegen politische Opponenten. Nur durch den Aufmarsch von starken Polizei- und Militärtruppen konnte er 1995 die Bewegung des PRD-Kandidaten Manuel López Obrador für das Gouverneursamt in Tabasco stoppen. Dennoch wächst die öffentliche Zustimmung für Madrazo. Der Hauptgrund dürfte in den populistischen Sprüchen liegen, mit denen er sein Publikum bei Laune hält. Darin wendet er sich gegen die gesichtslosen Technokraten, die seine eigene Partei dominieren. Während die Auseinandersetzung zwischen Labastida und Madrazo stetig eskaliert, stehen die beiden anderen PRI-Anwärter Humberto Roque und Manuel Barlett weit abgeschlagen am Rande des Geschehens.
Wer am 7. November die Nase vorne haben wird, ist noch nicht entschieden. Es zeichnet sich aber immer deutlicher ab, daß unabhängig vom Votum der Basis, der Verlierer sich nicht mit seinem Schicksal abfinden wird. Zu tiefgreifend sind die Interessensgegensätze, die mit Labastida und Madrazo aufeinanderprallen. Letztlich geht es um eine Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des vormaligen Präsidenten Carlos Salinas, die Madrazo unterstützen, und der Gruppe um den amtierenden Präsidenten Zedillo, die Labastida durchsetzen möchte. Dabei spielen Konflikte um das politische Programm eine untergeordnete Rolle. Es geht vielmehr darum, welche Gruppe in den nächsten sechs Jahren die Lizenz zum Absahnen bekommt. Der Tonfall, den die parteiinternen Kämpfe annehmen, erinnert unangenehm an den Wahlkampf 1994: Damals wurde der bereits nominierte PRI-Kandidat Luis Donaldo Colosio von seiner eigenen Leibgarde auf einer Wahlkampfveranstaltung erschossen. Als Hintermann wurde Carlos Salinas und sein Stab vermutet.

Uneinige Opposition

Wie die Regierungspartei ist auch die Opposition heillos zerstritten. Dabei sollte dieses Mal in ihrem Lager eigentlich alles anders werden. Im Frühjahr rauften sich die Anführer der linksgerichteten Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und der rechtskatholischen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zusammen, um ein Wahlbündnis zu schließen. Über die tiefgreifenden politischen Differenzen hinweg, sollte eine gemeinsame Kandidatur die 70-jährige sklerotisierte PRI-Herrschaft stürzen. Die Idee schien vielen Beobachtern von Beginn an paradox. Die PAN steht in der Tradition eines rechtskonservativen Papstkatholizismus, der in den letzten Jahren mit neoliberalen Elementen angereichert wurde. Auf deutsche Verhältnisse übertragen liegt der Vergleich zur CSU nahe. Die PRD dagegen vereint seit 1989 eine Linksabpaltung der PRI mit der ehemaligen Kommunistischen Partei und zahlreichen sozialen Bewegungen. Beide Parteien vereint lediglich, daß sie in Opposition zur PRI stehen. Dennoch gewann die Idee der Allianz große Popularität. Umfragen zufolge wollten 60 Prozent für einen PAN/PRD Kandidaten stimmen. Doch Ende September erteilte die PAN dem Bündnis eine endgültige Absage. Zu stark waren denn doch die politischen Differenzen und nicht zuletzt auch die Eitelkeiten der beiden starken Männer von PRD und PAN, Cuauhtemoc Cárdenas und Vicente Fox. Keiner von beiden dachte auch nur im geringsten daran, zugunsten des anderen von einer Kandidatur abzusehen. Jetzt versuchen beide auf eigene Faust, die PRI zu stürzen. Wer dabei die besseren Chancen hat, ist noch schwer zu sagen. Nach Umfragewerten liegt Fox momentan deutlich vor Cárdenas, aber das muß noch nichts heißen. Schließlich schaffte der PRD-Politiker das Kunststück, während des Wahlkampfes für das Bürgermeisteramt von Mexiko-Stadt 1997 in nur wenigen Monaten von 15 Prozent Zustimmung bei Umfragen auf 48 Prozent der realen Stimmen zu kommen. Zum ersten Mal trat mit Cárdenas ein Oppositionspolitiker diese wichtige Funktion an. Kürzlich trat er davon zurück, um seine ganze Energie der Wahlkampagne zur Verfügung zu stellen. Cárdenas verfügt über zwei große Pluspunkte: Erstens ist sein Vater der berühmte General Lázaro Cárdenas, der von 1934-40 Mexiko regierte und aufgrund seiner sozialen Reformpolitik bis heute hohes Ansehen genießt. Cárdenas junior spielt ganz bewußt mit seiner Herkunft, der er auch seine Position verdankt. Zweitens gilt Cárdenas als integrer und nicht-korrumpierbarer Politiker und ist damit eine absolute Ausnahmeerscheinung. Seine politische Position läßt sich mit moderat-links beschreiben. Er ist kein Adept des Neoliberalismus, wie viele der europäischen Sozialdemokraten, aber auch kein radikaler Sozialreformer. Sein großes Defizit ist, daß er das Charisma eines Besenstiels besitzt. Abgesehen davon, daß er nie oder nur extrem gequält ein Lächeln zustande bringt, kann er vor Publikum einfach keine vollständigen Sätze bilden, wenn er sie nicht gerade verkrampft vom Blatt abliest. Das macht sich schlecht in Mexiko.
PAN-Kandidat Vicente Fox ist dagegen ein Mann, wie ihn das mexikanische Publikum liebt. Der 56-jährige gibt sich ganz als ranchero. Er trägt Schlangenlederboots, Jeans und einen Cowboyhut. Er gibt sich als Pragmatiker, der zupackt und die Probleme löst, statt über sie zu diskutieren.
In seiner Präsentation ist der Katholik gnadenlos opportunistisch. Kürzlich flog er nach Kuba, um Fidel Castro seine Sympathie zu bekunden, der Papst war schließlich auch schon da. Dann kam er auf die grandiose Idee, die mexikanische Nationalheilige, die Jungfrau von Guadalupe, zum Wahlkampfmaskottchen zu machen. Interessant bei diesen Schachzügen ist ihr sozialpopulistischer Charakter. Die Jungfrau besitzt nämlich indianische Gesichtszüge und wird auch von den Zapatistas und linksgerichteten bäuerlichen Bewegungen verehrt. Fox war bis vor kurzem Gouverneur des Staates Guanajuato. Dort hat er nicht viel verändert, aber bewiesen, daß er regieren kann.
Seine politischen Positionen sind eher moderat. So ist er in der Abtreibungsfrage beispielsweise liberaler als seine Partei. Eine von ihm geführte PAN-Regierung könnte allerdings sehr gefährlich für die mexikanische Linke und soziale Bewegungen werden. Denn Fox ist nur das folkloristische Sahnehäubchen auf der ansonsten unappetitlichen PAN.
Noch sind die rassistischen Sprüche des letzten PAN-Kandidaten Diego Fernández de Cevallo nicht vergessen, der sich als legitimer politischer Erbe Hernán Cortes gerierte, und der indianischen Bevölkerung Mexikos schlicht den Verstand absprach. Legendär ist auch die Aktion des PAN-Bürgermeisters der zweitgrößten mexikanischen Stadt Guadalajara, der Frauen in der öffentlichen Verwaltung das Tragen von Miniröcken als unsittlich verboten hatte. Falls die PAN mit ihrem Mix aus katholischer Traditionswahrung, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und neoliberaler Wirtschaftspolitik tatsächlich die nächste Regierung stellen sollte, wird mancher Linker der korrupten, aber wenigstens säkularen PRI noch einige Tränen nachweinen.

Alles offen

Mit der Volksabstimmung über den PRI-Präsidentschaftskandidaten am 7. November kommt die langgezogene Schlußphase des Wahlkampfes auf Touren. Die Chancen der PRI, doch noch einmal die Amtszeit der bereits jetzt ältesten Regierungspartei der Welt um weitere sechs Jahre zu verlängern, sind nach dem Scheitern des Oppositionsbündnisses gewachsen. Aber noch ist alles offen. Sowohl Fox als auch Cárdenas ist durchaus zuzutrauen, daß sie sich aus jeweils eigener Kraft durchsetzen können. Zudem könnte nach der Bestimmung des PRI-Kandidaten der unterlegene Flügel eine eigene Kandidatur anstreben und somit die Partei spalten. Deutlich ist aber auch, daß erhebliche Teile der Bevölkerung das Spektakel, das die politischen Parteien liefern, längst satt haben. Sie halten alle für korrupt, machtbesessen und inkompetent. Am deutlichsten formulieren die Zapatistas aus Chiapas dieses Unbehagen und verknüpfen es mit der Forderung nach einer grundlegenden Demokratisierung und einer anderen Art, Politik zu betreiben. Falls es am Wahltag zum Versuch der PRI kommen sollte, die Abstimmung – wie so oft – zu manipulieren, könnte dieser vierte politische Faktor ein erhebliches Gewicht gewinnen.

Medizinische Versorgung nach Bismarckschem Modell

Solange sich Juanita López Tores erinnern kann, hat sie ihr Geld als Putzfrau in Privathaushalten verdient. Eine formale Anstellung hatte sie noch nie. Doch die 60jährige, die seit 20 Jahren zuckerkrank ist, kann sich glücklich schätzen. Einer ihrer Söhne fand Arbeit in einer Fabrik. Dadurch kommt die gesamte Familie in den Genuß der öffentlichen mexikanischen Krankenversicherung, also auch Juanita López. Als Putzfrau ohne Arbeitsvertrag hätte sie keine Chance, in einem Krankenhaus der Sozialversicherung IMSS ( Instituto Mexicano de Seguridad Social) behandelt zu werden. Da sie nicht das Geld für einen Privatarzt aufbringen kann, müßte sie sich an eine Sprechstunde oder eine Klinik des Gesundheitsministeriums wenden, wenn sie ihren Zucker kontrollieren lassen will oder neue Tabletten braucht. Der informelle Sektor, in dem immerhin mehr als ein Drittel der Bevölkerung arbeitet, bleibt von dem Sozialversicherungswesen ausgeschlossen. Die Väter des mexikanischen Gesundheitssystems, die sich im übrigen stark von der Bismarckschen Sozialgesetzgebung leiten ließen, hatten sie einfach übergangen.

Das Bismarcksche Modell

Es war im Jahre 1942, als der mittelamerikanische Staat erstmalig ein Sozialversicherungsgesetz verabschiedete. Maßgeblich beteiligt war der Hamburger Arzt Max Frenk, der vor der Judenverfolgung der Nazis ins mexikanische Exil geflüchtet war. Damals entstand das mexikanische Sozialversicherungsinstitut IMSS, das allen formell beschäftigten Arbeitern eine Renten- und Krankenversicherung gewährleistet. Wie in Deutschland handelt es sich dabei um Pflichtversicherungen, die Beiträge werden unmittelbar von den Löhnen einbehalten. Grundlage war und ist das Solidarprinzip: Die Gesunden bezahlen die Behandlung der Kranken. Das individuelle Gesundheitsrisiko trägt nicht der Einzelne, sondern die Gemeinschaft der Versicherten.
Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas und vor allem zum nördlichen Nachbarn USA, wo man lange Zeit gar nicht von einem System sprechen konnte, war die damalige mexikanische Sozialgesetzgebung durchaus fortschrittlich. Zumindest in den grossen und mittleren Städten. Auf dem Lande, besonders in den abgelegenen Bergregionen mit überwiegend indigener Bevölkerung, blieb die Idee allerdings wirkungslos. Dort gab es lange Zeit keinerlei Krankenversorgung, keine Ärzte, geschweige denn Krankenhäuser. Bis heute gelten 1 000 Gemeinden als extrem verarmt, nicht weniger als 15 Millionen Menschen auf dem Lande fallen unter die Armutsgrenze. Der Staat nahm sich erst in den letzten Jahrzehnten dieses Problems an. Das Gesundheitsministerium kümmert sich heute zunehmend um die medizinische Versorgung der armen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten, unterhält eigene Arztpraxen und kleine Krankenhäuser.
In jüngerer Zeit rückte das Armutsproblem aufgrund der zunehmenden Landflucht immer näher an die Großstädte heran. Heute konzentriert sich ein beachtlicher Teil der insgesamt 42 Millionen armen MexikanerInnen – 22 Millionen gelten sogar als extrem arm – in den Elendsgürteln um Mexiko-Stadt und die anderen Großstädte. Die meisten von ihnen leben von Gelegenheitsjobs, als StraßenverkäuferInnen oder SchuhputzerInnen, auf jeden Fall ohne Arbeitsverträge. Für die medizinische Versorgung der Armen, mehr als ein Drittel aller MexikanerInnen, kommt das Gesundheitsministerium, also der Staat, unmittelbar auf. Auch die Gesetzliche Krankenkasse kann ihre Leistungen nur dank großzügiger Spritzen aus der Staatskasse aufrechterhalten.
Solange der Staatshaushalt der zweitgrößten Wirtschaftsnation Lateinamerikas dank der Erdölexporte stabil blieb und nicht von Krisen geschüttelt war, funktionierte dieses System recht gut. Doch spätestens seit der Pesokrise hat die Qualität des öffentlichen Gesundheitswesens spürbar nachgelassen. Javier Serna Alvarado, der Vorsitzende der Gesundheitskommission im Stadtparlament von Mexiko-Stadt, verwies schon vor zwei Jahren auf eine gefährliche Entwicklung: In den öffentlichen Spitälern steht heute nur noch ein Siebtel der erforderlichen Medikamente zur Verfügung.
Einer der Arbeitgeber der Putzfrau Juanita López kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Jahrelang war der 65jährige Hochschullehrer Jesús Vázquez in einer privaten Krankenkasse. Wegen einer anstehenden Gallenblasen-Operation, die ihn 35.000 Pesos (ca. 8.000 DM) Eigenbeteiligung gekostet hätte, wechselte er kurzerhand in das ISSSTE. „Die medizinische Basisversorgung war recht gut“, erinnert er sich, „aber es mangelte an vielen Dingen wie Verbandmaterial und Wäsche“. Außerdem mußte er mit einem Fünfbettzimmer vorlieb nehmen und die Klinik schon nach zwei Tagen wieder verlassen. Was für Angehörige der Oberschicht fast einer Zumutung gleichkommt, ist für die einfachen MexikanerInnen indes völlig normal. Für Vázquez’ Putzfrau stellen derartige Bedingungen jedenfalls keinen Grund zur Klage dar. Juanita López Tores fühlt sich in ihrem zuständigen Krankenhaus gut versorgt. Die ansonsten von vielen Menschen kritisierten mehrstündigen Wartezeiten entstünden nur, wenn sie sich ohne Terminabsprache vorstellt. Die Ärzte kennen sie nach achtzehnjähriger Behandlung mittlerweile sehr gut und sind freundlich zu ihr. Da sie immer Termine für die regelmäßigen Laborkontrollen bekommt, muß sie kaum warten. Die gesamte Behandlung und die Medikamente sind umsonst. Als es einmal nach der Operation eines Tumors in der Leiste zu den bei DiabetikerInnen nicht seltenen Wundheilungsstörungen kam, wurde sie kurzerhand in die besser ausgerüstete Santa-Mónica-Klinik überwiesen. Auch dort war für sie die Behandlung kostenfrei, und sie konnte nach kurzem Aufenthalt gesund entlassen werden.

