Das langsame Sterben des Dinosauriers

Vielleicht kann man den Umbruch nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Mexiko noch vor zwanzig Jahren regiert wurde. Eine allmächtige Staatspartei kontrollierte Gesellschaft, Medien, politische Organisationen und beherrschte das Land mit ihrem Konzept der „repressiven Integration“. Sozialen und politischen Protest hielt sie nieder durch kleine Konzessionen, große Gesten, die Korruption seiner Protagonisten und, wenn die Integration versagte, durch die Ausschaltung der führenden Aktivisten. Die PRI, das war der große Dinosaurier, der aus einer Allianz lokaler Revolutionscaudillos hervorgegangen war, die das Land nach langem Bürgerkrieg befrieden wollten. Politisch reaktionär war das Regime nur in bezug auf Bürgerrechte und demokratische Freiheiten, in sozialer Hinsicht aber bot der Dinosaurier den Mexikanern ein angenehmeres Leben als vielen Lateinamerikanern vergönnt war. Und außenpolitisch positionierte sich das Regime auf die Seite der nationalen Befreiungsbewegungen Lateinamerikas gegen die reaktionären Diktaturen der Militärs anderer Länder und den mächtigen Nachbarn mit seinen imperialen Ansprüchen im Norden.

Bewegung im Jurrasic Park

Doch in den letzten Jahren kam Bewegung in den Jurrasic Park des PRInosauriers. Der zapatistische Aufstand Anfang 1994 katapultierte Mexiko auf einmal als Unruheherd in die Weltpresse, wo rebellierende Kleinbauern vom Militär niedergeschlagen werden. Und in diesen Tagen übernimmt mit Cuauhtémoc Cárdenas zum ersten Mal ein linksoppositioneller Politiker die Regierungsgewalt im strategisch wichtigen Hauptstadtdistrikt Mexiko D.F. Oft wird nun vom „Demokratisierungsprozeß“ gesprochen, den das Land durchlaufe. Hoffnung macht sich breit. Wer aber von oberflächlicher Betrachtung Abschied nimmt, wird schnell erkennen, daß hier eher der Wunsch Vater des Gedankens ist. Den Zerfall der PRI-Kontrolle mit einer Demokratisierung der Gesellschaft gleichzusetzen, greift zu kurz. Es handelt sich vielmehr um einen vielgesichtigen Wandlungsprozeß, dessen einzige Konstante seine Widersprüchlichkeit ist. Einerseits entstehen neue und größere Freiräume, andererseits aber kommt es zu gesellschaftlicher Desintegration, der Formierung neokorporativistischer Beziehungen und neuen Kontrollmechanismen, die nicht sympathischer sind als die alten.
Das offensichtlichste Phänomen der gefährlichen Desintegration ist der Anstieg sozial und politisch motivierter Gewalt. An der Nordgrenze zu den USA liefern sich Mafiaclans, die um die Kontrolle des Drogenmarktes konkurrieren, tägliche Showdowns. Der Alltag in Tijuana etwa läßt die Fiktionen von Blade Runner und Mad Max real werden. In der Hauptstadt-Metropole sind bewaffnete Raubüberfälle in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Straße mittlerweile unspektakuläre Normalität. Gleichzeitig weisen die Statistiken einen deutlichen Anstieg von Menschenrechtsverletzungen mit politischem Hintergrund aus. 563 Aktivisten allein der linksorientierten PRD (Partei der Demokratischen Revolution) sind seit ihrer Gründung 1988 von Polizei, Militär, Weißen Garden oder Killern umgebracht worden, davon fast die Hälfte in den letzten drei Jahren unter dem Regime Präsident Zedillos. (2) Im gleichen Zeitraum sind 67 Journalisten ermordet worden, nach Kolumbien die höchste Zahl in Lateinamerika. (3) Ungezählt sind die Inhaftierten, Gefolterten und Ermordeten der zahlreichen sozialen und politischen Oppositionsgruppen außerhalb der PRD. Allein die Mitgliedsgruppen der an einer traditionellen Linken orientierten FAC-MLN (Breite Front zum Aufbau der Nationalen Befreiungsbewegung) beklagen über 500 politische Gefangenen und in Chiapas ermorden Paramilitärs täglich rebellierende Campesinos und Indígenas. Dabei bleiben die meisten Morde ungesühnt, obwohl die Verantwortlichen bekannt sind. Rubén Figueroa Alcocer beispielsweise, der ehemalige Gouverneur von Guerrero und zweifelsfreie Drahtzieher des Massakers an 17 oppositionellen Bauern in Aguas Blancas, kann in Mexiko-Stadt seelenruhig seinen Geschäften nachgehen. Als im September Pierre Sané, Präsident von amnesty international, Präsident Zedillo einen alarmierenden Bericht über die Menschenrechtssituation übergeben wollte, wurde ihm brüsk die Türe gewiesen.

Alle Gewalt geht von oben aus

Die Brutalisierung der sozialen und politischen Beziehungen durchdringt die gesamte Gesellschaft, wobei die ungehemmtesten Protagonisten nicht nur der politischen, sondern auch der sozialen Gewalt ohne Zweifel die Eliten und der Staatsapparat selbst sind. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des Drogenhandels, der in Mexiko mittlerweile zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählt. Mitte Februar kam beispielsweise ans Tageslicht, daß General González Rebollo, oberster Chef der nationalen Drogenfahndung, auf der Gehaltsliste von Amado Carrilo Fuentes, einem der wichtigsten Drogenbarone stand. Diese Allianz ist symptomatisch, denn kein ernsthafter Beobachter Mexikos wird abstreiten, daß Militär- und Polizeiapparate, genauso wie eine große Anzahl von hohen Regierungsfunktionären und Politikern in das lukrative Geschäft mit den Drogen verstrickt sind, wenn sie es nicht sogar kontrollieren. (4)
Auch die Privatisierungspolitik seit Beginn der 80er Jahre zeichnet sich durch die kriminelle Energie der Eliten aus. Unter der Administration von Carlos Salinas zwischen 1988 und 1994 wurden 160 staatliche Unternehmen privatisiert, darunter befanden sich Stahlwerke genauso wie Bergbauunternehmen oder Fluglinien. Am Beispiel der Telefongesellschaft TELMEX läßt sich deutlich machen, wie die PRI-Eliten die politische Kontrolle über den Privatisierungsprozeß nutzen, um ihre eignen Taschen zu füllen. TELMEX wurde zum lächerlichen, bewußt unterbewerteten Preis von 1,7 Milliarden US-Dollar an den Salinas Freund und Geschäftspartner Carlos Slim verkauft. Kurze Zeit nach der Privatisierung waren die TELMEX-Aktien an der Börse zwölf Milliarden US-Dollar wert und Carlos Slim wird heute mit einem Privatvermögen von 6,1 Milliarden US-Dollar als reichster Mann Lateinamerikas gehandelt. (5) Privatisierung als Raubüberfall auf öffentliches Eigentum, die Straßenkriminalität nimmt sich dagegen aus wie dilettantischer Kinderkram. Der Klassenkompromiß ist aufgelöst.

Bereichert Euch!

Hier wird deutlich, wo die eigentlichen Ursachen des Zerfalls der PRI-Macht liegen: Bestimmt nicht im politischen Willen auf eine Demokratisierung, sondern vielmehr im Verlust von Integrationsmöglichkeiten, nachdem 15 Jahre neoliberale Politik die Grundlagen des sozialen Paktes der Mexikanischen Revolution ausgehebelt haben. Während der Dinosaurier in seinen besten Jahren die hohe Staatsquote an Produktionsmitteln und die progressiven Möglichkeiten der Verfassung von 1917 nutzte, um die Mexikaner mit Land, Arbeit und Tortillas zu versorgen, folgt die durch IWF und Weltbank diktierte Politik der PRI-Eliten seit der Schuldenkrise von 1982 nur noch einer Maxime: „Bereichert Euch!“
Dabei sind es sehr wenige, die absahnen, während eine große Mehrheit marginalisiert wird. Eine Gruppe von 183.000 Individuen – 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung – verfügt in Mexiko über 51 Prozent des gesamten Bruttosozialproduktes. Ihre Profite sind größer als die gesamten Ausgaben des Staates für alle öffentlichen sozialen Ausgaben. (6) Gleichzeitig ist die Kaufkraft des Mindestlohns seit 1982 um beinahe 70 Prozent gefallen und die durchschnittlichen Reallöhne gingen zwischen 34 Prozent in der Industrie und 27,5 Prozent in der Maquila zurück. (7) Die Reform am Artikel 27 der Verfassung schnitt außerdem den Kleinbauern jede Aussicht auf eine Landreform ab, während sich gleichzeitig der sogenannte Neolatifundismo, also neuer Großgrundbesitz, breit macht. Nach dem Peso-Crash vom Dezember 1994 sind auch große Teile des davor noch relativ prosperierenden Mittelstands in die Verarmung gestürzt, so daß die Einkommenspyramide heute ein riesiges Fundament mit einer Nadelspitze darstellt. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Krisenjahr 1995, in dem Mexiko die schärfste Rezession seit den 30er Jahren aushalten mußte, bringt bisher keine sozialen Verbesserungen oder Lohnerhöhungen.

„Kartell des Südostens“ und „Deserteure“

Die neoliberale Umstrukturierung ist nicht nur mit einer radikalen Privatisierungspolitik und der Vertiefung des Abgrundes zwischen den sozialen Klassen verbunden, sondern mit zwei weiteren bedeutsamen Aspekten: Einerseits dem fortschreitenden Verlust nationaler Souveränität durch Weltmarktöffnung, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) und der wachsenden Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Die Politik der mexikanischen Regierung erfüllt heute die Funktion der Wahrnehmung der Interessen transnationaler Konzerne und geostrategischer Interessen der USA, ganz anders als zu Zeiten des Gründers der modernen PRI, dem Präsidenten Lázaro Cárdenas von 1934–40. Andererseits koppeln sich die Dynamiken der regionalen Entwicklungen immer deutlicher voneinander ab. Während die an bestimmte Regionen gebundenen Maquila- und Tourismussektoren boomen, werden andere Regionen, insbesondere die indigen geprägten Gebirgszonen, zu ausgepowerten Wastelands, die dem völligen Niedergang preisgegeben sind. Raubbau und die Überflutung mit billigen Agrarprodukten durch NAFTA haben hier die kleinbäuerliche Wirtschaft ruiniert.
Das Auseinanderbrechen der PRI ist nichts weiter als die Widerspiegelung des Desintegrationsprozesses der Gesellschaft. Innerhalb der Partei selbst haben sich verschiedene Fraktionen herausgebildet, die teilweise sich widersprechenden Interessen folgen. Da ist einerseits das „Kartell der Gouverneure des Südostens“, in dem sich die mit dem alten, mittlerweile in Irland lebenden Präsidenten Carlos Salinas verbundenen Regionalfürsten der südöstlichen Bundesstaaten alliiert haben. Sie stehen für ein hartes Durchgreifen gegen die Oppositionen. Roberto Madrazo, der amtierende Gouverneur von Tabasco, hat mit einem von langer Hand geplanten Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen in seinem Staat im Oktober deutlich gemacht, daß sie jedes Milligramm Macht zu verteidigen bereit sind. Daneben, als deutlichster Konterpart, hat sich in der Grupo Galileo eine Strömung formiert, der zahlreiche Abgeordnete angehören, die für ein Ausloten von Verständigungsmöglichkeiten mit der PRD und der rechten PAN (Partei der Nationalen Aktion) stehen. Über den Fraktionen steht Präsident Zedillo mit seiner Gruppe, der versucht, die zentrifugalen Kräfte in seiner Partei zusammenzuhalten. Aber es mehren sich die „Deserteure“ unter den regionalen PRI-Machthabern, die samt ihrem Troß aus klientelistischen Beziehungen in eine der Oppositionsparteien eintreten.

Demokratisierung oder Neokorporativismus?

Als Indizien für einen Demokratisierungsprozeß werden oft die gewachsenen politischen Spielräume genannt. Die PRD hat den D.F. gewonnen, die klerikalkonservative PAN regiert einige Bundesstaaten im Norden. Seit dem 6. Juli ist die PRI nun auch mit einem mehrheitlichen Oppositionsblock im Abgeordnetenhaus konfrontiert, Wahlen sind nicht mehr nur Rituale zur Bestätigung des PRI-Kandidaten. Von der Studentenbewegung 1968 über die Entstehung der Stadtteilbewegungen nach dem Erdbeben 1985, die Proteste gegen den Wahlbetrug 1988 und die Formierung der PRD bis zum zapatistischen Aufstand 1994 und den Wahlen am 6. Juli 1997 reichen die Etappen des Verlustes der politischen Kontrolle der PRI. Dieser Prozeß wurde begleitet von der Entstehung unabhängiger und kritischer Medien zuerst im Printbereich, dann im Radio- und zuletzt auch im Fernsehbereich. Bei dieser Analyse wird aber ausgeblendet, daß viele der Oppositionen, die alten Funktionsmechanismen des PRI-Systems reproduzieren und die Gesellschaft zunehmend militärisch und nicht politisch kontrolliert wird.
So ist der Charakter der PRD durchaus zwiespältig. Ihre Wurzeln hat die Partei einerseits in einer PRI-Abspaltung, die unter Führung von Cuauhtémoc Cárdenas, Sohn des legendären Lázaro Cárdenas, die Mutterpartei verlassen hat und sich gegen ihre neoliberale Politik wandte. Andererseits sind die alte Kommunistische Partei, ehemalige Trotzkisten und Maoisten sowie zahlreiche soziale Bewegungen in der Partei aufgegangen. Mit dem Parteivorsitzenden Manuel López Obrador und Cárdenas, dem neuen Bürgermeister von Mexiko-Stadt, stehen zwei Figuren im Vordergrund, die eher für die Verbindung mit sozialen Bewegungen und Mobilisierung der Basis stehen, aber gleichzeitig die unverkennbaren Züge paternalistischer, populistischer Caudillos der alten PRI-Schule tragen. Nach dem Wahlsieg vom 6. Juli ist die PRD überdies zu einer realen Machtoption in einigen Bundesstaaten und für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 geworden. So wundert es nicht, daß es die PRI-Deserteure an die neuen Futtertröge drängt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist etwa Dante Delgado, ehemaliger Gouverneur von Veracruz, der für seine korrupte Amtsführung berüchtigt war und nun auf dem PRD-Ticket die erneute Kandidatur anstrebt. Dabei handelt es sich keinesfalls um einen Einzelfall.
Die Basis der PRD ist vielerorts offen prozapatistisch, vor allem dort, wo sie von der Repression durch lokale PRI-Größen bedrängt wird, wie in Oaxaca und Guerrero. Aber dort, wo die PRD an der Macht ist, entwickeln sich häufig neokorporativistische Strukturen, die an alte Zeiten erinnern. Überdies kommen die programmatischen Aussagen der PRD oft über Wunschvorstellungen und Absichtserklärungen nicht hinaus. Cárdenas wurde beispielsweise kürzlich gefragt, ob er sich als „Antiimperialist“ bezeichnen würde, worauf er antwortete: „Selbstverständlich“. Im nächsten Satz sagte er aber, daß er das NAFTA-Abkommen befürworte und lediglich modfizieren wolle. Wie das zusammenpaßt, bleibt sein Geheimnis. Es ist zu befürchten, daß die PRD auf alte klientelistische Kontrollmechanismen zurückgreifen wird, ist sie erst an der Macht. Eine böse Vorahnung dafür geben Teile der mit der PRD verbundenen sozialen Bewegungen in den Stadtvierteln der Hauptstadt, die nach dem Erdbeben von 1985 als hoffnungsvolle Basisorganisationen begannen und mittlerweile oft von der Korruption zerfressen sind.
Die PAN als rechtsgerichtete Oppositionspartei fügt sich, was ihr wirtschaftliches Programm angeht reibungslos in den neoliberalen Kurs der PRI ein. Nachdem sie sich lange Zeit als saubere Alternative zu PRI und PRD profilierte, ist der Lack nach Korruptionsskandalen in den von ihr regierten Bundesstaaten ab. Die PAN als demokratische Alternative zur PRI zu benennen, ist als ob man behauptete, Opus Dei und die katholische Kirche seien eine basisdemokratische Bürgerinitiative. Die PAN repräsentiert den konservativen bis offen reaktionären Flügel eines Teils des Mittelstandes und der Oberschichten, die sich insbesondere durch ihren Rassismus gegen die indianische Bevölkerung auszeichnen.