Die Hierarchie der Versorgung

Das mexikanische Gesundheitssystem bietet eine hierarchisch aufgebaute Versorgung. Sowohl das Gesundheitsministerium als auch die gesetzliche Krankenversicherung behandeln die PatientInnen in der Regel zunächst in einer Art Poliklinik, in der die wichtigsten Apparate und Labortests zur Verfügung stehen und leichtere Fälle versorgt werden können. Bei komplizierteren Erkrankungen oder der Notwendigkeit einer mehrtägigen stationären Behandlung, etwa bei Operationen, Lungenentzündungen oder unkomplizierten Herzinfarkten, werden die PatientInnen an Kliniken des sogenannten zweiten Niveaus überwiesen. Bei schweren, lebensbedrohlichen oder sehr seltenen Krankheiten erfolgt die Aufnahme in einem hochspezialisierten Klinikum, in dem alle technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Neun „Nationalinstitute“ des Gesundheitsministeriums sind mit der Behandlung schwerkranker PatientInnen betraut. Sie bieten einen auch im internationalen Vergleich sehr hohen medizinischen Standard. Dr. Enrique Wolpert, der Direktor dieser mexikanischen High-Tech-Kliniken, weist noch auf eine andere Aufgabe hin: „Sie sind keine bloßen hochspezialisierten Krankenhäuser, sie wurden auch als Ort der wissenschaftlichen Forschung und der Ausbildung von Fachkräften ins Leben gerufen. Das erlaubt ihnen die medizinische Behandlung auf traditionell höchstem Niveau und in bester Qualität.“ Davon profitieren keineswegs nur betuchte MexikanerInnen. Das verdeutlicht ein Besuch im Nationalen Krebsinstitut. Die Warteräume sind brechend voll. Geduldig warten die Menschen, bis ihre Behandlungsnummer aufgerufen wird. Die allermeisten sind ärmlich gekleidet. „Drei Viertel unserer PatientInnen können nichts oder nur einen symbolischen Beitrag für die Behandlung bezahlen“, bestätigt der ärztliche Direktor Dr. Jaime de la Garza Salazar, „und von den übrigen zahlt allenfalls ein winziger Prozentsatz die ganze Therapie selber.“
Mit Hilfe von SozialarbeiterInnen werden die PatientInnen in sechs Gruppen eingeteilt. Kategorie eins umfaßt die Mittellosen, Kategorie sechs die Leute, die über genug Geld oder aber eine private Krankenversicherung verfügen. Die Untergruppe 1x, bei der die Zuordnung vom Ärztlichen Leiter eines Instituts gegengezeichnet werden muß, erfaßt diejenigen, die gar nichts haben und nichts bezahlen können. Kostendeckend können die Spezialkliniken unter diesen Bedingungen nicht arbeiten. „Im Nationalinstitut für Kinderheilkunde gehören 85 Prozent der PatientInnen den Kategorien eins und zwei an“, erklärt Dr. Wolpert, Generaldirektor der Nationalinstitute, „dort bezahlen die Eltern der PatientInnen praktisch nichts oder nur einen symbolischen Beitrag.“

Der Stolz der Sozialversicherung

Vergleichbar ist die Situation in den Krankenhäusern der Sozialversicherung, auch wenn es von offizieller Seite nicht so gerne zugegeben wird. Im Vorzeigekrankenhaus des IMSS, der „Klinik 21. Jahrhundert“ im Zentrum der 20-Millionen-Metropole Mexiko-Stadt, ist davon auch kaum etwas zu spüren. In der Spezialklinik für Herz-Kreislaufkrankheiten herrscht geschäftiges, professionelles Treiben. Auch in der Kinderkrebsabteilung steht die Therapie der in Europa und den USA in nichts nach.
Geduldig hängt der 14jährige Antonio an zwei Tröpfen. Seit Monaten kommt er jede Woche für mehrere Stunden ambulant in das Kinderkrankenhaus, um seine Chemotherapie gegen den weissen Blutkrebs zu erhalten. Seinen kahlen Kopf bedeckt eine Wollmütze, die schmale Nase ragt aus seinem blassen Gesicht hervor. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, den Krebs zu besiegen, ebenso wie die anderen Kinder um ihn herum. Und er hat gute Chancen, obwohl sein Vater gerade einmal das Doppelte eines Mindestlohnes, also gut 300 Mark im Monat, verdient und nicht eine einzige Chemotherapiesitzung aus eigener Tasche bezahlen könnte.
Die „Klinik 21. Jahrhundert“ in der Landeshauptstadt ist zu Recht der ganze Stolz der mexikanischen Sozialversicherung. Mühelos ließ sich eine Besuchs- und sogar Fotografiererlaubnis erhalten. Dem Wunsch nach einer Besichtigung auch der ärmlichen Poliklinik am Stadtrand wurde von der Öffentlichkeitsabteilung dagegen nicht entsprochen. Dr. Sáenz Garza, der Vorsitzende des parlamentarischen Gesundheitsausschusses von der oppositionellen Demokratischen Revolutionären Partei (PRD), erklärt: „Da sind die Arbeitsbedingungen wirklich erbärmlich, es fehlt an allem, zu wenig Verbandmaterial, kaum Medikamente, zu wenig ÄrztInnen und Schwestern, und die Leute müssen stundenlang warten.“ Seine Diagnose des mexikanischen Gesundheitssystems ist ernüchternd: „Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat die Qualität der medizinischen Versorgung deutlich nachgelassen.“ Wesentlicher Faktor sei die abnehmende Kaufkraft der Löhne und damit auch des lange gleichgebliebenen Abgabenanteils an die Sozialversicherung von 12,5 Prozent. Die Reformansätze der seit siebzig Jahren regierenden PRI-Regierung, kritisiert er, hätten die Lage nicht verbessert. Seit dem 1. Juli 1997 ist in Mexiko ein neues Sozialversicherungsgesetz in Kraft. Der Beitragssatz wurde auf 13,9 Prozent heraufgesetzt. ArbeitnehmerInnen, die mehr als das dreifache und weniger als das 25fache des gesetzlich festgelegten Mindestlohnes von derzeit etwa 160 DM verdienen, bezahlen selber sechs Prozent, der Arbeitgeberanteil liegt bei acht Prozent. Für die große Mehrheit der ArbeiterInnen, die weniger als drei Mindestlöhne in der Lohntüte haben, übernimmt der Staat die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang. Die dahinter stehende Idee: Verbesserung der Beschäftigungslage durch Senkung der Lohnnebenkosten. Die Konsequenz: Verminderte Einnahmen der Sozialversicherung, die Mitgliedsbeiträge der Versicherten decken immer weniger medizinische Leistungen ab. Das könnte zur Zerschlagung des mexikanischen Sozialversicherungssystems führen, befürchtet die Sozialmedizinerin Asa Cristina Laurel.

Angriff auf das Solidarprinzip

Der Arzt und Gesundheitsökonom Dr. Julio Frenk, bis vor kurzem Leiter der unabhängigen „Stiftung Gesundheit“ in Mexiko und heute bei der WHO ( Weltgesundheitsorganisation) in Genf, ist dagegen der Auffassung, die mexikanische Sozialversicherung in ihrer bisherigen Form habe sich ohnehin überlebt und sei dringend überholungsbedürftig: „Die Unzufriedenheit drückt sich am meisten im Verhalten der Leute aus. Sie sind so unzufrieden mit dem Angebot der Sozialversicherung, daß sie bereit sind, noch einmal zu bezahlen, entweder indem sie sich eine Privatversicherungspolice kaufen oder aus eigener Tasche bezahlen.“
Ausgerechnet die ZapatistInnen aus dem südlichen Bundesstaat Chiapas bestätigten vor zwei Jahren die neoliberal geprägte Einschätzung des Gesundheitsökonom. Die schwerkranke Comandante Ramona nutzte eine politisch motivierte Reise nach Mexiko-Stadt zu einer Behandlung in einer Spezialklinik. Die Indigena-Kämpferin leidet an einer seltenen Autoimmunerkrankung, zusätzlich hatte eine Tuberkuloseinfektion eine Niere zerstört, die entfernt werden mußte. Mehrere NRO’s in Chiapas forderten die Zapatistin auf, sich in dem zuständigen Nationalinstitut des Gesundheitsministeriums operieren zu lassen, um ein Zeichen für das öffentliche Gesundheitswesen zu setzen. Doch Comandante Ramona zog es vor, sich in einer Privatklinik behandeln zu lassen.
Die Angriffe auf das Solidarprinzip gehen indes weiter. Der Enkel von Max Frenk, einem der Väter des mexikanischen Gesundheitssystems, will das Monopol der Gesetzlichen Krankenversicherung aufknacken. „Die Gesetzliche Krankenversicherung hält ihre Bevölkerung gefangen,“ kritisiert Julio Frenk, „denn die Versicherten müssen Beiträge bezahlen, unabhängig davon, ob sie die Gesundheitseinrichtungen überhaupt nutzen.“ Ressourcenvergeudendes Nebeneinander von Gesundheitsministerium, Gesetzlicher Krankenversicherung und privaten Anbietern und eine Ausgrenzung des informellen Sektors aus der öffentlichen Kranken- und Rentenversicherung stellten weitere Probleme dar.

Medizinische Oase?

Ohnehin werde in Mexiko und in den meisten Ländern Lateinamerikas nicht das ursprüngliche Bismarcksche Modell fortgeführt, nachdem die gesetzliche Krankenversicherung den Löwenanteil der Gesundheitsversorgung finanziert. Vielmehr hätten die Sozialversicherungen aufgrund der dürftigen Infrastruktur an Krankenhäusern und ÄrztInnen ihre eigenen Kliniken aufgebaut. In der von der „Stiftung Gesundheit“ mit Weltbankmitteln durchgeführten Studie, an der sich die mexikanischen GesundheitsreformerInnen in wesentlichen Punkten orientieren, fordert Julio Frenk einen strukturierten Pluralismus und die Organisation des Gesundheitswesens nach Funktionen: Das zuständige Ministerium sollte sich auf regulatorische Aufgaben beschränken, die Gesetzliche Krankenversicherung die Finanzierung für alle BürgerInnen sichern und ansonsten die Leistungen durch eine Vielzahl privater beziehungsweise mehr oder weniger öffentlicher AnbieterInnen erweitert und verbessert werden. „Wir schlagen dazu die Förderung intermediärer Organisationen vor, die wir OASIS – Verwaltungsorganisationen Integraler Gesundheitsdienste – genannt haben“, erklärt Julio Frenk seine Vorstellung. „Diesen miteinander konkurrierenden OASIS können die Leute beitreten, sie erhalten Geld in Abhängigkeit von der Zahl der Mitglieder und dem individuellen Risiko. Diese OASIS organisieren Netze von Dienstleistern – ÄrztInnen, Krankenhäuser, Labors etc. – und schicken ihre Leute zu ihren Anbietern.“ In einem solchen System würde das Geld, das in die Gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt worden ist, einer Person folgen, wenn sie sich für eine OASIS entscheidet.

Was ist Basisversorgung

Asa Cristina Laurel wittert hinter diesem Ansatz einen entscheidenden Schritt zur Privatisierung im Gesundheitswesen und den Versuch, ein neues Gebiet der Kapitalakkumulation zu betreten: „Im mexikanischen Kontext mit einer mehrheitlich armen Bevölkerung geht es dabei nicht um eine vollständige Privatisierung, sondern nur um die Privatisierung der möglicherweise rentablen Aktivitäten.“ Eine selektive Privatisierung, so erklärt sie die Gesundheitsreform in ihrem Land, bedürfe der Umstrukturierung der gesellschaftlichen Institutionen. Das schlägt sich im Reformvorhaben von Gesundheitsminister Juan Ramón de la Fuente nieder. Neben der Dezentralisierung des Gesundheitswesens sieht der Gesetzentwurf erhebliche Rationierungen bei den medizinischen Leistungen vor. Um die Ausgaben zu begrenzen und dabei einen möglichst großen Bevölkerungsanteil zu versorgen, will die Regierung mit ihrem Reformprojekt „Gesundheit 1995-2000″ ein Basispaket von medizinischen Leistungen einführen, das allen MexikanerInnen kostenlos zur Verfügung stünde. Alle übrigen Therapien und Heilmittel müßten sie in Zukunft aus eigener Tasche oder mit Hilfe privater Zusatzversicherungen bezahlen. Da vorbeugende Maßnahmen eine wesentlich günstigere Kosten-Nutzen-Relation aufweisen als die Behandlung bestehender Krankheiten, wird besonderes Schwergewicht auf Prävention und Aufklärung gelegt.
Noch wird heftig um die Leistungskataloge der neu gestalteten Sozialversicherung gerungen. Welch groteske Vorschläge der auch aus der deutschen Diskussion bekannte Streit um Rationalisierungen und Rationierungen in der Gesundheitsversorgung bisweilen hervorbringen kann, berichtet der Sozialmediziner Juan Manuel Castro von der Autonomen Universität Mexiko UNAM. So wäre nach einem ersten 12-Punkte-Plan einem Unfallopfer zwar ein lebensbedrohlicher Milzriß kostenlos operiert worden, für einen gleichzeitig erlittenen Oberschenkelbruch hätte er aber selber aufkommen müssen, da diese Verletzung nicht in das Basispaket aufgenommen worden war. In Zeiten der weltweiten Ökonomisierung aller Lebensbereiche werden die Widersprüche zwischen ärztlichem Ethos und ökonomischen Rahmenbedingungen eben immer krasser.