Linke in der Defensive

Wichtige Impulse für den fortschreitenden Zerfall der PRI gingen von den Rebellen der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) in Chiapas aus, doch die anfängliche Dynamik der Bewegung ist längst verloren gegangen. Dafür sind zwei Faktoren verantwortlich: Einerseits die Militarisierung der Aufstandsregion und die Führung eines „Krieges niedriger Intensität“, der die zapatistische Basis brechen und demoralisieren soll. Andererseits die mangelnde Bereitschaft der als „Zivilgesellschaft“ bezeichneten Sektoren auf nationaler Ebene, sich den Zapatismus zu eigen zu machen und eine gemeinsame Oppositionsbewegung aufzubauen. So bleibt die EZLN auch nach der Gründung der zivilen Frente (FZLN) eine regional beschränkte Kraft, die zudem in einen schwierig zu führenden Verteidigungskrieg verwickelt ist. Ihre Forderungen beschränken sich heute vornehmlich auf Demilitarisierung und die Erfüllung des „Abkommens über indianische Rechte und Kultur.“ Vom ursprünglichen gesamtmexikanischen Projekt ist aufgrund der ungünstigen Kräfteverhältnisse wenig übriggeblieben. Eine Perspektive könnte der Zapatismus als linke, basisdemokratische Opposition gegen eine PRD an der Macht gewinnen. Aber momentan geht es für die Zapatistas eher um das tägliche Überleben als um die Zukunft.
Mit der FAC-MLN ist auf der Linken eine dritte Kraft entstanden, die aber wie der Zapatismus lediglich regionale Bedeutung hat. Die mitgliederstärksten Organisationen, die sich in der FAC-MLN koordinieren, sind in den südlichen Bundesstaaten und der Hauptstadt angesiedelt. Sie stellen legitime soziale Forderungen, aber dabei bleibt es. Von ihnen geht ebenfalls kein mobilisierendes politisches Projekt aus, das in Mexiko momentan eine breitere Anziehungskraft entfalten könnte. Dasselbe gilt für die EPR (Revolutionäre Volksarmee), die in letzter Zeit versucht, mit Kommuniqués auf sich aufmerksam zu machen, während sie von bewaffneten Aktionen absieht. Der Ton ihrer Erklärung hat sich deutlich verändert. So fordert die EPR die Einheit der Linken, hat die Wahl Cárdenas im D.F. begrüßt und schmückt ihre Kommuniqués jetzt auch mit poetischen Nahuatl-Versen, obwohl sie letztes Jahr in einem Seitenhieb auf die ihrer Ansicht nach zu zivilgesellschaftlich orientierte EZLN noch erklärt hatte, daß man mit „Gedichten keine Kriege gewinnen kann“. Die EPR-Basis ist von der Repressionswelle am härtesten getroffen worden, ihre militärische Struktur konnte die Bundesarmee aber nicht zerschlagen. So bleibt sie momentan eine Guerilla im Wartestand.

Todesstoß im Jahr 2000?

Mexiko befindet sich in einer schwierigen Phase des Umbruchs, in der es an Aufbruchstimmung mangelt. 15 Jahre Neoliberalismus haben eine soziale Verwüstung hinterlassen, in der die Menschen vor allem eines im Sinn haben: Wie kann ich bis morgen überleben? In dieser Situation politischen Protest zu formieren, ist äußerst schwierig, ganz zu Schweigen von einer gesellschaftlichen Alternative. Sicher, das PRI-System zerfällt unter dem Druck der gesellschaftlichen Widersprüche, Freiräume entstehen, aber auch Menschenrechtsverletzungen und Militarisierung nehmen zu. Die exorbitanten Ausgaben für die Armee machen deutlich, wie Teile der Herrschenden mit einer zu radikalen Opposition umzugehen gedenken. Noch windet sich der Mutter-Saurier PRI in Agonie, die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 könnten zum endgültigen Todesstoß werden. Unter den gegebenen Bedingungen werden den „Menschenfresser“ dann möglicherweise eine ganze Schar von Mutanten im Taschenformat und gar nicht netten Baby-Saurier beerben, die ihrerseits einen brutalen Kampf um die Macht ausfechten. Hoffnung ist nie fehl am Platz, aber zu denken, daß das Ende der PRI-Herrschaft den Beginn mexikanischer Glückseligkeit markieren könnte, kann sich als eine große Fata Morgana erweisen.

Anmerkungen:
(1) Octavio Paz: Der menschenfreundliche Menschenfresser. Geschichte und Politik 1971-1980, Frankfurt a.M. 1981.
(2) Proceso, Nr. 1091, 28.9.97.
(3) Excelsior, 12.11.97.
(4) Vgl.: „Drogenhandel und Filz in Tabasco. Mexiko oder ein Land wird geplündert“ von Jaime Aviles, Ex-Chefredakteur La Jornada, in Le Monde Diplomatique, August 1996.
(5) Vgl.: Carlos Marichal: The rapid rise of the neobanqueros. Mexico’s new financial elite. In: NACLA, Vol. XXX, No. 6, May/June 1997.
(6) Latin America in the age of the billionaires. In: NACLA, Vol. XXX, No. 6, May/June 1997.
(7) La Jornada Laboral, 25.9.97.

„Todesschwadrone werden aufgebaut“

Hat sich die Arbeit des Menschenrechtsbüros seit der Gründung verändert?

Ja. Insbesondere seit der Militäroffensive der Regierungstruppen gegen die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN im Februar 1995 haben sich neue Aufgaben ergeben. So bestand ein Großteil unserer Arbeit ab Mitte 1995 in der Gründung und Betreuung der verschiedenen Friedenscamps in der Konfliktzone. Diese waren notwendig, um durch die Präsenz mexikanischer und internationaler BeobachterInnen die Zivilbevölkerung vor Übergriffen der Regierungstruppen zu schützen. Gleichzeitig wurden in den indigenen Gemeinschaften Alphabetisierungskampagnen durchgeführt. Vor allem die schulische Ausbildung von Frauen ist auch weiterhin eine wichtige Tätigkeit des Zentrums. Allerdings muß angefügt werden, daß wir uns momentan in Diskussionen befinden, welchen neuen Aufgaben und Zielen wir uns zuwenden werden. Dabei geht es vor allem um die Suche nach effektiverer Arbeit zur Verteidigung der Menschenrechte. Eine besondere Rolle werden die politische Analyse und Öffentlichkeitsarbeit spielen.

Derzeit ist der Friedensdialog zwischen Regierung und EZLN unterbrochen. Gibt es Hoffnungen auf eine politische Lösung des Konfliktes und welche Rolle könnte das Menschenrechtszentrum dabei spielen?

Die Regierung weigert sich nach wie vor, den 1996 in San Andrés von ihr unterzeichneten Vertrag über indigene Rechte und Kultur in die Tat umzusetzen. Aus diesem Grund hat die EZLN den Friedensdialog unterbrochen, da es ihrer Ansicht nach keinen Sinn macht, mit einer Delegation zu verhandeln, die nicht gewillt ist, die geschlossenen Kompromisse einzuhalten. Die Repression durch die Regierungstruppen und paramilitärische Gruppen nimmt täglich an Intensität zu. Armut und Hunger haben drastische Ausmaße angenommen und die Zahl der Vertriebenen steigt rasant an. Allein im Landkreis Chenalhó befinden sich etwa 4000 Menschen auf der Flucht. Diese Situation hat zu enormen Spannungen innerhalb der Dorfgemeinschaften geführt und erschwert die Arbeit des Menschenrechtszentrums. Wir bemühen uns, den politischen Druck auf die Regierung zu erhöhen, um diese konfliktreiche Lage zu entschärfen. Dies geschieht unter anderem dadurch, daß wir durch die Einschaltung der Vereinten Nationen die Geschehnisse öffentlich machen und – zusammen mit anderen Nichtregierungsorganisationen – auf die Einhaltung des Abkommens von San Andrés drängen.

In einem Kommuniqué hat der Sprecher der Zapatistas, Subcomandante Marcos, den katholischen Klerus scharf angegriffen, die Arbeit des Vorsitzenden der Friedensvermittlungsorganisation CONAI, Bischof Samuel Ruíz, aber ausdrücklich gewürdigt. Besteht zwischen seiner Kritik und den Attentaten auf Bischof Samuel Ruíz ein Zusammenhang?

Nein. Auch wenn ich die Formen und Ansichten des EZLN-Sprechers nicht grundsätzlich teile, sehe ich zwischen seinem Schreiben und den Attentaten keinerlei Zusammenhang. Am 4. November wurde auf das Auto von Bischof Samuel Ruíz geschossen. Dieser Anschlag war vorbereitet. Dabei wurden drei seiner Begleiter verletzt. Am folgenden Tag wurde die Schwester von Samuel Ruíz bei einem Mordanschlag schwer verletzt. Es gibt Hinweise darauf, daß der Attentäter für seine eigentliche Absicht, die Ermordung des Bischofs, Geld erhalten hat. Daß zwischen den Anschlägen und dem Brief der EZLN in der Presse Zusammenhänge hergestellt werden, ist Teil der Regierungsstrategie. Durch derartige Äußerungen will die Staatspartei PRI von ihrer eigenen Rolle ablenken und als neutraler Faktor erscheinen, der schlichtend in Konflikte eingreift, mit deren Ursachen die politischen Machthaber nichts zu tun haben. Für uns steht fest, daß die Verantwortlichen für die Gewalt in Chiapas in der Regierung zu suchen sind. Hinter den Anschlägen stehen paramilitärische Gruppen, die die volle Unterstützung der Armee und der Regierung besitzen. Sie sind die Drahtzieher der Hinterhalte, Morde und Anschläge. Wir sehen uns mit einer Situation konfrontiert, in der bewaffnete Banden zu Todesschwadronen aufgebaut werden.

Wie bewerten Sie die Ausbrüche von Gewalt, die in den letzten Wochen in Chenalhó zu beklagen sind?

Dieser Konflikt hat seinen Ursprung in einem seit Mai 1997 schwelenden Machtkampf zwischen zapatistischer Basis und AnhängerInnen der PRI. Dabei geht es einerseits um die Kontrolle eines Kieswerkes, der wichtigsten ökonomischen Einnahmequelle der Region, und andererseits um die politische Vormachtstellung. Dieser Konflikt hat sich ausgeweitet und mittlerweile über 20 Menschenleben gekostet. Dennoch muß betont werden, daß hinter all dieser Gewalt die PRI-Regierung, insbesondere Gouverneur Ruíz Ferro, steht. Es ist bekannt, daß die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit) von PRI-Politikern bewaffnet und geleitet wird. Außerdem wird sie nicht nur von der Polizei und der Armee geduldet, sondern sie agieren auch gemeinsam.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, zu einer friedlichen Lösung zu kommen? Kann die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen EZLN und Regierung zu einer Beendigung der Gewalt beitragen?

Dies kann nur über direkte Gespräche der Konfliktparteien geschehen. Denken und Handeln von PRI-Regierung und zapatistischen Gemeinschaften stehen sich frontal gegenüber. Bisher gibt es keine Möglichkeit, die sich nirgendwo berührenden Logiken der PRIistas und der Zapatistas zusammenzubringen. In zahlreichen Regionen haben wir gesehen, daß die indigenen Gemeinschaften sehr gut in der Lage sind, ihre Konflikte untereinander und friedlich beizulegen. Daß dies in Chenalhó bisher nicht der Fall ist, liegt daran, daß die lokalen PRI-Machthaber von der Landesregierung aufgestachelt werden. Über Gespräche zwischen Regierung und EZLN – abgesehen davon, daß sie derzeit nicht wahrscheinlich sind – läßt sich diese verfahrene Situation in Chenalhó nicht lösen.

In vielen Regionen von Chiapas kommt es zu blutigen Kämpfen zwischen regierungstreuen und oppositionellen Gruppen. Indígenas kämpfen gegen Indígenas. Wie beurteilen Sie dieses Phänomen?

Diese Vorkommnisse stehen in Zusammenhang mit der von der Regierung verfolgten Strategie, gegen die EZLN und ihre SympathisantInnen einen „Krieg niedriger Intensität“ zu führen. Indem Leute aus den Dörfern bewaffnet und gegen andere aufgehetzt werden, kann die Armee in der Öffentlichkeit als friedensstiftender Faktor auftreten. Das Anstiften von Zwistigkeiten innerhalb der Dorfgemeinschaften ist Teil der staatlichen Aufstandsbekämpfungsstrategie und führt einzelne Regionen an den Rande des Bürgerkriegs. Nur internationaler Druck auf die Regierung, die jede Verantwortung leugnet und zudem behauptet, daß es keine paramilitärischen Banden gäbe, kann diese Situation entschärfen.

“An der Seite der PRI”

Mit rücksichtsloser Brutalität hatte Fidel Velázquez Zeit seines Lebens Opponenten verfolgt und die mexikanische Gewerkschaftsbewegung der seit 1929 regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) bedingungslos untergeordnet. Im Januar 1994, während des zapatistischen Aufstands, exponierte er sich als Scharfmacher und forderte öffentlich: “Exterminiert sie!”. Das Ende der unbeschränkten PRI-Herrschaft und Fidels Tod im Frühjahr dieses Jahres fallen nun in einer merkwürdigen Symbolik zusammen. Heute besteht für Mexikos Gewerkschaftsbewegung erstmals die Chance, eine selbständige und unabhängige Kraft zu werden. Eine Chance allerdings, die bisher noch kaum genutzt wurde.

Jeden Tag einen neuen Job

Die Bilanz der Gewerkschaftspolitik unter Velázquez’ Ägide sieht desaströs aus: Die Kaufkraft der Löhne verringerte sich seit 1977 um beinahe unglaubliche 75 Prozent. Vor zwanzig Jahren konnte ein Arbeitnehmer also viermal mehr Waren mit seinem Lohn einkaufen als heute. Nach Berechnungen der staatlichen Statistikbehörde INEGI kommen 65 Prozent der ArbeitnehmerInnen nicht in den Genuß von Sozialleistungen, Urlaub oder Zulagen, und 20 Prozent verdienen weniger als den staatlich festgelegten Mindestlohn. Der durchschnittliche Stundenlohn im verarbeitenden Gewerbe liegt bei 1,45 US-Dollar. Zum Vergleich: In den USA sind es 13 US-Dollar.
Dabei ist es südlich des Rio Bravos heute ein Privileg, überhaupt in einem Lohnarbeitsverhältnis zu stehen. In den Städten versuchen sich bis zu 40 Prozent der Menschen im informellen Sektor durchzuschlagen: Kaugummis verkaufen, Windschutzscheiben putzen, fliegender Handel – jeden Tag ein neuer Job, um sich über Wasser zu halten. Mexikanische ArbeitnehmerInnen sind unterbezahlt, arbeiten meist über 50 Stunden die Woche und verfügen kaum über soziale Absicherungen im Krankheitsfall oder bei Arbeitslosigkeit. Kinderarbeit ist keine Ausnahme, vier von zehn Kindern beenden nicht einmal die Grundschule.

Applaus für T-Shirts

Nun darf man sich den CTM und die zahlreichen anderen “offiziellen” Gewerkschaften, die im PRI-loyalen Dachverband CdT (Congreso del Trabajo) zusammengeschlossen sind, nicht als Gewerkschaften im westeuropäischen Sinne vorstellen. Sie dienen nicht der Interessenvertretung der Arbeitnehmer, sondern fungieren vielmehr als Transmissionsriemen der PRI. Wer beispielsweise in einem Betrieb arbeiten möchte, muß meist zuerst in die CTM eintreten bevor er angestellt wird. Die Unternehmen gewähren der CTM ein Vertretungsmonopol der Beschäftigten und im Gegenzug garantiert die CTM dem Unternehmen die Disziplinierung und Unterordnung der Beschäftigten. Korruptionsgelder halten das System zusammen. Charrismo heißt in Mexiko der Begriff, mit dem diese Gangstermethoden bezeichnet werden.
Damit nicht genug: Tritt ein Beschäftigter in die CTM ein, wird er automatisch PRI-Mitglied, denn die CTM und die Organisationen des CdT sind Untergliederungen der Partei und organisieren heute noch etwa 25 Prozent der Arbeitnehmer. Bei den großen Wahlkampfveranstaltung werden Mitglieder-Kontingente mit Bussen herangekarrt und müssen für ein T-Shirt und ein paar Pesos dem jeweiligen Kandidaten der PRI Applaus spenden. Ähnlich funktionieren in Mexiko Bauernverbände und Stadtteilorganisationen der PRI.

Die Zeiten der Totalkontrolle sind vorbei

Doch die Zeiten der totalen Kontrolle sind vorbei. Der PRI-Korporativismus in der Gewerkschaftsbewegung zerfällt mit der Partei. Das sichtbarste Zeichen dafür waren die tumultartigen 1. Mai-Feiern der letzten drei Jahre. Früher sah es am Tag der Arbeit in Mexiko ähnlich ordentlich aus wie in Ost-Berlin oder Moskau. Hunderttausende defilierten im Gleichschritt fahnenschwenkend vor dem Regierungspalast an einem Podest vorbei, auf dem der Präsident und die PRI- und Gewerkschaftsführung “Volksverbundenheit” demonstrierten. Seit 1990 verweigert die Arbeiterklasse der DDR das Schauspiel, ihre russischen Kollegen zogen 1992 nach und auch in Mexiko ist das Ritual seit 1995 aus der Mode gekommen. Damals wurde die Maiparade abgesagt, weil Präsident Zedillo fürchtete, er würde von der eigenen Parteibasis gnadenlos ausgepfiffen werden – die schwerste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren war gerade fünf Monate alt. Die Stimmung scheint sich nicht gebessert zu haben, denn seither gibt es keine offiziellen Maiveranstaltungen unter freiem Himmel mehr, und selbst bei der Saalkundgebung im Auditorio Nacional dieses Jahr hörten die versammelten PRI- und CTM-Funktionäre ein tumultartiges Buh-Geschrei als Leonardo Rodríguez Alcaine, der Nachfolger Fidel Velázquez, sagte: “Unsere Überzeugungen stellen uns an die Seite der PRI.”
Die Maidemonstration wird in den letzten zwei Jahren nun von oppositionellen und von der PRI unabhängigen Gewerkschaften ausgerichtet. Innerhalb des CdT hat sich mittlerweile eine Oppositionsströmung mit dem Namen Foro Sindicalista Frente la Nación gebildet, die von Francisco Hernández Juárez von der Telefonarbeitergewerkschaft, Pedro Castillo von der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft und Elba Esther Gordillo, der ehemaligen Präsidentin der LehrerInnengewerkschaft, angeführt wird. Diese ehemaligen PRI-Anhänger gehen nun auf Distanz zum neoliberalen Kurs ihrer Partei. In den letzten Monaten sind auch unabhängige Gewerkschaften wie die STUNAM (Universitätsangestellte der UNAM) oder die FAT (kleine linksorientierte Gewerkschaftszentrale), die ihre Wurzeln in oppositionellen Strömungen der 70er Jahre haben, ins Foro eingetreten, so daß sich das Foro zu einer ernsthaften oppositionellen Strömung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zu entwickeln scheint. Auch innerhalb der CTM formiert sich eine Opposition, die sich 1998 auf dem nächsten Kongreß der Organisation artikulieren wird.
Gleichzeitig ist Vorsicht angezeigt, denn die Abwendung von Führern ehemaliger Charro-Gewerkschaften von der zerfallenden PRI kann auch nur durch ihr Eigeninteresse motiviert sein. Und außerdem: Unter den Bedingungen der ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, des sich verschärfenden Druckes am Arbeitsplatz und des Abbaus der Reallöhne ist es nicht leichter geworden, die Beschäftigten in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren. Ganz im Gegenteil: Wie Adriana Guadalupe Valenzuola Ruíz, eine Maquiladora-Arbeiterin in Tijuana sagt: “Wer sich hier organisiert, wird als Unruhestifter rausgeschmissen. Draußen warten Tausende auf deinen Job.”

Attentat auf Bischof Samuel Ruíz

Die Erklärung der Friedensnobelpreisträger läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: In Chiapas herrscht Krieg. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, sowohl auf internationaler Ebene als auch in Mexiko selbst, hat sich das politische Panorama im mexikanischen Südosten in den letzten Monaten deutlich verändert. Der jüngste Zwischenfall spielte sich am 4. November in El Crucero in der Nordregion von Chiapas ab. Hier versuchten Mitglieder der mit der regierenden PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) verbundenen paramilitärischen Bürgerkriegstruppe Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit), den Bischof von San Cristóbal Samuel Ruíz und seinen Mitarbeiter Raúl Vera López in einem Hinterhalt zu ermorden. Ein Augenzeuge berichtet, daß „aus einer Distanz von etwa hundert Metern Gewehrsalven auf die Fahrzeuge abgegeben wurden“, als der Bischof in Begleitung von sechzig Personen durch das Dorf fuhr. Drei Priester wurden dabei angeschossen, Ruíz kam mit dem Schrecken davon. Der Vikar der Diözese von San Cristóbal, Gonzalo Ituarte, gab nach dem Attentat bekannt, daß einige Tage vor dem Besuch in der Region führende Mitglieder von Paz y Justicia damit gedroht hatten, die Rundreise von Samuel Ruíz zu verhindern. Bereits im Mai 1996 war Raúl Vera López von den Paramilitärs angegriffen und mit dem Tode bedroht worden. Zwei Tage nach dem Überfall in El Crucero wurde in San Cristóbal auch auf María de la Luz Ruíz García, die Schwester des Bischofs, ein zweites Attentat begangen.

„Weder Vermittlung, noch Dialog, noch Friede“

Die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung), der linken PRD (Partei der Demokratischen Revolution) und Aktivisten der Diözese von San Cristóbal auf der einen Seite und den paramilitärischen Einheiten, die der PRI nahestehen, andererseits, haben in der Nordregion von Chiapas in den letzten Monaten Dutzende Todesopfer gefordert. Viele Indígenafamilien dieser Region mußten aus ihren Dörfern fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig bedroht Paz y Justicia, die auch mit Militär und Polizei eng verbunden ist, Menschenrechtsdelegationen und Besuche von JournalistInnen.
Die Auseinandersetzungen spielen sich vor dem Hintergrund ab, daß sich die mexikanische Regierung nach wie vor weigert, das am 16. Februar 1996 zwischen ihr und der EZLN geschlossene Abkommen über Indianische Rechte und Kultur, das sogenannte Abkommen von San Andrés, auch in die Praxis umzusetzen. Seit über einem Jahr ist der Dialog nun unterbrochen, während die Regierung gleichzeitig alles unternimmt, um durch Spaltungsversuche und Militarisierung die aufständischen Indígenas gegeneinander auszuspielen und zu demoralisieren. Ein zentraler Bestandteil dieser Strategie der „Kriegführung niedriger Intensität“ ist der Aufbau paramilitärischer Gruppen, wie Paz y Justicia in der Nordregion um Tila. Bischof Ruíz und die Diözese von San Cristóbal werden von der Gruppe attackiert, weil sie sich für die Umsetzung des Abkommens einsetzen und sich deutlich gegen die Militarisierung aussprechen, Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und für soziale und politische Reformen eintreten.
„Die Botschaft der Regierung an die EZLN ist klar“, schreibt Subcomandante Marcos in einer Erklärung, die das Attentat verurteilt: „Weder Vermittlung, noch Dialog, noch Friede.“ Daran konnte ohnehin kein Zweifel mehr bestehen, nachdem auch der zivile Marsch von 1111 Zapatistas in der Hauptstadt und die damit verbundenen Demonstrationen im September die Regierung nicht an den Verhandlungstisch zurückzwingen konnte. Statt dessen weitet sich der Bürgerkrieg vom Norden nun auch in der Region Los Altos, rund um San Cristóbal, aus. Auch in der Selva Lacandona, dem eigentlichen Zentrum des zapatistischen Aufstandes, nehmen die Spannungen zu.
Wie die Friedensnobelpreisträger betonen, stellt der Angriff auf Samuel Ruíz und seine Mitarbeiter keinen isolierten Einzelfall dar, sondern steht im Kontext „wachsender tolerierter Gewaltanwendung“. Was damit gemeint ist, zeigt das Beispiel des Landkreises Chenalho nur wenige Kilometer nördlich von San Cristóbal. Hier haben in den letzten Tagen regelmäßig Gruppen von PRI-Anhängern mit der Unterstützung durch Polizeitruppen Sympathisanten der EZLN überfallen. Dabei wurden ihre Hütten zerstört und ihr Eigentum geraubt. Insgesamt sind laut Angaben von verschiedenen Presseberichten in den letzten Wochen allein in Chenalho 15 Menschen ermordet und 200 Familien vertrieben worden. Bemerkenswert ist allerdings , daß sich die Taktik der EZLN verändert zu haben scheint, da sie jetzt auch gegen die Aggressoren vorgeht und mehrere von ihnen erschossen hat, nachdem sie auf die Überfälle lange Zeit nicht militärisch reagiert hatte, um die Situation nicht weiter zuzuspitzen.

Militärs waschen Hände in Unschuld

Außer Paz y Justicia im Norden operieren mittlerweile ähnliche Gruppe in anderen Regionen von Chiapas. So beispielsweise die Chinchulines in Bachajón, die Alianza San Bartolomé de Los Llanos im traditionell konfliktstarken Landkreis Venustiano Carranza oder das Movimiento Indígena Revolucionario Antizapatista (MIRA – antizapatistische revolutionäre Indígena-Bewegung) in Oxchuc. Überall werden sie angeführt von in der Öffentlichkeit bekannten lokalen PRI-Führern, die die Mitglieder unter den Jugendlichen der Dorfbevölkerung rekrutieren und für chiapanekische Verhältnisse gut bezahlen. Ehemalige Militärs übernehmen das militärische Training, an Waffen fehlt es selbstverständlich ebenfalls nicht. Außerdem haben die Gruppen noch etwas gemein: Sie tauchen überall dort auf, wo die EZLN oder andere oppositionelle Gruppen Fortschritte bei der Organisierung machen. Ihre Funktion ist, durch Provokationen und offene Repression Sympathisanten oppositioneller Organisationen einzuschüchtern. Militär und Polizei als offizielle bewaffnete Einheiten der Regierung können gleichzeitig ihre Hände in Unschuld waschen und so tun, als hätten sie mit den „Auseinandersetzungen zwischen Dorfgemeinschaften“ nichts zu tun.