Ein Glück, daß es Marcos gibt

Angst macht den mexikanischen Menschen um die Zwanzig das grassierende wirtschaftliche Elend und die Gefahr, von der sogenannten „Ersten Welt“ überrannt zu werden. Der Neoliberalismus, verstanden als Inbegriff der maliziösen Verschwörung zwischen der nationalen politischen Elite und den „Transnationalen“, allen voran den gringos, wie die US-AmerikanerInnen abwertend bezeichnet werden, ist deshalb stabiles Feindbild Nummer eins.
Tatsächlich sind 70 Prozent aller MexikanerInnen arm, alarmierte kürzlich das Wochenmagazin Proceso. Und auch die Jugendarbeitslosigkeit ist offiziell dreimal so hoch wie die – durch Privatisierung und ungenügende Arbeitsmarktpolitik in den letzten Jahren angestiegene – allgemeine Arbeitslosigkeit.
Die mexikanische Jugend bezeichnet sich selbst als „Katastrophen-Generation“ (generación del desastre), als „Generation X“ oder „Güey-Generation“, in Anspielung auf im Slang wann immer möglich benutzte „güey“, was übersetzt soviel heißt wie „ey“ oder „echt ey“. Wenn die Jugendlichen der 80er Jahre noch „Söhne und Töchter der Krise waren, so stehen wir heute vor einer ,Katastrophengeneration’“, schrieb die alternative Jugendzeitschrift La Guillotina in einer ihrer letzten Ausgaben.

„Generation X“ auf Mexikanisch

„Wir sind Jugendliche, für die die Begriffe Sicherheit, Stabilität und Zukunftsvertrauen nicht existieren“, meinen sie und erklären weiter, daß im Gegensatz zu vorherigen Generationen, die noch Utopien hatten und an revolutionäre, sozialistische oder kommunistische Bewegungen glaubten, für die Idole wie Che Guevara stehen, die Jugend der 90er Jahre Produkt der Diskreditierung eben jener Utopien ihrer Elterngeneration sei.
Doch auch wenn das Mißtrauen und die Verbitterung gegenüber dem staatsautoritären, neoliberalen System des Mexiko der 90er Jahre bei den städtischen Mittzwanzigern übereinstimmend den Ton angibt – mögen sie sich als Punks, Feministinnen, politische oder apolitische StudentInnen bezeichnen –, so verharren sie dennoch keineswegs im „No-Future-Diskurs“. Vielmehr haben sie sich aktiv auf die Suche nach einer eigenen Identität gemacht, kämpfen verzweifelt um Veränderungen und haben eben doch zumindest ein großes Idol: Marcos und die zapatistischen RebellInnen.
Auch jüngst beim Streik an der nationalen Universität UNAM haben mexikanische StudentInnen dem System den Kampf angesagt. Dabei wurde die zapatistische Losung des „(umgedr. !)Ya basta!“, „Es reicht!“ aufgegriffen. Ihren politischen Aktivismus bezeichnen die HochschülerInnen als „neue politische Kultur“, in Abgrenzung zu den „Worthülsen der demokratischen Erneuerung“ ihrer Elterngeneration. Sie finden in den zapatistischen Idealen der basisdemokratischen Selbstbestimmung, des paradox anmutenden „mandar obedeciendo“ (gehorchend befehlen), ein Identifikationsangebot.
Auch wenn sie darauf bestehen, eigentlich keine Vorbilder oder Leitfiguren zu haben – der 25jährige Vladimir von der Ska-Salsa-Band Los de Abajo insistiert beispielsweise: „Wir sind eine Generation ohne leader“ –, so schließen sich die meisten politisch Bewußten ideologisch doch den zapatistischen Rebellen an. „Unsere Verbrüderung mit der zapatistischen Bewegung basiert vor allem auf dem Bewusstsein, keinen Platz in dem Gesellschaftsprojekt der neoliberalen Reformen zu haben“, schreibt La Guillotina. Und auch Los de Abajo-Gitarrist Vladimir meint: „Marcos ist für uns Symbol des Kampfes und der Hoffnung“.
Tatsächlich markiert der zapatistische Aufstand im Januar 1994 eine neue „Epoche“ der mexikanischen Gesellschaft, insbesondere für die Jugend. Diese ist spätestens im Februar 1995, als das mexikanische Militär eine blutige Offensive gegen die zapatistischen Rebellen startete, aus einer vermeintlichen apolitischen Apathie erwacht. Sie haben angefangen, auf die Straßen zu gehen, um gegen den Krieg im eigenen Land zu demonstrieren, sind als zivile BeobachterInnen selbst nach Chiapas gefahren oder unterstützten die Zapatistas durch Lebensmittelsammlungen. Auch bei der von den Zapatistas durchgeführten Volksbefragung über die indigenen Rechte vor einigen Monaten in ganz Mexiko stellte die Jugend die Mehrheit der TeilnehmerInnen, so Vladimir.
Musikbands wie Los de Abajo oder Santa Sabina haben sich politisch als Gruppe unter dem Namen La bola zusammengeschlossen, um musikalisch Gelder für die Zapatistas in Chiapas zu erspielen. Oder Margarita Punk – wie der Name bereits sagt, Aktivistin der hauptstädtischen Punkbewegung – hat mit Straßentheater gegen die Offensive vom Februar 1995 protestiert.

Mit den Zapatistas gegen das Große und Ganze

Sie alle haben dem System pauschal den Kampf angesagt: der etablierten Politik, gekennzeichnet durch Staatsautoritarismus, Klientelismus und Korruption, den linken, demokratische Veränderungen versprechenden Oppositionsparteien, die als ebenso „bürokratisch und korrupt“ bezeichnet werden, den unabhängigen Bürgerinitiativen, die als Relikte der politisierten Elterngeneration nicht ernst genommen werden, und vor allem dem Neoliberalismus.
„Wir haben die Nase gestrichen voll von all den Lügen um uns herum, der Linken, der Rechten, der PRI, egal von wem“, so Vladimir. Nach seiner Meinung zeichnet sich die mexikanische Jugendgeneration, trotz der übereinstimmenden Verbitterung, deutlich durch eine Polarisierung aus: Die Mehrheit, und das schichtenübergreifend von der städtischen Unter- bis zur Oberschicht, lebe völlig desillusioniert und apolitisch in den Tag hinein. Je nach Schicht „dröhnen sie sich mit Alkohol voll, bekiffen oder bekoksen sich, sehen telenovelas oder Fußball im Fernsehen“. Der einzige Traum, den beispielsweise die völlig verarmte Landbevölkerung hat, sei, paradoxerweise in Allianz mit der Oberschicht, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Während jedoch die einen als illegale ImmigrantInnen dort für Hungerlöhne nicht nur ums Überleben, sondern auch gegen Rassismus ankämpfen müssen, machen die anderen ihr Postgraduierten-Studium, erzählt Vladimir. „Selbst ich, der ich aus der gebildeten, linken Mittelschicht kommt, würde am liebsten auswandern, um mehr Chancen zu haben, mich kulturell und intellektuell weiterzuentwickeln, denn das bietet mir Mexiko nicht. Es macht sich so eine Art resignierter Individualismus breit, nach dem Motto: ,Ich kann’s ja doch nicht ändern’“.
Doch dann gibt es eben auch die Minderheit der Politisierten, zumeist StudentInnen, oder auch der städtischen Unterschicht, die sich in radikaleren Linksbewegungen, den movimientos urbano-populares oder der Punkbewegung zusammenschließen. Margarita Punk, 25jährig mit Kind, erzählt von Häuserbesetzungen, deren Ziel es unter anderem sei, nicht nur selbst im autonomen Kollektiv zu wohnen, sondern auch den Straßenkindern und -jugendlichen zu einer selbstverwalteten Bleibe zu verhelfen.

Punk gegen die Hoffnungslosigkeit

„Überhaupt ist die mexikanische Punkbewegung unheimlich konstruktiv, mit Theater, Musik oder Graffities, denn unsere beste Waffe gegen das System ist die Kreativität“, meint Margarita Punk überzeugt, die wiederum wird von den Punks der Drei-Millionen-Trabantenstadt Nezahualcóyotl im Osten der Hauptstadt als „fresa“ bezeichnet, was wörtlich „Erdbeere“ heißt, aber etwa „spießig“ meint.
Und dann gibt es natürlich auch die Politisierung nach rechts, sagt Vladimir. Für diese Tendenz steht die Jugend der oberen Mittelschicht, die zumeist an privaten Universitäten studiert. „Allerdings heißt hier ,rechts’ nicht etwa wie in Europa ,Faschos’ oder gar ,Skins’ – die gibt es so gut wie nicht in Mexiko –, sondern konservativ und überzeugt neoliberal. Diese Leute sind beispielsweise gegen Abtreibung und für die totale Privatisierung“, erklärt er.
Für die Jugendgeneration der wohlhabenden Oberschicht sehen Alltag und Lebenswirklichkeit freilich anders aus. Sie orientieren sich hauptsächlich am US-amerikanischen Way of Life. Sie imitieren in Outfit und Lebensstil den Wohlstand der „ersten Welt“, meiden U-Bahn und Busse, fahren vorzugsweise Golf oder Jetta, hören die kommerzielle Pop-Salsa-Band Timbiliche und essen bei US-amerikanischen Fast-Food-Ketten.
Außer den USA für die einen und der zapatistischen Bewegung für die anderen finden sich jedoch, nach übereinstimmender Meinung von Valdimir, Margarita oder auch der 24jährigen Feministin Natalia kaum Kult- oder Leitfiguren. Natalia, alleinerziehende Mutter eines sechs- und eines dreijährigen Sohnes, bezeichnet sich selbst als militante Feministin, aber Vorbilder? – Nein, die findet sie bestimmt nicht in der „älteren Feministinnengeneration“, die doch alle „etabliert in ihrem Elfenbeinturm sitzen und gar nicht wissen, was es heißt, sich als alleinerziehende junge Mutter mit einem Monatseinkommen von 2000 Pesos (umgerechnet rund 400 Mark) in einer machistischen, autoritären Gesellschaft durchschlagen zu müssen“, erhitzt sie sich.
Und dennoch kämpfen alle drei VertreterInnen der Jugendgeneration auf ihre Weise um eine Neudefinition von gesellschaftlichem Zusammenleben und sehen mit Bangen ins nächste Jahrtausend, in das Mexiko mit dem Wahlkampf um die nächsten sechs Jahre Präsidentschaft einsteigt. Denn auch wenn ihnen mehrheitlich selbst die Oppositionsparteien suspekt und gleichermaßen bürokratisch und korrupt erscheinen, so steigt doch ihre Angst vor einem möglichen Wahlausgang mit der Staatspartei PRI als Gewinner. Denn wie es damit weitergehen soll, kann sich keiner der „Katastrophen-Generation“ vorstellen.

Dynamisch, sportlich, schön

Im Zuge der postkolonialen Kritik an der Allgemeingültigkeit des Modernisierungsparadigmas muß auch der in den bürgerlichen Gesellschaften Europas entstandene Jugendbegriff hinterfragt werden. Seiner Definition zufolge zeichnet sich Jugend durch bestimmte Eigenschaften aus. Zum einen wird der Jugend ein sogenanntes soziales Moratorium zugebilligt. Den Jugendlichen wird eine Art Galgenfrist eingeräumt, innerhalb der sie noch nicht die vollen gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen eingehen müssen. Darüberhinaus wird diese Zeit als mit positiven Werten besetzter Lebensabschnitt, ja als Privileg idealisiert. Jugend ist dynamisch, sportlich und schön. Im Gegenzug müssen sich die Jugendlichen vor allem um ihre Bildung kümmern, um sich und der Gesellschaft eine Zukunftsperspektive bieten zu können. Nicht umsonst wird der Jugend gerne die Verantwortung für einen wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Fortschritt aufgebürdet. Schließlich beansprucht dieser Jugendbegriff allgemeine Gültigkeit. Für alle Menschen im Jugendalter, das heißt von 15-25 Jahren, soll dieses Modell durchgesetzt werden. Daß das Modell in den europäisch geprägten Industriestaaten in die Krise geraten ist, zeigen die Konflikte, mit denen sich ihre Jugendlichen heutzutage auseinanderzusetzen haben: Selbst immer noch mehr Bildung an den überfüllten Massenuniversitäten bietet keine sichere Zukunftsperspektive mehr. Aber nicht nur diese Krise zeigt, daß die unkritische Übertragung dieses Jugendbegriffs den lateinamerikanischen Gesellschaften nicht gerecht wird. Stattdessen ist es notwendig, die spezifischen Probleme der lateinamerikanischen Jugend als Realität anzuerkennen und zu entziffern.