„Wir sind viel mehr als Geld“

Herr Galeano, am Ende dieses Jahrhunderts klaffen die sozialen Widersprüche weltweit so sehr auseinander wie niemals zuvor in der Geschichte. Sind wir Gefangene eines Systems, das die Menschheit unausweichlich zugrunde richtet?

Dracula hat bestimmt große Minderwertigkeitskomplexe. Viele Psychologen und Psychiater kommen zusammen, um ihm zu helfen. Denn Dracula fühlt sich heute wie der letzte Dreck und glaubt, seine ganze Arbeit sei nichts Wert, wenn er sieht, wie die multinationalen Konzerne agieren, wie die wilden Mechanismen der großen Finanz- und Handelsmärkte der Welt funktionieren, die dir mit der einen Hand das leihen, was sie dir mit der anderen stehlen. Es stimmt, daß das System sehr zerstörerisch mit den Menschen und der Natur umgeht, und es herrscht eine traurige Konkurrenz, vor allem unter den Ländern des Südens, um Kapital anzuziehen in den Zeiten der Globalisierung. Das ist sehr erniedrigend. „Wer kriecht am besten“, heißt das Motto. Es werden absolut niedrige Löhne und die Freiheit, die Umwelt zu verschmutzen, angeboten.
Und es ist ein System, das die Menschen zur Einsamkeit, zur Angst, zur Hoffnungslosigkeit und zu Beklemmungen verurteilt. Dieses System zerstört die solidarischen Beziehungen zwischen den Menschen, es schränkt die Möglichkeiten der Menschen, sich zu treffen, immer stärker ein. Es zwingt uns, die anderen als Feinde zu betrachten. Es überzeugt uns davon, daß das Leben eine Rennbahn ist, auf der es wenige Gewinner und viele Verlierer gibt. Es ist ein System, das die Seele vergiftet.

Der Pessimismus, der die Welt und die Linke erfaßt hat, gründet sich auf die historische Erfahrung des Scheiterns der realsozialistischen Systeme. Mangelt es an einem glaubwürdigen alternativen Projekt der Linken?

Es gibt in bestimmter Hinsicht eine Symmetrie, in dem Sinn, daß im Westen die Gerechtigkeit im Namen der Freiheit geopfert wurde und im Osten die Freiheit im Namen der Gerechtigkeit. Im Grunde geht es um die Wiedergewinnung der verlorenen Einheit beider. Die Freiheit und die Gerechtigkeit, die als Zwillinge geboren und gewaltsam getrennt wurden, müssen wieder zusammenfinden. Das ist das, was ich wünsche. Genauso wie die Wiedergewinnung der Einheit von der Gerechtigkeit und der Schönheit ein Teil der Utopie ist. Möglicherweise war die Ethik noch nie so getrennt von der Ästhetik wie heute, am Ende dieses Jahrhunderts.

Sie haben in Ihren Essays von der Notwendigkeit der Entgiftung des Geistes gesprochen, gibt es ein Rezept für das Gegengift?

Nein, ein Rezept dafür gibt es nicht. Glücklicherweise, denn ich glaube an kein Rezept. Aber ich glaube an das Recht auf Notwehr. Wenn sich jemand durch eine dominierende Kultur bedroht sieht, die ihm den Geist vergiftet und ihn mit Gewalt und Angst füllt, dann hat er jedes Recht, sich dagegen zu verteidigen. Und wenn es eine dominante Kultur gibt, die deine Identität ausradiert, dann hast du jedes Recht, sie zu bekämpfen. Ich glaube, daß das menschliche Wesen geheime Muskeln besitzt, die es ihm erlauben, besser zu sein als dieses abscheuliche Bild, das einem jeden Tag von einem System um die Ohren gehauen wird, das auf Geld konzentriert ist. Wir sind viel mehr als Geld.

Wie ist es möglich, daß wir die Menschen immer alle in Schubladen mit Aufschriften stecken müssen? Mir macht es am meisten Spaß, aus den Schubladen zu fliehen und festzustellen, daß man das Abenteuer der Freiheit überall und mit allen Menschen teilen kann, mit den verschiedensten Sprachen, die sie sprechen, und an den verschiedensten Orten. Es gibt immer Orte der Zusammenkunft mit den anderen.

Aber die Verschiedenartigkeit der Welt wird durch eine große Dampfwalze niedergemacht, durch die universelle Auferlegung eines einzigen Lebensmodells. Das fängt mit dem Export aufgezwungener Konsummodelle an. Die Welt ist daher immer weniger verschieden, leider, denn das Beste an der Welt ist die Vielzahl von Welten, die sie beinhaltet. Es ist ein Horror, ein Alptraum, zu einem Leben in einer zukünftigen Welt verurteilt zu sein, in der jene, die nicht verhungern, vor Langeweile sterben. Es gibt eine Chancenungleichheit, die symmetrisch zur Angleichung der Gewohnheiten verläuft. Das System ist ungleich in den Möglichkeiten, die es bietet und angleichend in der Kultur, die es aufzwingt.
Am Ende dieses Jahrhunderts universalisiert sich die Verehrung des Geldes. Das System basiert auf Habsucht und reduziert alle Menschen und Länder zu Waren. Ich weigere mich, eine Ware zu sein. Ich glaube, daß Land und Leute mehr als nur Waren sind.

Genau das Gegenteil denken die internationalen Finanzinstitutionen, die heute gerade in Lateinamerika eine für Wirtschaft und Politik dominierende Rolle einnehmen. Wie beurteilen Sie IWF und Weltbank?

Der IWF ist eine weltweite Maschine im Dienste der Idee der Entwicklung. Der IWF ist so etwas wie eine Weltregierung, weil seine Funktionäre mehr vermögen als alle Wirtschaftsminister zusammen. Wenn die Leute einen Präsidenten wählen und er seine Minister bestimmt, sind wir manchmal die Zuschauer eines Theaterstückes. Denn diejenigen, die eigentlich herrschen, sitzen irgendwo am Schreibtisch, und von dort entscheiden sie per Computer über das Schicksal von Millionen von Menschen. Sie konzentrieren den Reichtum und setzen die massive Verarmung durch. Und das mit einer absoluten Straflosigkeit. Das nennen sie Strukturanpassungsprogramme.

Die Logik der Entwicklung und des Wirtschaftswachstums ist absurd. Wenn Waffen verkauft werden, steigt das Bruttosozialprodukt. Das ist eine gute Nachricht im Wirtschaftsteil der Zeitungen. Aber ist es eine gute Nachricht für die Opfer dieser Waffen? Wenn ein Haus einstürzt oder ein Flugzeug mit allen Insassen abstürzt, ist das für die Wirtschaft eine gute Nachricht. Nicht nur weil die Auszahlung der Versicherungssumme Geld bewegt, sondern auch weil ein neues Gebäude oder ein neues Flugzeug gekauft werden muß. Für die Wirtschaft ist das gut, aber für die Opfer?

Eine Freundin, die als Sozialarbeiterin arbeitet, erzählte mir kürzlich, daß sie ein Haus betreiben, in dem sich Kinder im Alter von neun Jahren aufhalten, die Drogen zu sich nehmen. Sie betäuben sich mit Klebstoff. Einer der Jungen sagte zu ihr, sie solle nicht böse auf ihn sein. „So gehe ich in ein anderes Land“, sagt er. Er nimmt Drogen, um in ein anderes Land zu fliehen. Und das passiert mit Millionen von Kindern. Er möchte dieses traurige Land verlassen, in dem wir leiden und das zu einem großen Teil durch die Knebelungen der internationalen Finanz- und Kreditinstitutionen so geworden ist.

Aber die Flucht vor der Realität ist nicht die einzige Antwort auf die Knebelungen, die die Menschen in ihrem Griff halten. Welche sozialen Akteure leisten heute in Lateinamerika Widerstand?

Ein interessantes Beispiel für eine neue Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus ist die in Europa weitgehend unbekannte Bewegung El Barzón. In dieser Organisation haben sich in Mexiko über zwei Millionen Kleinschuldner zusammengefunden, die ihre Schulden und die enorm angestiegenen Zinsen nicht mehr an die Gläubigerbanken zurückzahlen können und wollen. Damit treffen sie das Finanzsystem in seinem Nervenzentrum. Kürzlich wurden Repräsentanten von El Barzón sogar vom Vizepräsidenten der Weltbank in Washington empfangen. Ein deutlicheres Zeichen für die Furcht der Mächtigen vor dieser schnell an Kraft gewinnenden Bewegung kann es nicht geben. Andererseits haben in Mexiko auch die Zapatistas aus Chiapas mit ihrem Aufstand im Januar 1994 ein Zeichen der Hoffnung gesetzt. Es gibt in Lateinamerika aber auch viele Kämpfe gegen den herrschenden Neoliberalismus, von denen nichts oder wenig bekannt ist, weil die großen Kommunikationsmedien darüber nicht berichten.

Das aufsehenerregendste lateinamerikanische Medienereignis im letzten Jahr war die Besetzung und anschließende Räumung der japanischen Botschaft in Lima durch ein Kommando der MRTA. Wie haben Sie die dramatischen Ereignisse wahrgenommen?

Das Massaker bei der Räumung der japanischen Botschaft in Lima vom Blickwinkel Fujimoris aus betrachtet, ist etwas anderes als der Blickwinkel seiner Opfer. Fujimori bestrafte auf eine abscheuliche Weise die Leute, die die Botschaft besetzt hielten. Und er, der das Parlament und die Exekutivgewalt mit einem selbstinszenierten Staatsstreich besetzte? Was ist schon das Verbrechen, eine Botschaft zu besetzen, im Vergleich zu dem Verbrechen, ein Parlament zu besetzen und es aufzulösen.

Nicht nur die sozialen und politischen Folgen des Neoliberalismus beschäftigen Sie, sondern auch die ökologischen. Sie sagten einmal, es gelte die verlorengegangene Einheit von Mensch und Natur zurückzugewinnen. Was ist damit gemeint?

Es gibt zwei Faktoren, die die Auslandsinvestitionen anziehen. Die Freiheit, die Natur ungestraft zu verschmutzen und zu zerstören sowie das Recht, einen Dollar pro Tag als Lohn zu bezahlen. Wir befinden uns in diesem traurigen Konkurrenzkampf, und die Resultate für die Welt sind immer katastrophaler. Fünf Jahre nach der internationalen Umweltkonferenz in Rio, die die Welt mit Erklärungen, Worten und guten Absichten überschwemmte, scheint mir der Tod von Jacques Cousteau die beste Metapher für eine Bilanz zu sein. Er starb in dem Moment, in dem die Unfähigkeit des Systems, einen Planeten zu retten, der in eine große Kloake und Müllhalde verwandelt wurde, am offensichtlichsten geworden ist.
Wir müssen wieder auf unsere tiefsten kulturellen Wurzeln schauen. Für die amerikanischen indigenen Kulturen ist der Mensch eine Einheit mit der Natur, weil er Teil von ihr ist. Und weil sie das glaubten, wurden die Indígenas seit dem 16. Jahrhundert bestraft. Sie wurden wegen „Götzenverehrung“ bestraft, weil sie glaubten, daß die Natur heilig ist. Das galt als Beweis für die Präsenz des Teufels in Lateinamerika. Das waren die Zeiten, in denen im Namen Gottes eine universelle Losung geschaffen wurde, „die Natur beherrschen“, später geschah es dann im Namen des „Fortschritts“. Die Natur wurde als wildes Tier gesehen, das gezähmt und unterworfen werden muß, um im Dienste des Menschen zu stehen, wie der herrschende Machismus es nennt.
Im 16. und 17. Jahrhundert hieß es, Gott habe den Europäern Amerika gegeben, damit sie die wilde Natur in ein Haustier verwandeln. Später wurde Gott durch den „Fortschritt“, die Zivilisation mit ihrer Idee, daß es möglich sei, die Natur zu beherrschen, ersetzt. Die Idee, daß der Mensch die Natur zu beherrschen habe, blieb. Erst in den letzten Jahren ändert sich etwas. Heute spricht man nicht mehr davon, die Natur zu beherrschen, die Parole lautet vielmehr, sie zu beschützen. In beiden Fällen gehen wir von einer falschen Grundannahme aus, indem wir die Natur außerhalb von uns selbst verorten. Wir müssen, meiner Meinung nach, diese verlorene grundlegende Einheit wiedergewinnen, die die unterworfenen indigenen Völker besaßen, für die diese Trennung nicht möglich war. Wir sind Teil der Natur. Ich bin der Bruder von allen, die Füße haben, aber auch von allem, was Pfoten hat, und von allem, was Flügel hat, und von allem, was Wurzeln hat. Deshalb wandelt sich jedes Verbrechen gegen die Natur in einen Selbstmord um, es wendet sich gegen mich, weil ich gegen etwas vorgehe, von dem ich ein Teil bin. Diese Konzeption der Dinge, die als Götzenverehrung über viele Jahre hinweg bestraft wurde, müssen wir wiedergewinnen. Wir müssen den Blickwinkel verändern, das gilt für viele Probleme.

KASTEN

Eduardo Galeano, 1940 in Montevideo (Uruguay) geboren, gilt als der bekannteste politische Essayist Lateinamerikas. Weltberühmt wurde er mit seinem 1971 erschienenen Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (deutsch 1973), einer engagierten Analyse der Ausbeutung und Unterdrückung Lateinamerikas durch Kolonialismus und Neokolonialismus von der Eroberung des Subkontinents durch die Spanier bis zur konterrevolutionären Politik der USA in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts. Dieses Buch trug zur Politisierung einer ganzen Generation bei und gilt bis heute als Standardwerk. Im Exil, in das er nach dem Militärputsch in Uruguay 1973 fliehen mußte, setzte er seine Geschichtsschreibung „von unten“ mit dem dreibändigen Werk „Erinnerung an das Feuer“ fort. Zurück in seinem Heimatland Uruguay, engagierte sich Galeano für soziale und demokratische Reformen, beispielsweise für das erfolgreiche Plebiszit gegen die Privatisierung von Staatsbetrieben Anfang der 90er Jahre. Im Frühjahr erschien sein neuestes Buch in deutscher Übersetzung, eine Hommage an die Schönheit des Fußballs und dessen Gefährdung durch die zunehmende Kommerzialisierung („Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1997).