Bildungsproblem statt Rentenproblem

Rentenprobleme, so sollte man meinen, wird Lateinamerika in nächster Zukunft nicht haben. Und wenn dies doch der Fall sein sollte, so liegt dies bestimmt nicht am Mangel von Heranwachsenden, die die Renten finanzieren könnten. Denn diese Altersgruppe macht im kontinentalen Durchschnitt ungefähr ein Viertel der Bevölkerung aus, in manchen Ländern sogar bis zu 50 Prozent. Die Jugend stellt in Lateinamerika einen Faktor dar, mit dem zu rechnen ist. Und das haben sie auch getan, die Heerscharen von Statistikern, Soziologen und Politikern. Und was haben sie vorgefunden: mangelnde Bildung, Arbeitslosigkeit, zerrütete Familien und Gewalt, lauter Defizite also. Jugend wird so auf einen bemitleidenswerten Haufen von Menschen reduziert, dem unbedingt geholfen werden muß. Motor soll dabei die Modernisierung sein, die den jeweiligen Ländern, und damit auch ihrer Jugend, Entwicklung verspricht.
Die Bildungspolitik der lateinamerikanischen Regierungen ist allerdings in erster Linie auf die Jugend der städtischen Mittelschichten zugeschnitten und geht an den Bedürfnissen der Jugend aus den unterprivilegierten Schichten, der sogennanten juventud popular, vollkommen vorbei. In Mexiko zum Beispiel wurde zwar traditionell viel Geld in den Ausbau des staatlichen Hochschulwesens investiert – wobei auch die Zeiten heute vorbei sind (siehe Artikel von Jens Kaffenberger) – aber ein Berufsausbildungssystem, das mit dem deutschen dualen System vergleichbar wäre und das Jugendlichen eine Weiterbildung bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit ermöglicht, ist dort nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.
Ein großer Teil der juventud popular muß sich mit gegenwartsbezogenen Existenzkonflikten herumschlagen. Schon früh sind sie für ihren Lebensunterhalt selbst verantwortlich und müssen häufig zum Unterhalt ihrer Familie beitragen. Einige von ihnen haben bereits mit 15 eine eigene Familie. Auf dem Land arbeiten sie in der Subsistenzwirtschaft, aber immer öfter auch in handwerklichen Berufen. In den Städten bietet ihnen oft nur der informelle Sektor die Möglichkeit, sei es als Kugelschreiberverkäuferin in der U-Bahn, sei es als Feuerschlucker auf der Straße, ein Auskommen zu finden. Für einen regelmäßigen Schulbesuch bleibt da meist keine Zeit, und gesellschaftliche Anerkennung wird ihnen nicht zuletzt deswegen verweigert. Anstatt Träger von Modernisierung zu sein, wird die juventud popular in Lateinamerika durch diesen Prozeß weiter marginalisiert. Dies bedeutet jedoch nicht, daß mit den Jugendlichen bei dem durchaus notwendigen gesellschaftlichen Wandel nicht zu rechnen ist. Ganz im Gegenteil. Wie sonst soll die Tatsache verstanden werden, daß Rebellenbewegungen wie zum Beispiel die Zapatisten in Mexiko vor allem bei den Jugendlichen so hoch im Kurs stehen.

Für eine Handvoll Pesos

Barrikaden versperren den Weg auf den Campus, an der Wand der Medizinischen Fakultät prangt zwischen unzähligen Transparenten eine rot-schwarze Fahne. „Huelga y Dignidad“, „Streik und Würde“ ist die Botschaft, die seit über vier Monaten von den besetzten Instituten der UNAM ausgeht. Die Studierenden der größten Universität Lateinamerikas befinden sich im Ausstand. Ausgelöst wurde der Streik durch den Beschluß des Universitätsrates, dem höchsten Entscheidungsgremium der Universität, die Studiengebühren von symbolischen 2 Cents auf etwa 50 bis 70 US-Dollar pro Semester zu erhöhen. Seitdem vergeht kaum ein Tag ohne Demonstrationen, sei es von Befürwortern oder Gegnern des Streiks.
Anfänglich glaubte der Rektor Francisco Barnés, der der seit 70 Jahren regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) angehört und enge Kontakt zur Zentralregierung hat, den Streik schnell in den Griff zu bekommen. Die Lehrveranstaltungen wurden wie bereits früher in solchen Fällen kurzerhand ausgelagert. Allerdings weigerte sich die von der oppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) geführte Stadtregierung, der Universitätsleitung öffentliche Gebäude zur Verfügung zu stellen, so daß sie private Einrichtungen anmieten mußte. Die Strategie, den Streik versanden zu lassen, scheiterte an der mangelnden Resonanz bei den Studierenden.

Diffamierungskampagne gegen die StudentInnen

Statt auf die Gesprächsangebote des Allgemeinen Streikrates, der höchsten Vertretung der Streikbewegung, einzugehen, setzte Rektor Barnés auf eine Diffamierungskampgne in den Massenmedien. In den ersten zwei Monaten gab die Universität allein für Anzeigen in der Presse über 1 Million US-Dollar aus. Während Barnés die Streikbewegung in der Öffentlichkeit als Grüppchen krimineller „Pseudostudenten“ darstellte, wurde gegen einzelne Mitglieder des Streikrats gezielt repressiv vorgegangen. Menschenrechtler haben zahlreiche Fälle von Entführungen und Mißhandlungen dokumentiert. Außerdem wurde bekannt, daß die Universitätsleitung auf dem Campus ein Netz von Kameras hatte installieren lassen, um die Mitglieder der Streikbewegung zu erfassen. Entgegen der Absicht der Universitätsleitung brachten diese Maßnahmen kein Ende des Streiks, sondern eine Radikalisierung der Studentenbewegung. Unter diesen Bedingungen ergriff Rektor Barnés die Flucht nach vorn und bewirkte am 7. Juni einen Rückzieher des Universitätsrats. Die Studiengebühren sollten von nun an auf „freiwilliger Basis“ erhoben werden. Zahlen sollten nur noch diejenigen, die es sich leisten konnten und bereit dazu waren.

Streikrat beharrt auf Forderungen

Der Streikrat gab sich mit diesem Zugeständnis nicht zufrieden sondern pochte auf die Erfüllung aller sechs Forderungen der Studierenden. Die Studiengebühren sollen ganz abgeschafft, die 1997 eingeführte Höchststudiendauer und die Zugangsbeschränkungen rückgängig gemacht werden und die Zusammenarbeit der staatlichen Universität mit einem privaten Evaluierungszentrum beendet werden. Bisher nimmt das Nationale Evaluierungszentrum (CENEAL) die Abschlußexamina ab und befindet über die Qualität der AbsolventInnen. Weiter fordert der Streikrat, alle Sanktionen gegen streikende Studierende und Unimitarbeiter zurückzunehmen und die wegen des Streiks ausgefallenen Veranstaltungen nachzuholen. Außerdem will man die Einberufung eines Universitätskongresses durchsetzen, der Demokratiedefizite und die schlechte Lehrmittelausstattung der Hochschulen diskutieren und über Änderungen entscheiden soll.
Durch die Vermittlung des parlamentarischen Wissenschaftsausschusses kam es im Juli zu vier Gesprächsrunden zwischen Repräsentanten des Rektorats und dem Streikrat. Die Verhandlungen blieben ergebnislos, weil sich die Streitparteien nicht auf eine gemeinsame Diskussionsgrundlage einigen konnten. Während der Streikrat darauf bestand, alle sechs Punkte zu diskutieren, weigerten sich die Vertreter der Universitätsleitung, die Reformen von 1997 und das Verhältnis zum Evaluierungszentrum auf die Tagesordnung zu setzen. Studierende und Rektorat warfen sich gegenseitig vor, durch ihr unnachgiebiges Verhalten das Scheitern der Verhandlungen verursacht zu haben.
Angesichts des Stillstands in den Verhandlungen und angeheizt durch Äußerungen von Hardlinern in der Regierungspartei wurden Erinnerungen an die Ereignisse von Tlatelolco 1968 wach. Damals hatte die Armee ein Massaker unter demonstrierenden StudentInnen angerichtet, dem nach Schätzungen bis zu 500 Menschen zum Opfer fielen. Die Haltung von Präsident Zedillo zu einem möglichen Einsatz der Armee in dem Konflikt ist nicht eindeutig. Er hat in zahlreichen Stellungnahmen betont, den Einsatz „roher Gewalt“ abzulehnen. Das mexikanische Volk wolle keine „repressive, willkürliche, autoritäre Regierung“, gab er einsichtig zu Protokoll. Andererseits drohte Zedillo den streikenden StudentInnen an, „andere legitime Mittel“ einzusetzen, falls sie sich einer Verhandlungslösung weiter widersetzten.

Streik bekommt nationale Bedeutung

Vor dem Hintergrund der im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen bekommt der Streik nationale Bedeutung. Die regierende PRI beschuldigt Cuauhtémoc Cárdenas, Bürgermeister von Mexiko-Stadt und Präsidentschaftskandidat der oppositionellen PRD, die graue Eminenz hinter der Streikbewegung zu sein und das gewaltsame Eingreifen der Regierung provozieren zu wollen. Cárdenas weist diese Vorwürfe zurück und wirft der PRI seinerseits vor, aus dem Konflikt politisches Kapital zu schlagen.
Im Lager der 267.000 Studierenden stehen sich Befürworter und Gegner des Streiks gegenüber. Die Gegner geben sich mit der Rücknahme der Gebührenerhöhung zufrieden und haben mehrfach gemeinsam mit dem Rektorat und der Mehrzahl der HochschullehrerInnen für ein Ende des Streiks demonstriert. Die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern innerhalb des studentischen Lagers wurden auch gewaltsam ausgetragen. Bei einer Schlägerei auf dem Universitätsgelände gab es Ende August 7 Verletzte. Im Internet riefen anonyme Streikgegner die „wahren Studenten“ dazu auf, sich mit Schlagstöcken zu bewaffnen und die Barrikaden zu stürmen.
Ein Vermittlungsvorstoß acht emeritierter Professoren der UNAM vom 28. Juli hat wieder etwas Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen gebracht. Er sieht vor, zwei der sechs Forderungen der Streikenden – Beendigung der Zusammenarbeit mit dem Evaluierungszentrum und Abschaffung von Höchststudiendauer und Zugangsbeschränkungen – erst nach Ende des Streiks in „öffentlichen Diskussionsräumen“ zu debattieren. Die dort getroffenen Entscheidungen sollen vom Universitätsrat „vorrangig“ behandelt werden. Die Emeriti verpflichten sich, eine Kommission zusammenzustellen, die über die Einhaltung der Zusagen durch die Universitätsleitung wacht.
Der Universitätsrat hat den Vorschlag bereits als Diskussionsgrundlage akzeptiert. Die Haltung des Streikrates ist verworren. Dort ringen drei Strömungen um die Dominanz innerhalb der Bewegung. Die sogenannten „Moderaten“ sind in der „Demokratische Studentenkoalition“ organisiert und stehen der links-gemäßigten PRD nahe. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die sogenannten „Ultras“, die viele Mitglieder linker Splittergruppen in ihren Reihen haben und der Hochschulgruppe „Universitärer Linksblock“ angehören. Zwischen Moderaten und Ultras ist das „Metropolitane Studentenkomitee“ angesiedelt. Die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Ultras und Moderaten drehen sich um den Vermittlungsvorschlag der acht emeritierten Professoren. Die Moderaten sprechen sich dafür aus, diesen als Grundlage für Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts zu machen. Die Ultras beharren dagegen auf der Erfüllung aller Forderungen als Bedingung für ein Ende des Streiks. Die Auseinandersetzungen der rivalisierenden Lager macht den Streikrat unberechenbar. So hob der Streikrat auf betreiben der Ultras am 1. September den wenige Stunden zuvor gefaßten Beschluß, den Vorschlag der Emiriti zu akzeptieren, wieder auf.
In den letzten Tagen haben sich Streikrat und Rektorat wieder etwas aufeinander zubewegt. Einig ist man sich, daß die Abschaffung der Reformen von 97 und die Beziehung zum Evaluierungszentrum auf einem späteren Kongreß debattiert werden sollen. Strittig bleiben der Status dieses Kongresses und die völlige Abschaffung der Studiengebühren. Der Vorschlag der Emeriti sieht eine Suspendierung der Studiengebühren bis zu einer Einigung auf dem späteren Kongreß vor, der aber nach der Univerfassung keine verbindlichen Entscheidungen treffen kann. Das Rektorat ist gefordert, die Gebühren zu suspendieren und die „repressiven Elemente“ vom Universitätsgelände abzuziehen. Außerdem muß es gewährleisten, daß die Streikenden ohne Schikanen die versäumten Veranstaltungen nachholen können. Die Streikbewegung müßte nach dem Vorschlag von der Forderung nach einem Kongreß mit Entscheidungsbefugnissen abrücken. Damit würde die Debatte von drei ihrer sechs Forderungen auf ein Gremium vertagt, dessen Beschlüsse völlig unverbindlich sein werden. Ob sich die Studierenden darauf einlassen werden, ist ungewiß.

KASTEN:
„Wir machen die Uni heute dicht, damit sie für alle geöffnet bleibt.“
Eine Aktivistin berichtet über Alltag und Ziele der Streikbewegung

Ein Teil der täglichen Arbeit der Streikenden besteht darin, auf Straßen und Märkten, in Schulen und Metrostationen über die Ziele und Motive des Streiks zu informieren. Dabei wird auch gleich um Spenden gebeten. Die Presseabteilungen, durchforstet Zeitungen und Zeitschriften auf Nachrichten. Unermüdlich produzieren die StudentInnen Plakate und stellen Mauerzeitungen zusammen, verfassen Flugblätter und Kommuniqués und verteilen sie an alle sozialen Gruppen. Auch die Großdemonstrationen müssen vorbereitet werden. Transparente werden gemalt, Symbole entworfen und Pappfiguren gebastelt, die die Autoritäten darstellen. Alle bringen sich ihren Fähigkeiten entsprechend ein: Filmstudenten produzieren Videos, Musiker bieten Konzerte an, Bildende Künstler haben geistreiche Phantasiewesen und Transparente entworfen, die den Demonstrationen Farbe geben und soziale Übel wie den Neoliberalismus, den Autoritarismus und die Privatisierung allegorisch darstellen.
Die StudentInnen haben die Cafeterias zu Küchen umfunktioniert, um die Mahlzeiten für die Streikenden und die Sympathisanten der Bewegung zuzubereiten, seien es Journalisten, Eltern, ProfessorInnen oder Ex-StudentInnen. Im Unterschied zu früheren Streiks kochen diesmal auch die Männer. An den ersten Tagen stand Reis mit Bohnen auf der Speisekarte. Also wurden unzählige Kilos Reis gesammelt. Einige Fachbereiche führten sogar den Tauschhandel wieder ein und deckten sich im Gegenzug für Reis mit Gemüse, Früchten und Konserven ein. Unterstützung in Form von Lebensmitteln kam auch von den Wochenmärkten in den ärmeren Vierteln.
Hörsäle und Flure Grünflächen dienen den Streikenden seit vier Monaten als Schlafplätze. Auf den zahlreichen Grünflächen des Campus stehen etliche Zelte, die ebenfalls als Übernachtungsmöglichkeit dienen. Geschlafen wird streng getrennt, mal nach politischer Richtung, je nachdem ob „Ultra“ oder „Moderado“, mal nach Geschlecht. Aber es gibt auch konventionelle Schlafsäle, wo Frauen, Männer und Gäste gemeinsam übernachten, unabhängig von politischen Fragen.