Einmal Hauptstadt und zurück

Als vor dreieinhalb Jahren der bewaffnete indianische Aufstand im südmexikanischen Chiapas begann, kündigte die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung EZLN in ihrer Kriegserklärung an, ihre Truppen würden nach Mexiko- Stadt vorrücken. Was damals Rhetorik war wurde am 12. September Wirklichkeit: 80.000 Menschen begrüßten die Rebelllnnen aus dem Süden, die mit ihrer bunten Karawane durch die Bundesstaaten Oaxaca, Puebla und Morelos gefahren waren.
Drei Ziele verfolgten die Zapatistas: In Mexiko-Stadt fand vom 13. bis 16. September der Gründungskongreß der Zapatistischen Front FZLN statt, zu deren Formierung die EZLN bereits im Januar 1996 aufgerufen hatte. Eine Abordnung der Zapatistas wohnte den Debatten auf dem Kongreß bei. Ein anderer Teil der Marchistas nahm gleichzeitig an der bundesweiten Versammlung der Dele-gierten des Nationalen Indigena Kongresses CNI teil, einer Koordination von Indigena-Organisationen aus ganz Mexiko, die seit etwa einem Jahr besteht. Der dritte Grund für die ungewöhnliche Karawane bestand darin, die öffentliche Aufmerksamkeit für den Konflikt in Chiapas wiederzugewinnen, nachdem der spektakuläre Wahlsieg der Opposition bei den Bürgermeisterwahlen in Mexiko-Stadt und den Parlamentswahlen am 6. Juli Chiapas weitgehend aus den Medien verdrängt hatte.
Eine schwere Geburt
Bereits zwei Mal hatte die EZLN zur Gründung einer zivilen bundesweiten Oppositionsorganisation aufgerufen, um gemeinsam mit ihr den Kampf gegen das autoritäre System der seit 68Jahren regieren-den Staatspartei PR1 und die neoliberale Politik zu führen. Doch bei- de Versuche, die im August 1994 von 8.000 Delegierten in der Selva Lacandona gegründet Nationale Demokratische Konvention CND und die Bewegungfür die Nationale Befreiung MLN, die Anfang Februar 1995 in Querétaro entstehen sollte, sind definitiv gescheitert. Javier Elorriaga, Koordinator des FZLN-Gründungskongresses, erklärt sich den ersten Schiffbruch so: “Die CND war noch sehr stark auf den Kampf um die Macht orientiert. Die Führerlnnen der verschiedenen Mitgliedsorganisationen machten Allianzen mit anderen Führerlnnen, aber es wurde sehr wenig an der Basis gearbeitet. Die ganze Zeit über bekämpften sich die Leitungsmitglieder.”
Als sich im Herbst 1994 ab-zeichnete, daß die CND nicht die erforderliche Kraft entfalten würde, um zu einer relevanten Oppositionsbewegung zu werden, und sich stattdessen die Spaltungslinien zwischen den verschiedenen Fraktionen vertieften, rief die EZLN Anfang 1995 zu einer neuen Anstrengung auf: Eine breite Oppositionsfront aus der EZLN, dem Rest der CND und den Anhängern von Cuauhtemoc Cardenas, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der PRD, sollte entstehen. Diese Bewegung für die Nationale Befreiung MLN sollte die unterschiedlichen und zerstrittenen Strömungen der mexikanischen Linken auf der Grundlage eines Minimalprogramms zusammenführen. Doch das ambitionierte Unternehmen scheiterte bevor es begonnen hatte. Am 9. Februar kommandierte Präsident Zedillo die Bundesarmee in den Lakandonen-Urwald und brach den Waffenstillstand, um die zapatistischen Comandantes verhaften zu lassen. Die Militäraktion war zwar ein Schlag ins Wasser, aber der politische Bewegungsspielraum der EZLN blieb über Monate äußerst eingeschränkt. Andererseits weigerte sich der radikale Flügel der CND kategorisch, mit dem als reformistisch verpönten Cardenas zusammenzuarbeiten. Stattdessen formierte sich diese Strömung im Januar 1996 in Acapulco in der Breiten Front für den Aufbau der Bewegung für die Nationale Befreiung FAC-MLN, die heute hauptsächlich in Guerrero, Oaxaca und Mexiko-Stadt, aber auch in anderen Teilen Mexikos über eine beträchtliche Basis verfügt. Die EZLN forderte gleichzeitig ihre Sympathisanten dazu auf, Komitees zu bilden und die FZLN-Gründung vor- zubereiten.
Die mexikanische Linke ist da-mit heute in drei Lager gespalten: Die moderate PRD, die am 6. Juli mit Cárdenas einen historischen Wahlsieg in der Hauptstadt errungen hat und hauptsächlich in den südlichen Bundesstaaten über eine breite Basis verfügt; andererseits EZLN und FZLN, die im Gegensatz zur PRD nicht auf Wahlen setzen und sich vor allem dem Kampf für die Rechte der indigenen Bevölkerung und Demokratisierung verschrieben haben; als dritter Flügel die FAC-MLN, die am „klassischen” Programm der radikalen Linken der 70er Jahre und dem Kampf für eine Arbeiter-und Bauernregierung orientiert ist. Die im letzten Jahr aufgetauchte Guerilla Revolutionäre Volksarmee (EPR) ist zumindest programmatisch eher diesem Teil zuzuordnen.
Viel Applaus -wenig Substanz
Die FZLN-Gründung zeichnete sich hauptsächlich durch die beeindruckende Fähigkeit der Delegierten aus, minutenlang immer wieder die gleichen Parolen zu rufen: „Zapata vive, la lucha sigue!”
An einer realistischen Einschätzung der eigenen Stärke und vor allem an klaren programmatischen Grundlagen scheint es trotz der
1 8 Monate Vorbereitungszeit leider zu fehlen. Das ist zumindest der Eindruck, den viele Beobachter vom Kongreß mitgenommen haben. 3.107 Delegierte wurden offiziell für den Kongreß akkreditiert. Die meisten von ihnen sind Mitglieder der mehreren hundert zivilen Komitees für den Dialog, welche die Basisgruppen der FZ- LN bilden sollen und sich in den letzten Monaten im ganzen Land gebildet haben. In 14 Arbeitsgruppen diskutierten sie das politische Programm, die geplanten Aktionen sowie die organisatorische Struktur der neuen Organisation. Das Hauptergebnis ist, daß die FZLN nicht nach der Macht streben und sich nicht als politische Partei konstituieren wird. Sie sieht sich vielmehr als eine Basisbewegung, die politischen Druck erzeugen will und zum Kampf für Demokratisierung und gegen neoliberale Wirtschaftspolitik beitragen möchte, eine Art linksradikale Bürgerbewegung a la mexicana: „Was die FZLN anbietet, ist eine auf lange Sicht angelegte Arbeit an der Basis mit wenig öffentlicher Aufmerksamkeit und Artikeln in den Zeitungen. Das wird viele abstoßen, die um die Macht kämpfen”, er-klärt Javier Elorriaga den schwierigen Weg, den sich die FZLN vor-genommen hat.
Der Kongreß schloß nach kontroverser Diskussion eine Doppelmitgliedschaft in einer Partei aus, nicht aber in einer anderen sozialen Organisation. Damit hat sich die FZLN organisatorisch klar von der PRD distanziert, obwohl weite Teile der PRD-Basis dem Zapa-tismus viel Sympathie entgegen-bringen und der frisch gewählte Bürgermeister Mexiko-Stadts Cuauhtemoc Cárdenas den FZLN-Kongreß in einer Grußbotschaft als „wichtigen Schritt” bezeichnete.
Nicht dabei: Mayor Moises
Die FZLN könnte sich also als in ein linkes, basisdemokratisches Korrektiv gegenüber der PRD an der Macht entwickeln und so den Demokratisierungsprozeß weiter- treiben und außerdem Druck da- rauf ausüben, daß die PRD ihre Wahlversprechen einhält.
Bei einem Fußballspiel zwischen einer Mannschaft der EZLN und Angehörigen der Zivilgesellschaft, die sich in der FZLN organisieren will, haben die maskierten Balltreter aus dem Lakandonen-Urwald am Rande der Konferenz ihre zivilen Gegenüber mit 10:2 klar ausgestochen. Es war vor allem Teamgeist, Übersicht, Strategie und Disziplin, die den Vermummten den Vorteil sicherte. Die FZLN hat genau hier ihre Defizite, die sie überwinden muß, wenn sie sich als politische Kraft etablieren will. Wenn ihr das nicht gelingt, droht ihr der selbstzerfleischende Kannibalismus der mexikanischen Linken, der bereits der CND das Leben gekostet hat.
Boris Kanzleiter

Recht auf Land und Freiheit

Zum ersten Jahrestag des Massakers von Eldorado dos Carajás verstopften zehntausende landloser Bäuerlnnen die Straßen Brasilias, um ihren Schrei nach Gerechtigkeit in die Regierungsviertel zu tragen. Wieder einmal wurde deutlich: Es bleibt unruhig auf dem Lande in Lateinamerika. Allein in Brasilien waren zwischen 199 1 und 1995 pro Jahr zwischen 180.000 und 550.000 Bäuerlnnen in Landrechts- kämpfe verwickelt. Die Zapatistas legten ihren Aufstand in Chiapas auf den ersten Tag der Nordamerikanischen Freihandelszone und sprachen damit all jenen Bewegungen aus dem Herzen, die sich in diesem Kampf engagiert haben. Bei aller Unterschiedlichkeit der nationalen Kon-texte zieht sich ein roter Faden durch die Auseinandersetzungen: Es geht darum, das neoliberale Dogma des Endes der Agrarreform zu behindern, verhindern oder, im besten Falle, zu überwinden. Nicht alle Konflikte haben die gleiche internationale Be-achtung gefunden, wie sie zunächst der zapatistischen Erhebung und derzeit der brasilianischen Landlosenbewegung zuteil werden. Viele kleinere und größere Organisationen versuchen auch in anderen Staaten, den Agrarreformprozeß wie-der in Gang zu bringen. Die erreichten Erfolge jedoch sind gering. In Brasilien erhielten trotz der enormen Proteste zwischen 1990 und 1996 gerade mal 80.000 Familien Land. Das ist im Blick auf die insgesamt 4,8 Millionen landlosen Familien zynisch, und angesichts der von der staatlichen Agrarbehörde bezifferten 100 Millionen Hektar brachliegen-den Landes eine unglaubliche Unverschämtheit. In Honduras hat das Agrarmodernisierungsgesetzbeispielhaft und konsequent die Strukturanpassung des Agrarsektors umgesetzt. Trotz des massiven Widerstands der kritischen Bauern- organisationen und den inzwischen nachweisbaren katastrophalen Effekten der Agrarmodernisierung ist es bisher noch nicht gelungen, das Gesetz grundlegend zu revidieren. In EI Salvador werden nach mehreren Jahren zähen Ringens nun Ländereien der zweiten Agrarreformphase enteignet und an Landlose übertragen werden -zehn Jahre später als es die Verfassung vorsah. In Guatemala eröffnet das Friedensabkommen zwar neue Perspektiven, ein umfassendes Agrarreformprogramm aber ist nicht in Sicht, Doch wie soll es zu Frieden und einer ländlichen Entwicklung kommen, die diesen Namen verdient, in Staaten, in denen ein Drittel bis die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung ohne ausreichend Land und ohne permanente Arbeit ist? Zehn Jahre nach Beginn des zentralamerikanischen Friedensprozesses in Esquipulas herrscht ein „Frieden ohne Gerechtigkeit”, den insbesondere die arme Landbevölkerung in unruhig knurrenden Mägen spürt: Hungern in Freiheit?
Das Menschenrecht auf Land
Landrechtskämpfe gehen in den meisten Fällen mit Menschenrechtsverletzungen einher. Allein in dem Konflikt um die Hacienda Bellacruz in Kolumbien wurden 1996 über 30 Bäuerlnnen umgebracht. 199 1 wurden nach Angaben der brasilianischen Land- pastorale 287 Menschen bei Landkonflikten getötet. Allerdings sind es keineswegs nur die bürgerlichen und politischen Menschenrechte, die immer wieder mißachtet werden. Viel häufiger und systematischer sind die Verletzungen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte, insbesondere des Menschen-rechts, sich zu ernähren. Die meisten Staaten Lateinamerikas haben den internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte ratifiziert. Ihre Pflicht, die darin anerkannten Rechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, haben sie in vielen Fällen jedoch chronisch mißachtet. Vielmehr haben die Regierungen oft selbst im Zuge von Staudammbauten oder Erz-und Goldabbauprojekten Bauernfamilien vertrieben und so ihrer Ernährungsbasis beraubt. Oder sie haben, statt ihrer Schutzpflicht gegenüber diesen Gruppen nach-zukommen, transnationalen Bananen-oder Olkompanien bei der Vertreibung indigener oder anderer bäuerlicher Gemeinschaften assistiert. Der Pakt jedoch impliziert, daß die Regierungen den Armen per Agrarreformen den größtmöglichen Zugang zu produktiven Ressourcen ermöglichen müßten. Denn ohne ausreichend Land, bezahlbare Kredite oder permanente Arbeit können sich die Bäuerlnnen nicht ernähren.
Der enge Zusammenhang zwischen den bekannteren bürgerlichen und politischen und den lange Zeit fast vergessenen sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten wird gerade bei Landkonflikten sehr deutlich. Als ich vor zwei Jahren an den Gräbern dreier Bauern stand, die bei einem Landkonflikt in Honduras umgebracht worden waren, bat ich die Über-lebenden dringend darum, von einer Wiederbesetzung des Landes abzusehen. Ich hatte die Bewaffnung und Entschlossenheit der Soldaten gesehen, die das umstrittene Landstück zu verteidigen hatten. Darauf reagierte Manuel, einer der hageren Landlosen mit einem bitteren Satz: „Es gibt Schlimmeres als zu sterben: die Kinder jeden Tag hungrig im Dreck spielen sehen zu müssen.” Für diese Menschen sind in der Tat die Landkonflikte zentraler Kristallisationspunkt eines Kampfes für ihre fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte, die für ein Leben in Würde unentbehrlich sind.
Wesentlich ernster als ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechtspakten nehmen die
Regierungen die Auflagen, an die internationale Finanzinstitutionen ihre Kreditvergabe knüpfen. Neoliberale Strukturanpassungspolitiken bilden seit Jahren den wesentlichen strukturellen Rahmen für die Liberalisierung der nationalen und internationalen Agrarmärkte sowie die Privatisierung der Dienstleistungen im Kredit-und Beratungsbereich. Neoliberale Logik beherrscht auch den Zugang zu Land. Land wird als Ware wie jede andere gesehen, die gekauft und verkauft wird. Enteignungen mit der Begründung, daß das Eigentum eine soziale Funktion erfüllen soll, sind dieser Ideologie fremd. Dagegen wirkt das Postulat: „Das Land denen, die es bebauen”, geradezu archaisch. Im Zeichen der sogenannten Agrarmodernisierung besteht kein Zweifel mehr. Statt: „La tierra para quien la trabaja” heißt es nun: „La tierra para quien la puede comprar”, das Land denen, die es kaufen können. Dieses Dogma ist exklusiv. Wer von diesen Millionen landlosen Bäuerlnnen verfügt über das nötige Kapital zum Kauf von ausreichend Land? Für sie ist das neoliberale Modell weder theoretisch noch praktisch eine Option. Diese Menschen interessieren nicht, denn ihre Kaufkraft ist gleich null.
Wenn aber Regierungen auf diese Weise große Teile der bäuerlichen Bevölkerung von der Teilhabe an ländlicher Entwicklung ausschließen, dann ist dies nicht nur aus volkswirtschaftlichen und moralischen Gründen problematisch. Es ist vor allem ein massiver und systematischer Verstoß gegen die Menschenrechte genau dieser Bevölkerungsgruppen. Dieser Aspekt ist bisher bei den Diskussionen über Agrarreform und Strukturanpassung in Lateinamerika viel zuwenig beachtet worden. Dabei eröffnet eine menschenrechtliche Begründung der Notwendigkeit von Agrarreformen in Lateinamerika enorme Chancen, besonders im Zeichen und im Kontrast zum herrschenden neoliberalen Dogma.
Ich plädiere dafür, den Kerngehalt des Rufs nach Land und Freiheit in menschenrechtlicher Perspektive neu zu entdecken und für die Solidaritätsarbeit zu operationalisieren. Land und Freiheit, das war nie nur ein Stückchen Land und ein Stückchen Freiheit. Land war immer mehr, der Schrei nach Land verdichtete immer eine übergreifende, fundamentale Forderung nach den Grundlagen einer menschenwürdigen Existenz.
Land bedeutet Leben, ganz und gar nicht nur für indigene oder andere bäuerliche Gemeinschaften, auch wenn diese am ehesten um das Geheimnis wissen. Land ist für viele Garant ihrer Ernährungssicherheit und somit für Würde und Unabhängigkeit. Land ist für viele Garant der Freiheit. Freiheit wiederum bedeutete nie nur, frei zu sein von politischer Repression. Freiheit war immer auch ein Kampfbegriff gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Unterdrückung. Freiheit von Angst und Freiheit von Not sind zwei Seiten derselben Medaille.
Wer heute für eine neue Debatte über Agrarreformen plädieren will, knüpft an der langen Tradition des Kampfes für Land und Freiheit an. Es bleibt die Vision, daß den „verdammten Bäuerlnnen dieser Erde” eine Zukunft ohne Unterdrückung gebührt. Es bleibt die Verpflichtung, die wir Engagierten gegenüber denjenigen mutigen Menschen empfinden, die ihren Einsatz für Recht und Gerechtigkeit mit Repression und Mord quittiert bekommen haben. Auch die Anklage der noch immer himmelschreienden Besitzverhältnisse auf dem Lande Lateinamerikas muß bleiben. Die altbekannten volkswirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Argumente zur Begründung von Agrarreformen sind nach wie vor gültig, worauf auch Senghaas in einer unlängst veröffentlichten Polemik „gegen den entwicklungspolitischen Gedächtnisschwund” hingewiesen hat.
Agrarreform als Staatenpflicht
Neuere einleuchtende Argumentationslinien sind in den letzten Jahren nicht nur in menschenrechtlicher, sondern auch aus feministischer und ökologischer Perspektive formuliert worden. Die honduranischen Bäuerlnnenorgansiationen etwa haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die im Agrarmodernisierungsgesetz festgelegte Gleichberechtigung der Frauen bei der Übertragung von Agrarreformland Makulatur geblieben ist, da dasselbe Gesetz den gesamten Agrarreformprozeß zum Still-stand gebracht hat. Wenn kein Land mehr zu verteilen ist, gibt es auch keines für die Frauen. Die fortschreitende Erosion und Entwaldung hängen in den meisten Ländern mit der Frage des Landbesitzes zusammen. Dies zeigen nicht nur die hemmungslosen Abrodungen riesiger Forstgebiete durch private Firmen und Großgrundbesitzer. Auch an der prekären Lage der kleinen Parzellenbauern, die mangels Alternative landwirtschaftlich kaum nutzbare Hänge oder Flächen bewirtschaften, wird deutlich: Eine ökologisch nachhaltige, ländliche Entwicklung in Lateinamerika ist ohne grundlegende Re-formen der Grundbesitzstruktur nicht denkbar. Die angedeuteten feministischen, ökologischen und menschenrechtlichen Argumentationslinien sollten dringend weiter analysiert und debattiert werden.
Solange neoliberale Agrarpolitiken in Lateinamerika Millionen von Bäuerlnnen von der Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung ausschließen, ist das nicht nur ein moralisches, sondern auch ein rechtliches Problem. Die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte genau dieser besonders gefährdeten Gruppen werden aufgrund fehlender oder falsch priorisierter staatlicher Politiken nicht verwirklicht.
Damit verletzen die Staaten ihre völkerrechtlich verankerten Achtungs-, Schutz-und Gewährleistungspflichten, die sie sich mit der Ratifizierung des Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gegenüber diesen Menschenrechten zueigen gemacht haben. Die Staatenpflichten gegenüber dem Menschenrecht auf Nahrung, das in Artikel I I des Paktes anerkannt wird, implizieren in Ländern mit hohem Anteil landloser Bauernfamilien und gleichzeitig hochgradig ungleichen Grundbesitzstrukturen eine Reform der landwirtschaftlichen Systeme. Der UN-Ausschuß, der über die Einhaltung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte wacht, hat in seinen Leitlinien und Beratungen über Staatenberichte immer wieder darauf hingewiesen: Die Regierungen müssen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen, daß gerade die ernährungsunsicheren Gruppen, Landlose, kleinbäuerliche Familien, indigene Gemeinschaften und in jeder dieser Gruppe besonders die von Frauen allein geleiteten Haushalte, ausreichend Zugang zu den produktiven Ressourcen bekommen müssen, die sie für eine würdige Existenz benötigen.
etwa, die nicht umgesetzt wer-den, sind von dem UN-Ausschuß wiederholt als Verletzungen des Menschenrechts auf Nahrung angeprangert worden.
Perspektiven für die Solidaritätsarbeit
Offensichtlich ist der Kampf um Land und Freiheit in Lateinamerika ein Kampf für die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte. Um es pointiert zu sagen: Die meisten Landlosenorganisationen sind in diesem Sinne immer auch Menschenrechts- organisationen. Und oft genug ist ihnen noch kaum bewußt, daß sie -nicht erst wenn einer ihrer Sprecher verhaftet, gefoltert oder ermordet wird -durch die menschenrechtliche Dimension ihres Kampfes ganz neue und völkerrechtlich fundierte Argumentationslinien nutzen könnten, um die Regierungen im Blick auf Agrarreformen in die Pflicht zu nehmen. Auch die Menschenrechts-und entwicklungs- politischen Nichtregierungsorganisationen stehen erst am Anfang einer großen, noch zu führenden Debatte. So auch die Solidarität hier.
Die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte sind nicht nur in Lateinamerika gleichzeitig eine Kontrastvision und Kriterien für harte Kritik neoliberaler Politiken. Sie eröffnen auch Perspektiven für die Solidaritätsarbeit, nicht nur, aber gerade auch im Blick auf die Unterstützung von Agrarreformforderungen. Sowohl im Blick auf unsere Bildungs- und offentlichkeitsarbeit hier wie auch auf unsere materielle und politische Unterstützung sozialer Bewegungen dort sind viele neue Möglichkeiten denkbar, wenn wir die Perspektive der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte durchbuchstabieren.
Viele von uns haben ihre Solidaritätsarbeit zu Lateinamerika mit konkreten Offentlichkeits- und Unterstützungsmaßnahmen zur Situation der bürgerlichen und politischen Menschenrechte in Zeiten der Diktaturen und politischen Repression begonnen. Menschenrechte werden, das scheint eine durchgängige erkenntnistheoretische Erfahrung zu sein, immer dann entdeckt, wenn sie massiv negiert werden. In Zeiten der politischen Repression sind es vor allem die bürgerlichen und politischen Rechte, die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Heute sind es die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte, die im Zeichen der neoliberalen Strukturanpassung und Agrarpolitiken, in Zeiten des Friedens ohne Gerechtigkeit, immer mehr in den Vordergrund treten. Angesichts der Koexistenz demokratisch legitimierter Regimes und wachsender Verelendung großer Bevölkerungsteile ist es Zeit, für das Recht auf Land und Freiheit, für eine neue Debatte über die Notwenigkeit von Agrarreformen in Lateinamerika die Stimme zu er-heben. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte der ländlichen Armen Lateinamerikas dürfen nicht länger mit Füßen getreten werden.

Martin Wolpold
Lateinamerikareferent der deutschen Sektion von FlAN (FoodFirst Informations-und Aktions-Netzwerk), internationale Menschenrechtsorganisation für das Recht, sich zu ernähren.

Eindrücke aus der bunten Zapatista-Gemeinde

Wiederum fühlten sich 3000 Menschen – mehrheitlich aus Italien, Frankreich und Deutschland – von dem überaus offenen und einladenden (um nicht zu sagen, schwammigen) Titel angesprochen und waren zudem in der Situation und Laune, sich einen Trip nach Spanien (meist mit daran anschließender Weiterreise…) zu gönnen.
Zunächst war die Hürde einer bemerkenswert schnell konstruierten und rigide funktionierenden Akkreditierungsbürokratie zu überwinden: Wer nicht in irgendeiner Weise auf irgendeiner Liste stand, hatte erstmal – auch mit Zahlungsnachweis – Pech! Angemeldet wurde nach Nationalitäten. Dies führte zu kleinen Verwirrungen am Rande…
Die Auftaktveranstaltung in Madrid (Stierkampfarena!) bot dann aber genügend Raum, sich endlich auf das kollektive Wir einzustellen und sich in einem größeren Zusammenhang, nämlich der zapatistischen Bewegung, zu begreifen (was immer das auch sein mag, gilt es zu ergründen).
Wie beim 1. Treffen in Chiapas wurden die Teilnehmenden auf fünf Städte in Spanien verteilt, die allesamt durch soziale Widerstände geprägt sind und wo sich Gruppen bereiterklärten, die Verantwortung für die Infrastruktur wie Unterkunft, Verpflegung, Tagesablauf etc. zu übernehmen: Almuñécar (in Andalusien), Barcelona, El Indiano (in Andalusien, bei Cádiz), Madrid und Ruesta (in Aragón). Diese dezentrale Organisierung bedeutete zwar, daß Massen von Menschen quer durch Spanien gekarrt wurden, was viel Zeit und Energie kostete, sie bot den Reisenden aber die Möglichkeit, Kontakt und Einblick in verschiedene Formen des Kampfes und Widerstandes in Spanien zu bekommen: In Barcelona zum Beispiel fanden die Diskussionen in besetzten Häusern, sozialen Zentren und autonomen Räumen statt, in El Indiano standen die Landfrage und das Thema der Ökologie auf der Tagesordnung.
Die Arbeitsgruppen beschäftigten sich in Anlehnung an das 1. Treffen mit ökonomischen und politischen Analysen des Neoliberalismus, Landkämpfen und ökologischen Fragen, Auseinandersetzungen um Kultur, Bildung und Information. Kritisiert wurde jegliche Form von Marginalisierung sowie die patriarchalen Strukturen.
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Alle Jahre wieder…

Extrem wurde die Abschlußveranstaltung für diejenigen, diesien besuchen wollten: Die fand nämlich am äußersten Zipfel des spanischen Territoriums in El Indiano bei Cadiz statt…

Kleiner Nebeneffekt: Eines der Häuser sollte just in dieser Woche geräumt werden, was jedoch durch die kurzzeitig in die Höhe geschnellte Anzahl der BesetzerInnen verschoben wurde…

Auch dieses Jahr stand zur Debatte, ob das “Geschlechterproblem der Frau” in einer gesonderten oder – wie immer – oder auch nicht – in allen Arbeitsgruppen diskutiert werden sollte…

Zapata vive, la lucha sigue.