Von Solidarität und Widerstand

Der Großteil der StudentInnen unterstützt den Streik, weil das Studium an der UNAM für viele die letzte Zuflucht vor dem kalten Zugriff des Neoliberalismus bietet. Aber die StudentInnen fühlen sich nicht isoliert. Das Unrecht der Regierung hat die verschiedensten Sektoren der Gesellschaft bewogen, sich dem Kampf der Studentenbewegung anzuschließen. Gewerkschaften wie die der Stromindustrie, die vor der Privatisierung steht, oder die der ArbeiterInnen der Universität, die Zapatistische Front der nationalen Befreiung, eine Elternversammlung, Arbeitslose, Umweltschützer und verschiedene unabhängige Organisationen nehmen an den Demonstrationen teil – die bislang größte zählte 90.000 Teilnehmer – und unterstützen die Bewegung auf verschiedene Weise.
Die Universitätsleitung schreckt auch vor gezielter Repression nicht zurück, um den Streik zu beenden. Bis heute sind acht Studenten verschiedener Fachbereiche durch Einheiten der Polizei, einige wurden als Angehörige der Bundespolizei identifiziert, entführt und physisch und psychisch mißhandelt worden. Der Rektor veranlaßte, daß gegen die Führer der Bewegung Haftbefehl wegen Verletzung der Autonomie der Universität und unbefugter Inbesitznahme der Einrichtungen erlassen wurde.
Die Bewegung läßt sich davon nicht einschüchtern. Der Streik geht weiter, aber weder die Universität noch die StudentInnen, ihre Eltern und viele DozentInnen sind die selben. Die Bewegung beweist, daß die Universität nicht weiter arbeiten kann wie bisher.
Amaranta Morales

Scheinangebote

Während die mexikanische Bundesarmee in Chiapas aggressiv gegen die zivile Basis der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) vorgeht, unterbreitete die Regierung nun wieder ein „Dialogangebot“ und möchte Verhandlungen mit der südmexikanischen Guerilla aufnehmen. Das ist zumindest einer Initiative des Präsidenten Ernesto Zedillo zu entnehmen, die am 7. September der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
Die Regierung fordert die ZapatistInnen darin auf, wieder am Verhandlungstisch Platz zu nehmen, um über ein Gesetzespaket zur sozialen und politischen Besserstellung der zehn Millionen Angehörigen indianischer Gruppen zu beraten. Der offizielle Gesprächsfaden zwischen den Parteien ist seit September 1996 abgerissen. Damals verließ die EZLN die Verhandlungen, weil sich die Regierung weigerte, ein bereits im Februar 1996 beschlossenes Abkommen über „Indianische Rechte und Kultur“ in die Praxis umzusetzen. Seitdem sind die Fronten verhärtet. Die Zapatistas erklärten, sie würden einen Dialog erst wieder aufnehmen, wenn das Abkommen umgesetzt wäre. Präsident Zedillo von der seit 70 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) legte dagegen ein neues Gesetzespaket vor, das im Parlament allerdings nie beschlossen wurde. Es fiel weit hinter die ursprünglichen Zugeständnisse an die Zapatistas zurück und wurde von diesen daher abgelehnt.
Während der neue Regierungsvorstoß den Wiederaufbau einer Vermittlungskommission vorsieht, findet sich im Text kein Hinweis auf eine Veränderung der Militärstrategie. Diese bestand seit dem Ausbruch des indianischen Aufstandes zum Jahresbeginn 1994 darin, den Bundesstaat schrittweise unter Kontrolle zu bringen. Zahlreiche Stützpunkte der Armee wurden aufgebaut, um den Bewegungsspielraum der Zapatistas einzuengen. Gleichzeitig bauten Regierungsfunktionäre und Militärs paramilitärische Gruppen auf, die teilweise brutal gegen die zivile Basis der Zapatistas vorgingen.

„Zugeständnisse“ im Wahlkampf

Innenminister Diódoro Carrasco Altamirano erklärte, es sei „unabdingbar, den Dialog wieder aufzunehmen, um Szenarien der Gewalt zu verhindern.“ Die ersten Reaktionen auf den Regierungsvorschlag waren allerdings zurückhaltend. Die Zapatistas selbst haben noch nicht antworteten. Der PRD-Abgeordnete Gilberto López y Rivas erklärte: „Ich sehe den Vorschlag als Nebelwerferei, um den Konflikt zu verschleiern und Wahlkampf zu betreiben.“ Das Angebot setze sich „einfach darüber hinweg, daß die tägliche Botschaft an die Zapatistas die Militarisierung und die Kriegführung niedriger Intensität“ sei. Er glaube nicht, daß die EZLN das Angebot akzeptiere.
Tatsächlich scheint dies unwahrscheinlich. Als Vorbedingungen für einen neuen Dialog fordert die EZLN neben der Umsetzung der „Vereinbarungen über indianische Rechte und Kultur“ den Rückzug der mehreren zehntausend Militärs aus Chiapas und die Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen. Doch genau damit ist nicht zu rechnen. Erst in den letzten Wochen kam es in den Ortschaften Amador Hernández, San José la Esperanza und Morelia zu Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und zivilen Basismitgliedern der EZLN, bei denen zahlreiche Zapatistas verletzt oder inhaftiert wurden. Das Militär setzte Tränengas und scharfe Munition ein. Hintergrund der Zusammenstöße war der Protest der Zapatistas gegen ein Straßenbauvorhaben der Armee, das offensichtlich militärischen Zwecken dienen sollte. Mittlerweile wurde der Bau der Landstraße gestoppt, allerdings nur vorübergehend.

„Die Regierung der Indigenas sind die bewaffneten Gruppen“

Wie kam es zur Autonomie-Erklärung der indigenen Bevölkerung von „Rancho Nuevo de Democracia“?

1995 besetzten einige Genossen den Gemeindesitz Tlacuache (Rancho Viejo) im Bundesstaat Guerrero. Sie forderten von der Regierung den Bau von Straßen, Gesundheitsposten, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Die Besetzung dauerte sieben Monate blieb aber erfolglos. Aus diesem Grund riefen die Genossen am 16. Dezember 1995 die „Unabhängigkeit einer autonomen, indigenen Gemeinde“ aus. Das Gebiet umfaßt 30 Dörfer und heißt heute „Rancho Nuevo de Democracia“. „Rancho“ nennen wir den Ort, weil es ein Gutshof ist; „Nuevo“, weil sich dort etwas Neues entwickeln soll, und „Democracia“, weil wir wollen, daß es eine demokratische Gemeinde ohne Kaziken (lokale Machthaber/Grundbesitzer) wird.

Wie ergeht es einer Frau, die Präsidentin einer autonomen Gemeinde ist?

Am Anfang glaubte ich nicht, daß sie mich wählen würden. Erstens, weil ich eine Frau bin und zweitens, weil es viele andere ältere Genossen mit mehr Erfahrung gibt. Ich bin erst 22 Jahre alt. Um die fehlende Erfahrung auszugleichen, ernannte ich einen Ältestenrat, bestehend aus Frauen und Männern. Probleme habe ich vor allem mit einigen meiner Genossen, weil es ihnen eigenartig vorkommt, daß eine Frau – noch dazu eine junge unverheiratete Frau ohne Kinder – daherkommt, die Dinge entscheidet und Versammlungen anführt. Ich antwortete ihnen, daß ich kam, um den Vorsitz der Gemeinde zu führen, weil sie offensichtlich dazu nicht fähig sind – ansonsten hätten sie ja wieder einen Mann zum Präsidenten gewählt. Es sind übrigens hauptsächlich Männer, die mich kritisieren. Die meisten Frauen hingegen unterstützen mich sehr. Im Grunde bin ich sehr zufrieden mit der Entwicklung der autonomen Gemeinde.

Was bedeutet Autonomie? Wie siehst du das Verhältnis zwischen indianischer Autonomie und der Autonomie von Frauen?

Die Autonomie, wie wir Indigenas sie uns vorstellen, existiert eigentlich nicht. Die mexikanische Regierung sagt: „Die Indigenas sind Separatisten, sie wollen sich vom mexikanischen Staat absondern.“ Aber das ist nicht unser Verständnis von Autonomie. In unseren Vorstellungen von Autonomie wollen wir die Macht zu eigenen Entscheidungen haben, unsere Autoritäten selbst und demokratisch ernennen, über unsere Naturvorkommen bestimmen und selbst entscheiden, wir wir arbeiten und uns politisch organisieren. Wir streben keinen unabhängigen Staat an.
Innerhalb der indigenen Gemeinschaften kommt es oft vor, daß indigenen Genossen, die einflußreiche Posten innehaben, beginnen, die indigenen Frauen noch stärker zu marginalisieren. Sie sagen: „Wenn du Frau bist, dann wasche meine Kleider und bringe mir das Wasser, weil das die indigenen Bräuche vorsehen.“ Die Männer wollen Autonomie, aber sie verstehen nicht, daß dazu auch die Autonomie der Frauen gehört. Es ist ein Kampf, den wir auch gegen die eigenen Genossen führen müssen, damit wir unseren Weg gemeinsam gehen können. Beim Kampf der Frauen geht es nicht um Gleichberechtigung, sondern um Gleichheit.

Wie nutzt du dein Präsidentinnenamt zur Umsetzung solcher Vorstellungen?

Alle wichtigen Entscheidungen werden über Abstimmungen in Vollversammlungen getroffen. Wir bereiten die Leute auf die Abstimmungen vor. Da viele nicht schreiben und lesen können, ersetzen wir die Texte für die Abstimmung durch Symbole, die wir vorher erklären. Früher haben die Frauen nicht an den Versammlungen teilgenommen. Als ich das Amt als Präsidentin von Rancho Nuevo übernahm, war die Einbindung von indigenen Frauen noch sehr schwierig. Doch dann begannen sie, sich zu organisieren. Zunächst einigten sie sich darauf, gemeinsam ein Kunsthandwerk-Projekt zu betreiben, das von einer Nichtregierungsorganisation unterstützt wird. So begannen die Frauen, zusammen zu arbeiten und sich auch darüber hinaus zu organisieren. Die Partizipation der Frauen ist außerdem häufig durch die eigenen Männer behindert, die der Auffassung sind, daß nur Männer Entscheidungen treffen können. Aber seit die Gemeinde autonom ist, sind die Mehrheit der Anwesenden in den Versammlungen Frauen.

Haben Frauen in der autonomen Gemeinde auch ökonomische Gleichheit?

In dieser Hinsicht ist noch nicht soviel erreicht worden. Für den Zugang zu Land sind ausschließlich die Ehemänner zuständig. Witwen übernehmen den Landbesitz des verstorbenen Ehemannes, aber für alleinstehende Mütter ist die Situation nach wie vor prekär. Land für Frauen zu fordern ist schwierig, da es ein Kampf gegen die indigenen Traditionen und Bräuche ist. Doch ebenso wie die moderne Technologie, werden sich auch die Bräuche der Indigenas weiter entwickeln.

Welche Auswirkungen hat euer Beispiel auf andere Gemeinden in der Region?

Die Erfahrungen unserer autonome Gemeinde haben einen Vorbildcharakter für die Umgebung. Außerdem hat die Idee der Autonomie an Bedeutung gewonnen, als die Zapatisten zu Jahresbeginn nach Guerrero kamen, um die Volksbefragung (Consulta) durchzuführen. Die Idee der Autonomie ist für viele Menschen etwas Konkretes, zum Anfassen geworden. Vertreter aus anderen Dörfern sind zu uns gekommen, um sich wegen ihrer eigenen Autonomie- Erklärung beraten zu lassen. Insgesamt bereiten etwa 18 weitere Gemeinden in Guerrero ihre Autonomie vor. Dies ist ein Prozeß, der inzwischen als reale Alternative zu den herrschenden Verhältnissen in Guerrero gesehen wird.

Wie ist die politische Situation nach der jüngsten Wahl?

Es gibt viele Hindernisse bei der Umsetzung unserer Autonomie. Zum Beispiel lehnen wir staatliche finanzielle Unterstützung ab. Wir finanzieren uns über eigene Arbeit und Kooperation mit anderen Gemeinden, haben aber mit gravierenden ökonomischen Problemen zu kämpfen. Da wir die einzige autonome Gemeinde in Guerrero sind, ist die staatliche Repression und Militarisierung in unserer Gegend besonders stark. Das Militär hat einen Stützpunkt am Eingang von Rancho Nuevo errichtet. Wir können uns nicht frei bewegen, sondern werden regelmäßig vom Militär kontrolliert und schikaniert, wenn wir den Ort verlassen oder betreten wollen.
Die neue Regierung stellt die Regierungspartei PRI, doch ihr Kandidat Rene Juarez Cisneros konnte nur durch einen offensichtlichen Wahlbetrug gewinnen. Da die derzeitigen Machthaber in Guerrero nicht rechtmäßig gewählt wurden, müssen sie vom Militär begleitet und geschützt werden. Inzwischen hat die Unterdrückung Andersdenkender zugenommen, sogar Militärhilfe aus anderen Bundesstaaten wurde angefordert, um den Amtsantritt zu schützen. Eigentlich gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Militär, Regierung oder Kaziken.

Wie denkst du über die Guerilla EPR?

Einige unserer Genossen sind im Gefängnis, sie werden beschuldigt, Mitglieder der EPR zu sein. Wir glauben, daß die Regierung nur auf solch einen Widerstand reagiert, Dialog und friedliche Proteste scheinen nichts zu bringen. Heute wissen wir: Wenn du keine Waffen trägst, wird das Militär dich einfach fertigmachen. Deshalb ist es besser, eine Waffe zur Selbstverteidigung zu tragen.
Für uns ist die Guerilla etwas ganz Natürliches, wir haben eine lange Geschichte mit bewaffneten Bewegungen. Obwohl die EPR als Guerilla nicht so anerkannt ist wie die EZLN in Chiapas, ist die Präsenz der Guerilleros für uns ganz normal. In Guerrero gibt es in jedem Dorf eine bewaffnete Gruppe. Nur die mexikanische Regierung hat Angst vor der Guerilla und verteufelt sie. Meiner Ansicht nach sind die bewaffneten Gruppen das Rückrat der Indigenas. Sie unterstehen nicht der mexikanischen Regierung, die Regierung der Indigenas sind die bewaffneten Gruppen.

Interview: Stefanie Kron und Berenice Hernandez

KASTEN:
Hermelinda Tiburcio Calletano ist Präsidentin von „Rancho Nuevo de Democracia“, der einzigen autonomen Gemeinde im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Autonome Gemeinden sind darüber hinaus nur in Chiapas seit dem Auftauchen der Befreiungsbewegung EZLN von indigenen Gemeinschaften ausgerufen worden.
Guerrero blickt auf eine lange Geschichte linker Befreiungs- Bewegungen zurück und gehört, neben Chiapas und Oaxaca, zu den ärmsten Bundesstaaten Mexikos mit dem höchsten indigenen Bevölkerungsanteil. Derzeit agiert dort vor allem die EPR (Revolutionäre Armee des Volkes). Ähnlich wie in Chiapas verschärfte die mexikanische PRI-Regierung in den vergangenen Jahren auch in Guerrereo die Repression gegen jedwede oppositionelle Organisierung, vor allem gegen die indigene Bevölkerung, und militarisierte die Region.
Seit einem massiven Wahlbetrug bei den Gouverneurswahlen Anfang 1999 ist die Situation besonders angespannt. PRD-Kandidat Salgado, der nach eigenen Angaben die Wahl gewann, sich jedoch dem PRI- Kandidaten Rene Juarez Cisneros knapp geschlagen geben mußte, rief die Bevölkerung zum friedlichen Protest auf. Die EPR erklärte, daß sie eine „bewaffnete Abstimmung und Entscheidung des Volkes“ über den zukünftigen Gouverneur von Guerrero unterstützen würde.

Konfrontation in San Andrés

Die Chancen für eine Lösung der Konfrontation von Regierung und EZLN (Ejército Zapatista de Liberaración Nacional) in Chiapas stehen seit längerem schlecht. Mit der gewaltsamen Räumung der autonomen zapatistischen Gemeinde San Andrés durch Polizei, Militär und Mitglieder der Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) am 7. April erreichten die Provokationen, denen die Zapatisten ausgeliefert sind, ein neuerliches Höchstmaß.
San Andrés war Sitz der Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Zapatistas und ist seit 1994 mehrheitlich zapatistisch. Das Rathaus wird seit 1995 autonom regiert: Aus dieser Zeit datiert auch die Umbenennung des Ortsnamens in San Andrés Sacamuch’ em de los Pobres. Für die zapatistische Bewegung hat die Gemeinde Symbolcharakter.
Die Polizeiaktion wurde von mehreren kirchlichen Stellen und Menschenrechtsorganisationen als eindeutige Agression gegen die EZLN und bewußte Gefährdung des Friedensprozesses durch die Regierungsseite gewertet. Der ehemalige Vermittler Bischof Samuel Ruiz konnte sich angesichts des Geschehens eines gewissen Sarkasmus nicht enthalten: „So zeigt sich der Wille zum Dialog“, kommentierte er den Vorfall.
Die sukzessive Zerschlagung der autonomen Gebiete ist nur eine Form der Regierung, den Konflikt für sich zu entscheiden. Die von staatlicher Seite geförderten Maßnahmen der Landvergabe an Familien aus zapatistischen Gebieten versuchte die PRI der Öffentlichkeit als „Desertationen aus der zapatistischen Armee“ zu verkaufen. Den Familien bleibt angesichts der Anfeindungen von PRI-Anhängern, denen sie in ihren Gemeinden ausgesetzt sind, oft keine andere Wahl, als ihr Dorf zu verlassen. Die Situation der Bauernfamilien wird dazu genutzt, die zapatistische Armee in Mißkredit zu bringen. So war die Rede von 20.000 Zapatisten, die die Waffen niedergelegt hätten. Zudem gab es Hinweise darauf, daß sich Mitglieder der PRI darauf vorbereiteten, als Zapatisten verkleidet, offiziell ihre Waffen abzugeben. Die Behauptung, die EZLN kaufe Waffen mit Geldern der vor wenigen Wochen durchgeführten Umfrage, komplettiert die Propaganda. Von Seiten der EZLN werden diese Versuche als Farce bezeichnet und als Reaktion auf die erfolgreiche Consulta gewertet.
Nicht nur humanitäre Organisationen betrachten die Zentral- und Bundesstaatsregierung als die Verantwortlichen für die angespannte Lage in Chiapas. Auch der ehemalige Friedensbeauftragte der Regierung und jetzige Chef der PCD (Zentraldemokratische Partei), Manuel Camacho Solís, meldete sich Anfang April zu Wort, um die EZLN zu unterstützen. Nach seiner Auffassung bedeutete die polizeiliche Räumung von San Andrés einen schweren Rückschlag für den Dialog zwischen den beiden Konfliktparteien.
Solís’ harsche Kritik an der Politik der Regierung sorgte nun für das Wiederaufflammen des alten Streits: 1994 wurde er abgesetzt, weil er die Interessen der Regierung nicht konsequent genug vertreten hatte. Jetzt forderte er den amtierenden Innenminister Francisco Labastida Ochoa zum Fernsehduell auf. Sein Vorwurf: Keines der Versprechen, die Labastida nach dem Massaker von Acteal gegeben hatte, seien eingelöst. Eine Aufklärung des Massakers stehe weiterhin aus; die Regierung versuche lediglich, den Status quo aufrechtzuerhalten. Die Situation der Bevölkerung Chiapas’, so Solís, hat sich gegenüber 1994 deutlich verschlechtert.
Mehr und mehr machen sich die anstehenden Wahlen bemerkbar: Als Nebeneffekt derartiger Auseinandersetzungen läßt sich, so hoffen die Kontrahenten wohl zu Recht, ein kleines Plus an Bekanntheit gewinnen. Beide sind für die Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2000 im Gespräch.
Die Übernahme des autonomen Rathauses in San Andrés durch Priistas war nur von kurzer Dauer. Nach einer breiten Mobilisierung durch die EZLN zogen bereits einen Tag nach der Räumung, am 8. April 4.000 Indígenas nach San Andrés, um friedlich für ihre Forderungen zu demonstrieren. Sie nahmen das Städtchen wieder in ihren Besitz. Dem amtierenden Gouverneur von Chiapas, Roberto Albores Guillén, blieb nichts weiter übrig, als den Rückzug seiner Polizeikräfte anzuordnen.

80. Todestag Zapatas

Unterdessen beging man am 10. April in San Andrés den 80. Jahrestag der Ermordung Emiliano Zapatas. Auch in den Bundesstaaten Oaxaca, Morelos, Veracruz und Mexico D. F. fanden Gedenkmärsche statt.
Auch die Offiziellen der PRI würdigten den Guerillaführer. Ungerührt hielt Albores, Drahtzieher der Angriffe auf die autonomen zapatistischen Gebiete und in andere Aktivitäten der Paramilitärs verwickelt, in Chenalho eine Laudatio auf den Kämpfer für die Rechte der Bauern.
Für die lokalen oder nationalen Machthaber besteht bisher, trotz ihrer Machenschaften, wie den Angriffen auf zapatistische Gebiete und harter Repression gegen die örtliche Bevölkerung, kaum ein persönliches Risiko. In diesem Bewußtsein führen sie ihre Politik fort. Der einzige Unsicherheitsfaktor im Machtgebilde sind die Wahlen, die nächstes Jahr sowohl in Chiapas als auch landesweit anstehen. Für den Friedensprozeß in Chiapas bilden sie eine, wenn auch nicht die einzige Chance.

Zapatistas sammeln drei Millionen Stimmen

Zum Zwecke der Volksabstimmung reisten 5.000 Delegierte der EZLN – jeweils zur Hälfte Frauen und Männer – in die 2.500 Landkreise Mexikos. Die Delegierten „gehören verschiedenen Ebenen der EZLN an“, so Subcomandante Marcos. „Sie tragen die Botschaft von Dialog und Frieden und üben keine militärische Funktion innerhalb der EZLN aus. Sie kommen in die Landkreise, um mit den Menschen zu sprechen; um sie zum Zuhören zu bewegen und vor allem, um direkt etwas über das Fühlen und Denken der Mexikaner und Mexikanerinnen zu erfahren“, erklärte der Subcomandante gegenüber der Tageszeitung La Jornada.

Zapatistas in der Hauptstadt

Allein in der Hauptstadt befanden sich seit dem 14. März 117 Zapatistas, die mit Unterstützung ziviler Organisationen der Bevölkerung in einen Dialog treten. Die Situation in Mexiko-Stadt. war zur Zeit der Ankunft der ZapatistInnen von tagtäglichen Protesten der Studenten der nationalen Universität UNAM gegen die Einführung von Studiengebühren, sowie Demonstrationen der MitarbeiterInnen des Elektrizitätssektors gekennzeichnet, die sich gegen die Privatisierung des Staatsunternehmens wehren.
Landesweit halfen rund 15.000 Freiwillige bei der Organisation der Rundreise und sorgten trotz erheblicher logistischer Schwierigkeiten und chronischem Geldmangel für deren weitgehend reibungslosen Ablauf.
Auf einer Großdemonstration in der Hauptstadt am 18. März 1999 zeigte sich in dem Zusammentreffen von ZapatistInnen, StudentInnen, Mitgliedern der PRD (Partei der Demokratischen Revolution) aus Guerrero und Beschäftigten der Elektrizitätsindustrie das Ausmaß der Unzufriedenheit der MexikanerInnen.
Delegierte der EZLN befanden sich damit bereits zum zweiten Mal offiziell in der Hauptstadt. Im Herbst 1997 war eine Karawane von 1.111 ZapatistInnen nach Mexiko-Stadt gezogen, um die Umsetzung der Abkommen von San Andrés zu fordern, stieß dabei aber auf die fortgesetzte Ablehung der Regierung. Nach langem Schweigen nahm die EZLN dann im Juli 1998 die Initiative zu den Friedensverhandlungen wieder auf und beschloß in der „Fünften Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald“ eine Volksabstimmung zu den Abkommen von San Andrés durchzuführen. Diese Vereinbarungen wurden im Februar 1996 von der Regierung und der EZLN unterzeichnet und beinhalten unter anderem Autonomierechte für die indigenen EinwohnerInnen Mexikos, darunter das traditionelle Rechtssystem der indianischen Gemeinden. Die Regierung ist jedoch bis heute nicht bereit, einen auf den Vereinbarungen basierenden Gesetzesvorschlag zu beschließen.
Mehr als drei Millionen MexikanerInnen nahmen nun die Möglichkeit wahr, über die Abkommen von San Andrés abzustimmen. Die von den Zapatisten formulierten Fragen lauteten:
1. Bist Du damit einverstanden, daß sich die indigenen Völker mit all ihrer Kraft und ihrem Reichtum in das nationale Projekt einbringen und daß sie sich aktiv am Aufbau eines neuen Mexiko beteiligen?
2. Bist Du damit einverstanden, daß die indianischen Rechte in der mexikanischen Verfassung festgehalten werden laut den Vereinbarungen von San Andrés und dem gleichlautenden Vorschlag der COCOPA (Parlamentarische Vermittlungskommission) an den Kongreß?
3. Bist Du damit einverstanden, daß wir den wahrhaftigen Frieden nur durch den Weg des Dialoges, der Entmilitarisierung des Landes durch die Rückkehr der Soldaten in ihre Kasernen, wie es die Verfassung und die Gesetze festsetzen, erreichen?
4. Bist Du damit einverstanden, daß sich das Volk organisieren soll und von der Regierung verlangen kann, daß diese in allen Aspekten des nationalen Lebens ‘gehorsam befiehlt’ (‘mande obedeciendo’ ist ein feststehender Begriff, der von den Zapastistas eingeführt wurde und der die Verpflichtung der Regierung gegenüber der Bevölkerung ausdrückt)?
Auf diese vier Fragen antworteten 95 Prozent der WählerInnen mit einem „Ja“. Auch im Ausland, unter anderem in Lyon, Paris und Córdoba, nahmen 30.000 MexikanerInnen an der Wahl teil. Die Abstimmung wurde schon im Vorfeld als großer Erfog bezeichnet, da es den delegierten Zapatistas gelang, den Ring des Militärs um die Gemeinden zu durchbrechen. Während die Medien durch den Regierungssekretär Emilio Gamboa Patrón die Weisung erhielten, nichts über die Volksabstimmung zu berichten, traten die Delegierten mit StudentenInnen, Intellektuellen und ArbeiterInnen in Kontakt. Vor allem linke Medien, berichteten über die Abstimmung, während die beiden größten Fernsehsender des Landes, Televisa und Televisión Azteca, die Wahl als bedeutungslos und gefälscht darstellten.
Die Delegierten der Zapatistas wiesen die Vorwürfe des Innenministers Francisco Labastida Ochoa und der katholischen Kirche zurück, die Volksabstimmung sei gefälscht und unklar formuliert. „Die Teilnehmenden haben den Frieden gewählt. Mit ihren Beschuldigungen zeigt die Regierung, daß sie den Konflikt in Chiapas nicht auf friedliche Weise lösen will.“, sagt Marco, ein Delegierter der EZLN. „Wenn die Regierung von einer Fälschung spricht, fragen wir: Woher nehmen wir die Mittel zur Bestechung, damit die Menschen wählen? Wem haben wir Geld für seine Stimme gegeben?“

Eine Offensive des Friedens

Die Volksabstimmung kann als wichtiger Schritt zur Wiederaufnahme des Dialoges zwischen der EZLN und der Regierung bezeichnet werden. Bereits eine Woche nach der Abstimmung fragte die COCOPA um erneute Verhandlungen mit der EZLN an. Eine Arbeitsgruppe, die vom Senator Carlos Payán (PRD) geleitet wird, schlug die Durchführung eines internationalen Seminars zum Thema: “Bewaffnete Bewegungen und Friedensprozesse” vor.
Ein Abgeordneter der parlamentarischen Vermittlungskommission COCOPA sagte, daß sich die Ergebnisse der Volksabstimmung nicht nur an der Zahl der abgegebenen Stimmen messen ließen. „Das, was ich eine Offensive des Friedens nenne, ist der große Verdienst der Zapatistas, die Belagerung des Militärs auf friedliche Weise zu durchbrechen und 5.000 Delegierte in das gesamte nationale Territorium zu schicken. Zu erreichen, daß sich Türen von Universitäten, Betrieben und Haushalten öffnen ist ein wahrhaftiger, politischer Sieg.“