… wer jedoch – wie üblich – gut vorbereitet war, das waren vor allem die Selbstdarsteller, die einen großen Teil der Veranstaltung zum Jahrmarkt der Eitelkeiten mutieren ließen…
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Das Thema “Frauen” war auf dem 1. Treffen innerhalb der Zivilgesellschaft unter “Ausgeschlossene” subsumiert worden…
Die Themen der Arbeitsgruppen selbst waren so unterschiedlich wie ihre TeilnehmerInnen: Von deren Vorbereitung und Eigenverantwortung für die Inhalte hing der Verlauf der Diskussionen ab. Der Raum war – im Gegensatz zum 1. Treffen, wo stundenlang Referate verlesen wurden – offen für Auseinandersetzungen, die aber aus verschiedenen Gründen doch nicht stattfanden: Bei einigen Gruppen wurden zwei der vier für die Diskussion zur Verfügung stehenden Tage dazu genutzt, den Diskussionsmodus, die Moderation und die Übersetzung zu klären. Denn eine inhaltliche Vorbereitung war bei den wenigsten Gruppen vorhanden, hatten sie doch – wie im Fall der an den Vorbereitungen beteiligten europäischen Gruppen – ihre gesamten Energie- und Zeitressourcen in die formale Organisation des Treffens gesteckt. Entsprechend fatal war die Situation für die spanischen Gruppen, die an Diskussionen größtenteils nicht teilnehmen konnten. Insgesamt wurde aber die Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen und für inhaltliche Auseinandersetzungen schon im Vorfeld zu kurz bemessen.
Ein weiterer Kritikpunkt war die geringe Präsenz von TeilnehmerInnen aus außereuropäischen Ländern, während Länder wie Italien, Frankreich und Deutschland überrepräsentiert waren. Von einem interkontinentalen Austausch kann da wohl kaum gesprochen werden. Dabei waren nicht einmal nur die finanziellen Mittel entscheidend. Oft fehlte bloß das Visum, und die Reise endete vor der europäischen Grenze. Darüber hinaus wurden Vorschläge besprochen, “Quoten” einzuführen und jedem Einzelnen beziehungsweise jeder Gruppe bei der Realisierung eines Treffens, das den Anspruch eines Interkontinentalen erfüllt, Mitverantwortung zu übertragen.
Damit ist der Bogen zurückgeschlagen zu einem erklärten Ziel des Treffens, nämlich ein Netz alternativer Kommunikation und spezifischer Formen von Kampf und Widerstand zu schaffen. Immer noch ist allerdings weitgehend unklar, wer sich denn alles mit welchen Gedanken und “Kämpfen” auf “zapatistische Ideen” bezieht. Begriffe wie Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Nation und so weiter, werden meist unhinterfragt
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… die Alternative heißt: “The same procedure as every year?” bis zum Abwinken…

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übernommen und als Interpretationsraster für die unterschiedlichsten Situationen verwendet. Wichtig wäre an dieser Stelle, mögliche Projektionsfelder wie Basisdemokratie in den indigenen Gemeinden, den Bezug zur Natur, Begriffe wie Würde oder Macht (im zapatistischen Sinne) in ihrer Anziehungskraft auf uns zu reflektieren und für die hiesige Situation nutzbar zu machen. Hier zeigt sich aber auch, daß es nicht darum gehen kann, eine einheitliche politisch-ideologische Linie zu entwickeln.
In den Diskussionen der Frauen zu einem internationalistischen autonomen feministischen Netz kristallisierte sich heraus, daß es nicht darum gehen kann, sich für ein solches Treffen in neue, global-abstrakte Themen einzuarbeiten, da dies eine enorme personelle und zeitliche Überforderung darstellt (schließlich gibt es für die meisten vor Ort doch wichtigere Dinge…). Hierfür waren fehlende Referate bezeichnend. Vernetzung, so die Erfahrung von TeilnehmerInnen, hatte Sinn und wurde konkret in spezifischen Arbeitsgruppen wie zu den Themen Ökologie, Kaffee oder Hausbesetzung. Das allgemeine Netz gegen Neoliberalismus bleibt jedoch nebulös.
Warum sind diese Treffen trotzdem noch interessant? Ganz klar: Sie schaffen Räume für persönliche Kontakte, sie ermöglichen, für ein paar Tage in ganz verschiedene politische Praxen, Verständnisse und Orientierungen hineinzuschauen und eventuell Anstöße zu bekommen. Das reicht zwar nicht, ist aber eine Reise wert.
Die politische Bedeutung wird sich auf den regionalen Nachbereitungstreffen auch darin zeigen, inwieweit eine lokale Vernetzung und Diskussion stattgefunden hat und weiter voranschreitet. Im vergangenen Jahr haben sich unter dem Stichwort “gegen das internationale Neoliberal” doch vor allem Leute vernetzt, für die “Chiapas” immer wieder ein Leitmotiv ist. Grundsätzlich scheint die “große Bewegung” nicht wesentlich von der Stelle gekommen zu sein.
Damit das nächste Treffen weniger von Organisation und mehr von Austausch und inhaltlichen Überlegungen getragen wird, sollte eine größere Denk- und Schaffenspause eingelegt werden!

Die internationalistische Gruppe “Penumbra” ist Mitglied im Dritte-Welt-Haus Frankfurt/M.

Die Macht des Milchmanns und die Ohnmacht des Dinosauriers

Mehrmals hatten ihn die me­xikanischen Zeitungen in den letzten Jahren und Monaten schon für tot erklärt, aber er stand immer nach kurzer Zeit wieder auf, um seine Macht an der Spitze des Verbandes der Werktätigen von Mexiko, der CTM, zu behaupten. Die Macht um fast jeden Preis, das war die Leidenschaft dieses greisen Kämpfers, der vor nun fast 75 Jahren die Arbeit eines Milch­mannes aufgegeben hatte, um als Gewerkschaftsfunktionär zu die­nen und insgesamt 55 Jahre lang als Gewerkschaftsführer zu be­fehlen.
Die revolutionäre mexikani­sche Verfassung von 1917 hatte den Staat zum Schiedsrichter in allen Streitigkeiten zwischen Kapital und Arbeit gemacht, und in der Folgezeit verstanden es die mexikanischen Präsidenten als eine ihrer vornehmen Aufga­ben, die zunächst noch schwa­chen Gewerkschaften nach Kräften zu fördern und aus ihnen ein Instrument nationaler Politik zu machen. Der Sector Obrero (Arbeitersektor), in dem die 1936 gegründete CTM seit ihrer Gründung die wichtigste Rolle spielte, wurde parallel dazu eine der wichtigen vier Säulen der of­fiziellen Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario Institu­cional). Das bedeutete für die Führungsschicht der CTM, daß sie mit Erfolg Anspruch auf im­mer mehr Ämter in Parlamenten, bundesstaatlichen und städti­schen Verwaltungen erheben konnte.
Fidel Velázquez, der 1940 zum ersten Mal für vier Jahre und dann seit 1946 bis heute den Vorsitz in der CTM übernom­men hatte, hat dieses System ei­ner systematischen Korruption des Gewerkschaftswesens zu­gunsten “seiner” Regierungspar­tei und des jeweiligen Staatsprä­sidenten mit Inbrunst verteidigt und aus den Gewerkschaften Kontrollinstrumente des Regi­mes zur Disziplinierung der Ar­beiterinnen und Arbeiter und zur Kanalisierung ihrer Wähler­stimmen gemacht.
Abweichung wurde nicht ge­duldet: “Wer abweicht, beleidigt die organisierte Arbeiterbewe­gung.” Oder sein berühmtester Spruch: “Wer sich bewegt, kommt nicht mit aufs Foto.” Und die Fotos mit ihm und seinen Getreuen an der Seite des jewei­ligen Staatspräsidenten waren ihm heilig.
“Wir sind mit der Gewalt der Waffen an die Macht gekom­men, da werden sie uns doch nicht mit Stimmzetteln vertrei­ben!” So der Zynismus, mit dem demokratische Wahlen von ihm betrachtet wurden. So nahm er die Wahlen zwar nicht ernst, hielt sie aber doch für so wichtig, daß er alles in seiner Macht Ste­hende tat, um die sechs Millio­nen Mitglieder seiner Organisa­tion für die PRI an die Wahlurne zu treiben und so die Notwen­digkeit von Wahlfälschungen, die er im Zweifelsfall für legitim hielt, zu vermindern. Noch auf dem Sterbebett fragte er seinen Arzt, ob der auch bei den bevor­stehenden Wahlen am 6. Juli wählen werde.
Fidel Velázquez war es, der seit 1946 alle sechs Jahre in der Öffentlichkeit verkünden durfte, wen der jeweilige Präsident am Ende seiner Amtszeit zu seinem Nachfolger ausersehen hatte, und die Kursänderungen, die diese Präsidenten verfolgten, wurden dann von Velázquez auch durch­gesetzt, wenn sie bedeuteten, daß die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Füßen getreten wurden. Wo sich Opposition ge­gen die Staatsmacht rührte, war Velázquez in seiner Verfol­gungswut meist sogar noch hef­tiger als die Staatspräsidenten selbst. In den Zeiten des Kalten Krieges wurde er zu einem glü­henden Antikommunisten, der alle des Kommunismus Ver­dächtigen denunzierte, verfolgte und aus der Gewerkschaft hin­auswarf. Als sich Ende der fünf­ziger Jahre Tendenzen einer au­thentischen Gewerkschaftsver­tretung rührten, forderte er die blutige Repression der “Subversion”. 1968 war er der erste, der gegenüber den rebellie­renden Studenten eine harte Hand forderte. Das Ergebnis der harten Hand waren Hunderte to­ter Studenten. Und den ur­sprünglich aus der PRI stam­menden oppositionellen Prä­sidentschaftskandidaten Cuauh­témoc Cárdenas beschimpfte er 1988 als “Verräter”, um dann den Übergang des Präsidenten Salinas zu einer konsequent neo­liberalen Politik nach zahmen Protesten zu akzeptieren und als Erfolg zu feiern. Und natürlich forderte er nach dem Aufstand der Zapatisten in Chiapas 1994 sofort, mit ihnen auf gewaltsame Weise Schluß zu machen.
Fidel Velázquez war mit den Jahren eine Institution geworden, ein Dinosaurier, der die Zeichen der Zeit nicht mehr verstand, gleichwohl aber wie ein Koloß allen notwendigen Veränderun­gen und jeder demokratischen Neuerung im Wege stand. Jetzt erst – ohne ihn – hätten die mexi­kanische Gewerkschaftsbewe­gung und die PRI noch einmal eine Chance, sich so zu verän­dern, wie sie das schon vor Jahr­zehnten hätten tun müssen, um der Zeit gewachsen zu sein. Die Ergebnisse der Wahlen im Juli werden zeigen, ob es dafür nicht schon zu spät ist und die PRI mit dem Beginn des neuen Jahrhun­derts die Macht doch abtreten muß.

Der Traum von Land und Freiheit

Es war wohl auch die Ähnlichkeit zu den eigenen Tugenden, die Mexiko Ende des vergangenen Jahrhunderts so attraktiv für Deutsche gemacht hatte: Von 1877 bis 1911 herrschte der Diktator Porfirio Díaz unter dem Motto “Ordnung und Fortschritt”. In seiner Amtszeit begann der Aufstieg deutscher Einwanderer zu den mächtigsten Kaffeeplantagenbesitzern in Chiapas. Ordnung und Fortschritt diente als Rechtfertigung für die Enteignung indianischer Gemeinden und die Vertreibung von Kleinbauern von den fruchtbarsten Böden im südlichsten Bundesstaat Mexikos. Ordnung und Fortschritt bedeutete Reichtum für einige wenige und Armut und Ausbeutung für die Mehrheit der Bevölkerung. Die Revolution zwischen 1910 und 1920 führte in Mexiko zu einschneidenden Veränderungen, doch in Chiapas blieb alles beim alten: Isolierte Aufstände konnten die Macht der Oligarchie nicht erschüttern.

Ordnung und Fortschritt

Was Ordnung und Fortschritt auf den Fincas der deutschen Kaffeepflanzer für die indianischen SaisonarbeiterInnen hieß, schilderte schon B. Traven in seiner “Rebellion der Gehenkten”: “Nein, ich will nicht in den Soconusco gehen. Dort sind die Deutschen, sie sind die Herren der Kaffeeplantagen. Sie sind barbarischer als die Bestien des Urwalds und behandeln dich wie einen Hund.”
Wegen der miserablen Arbeitsbedingungen hatten selbst professionelle Anwerber große Schwierigkeiten, ausreichend Arbeitskräfte für die Kaffeernte zu finden: Nach monatelanger, härtester Arbeit auf den Kaffeefeldern kehrten die ArbeiterInnen ohne Geld, zum Teil sogar mit Schulden in ihre Dörfer im Hochland zurück. Ihren kargen Lohn hatten die ArbeiterInnen in Wertmarken ausbezahlt bekommen, die sie nur in Läden einlösen konnten, die dem Finquero gehörten. Selbstverständlich waren die Preise in diesen Tiendas de Raya überhöht, so daß die ArbeiterInnen anschreiben lassen mußten. Und somit waren sie verpflichtet, ihre Schulden im nächsten Jahr abzuarbeiten. Obwohl seit der Revolution verboten, hielt sich das System der Tiendas de Raya bis lange nach dem 2. Weltkrieg. Und auch sonst herrschten auf den Kaffeeplantagen eigene Gesetze, die die Finqueros willkürlich bestimmen konnten. Wer nicht parierte, kam ins Finca-eigene Gefängnis.
Seit Jahrzehnten sind die deutschen Kaffeebarone enge Verbündete der Staatspartei PRI. Die Regierung stellt Militär und Polizei, um zusammen mit den Guardias Blancas, den privaten Todesschwadronen der Großgrundbesitzer und Viehzüchter, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn ihnen, wie in den vergangenen Jahren, die Kontrolle einmal aus den Händen zu gleiten droht, kennt die Repression keine Grenzen mehr. Nach Schätzungen des katholischen Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas wurden allein 1994 in Chiapas, außerhalb des Aufstandsgebietes der EZLN, 400 Bauern und Bäuerinnen ermordet.
1994 war ein schweres Jahr für die deutschen Kaffeepflanzer in Chiapas. Nachdem die EZLN am 1. Januar 1994 in der Selva Lacandona und im Hochland ihren Aufstand für “Land und Freiheit” begonnen hatte, wurde es auch im Soconusco und in der Frailesca immer unruhiger.
Ein Zentrum des Widerstands war das Dorf Nueva Palestina. Die DorfbewohnerInnen – Kleinbauern und SaisonarbeiterInnen auf den nahegelegenen Kaffeefincas – versuchten bereits seit Jahren, zusätzliches Land zu erkämpfen. Mit gutem Recht, schließlich war der Großgrundbesitz in der Nähe von Nueva Palestina illegal. Als Höchstgrenze für individuellen Landbesitz ist im mexikanischen Agrargesetz nämlich 300 Hektar festgelegt. Doch allein die Kaffeefinca Liquidambar, in unmittelbarer Nähe des Dorfes gelegen, hat mehrere Tausend Hektar. Eigentümerin: Die Familie Schimpf-Hudler, die insgesamt über 10.000 Hektar Land besitzt und zu den größten Grundbesitzern in Chiapas überhaupt zählt. Lediglich pro Forma ist ihr Land allerdings auf Familienmitglieder und Strohmänner aufgeteilt, allein für die Finca Liquidambar haben 13 Personen Besitztitel.
Der Aufstieg des deutschen Einwanderers Hermann Schimpf wird von Boris Kanzleiter und Dirk Pesara detailreich nacherzählt. Bis zu seinem Tod 1976 war Hermann Schimpf nicht nur zu einem der reichsten Kaffeepflanzer in Chiapas geworden. Mit den Gewinnen aus dem Kaffeeverkauf hatte er auch in Deutschland ein Millionenvermögen angehäuft und mehrere Unternehmen erworben. Hermann Schimpf betrieb sein Geschäft mit deutscher Gründlichkeit und ließ es sich nicht nehmen, die Arbeiter persönlich mit dem Stock anzutreiben. Auch sein Sohn German Schimpf, der die Geschäfte auf Liquidambar seit den sechziger Jahren führte, bewahrte sich die rechte Einstellung: Im Verwaltungsgebäude von Liquidambar war noch bis 1994 eine NS-Ehrenurkunde mit Hakenkreuz ausgestellt, die er für seinen Dienst in der Wehrmacht erhalten hatte.
Für die BewohnerInnen von Nueva Palestina haben die Schimpf-Hudlers nur Verachtung übrig. Vom Reichtum, der in Liquidambar produziert wurde, bekommen sie nichts zu sehen. Ihr größter Wunsch: Die Ausbeutung soll ein Ende haben. Sie organisierten sich in der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV). Nach langer Vorbereitung war es am 4. August 1994 soweit: 500 Mitglieder der UCPFV besetzten Liquidambar. Wenig später folgte Prusia, die nur wenige Kilometer entfernt gelegene Finca der ebenfalls deutschstämmigen Kaffeepflanzerfamilie von Knoop, und mehrere weitere Fincas in der Frailesca und im Soconusco.
Der kurze Winter der Anarchie begann. Eigenständig organisierten die BesetzerInnen die Arbeit auf den Fincas und gründeten eine Kooperative. Hatten sie im Vorjahr auf Liquidambar noch einen Tageslohn von rund 4,- DM erhalten, so bezahlten sie sich diesmal etwa 15,- DM. Aber vor allem: Der Finca-eigene Sicherheitsdienst war verschwunden, die Arbeit war kollektiv organisiert, für die Familie und nicht mehr für den Finquero wurde gearbeitet.