Zwischen Diktatur und Demokratie

Unter denen, die sich im Be-
reich der Sozialwissenschaften mit Lateinamerika beschäftigen, gehört Dieter Boris zu den eher wenigen, die sich den Blick für das Ganze bewahrt haben, weil sie mit Recht meinen, nur so könne die Dimension und Bedeutung einzelner Erscheinungen sinnvoll eingeschätzt werden. Dieser Blick des Generalisten bewahrt ihn auch vor der Gefahr, den wechselnden wissenschaftlichen Modetrends hinterherzulaufen. Das geschieht zunächst in der sehr lesenswerten Einleitung. Hier wird deutlich gemacht, daß die sozialen Bewegungen in Lateinamerika nicht allesamt neu sind, denn Aufstände der indigenen Bevölkerung, Rebellion der Bauern und Bäuerinnen, später die ArbeiterInnenbewegung und regionale StudentInnenbewegungen hat es schon lange vor der „Hochkonjunktur“ der „neuen sozialen Bewegungen“ in den achtziger Jahren gegeben. Auch stellen nicht alle Bewegungen eine lateinamerikanische Besonderheit dar, denn die Frauenbewegung und die Umweltbewegung beispielsweise nahmen in Lateinamerika etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung und Stärke zu wie in Europa oder Nordamerika. Die während der siebziger und achtziger Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas etablierten Militärdiktaturen haben allerdings mit der Unterdrückung der normalen Möglichkeiten politischer Artikulation durch Parteien einerseits und der Schaffung von dramatischen Notsituationen durch politische Verfolgung und soziale Gefühllosigkeit andererseits den Boden für eine Reihe von Bewegungen bereitet, die unter „normalen“ Umständen wahrscheinlich nie entstanden wären. Dazu gehören vor allem die Menschenrechtsbewegungen, die sich um die verschwundenen politischen Gefangenen gekümmert haben und noch kümmern, die solidarischen Organisationen einer Art Volksökonomie, die Stadtteilbewegungen und andere mehr.
Lesenswert ist die Einleitung auch besonders, weil Dieter Boris hier die seither unternommenen Versuche zur Bildung von Theorien über soziale Bewegungen einer kritischen Revision unterzieht und sich gegen die Ansicht zur Wehr setzt, die „veraltete“ Klassenanalyse sei in Zukunft durch die Analyse sozialer Bewegungen zu ersetzen (statt zu ergänzen). Natürlich könnten, so argumentiert er, die sozialen Bewegungen nicht auf ein Klassenphänomen reduziert werden. Das schließe aber nicht aus, daß sie in der Klassengesellschaft „verortet“ seien. Fast nebenbei vermittelt Dieter Boris an dieser Stelle auch, daß der modische und sehr unscharfe Begriff der „Zivilgesellschaft“ in Lateinamerika eher vernebelnde als aufklärerisch-erkenntniserweiternde Funktionen gehabt hat.

Analyse im Vergleich
und am Beispiel
Nach einem kurzen Ausblick auf neuere Tendenzen der Entwicklung der Sozialstruktur in den Ländern Lateinamerikas unternimmt Dieter Boris den Versuch, die Konsequenzen der Demokratisierungsprozesse für die Weiterentwicklung der sozialen Bewegungen zu kennzeichnen. Nach seinem Urteil sind diese Bewegungen in Ländern wie Chile und Uruguay mit dem Wiederaufkommen der politischen Parteien sehr geschwächt worden, während sie ihren Einfluß etwa in Bolivien und Paraguay halten und in Brasilien oder Ecuador sogar ausbauen konnten. Diese Typenbildung ist nicht ganz unproblematisch; richtig ist aber sicherlich, daß die Veränderungen in den Ländern unterschiedlich waren und sind. Dabei erstaunt, daß Dieter Boris eine ganze Reihe von Faktoren anführt, die diese Unterschiede bewirkt haben könnten, aber nicht auf das Ausmaß eingeht, in dem eine neoliberale Gesellschaftspolitik es geschafft hat, mit „Modernisierungsreformen“ entsolidarisierende Wirkungen zu entfalten. Das war eben in Chile und Uruguay weitaus mehr der Fall als etwa in Brasilien.
Der größte Teil des Buches ist der Analyse der einzelnen Bewegungen gewidmet. Dabei geht Dieter Boris jeweils von einer Schilderung der Strukturprobleme aus, die die Entstehung oder das Wiederaufblühen einer sozialen Bewegung bewirkt haben, also: der Mangel an Land für die Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, die kulturelle Benachteiligung für die indigenen Bewegungen, die Wirkungen der Öffnung zum Weltmarkt für die ArbeiterInnenbewegung, Mord, Folter und Unterdrückung für die Menschenrechtsbewegungen, Machismus und männliche Vorherrschaft für die Frauenbewegung, die steigende Belastung der Umwelt für die Umweltbewegung usw. Daran knüpft jeweils eine sehr nützliche differenzierende Übersicht über die Entwicklung der jeweiligen Bewegungen in ganz Lateinamerika an, die schließlich in eine detailreiche Darstellung am Beispiel eines einzelnen Landes mündet.
Daß Brasilien im Unterschied zu allen anderen Ländern gleich dreimal erscheint, hat nicht nur mit der Größe dieses Landes zu tun, welches – nach geographischer Größe und Bevölkerung – fast die Hälfte Lateinamerikas ausmacht, sondern auch mit der größeren Bedeutung, die die sozialen Bewegungen hier eingenommen haben. Die neue Gewerkschaftsbewegung mit ihrer engen Beziehung zur Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und die kirchlichen Basisbewegungen innerhalb des größten katholischen Landes der Welt konnten in solch einem Buch einfach nicht fehlen.

Soziale Bewegungen
und Neoliberalismus?
Daß Dieter Boris im allgemeinen die eher erfolgreicheren nationalen Bewegungen als Beispiele für seine Einzeldarstellungen ausgesucht hat, wird man kaum kritisieren können, zumal ja die Einschätzung der Situation in ganz Lateinamerika diesen immer vorausgeht. Das einzige Kapitel, bei dem eine andere Auswahl sicher besser gewesen wäre, ist das Kapitel über die Guerilla, in dem Nicaragua im Mittelpunkt steht. Selbst wenn man zugesteht, daß es sich bei den Guerillas um soziale Bewegungen handeln kann – und in Nicaragua wurden sie 1979 zum Kristallisationspunkt sehr breiter Bewegungen –, läßt sich fragen, ob der Sieg der Sandinisten damals nicht eine untypische Ausnahme darstellt, die ganz besonderen Bedingungen zu verdanken war und ob nicht etwa Kolumbien besser als Beispiel gedient hätte, um die Vielfalt der Probleme zu beleuchten. Wichtig wäre in diesem Kapitel auch gewesen, etwas stärker zu differenzieren. Jedenfalls kann die bündnisunfähige und auch gegenüber der übrigen Linken zum Terror entschlossene peruanische Guerilla Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) ebenso wenig mit den anderen (maoistischen, trotzkistischen, castristischen) Guerillas in einem Atemzug genannt werden wie die zapatistische Guerilla in Chiapas (Mexiko), die sich vom Kampf um die politische Macht offiziell verabschiedet hat und mit den modernsten Methoden weltweiter Kommunikation arbeitet.
Die Menschenrechtsbewegungen in Argentinien um die „Mütter der Plaza de Mayo“, die Avantgarde der lateinamerikanischen Frauenbewegung in Chile, die Bewegungen von ElendsviertelbewohnerInnen in Lima, die erfolgreich agierende indigene Bewegung in Ecuador und die ökologische Bewegung in Mexiko-Stadt, der größten Metropole der Welt mit entsprechend großen Umweltproblemen bieten dagegen gute Gelegenheit, die allgemeinen Probleme der jeweiligen Bewegungen vertiefend zu analysieren.
Wer sich in der deutschsprachigen Welt mit zentralen gesellschaftlichen und politischen Problemen Lateinamerikas beschäftigen will, wird auf die Lektüre dieses wichtigen Buches – auch wegen seines sehr ausführlichen Literaturverzeichnisses – kaum verzichten können.

Dieter Boris: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. VSA-Verlag, Hamburg 1998, 254 Seiten.

Patriotisches Himmelfahrtskommando

Verschwörungstheorien erfreuen sich in Mexiko ungemeiner Beliebtheit. Dafür gibt es einen einfachen Grund: In einem Land, das sieben Jahrzehnte lang von nur einer Partei regiert wurde, deren interne Machtverhältnisse und Fraktionskämpfe zudem immer hinter verschlossenen Türen verborgen blieben, liegt es für den politischen Beobacher nahe, hinter jedem politischen Ereignis eine finstere Macht zu wähnen, die die Marionetten auf der öffentlichen Bühne tanzen läßt. So war es denn kein Wunder, daß ein illustrer vierstündiger Aufzug von 51 Militärs, die am 18. Dezember letzten Jahres über die hauptstädtische Magistrale Paseo de la Reforma marschierten, für großes Aufsehen sorgte und wilde Spekulationen auslöste. Denn es handelte sich keineswegs um eine der zahlreichen offiziellen Militärparaden, sondern um eine regelrechte politische Demonstration bewaffneter Uniformträger.
Ein Novum in Mexiko, drang doch bisher über das Innenleben der Bundesarmee kaum etwas an die Öffentlichkeit. Unter der Führung des Oberstleutnant Hildegardo Bacilio Gómez protestierte das selbsternannte Patriotische Kommando zur Bewußtseinsbildung des Volkes (CPCP) mit der Aktion gegen die Verletzung elementarer Menschenrechte innerhalb der Armee. Sogleich wurde darüber gemutmaßt, welche der unzähligen politischen Fraktionen oder Cliquen innerhalb des Staatsapparates und der Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) mit dem Manöver welches politisches Ziel erreichen und wer wem warum eine Ohrfeige verpassen wolle. Letztlich scheinen sich alle Spekulationen als Luftblase erwiesen zu haben: Hinter dem CPCP steht tatsächlich nur eine Gruppe von inkonformen Soldaten, die die unhaltbaren Zustände innerhalb der Bundesarmee anprangern wollten.

Willkürjustiz

Die CPCP-Mitglieder beklagten, daß etwa 1.500 Angehörige der Streitkräfte wegen angeblicher Vergehen wie Befehlsverweigerung oder Ungehorsam in Militärgefängnissen inhaftiert seien. Bei den Verurteilungen würde teilweise willkürlich vorgegangen und rechtsstaatliche Prinzipien mißachtet. So säßen viele Soldaten langjährige Strafen für Taten ab, die sie gar nicht begangen hätten. Bacilio Gómez und seine Anhänger forderten daher, daß die armeeinterne Rechtssprechung (fuero militar) aufgehoben und die Armee der zivilen Jurisdiktion unterworfen werden solle. „Für Militärs existieren keine Menschenrechte und sie kommen auch nicht in den Genuß der Garantien, die die Verfassung gewährt. Arm dran ist im Militär derjenige, welcher versucht, auf seine Bürgerrechte zu pochen“, erklärte Ende Februar Enriquez del Valle, ein ehemaliger Hauptmann, der als zweiter Anführer des CPCP gilt.
Bisher drang über die internen Verhältnisse in der Bundesarmee wenig nach außen. Lediglich der Fall des General José Francisco Gallardo wurde in der Presse öfter erwähnt. Wenn man dem CPCP Glauben schenkt, kann er als symptomatisch gelten. Gallardo hatte sich 1993, ähnlich wie das Patriotische Kommando heute, über das innermilitärische Justizsystem beklagt und einen Ombudsmann für die Soldaten gefordert. Dieser sollte Beschwerden über Willkürhandlungen von Offizieren entgegennehmen und ihnen nachgehen. Doch Gallardo wurde schnell selbst zum Opfer der Militärgerichtsbarkeit. Unter einer fadenscheinigen Anklage wurde er zu 28 Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Er soll Pferdefutter aus einem Armeestall gestohlen haben. Gallardo und seine Angehörigen ließen sich durch das Urteil nicht entmutigen und führen seit Jahren eine unermüdliche Kampagne für seine Freilassung. Mittlerweile hat amnesty international Gallardo zum „Gefangen aus Gewissensgründen“ erklärt. Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) untersteht, bezeichnet ihn als „politischen Gefangenen“.
Den Angehörigen des CPCP ergeht es nach ihren Protesten nicht viel besser. Mittlerweile sitzen acht Mitglieder im Militärknast. Oberstleutnant Hildegardo Bacilio konnte diesem Schicksal bis jetzt entgehen und verbirgt sich irgendwo in Mexiko. Er beschränkt sich momentan auf die Forderung nach Freilassung seiner Gesinnungsfreunde.

Politische Opposition im Militär?

Daß eine Organisation wie die mexikanische Armee, die beschuldigt wird systematischer Menschenrechtverletzungen beschuldigt wird, auch innerhalb ihrer Strukturen nicht zimperlich gegen Kritiker vorgeht, verwundert kaum. Interessant ist dagegen, daß die Äußerungen Oberstleutnants Bacilio Gómez einen deutlich politischen Anstrich hatten. So listete er eine Reihe politischer Vorbilder auf. Darunter befanden sich Che Guevara, der Subcomandante Marcos von den Zapatistas in Chiapas, Gerry Adams von der IRA-nahen Partei Sinn Fein aus Nordirland und der kürzlich zum Präsident gewählte Ex-Putschist und Linkspopulist Hugo Chávez aus Venezuela. Doch nicht nur für bewaffnete Freiheitshelden – oder solche, die sich dafür halten – schlägt sein Herz, sondern auch für Samuel Ruiz, den als Befreiungstheologen bekannten Bischof aus Chiapas.
Auf einer – mittlerweile wieder verschwundenen – Internetseite, die das CPCP einrichtete, fanden sich nicht nur Links zur Homepage der südmexikanischen Guerilla EZLN, sondern auch zur Seite von Rosario Ibarra, die momentan im Auftrag der Zapatistas eine Volksbefragung über deren Gesetzesvorschlag über indianische Rechte und Kultur organisiert. Rosario Ibarra ist eine der bekanntesten MenschenrechtsaktivistInnen in Mexiko. Ihr Sohn wurde als Mitglied einer Stadtguerilla in den 70er Jahren vom Militär entführt und ist seitdem verschwunden. In Interviews erkärte Bacilio Gómez außerdem, daß er nicht damit einverstanden sei, daß die Bundesarmee dazu eingesetzt werde, protestierende Indígenas und Menschenrechtsaktivisten zu ermorden.
Diese Äußerungen sind vor allem vor dem Hintergrund interessant, daß schon seit geraumer Zeit über eine angebliche oppositionelle Strömung in der mexikanischen Armee gemunkelt wird. Sie soll sich in der Tradition des postrevolutionären Linksnationalismus verorten, der über Jahrzehnte von Teilen der PRI gepflegt wurde und heute von der oppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) weiter repräsentiert wird. Immerhin soll PRD-Kandidat Cuauhtémoc Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen 1988 über die Hälfte der Stimmen der Armeeangehörigen gewonnen haben.
Dies ist durchaus plausibel, war doch sein Vater, der Revolutionsgeneral Lázaro Cárdenas, nach seiner durch Sozialreformen geprägten Präsidentschaftsperiode von 1934-40 noch jahrelang Verteidigungsminister. Auch der General und Rektor der Armeeuniversität im Ruhestand Luis Garfias Magaña meint: „Das mexikanische Militär identifiziert sich mehr mit dem Volk als mit den hohen Klassen.“
Obwohl man getrost davon ausgehen kann, daß die mexikanische Armee sich nicht auf einmal der EZLN anschließen wird, zeigt doch allein die Diskussion über den inneren Zustand der Armee, daß es dort rumort. Es wäre keine Überraschung, würde irgendwann ein mexikanischer Hugo Chávez auf den Plan treten und das Vaterland retten wollen. Das meinen zumindest die Militärsoziologen José Luis Piñeros und Guillermo Garduño. Sie erklärten in der Tageszeitung Excelsior: „Die Militärs, die auf die Straße gegangen sind, um ihre Differenzen innerhalb der Streitkräfte zu manifestieren, könnten in absehbarer Zeit auch soziale Anliegen auf ihre Fahnen schreiben und als Führer auftreten. Anlaß dazu gibt die wirtschaftliche, politische und soziale Krise im Land, vor allem aber das Fehlen rechtmäßiger Führer, die sich an die Spitze des Kampfes für die Umgestaltung stellen.“

Krieg im Paradies

In den 70er Jahren hatte Mexiko bei westeuropäischen Linken einen sehr guten Ruf. Das Land galt als sichere Zuflucht für die Flüchtlinge aus Pinochets Chile, beharrte auch gegen den Druck aus den USA auf freundschaftlichen Beziehungen zum revolutionären Kuba, und war bis in die 80er Jahre der Sitz verschiedenster lateinamerikanischer Guerillaführungen und Exilregierungen. Auch in Mittelamerika unterstützte die mexikanische Auslandspolitik die salvadorianische FMLN (Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí) und nicaraguanische FSLN (Nationale Befreiungsfront der Sandinisten) durch verschiedene Verhandlungsinitiativen. Innenpolitisch steht die Regierung Echeverría (1970-1976) bis heute für den Ausbau des Sozialstaats und damit die Umverteilung der im „mexikanischen Wirtschaftswunder“ erarbeiteten Reichtümer auf die breite Bevölkerung.
Dieses Mexiko vom Anfang der 70er Jahre beschreibt auch der Roman Krieg im Paradies von Carlos Montemayor. Er zeigt jedoch eine ganz andere Wirklichkeit hinter der fortschrittlichen Kulisse: Die extreme Armut der Bauern im südwestlichen Bundesstaat Guerrero und ihre Konsequenzen. Montemayor rekonstruiert eine Geschichte, die auch die meisten linken MexikanerInnen des urbanen Mittelstands bis heute nur lakonisch als „Alptraum“ oder „schlechte Erfahrung“ abtun: Den bewaffneten Kampf der ersten mexikanischen Guerillabewegungen.

Illegale Intellektuelle?

Lucio Cabañas, ein Grundschullehrer aus der Kleinstadt Atoyac, gründete 1967 die Partido de los Pobres (Partei der Armen) als bewaffnete Bauernbewegung. Auf die Forderungen der Kaffee- und Kopra-Produzenten der Region nach menschenwürdigen Lebensbedingungen hatte der Staat seit Anfang der 60er Jahre ausschließlich mit wiederholten Massakern an Demonstranten und verschärfter Repression reagiert und damit der Guerillabewegung den Boden bereitet. Bereits 1963 war Genaro Vázquez, ebenfalls Grundschullehrer und dadurch schon Angehöriger der kleinen intellektuellen Schicht Guerreros, mit einer Gruppe in den Untergrund gegangen. Mit dem Tod von Vázquez bei einem Autounfall im Jahr 1972 beginnt Carlos Montemayor seinen Roman, um dann die Geschichte der Partido de los Pobres im Detail zu erzählen.

Markige Revolutionsrhetorik

Krieg im Paradies ist alles andere als ein klassischer Guerillaroman, der sich mit der Mobilisierung linksradikaler Nostalgie begnügen würde. Die episodenhafte Erzählstruktur erlaubt dem Autor eine Darstellung der damaligen Ereignisse in ihrer ganzen Komplexität. Die Lebensrealität der Bauern, die neben Hunger und Elend auch permanent der Willkür von Armee und Bundespolizei (Policía Judicial) ausgesetzt sind, wird ebenso nachvollziehbar wie die spezifische Männerbund-Kultur der politischen Klasse in Mexiko, oder die Differenzen zwischen der urbanen und der ländlichen radikalen Linken jener Zeit: Während die in der Stadt die Anwendung marxistischer Lehrsätze predigen, verfügen die auf dem Land über praktische Fähigkeiten und Erfahrungen, die ihnen eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung einbringen.
Dem Autor gelingt es, in kurzen Szenen sehr widersprüchliche Stimmungen entstehen zu lassen, die Mexiko damals, aber auch heute noch charakterisieren. Die markige Revolutionsrhetorik der politischen Klasse steht neben den zaghaften Versuchen der Bauern von Guerrero, ihre verzweifelte Lage überhaupt in Worte zu fassen. Die zähe Machtstruktur im mexikanischen Einparteiensystem wird durch die Darstellung militärischer und politischer Entscheidungsprozesse nachvollziehbar. Durch die Beschreibung der blinden Brachialgewalt und Folter, die die Uniformierten und ihre schlipsbewehrten Auftraggeber im Kampf gegen die „Straßenräuber und ehrlosen Banditen“ einsetzen, gelingt es Montemayor, die Tragödie eines Landes zu vermitteln, in dem die Armee aus ebenso ungebildeten und armen Bauern zusammengesetzt ist wie die Gruppe, die Lucio Cabañas in einem mühsamen Prozeß zu einer solidarischen und strategisch denkenden Guerilla herausbildet.

Basis im Volk?

Krieg im Paradies ist ein scharfes Stück Gesellschaftskritik. Seine Stärke bezieht es nicht zuletzt aus seiner Aktualität. Es beschreibt Methoden der Aufstandsbekämpfung, deren zentrale Strategie auch heute noch die Leugnung jeglicher politischer Zielsetzung der Aufständischen ist, und vor allem die hegemoniale Mentalität der Verachtung von campesinos und indigener Bevölkerung, mit denen beispielsweise die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) heutzutage in Chiapas alltäglich konfrontiert ist. In denselben Bergen von Guerrero, in denen Anfang der 70er Jahre der Lehrer Lucio Cabañas zum Mythos wurde, existiert seit 1996 wieder eine bewaffnete Bewegung, die zwar international erheblich weniger bekannt ist als die Zapatisten, aber neben Guerrero auch in mehreren anderen Bundesstaaten operiert. Auch heute, im Zeitalter des Neoliberalismus, ist sie in den Dörfern und Landarbeiterorganisationen fest verankert. Wie die Gruppe um Lucio Cabañas machte das EPR (Revolutionäres Volksheer) bislang vor allem durch bewaffnete Hinterhalte und lukrative Entführungen führender Industrieller von sich reden. Im Frühjahr 1998 sagte sich die gesamte Guerillastruktur aus Guerrero unter dem Namen ERPI (Revolutionäre Armee des Aufständischen Volkes) von der nationalen EPR-Führung los, um ihre bewaffneten Aktionen künftig weniger von „objektiven“ strategischen Notwendigkeiten, dafür aber von einer engeren Abstimmung mit der Bevölkerung vor Ort abhängig zu machen.
In einem kürzlich in Mexiko veröffentlichten Interview sagen zwei ERPI-Comandantes gar, die Reste der Gruppe um Lucio Cabañas hätten den Untergrund nie verlassen und bildeten den traditionsreichen Kern der heutigen Guerillaformationen in den Bergen von Guerrero.
Insofern ist die Lektüre von Montemayors Krieg im Paradies aus mehreren Gründen zu empfehlen: Einerseits, weil es die Erinnerung an ein Stück linker Geschichte wiederherstellt, die vor allem durch einige, maoistisch inspirierte Dissidentenmorde aus den späteren 70er Jahren bis heute stark diskreditiert ist. Aber auch, weil die Beschreibung institutioneller Skrupellosigkeit gegen Menschen, die um die elementarsten Rechte kämpfen, leider auch die Realität des heutigen Guerrero wiedergibt – demselben Bundesstaat, der mit den Stränden um Acapulco einen Großteil der TouristInnen aus Westeuropa anzieht.

Carlos Montemayor, Krieg im Paradies, aus dem Spanischen übersetzt von Georg Oswald. Verlage Libertäre Assoziation, Schwarze Risse, Rote Strasse, Hamburg/Berlin 1998.

Rudern in den Zeiten der Informationsflut

Am Anfang sind ein immenser Sturm und ein heftiges Niesen aus dem Off. Palmen erzittern in grünlichem Licht, das Meer tritt über die Ufer und reißt Häuser und Straßen, Autos und Tele-graphenmasten mit sich. So beginnt Fernando Birris Videocollage „Das Jahrhundert des Windes“ nach dem dritten Band von Edu-ardo Galeanos „Erinnerungen an das Feuer“. Dann der Sprung zurück zur Jahrhundertwende: Das neue Zeitalter kündigt sich mit Pauken und Manifestationen, mit glühenden Birnen und ratternden Maschinen an. Ein historisches Schlaglicht nach dem anderen. Während im Norden des amerikanischen Kontinentes ein gewisser Thomas Alva Edison die Apparate erfindet, die Bilder zum Laufen bringen und Stimmen über Tausende von Kilometern tragen, ist in Brasilien Santos Dumont mit der Konstruktion der unglaub-lichsten Flugkörper beschäftigt. Weibsbilder, die sich Sufragetten nennen, demonstrieren auf den Straßen von New York dafür, daß „niemand das Eigentum eines anderen“ ist. So viel Aufbruch war nie. Währenddessen wird in einem entlegenen, ärmlichen Dorf in El Salvador ein gewisser Miguel Mármol geboren. Im Laufe des Jahrhunderts wird er lernen, dem Tod immer wieder von der Schippe zu springen.

Informationsflut statt Experimente

Birris „Jahrhundert des Feuers“ ist ein bunter Geschichtsbilderbogen, der die wichtigsten Ereignisse zwischen 1900 und 1984 – dem Jahr, als Galeano seine Trilogie abschloß – an den ZuschauerInnen vorbeiflimmern läßt: Emiliano Zapata und Buster Keaton, die Entstehung des Jazz und der Wallstreet Crash, Tina Modottis Fotos und Henry Fords Autos, der Tod von Sandino und Carlos Gar-del, die „Sexbombe“ Rita Hay-worth und die Atombombe von Hiroshima – um nur Streiflichter aus den ersten 50 Jahren zu erwähnen.
Eduardo Galeano agiert nicht nur als Geschichtserzähler aus dem Off, sondern spricht zwischendurch auch direkt in die Kamera, in einem Caféhaus sitzend und philosophierend. Diese statische Art der Inszenierung und die der Literaturvorlage folgende Aneinanderreihung historischer Ereignisse lassen den Film ein bißchen wie Geschichtsunterricht im Schnelldurchlauf erscheinen. Die verspielte und experimentelle Art, die sonst so typisch ist für Birri (siehe sein Dokumentarfilm „Che: Tod der Utopie?“, LN 279/80), nimmt sich diesmal zugunsten der Informationsflut zurück. Die einzige Ausnahme ist die Geschichte von Miguel Mármol und seinen wundersamen Wiedergeburten, die sich in anekdotischen Sequenzen durch den ganzen Film zieht. Von Galeano nach den Erinnerungen des echten Miguel Mármol aufgezeichnet, inszeniert Birri die Historie des Campesino aus El Salvador, welcher der staatlichen Repression immer wieder in letzter Sekunde entkommt, als subversives Kasperletheater.
Inmitten bunter Kulissen, die so niedlich daherkommen wie guatemaltekische Sorgepüppchen, wird von geflohenen Campesinos und ermordeten Studentinnen erzählt. Und zum Schluß des Films, wenn (fast) alle ZuschauerInnen überzeugt sind, daß es sich hier nur um eine revolutionäre Legende handeln kann, wird das Foto von einem alten, freundlich und bescheiden lächelnden Herrn eingeblendet: Miguel Mármol.

Ein Resümee kurz vor der Jahrhundertwende

Um das wilde Geschichtspotpourri zu strukturieren, tauchen immer wieder Zwischentitel auf, wie etwa „Von der Explosion der Atombombe zur kubanischen Re-volution“ oder „Vom Mai ’68 (dem Massaker in Mexiko-Stadt, d. V.) zum Zusammenbruch des autoritären Sozialismus“. – Und was kommt danach? Vom „Ende der Geschichte“, das einige Stimmen groteskerweise nach dem Fall der Sowjetunion prognostizierten, kann ja keinesfalls die Rede sein. Galeano, der sein Buch „Das Jahrhundert des Sturms“ vorwitzigerweise schon 1984 beendet hatte, versucht nun, kurz vor der Jahrhundertwende, ein Resumée zu ziehen und einen Ausblick zu wagen. „Noticias del fin del siglo“ – „Nachrichten vom Ende des Jahrhunderts“: Da ist von ei- ner „Wolke aus Moskitos“ die Rede, von „tausendundeiner neuen Kraft, die überall aus
dem Boden sprießt“, sowie von
– Miguel Mármol läßt die Zapatisten und die Landlosenbewegung Brasiliens grüßen– „einer gewissen Tendenz zu Wiedergeburt“. Jedoch – und da verschwimmt die Spur am geschichtlichen Horizont schon wieder: „Die Wahrheit liegt, wenn sie tatsächlich existiert, in der Reise und nicht im Hafen“.

“El siglo del viento“; 1998 Regie: Fernando Birri, Video, Farbe, ca. 85 Minuten.
Der Film wird im Forum der Berlinale zu sehen sein.

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