Ein Winter der Anarchie

Die Finqueros schäumten vor Wut, schwörten Rache und organisierten den Gegenschlag. Doch 1994 befanden sie sich in der Defensive. Erst mit dem Amtsantritt des neugewählten Präsidenten Ernesto Zedillo und des Gouverneurs von Chiapas Robledo Rincón (der nur durch massiven Wahlbetrug an die Macht kam) im Dezember 1994 begann sich das Blatt erneut zu wenden.
Mexiko zum Jahreswechsel 1994/95: Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, nach dem “Tequila-Crash” muß die heimische Währung durch umfangreiche Auslandskredite gestützt werden, viele Unternehmen gehen Bankrott. Der neue Präsident will Stärke zeigen und holt zum militärischen Gegenschlag gegen die ZapatistInnen und andere oppositionelle Bewegungen aus.
Auch die Kaffeeoligarchie erholt sich von ihrem Schock: Todesschwadronen ermorden Aktivisten der UCPFV und der Oppositionspartei PRD. Ende April 1995 werden Liquidambar, Prusia und andere Kaffeefincas durch ein Großaufgebot von Militär, Polizei und Guardias Blancas geräumt, im Mai werden Haftbefehle gegen 170 Mitglieder der UCPFV ausgestellt. Immer wieder kommt es zu Übergriffen der Guardias Blancas gegen die BewohnerInnen von Nueva Palestina und anderer Gemeinden der Umgebung, Ende 1995 wird der UCPFV-Aktivist Reyes Penagos Martínez von der Polizei gefoltert und ermordet. Seit Oktober 1996 steht Nueva Palestina unter ständiger Militärkontrolle, doch die Gegend um Liquidambar und Prusia kommt nicht mehr zur Ruhe. Die Opposition gegen die deutschen Kaffeebarone hält an.
Die Autoren haben mit “Die Rebellion der Habenichtse” ein spannendes Buch über den Kampf gegen die deutschen Kaffeebarone in Chiapas geschrieben. Ausführlich kommen sowohl die Menschen aus Nueva Palestina als auch die deutschen Kaffeepflanzer zu Wort. Gerade diese Gespräche sind eine gute Ergänzung zu den Informationen über Geschichte und Politik in Chiapas, den Aufstand der EZLN oder die Mechanismen des internationalen Kaffeemarktes. Wohl niemand könnte die Großgrundbesitzer besser demaskieren als sie selbst, wenn man sie zu Wort kommen läßt. Folke von Knoop beispielsweise analysierte die Besetzung seiner Finca Prusia folgendermaßen: “Die Besetzungen haben auch mit Greenpeace und Sendero Luminoso in Peru zu tun, die alle vorn das Gute zeigen, aber im Hintergrund ist alles gesteuert.”

B. Kanzleiter/D. Pesara: Die Rebellion der Habenichtse. Der Kampf um Land und Freiheit in Chiapas. Edition ID-Archiv, Berlin 1997, 144 Seiten, 16,- DM.

“Das Land gehört uns!”

Nueva Palestina ist ein kleines Dorf in Chiapas, dem südlichsten der 32 Bundessstaaten Mexikos. Ein Rinnsal schlängelt sich durch den Ort und sorgt an seinem Ufer für spärliches Grün durch Sträucher und Bäume. Hühner gakkern umher und im Schatten dösen abgemagerte Hunde.(…)
Die Familien in Nueva Palestina sind arm. Das Dorf unterscheidet sich kaum von Tausenden anderen in Mexiko. Nichts deutet auf den ersten Blick darauf hin, daß in Nueva Palestina Krieg geführt wird. Eigentlich muß es heißen, daß gegen Nueva Palestina Krieg geführt wird. Das Dorf liegt nur wenige Kilometer von den Kaffeeplantagen Liquidambar und Prusia entfernt, Eigentum der Familien Schimpf-Hudler und von Knoop aus dem fernen Deutschland. Der Krieg gegen Nueva Palestina sorgt für keine großen Schlagzeilen. Er wird leise und verdeckt geführt, ist aber umso brutaler und zermürbender.
Seitdem sich die BewohnerInnen Nueva Palestinas in der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) zusammengeschlossen haben, um Land für die Erweiterung ihrer landwirtschaftlichen Kooperative, ihres Ejidos, zu erstreiten, lasten Angst und Unsicherheit auf ihnen. Fast täglich kommen bewaffnete Einheiten ins Dorf. Wenn die Jeeps aus dem Tal heraufdröhnen und am Horizont eine weit sichtbare Staubwolke aufwirbeln, wird es plötzlich still in der Siedlung. Meistens passiert die Kolonne Nueva Palestina ohne anzuhalten. Dann atmen die Menschen, die sich in ihren Häusern versteckt halten, erleichtert auf. Manchmal jedoch kommen die Fahrzeuge mitten in der Ortschaft zum Stehen und vermummte Gestalten mit Maschinenpistolen in den Händen springen von den Ladeflächen der Jeeps. Dann schließen die Menschen in Nueva Palestina vor Furcht die Augen: Heute treten sie vielleicht meine Haustür ein und rauben alles, was ich besitze. Heute verschleppen sie vielleicht mich und verbrennen mir die Augenlider. Heute tauchen sie vielleicht meinen Kopf in Dreckwasser und vergewaltigen mich, wie vor kurzem Julieta Flores. Oder ich kehre als verstümmelter Leichnam zurück, wie Reyes Penagos Martínez.
Nur kurz währte die Zeit, als die Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben ihre Herzen mit Optimismus erfüllte.
Begonnen hatte alles am 4. August 1994.(…)

Liquidambar wird besetzt

In den Morgenstunden des 4. August 1994 erobern 500 Mitglieder der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) die deutsche Kaffeeplantage Liquidambar.(…)
Ihre Gesichter mit Masken und Tüchern verhüllt, in den Händen Macheten, Knüppel und hier und da alte Jagdflinten, sperren sie die Zufahrtswege zur Finca ab. Für einen Moment vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart. Ein Hauch der Mexikanischen Revolution breitet sich über der Siedlung aus.(…)
Immer mehr Menschen strömen dem Herrenhaus zu: “Hoch lebe Pancho Villa!”, “Es lebe die EZLN!”, “Das Land gehört uns!”, “Nieder mit den Reichen!”(…)
Am 15. September besetzen sie die Kaffeeplantage Prusia (Preußen), im Besitz der von Knoops, einer weiteren deutschen Großgundbesitzerfamilie im Landkreis und am 25. Oktober die Fincas Sayula, Las Chicharras sowie einhundert Hektar Staatsland. Dadurch haben sie nicht nur die größten Latifundien des Landkreises in ihre Gewalt gebracht, sondern kontrollieren durch zahlreiche Straßensperren auch 90 Prozent des Territoriums von Angel Albino Corzo.(…)

Preußen am Pazifik

Hermann Schimpf wurde am 21.4.1890 in Osterode / Harz geboren. 1923 gründete der Niedersachse mit dem 35-jährigen in Guatemala ansässigen US-Bürger Max C. J. Mohr die Kaffeegesellschaft “Mohr y Schimpf”. Damit war der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die seiner Familie mehr als nur ein gutes Auskommen sichern sollte.(…)
1977 war die Finca in 15 Einheiten unterteilt. Für diese besaßen 13 Personen Besitztitel, darunter Hermann Schimpf, sein Sohn German, dessen Ehefrau Gertrude und deren Töchter Margarita und Marianne, zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig. Auf niemanden entfielen mehr als 300 Hektar Land, somit war der Agrargesetzgebung genüge getan. Auf den Urkunden für zwei weitere vorgebliche Eigentümer, Justo Gutiérrez Bonifaz und Vidal Bermudez Bermudez, ist als Wohnanschrift San Francisco # 1517, Colonia del Valle, Mexico D. F. angegeben, interessanterweise die Hauptstadtresidenz der Familie Schimpf.(…)
Nach Hermann Schimpfs Tod übernahm sein Sohn German das Ruder auf der Kaffeeplantage. German Schimpf wurde am 13. April 1918 auf Liquidambar geboren. So besagt es auch eine Urkunde, die die Wand am Zugang zum Verwaltungsgebäude ziert. Allerdings handelt es sich hier nicht um die Geburts, sondern um eine Ehren-Urkunde der Deutschen Wehrmacht vom 23. Oktober 1938.(…)
Am 2. Mai 1987 heiratete German Schimpfs 26-jährige Tochter den Sohn des Hamburger Kaffee-Importeurs Karl Hudler. In der Kirche des Heiligen Geistes in Mexiko-Stadt gaben sich Marianne Schimpf und Laurenz Hudler das Ja-Wort.(…)
Nach der Hochzeit setzte sich der Hamburger Yuppie nicht nur ins gemachte Nest in Chiapas, sondern begann sich auch aktiv an der Lokalpolitik zu beteiligen. Die Verbesserung der Infrastruktur des Landkreises lag dem Neu-Mexikaner besonders am Herzen. Zur Modernisierung des zu seiner Finca führenden Verkehrsweges gründete er die Stiftung “Patronato Pro-Pavimentación”, der er 1994 als Präsident selbst vorstand.(…)
Der PRD-Kreistagsabgeordnete und UCPFV-Gründer Roberto Hernández Paniagua forderte am 20. Februar 1994 öffentlich Aufklärung darüber, warum bis dato mit Steuergeldern nur die Zufahrt zur Finca Montegrande, im Besitz von Salím Moisés befindlich und direkt neben Liquidambar gelegen, asphaltiert worden sei. Es waren diese Sticheleien, die Roberto Hernández Paniagua das Leben kosten sollten. Sechs Monate später wurde der PRD-Politiker von Pistoleros erschossen.(…)
Mit der Schaffung eines Naturschutzgebietes in unmittelbarer Nachbarschaft der Finca Liquidambar bot sich Laurenz Schimpf-Hudler Anfang der 90er Jahre ein anderes Betätigungsfeld. Er bekleidete als Sprecher der für den Erhalt der Flora und Fauna des Naturschutzgebietes “Reserva de la Biósfera El Triunfo” zuständigen Behörde PACONAAC, A.C. einen nicht einflußlosen Posten. Doch was die Herzen ökologisch gesinnter Menschen höher schlagen läßt, kam für die Kleinbauern der Gemeinde El Pajal einem Alptraum gleich. Von einem Tag auf den anderen wurden 90 Prozent ihrer 967 Hektar umfassenden Agrarkooperative zum Naturschutzgebiet deklariert.(…)
In der Besetzung der Plantage Prusia im Herbst 1994 sahen die BewohnerInnen El Pajals die einzige Möglichkeit, ihre Lebensverhältnisse zu ändern.(…)
Die vertriebenen Plantagen-Herren wähnten sich nach der geglückten Besetzung ihrer Ländereien mißverstanden und als Opfer einer ungerechtfertigten Kampagne. “Ich fühle mich schon wie ein Türke in Deutschland”, beschwerte sich Laurenz Schimpf-Hudler Ende ’94.(…)
zum ersten Mal in ihrem Leben arbeiteten die PflückerInnen auf Liquidambar unter Selbstverwaltung. 60 Pesos pro Tag verdienten sie jetzt, das sind umgerechnet zehn US-Dollar. Auch damit lassen sich keine Reichtümer anhäufen, aber zu einem menschenwürdigen Leben reicht es. Und welch ein Unterschied zu früher. Dieses von den ArbeiterInnen ausgesprochene “früher” klingt, als läge es hundert Jahre zurück. Dabei waren noch nicht einmal sechs Monate vergangen.(…)

Das Imperium schlägt zurück

Jorge Constantino Kanter, Chef der Confederación Nacional de Propietarios Rurales (CNPR), und Abkömmling deutscher Kaffeepflanzer, läßt Ende Januar 1995 auf einer Pressekonferenz keine Zweifel daran, daß die Großgrundbesitzer mit allen Mitteln die besetzten Plantagen und Grundstücke zurückerobern wollen. Wie das Vorgehen gegen die Landbesetzer aussehen soll, kündigt er auch gleich an: “Unsere Aktionen werden sich nicht gegen die Campesinos und Ejidatarios richten, sondern gegen die Führer der Gewerkschaften.”(…)
Chiapas, 9. Februar 1995: Noch sind die Kaffeeplantagen im Landkreis Angel Albino Corzo von den Villistas besetzt. Doch jetzt marschiert das Militär gegen die Stellungen der EZLN im Lakandonischen Urwald.(…)
Während in ganz Mexiko Tausende gegen die Kriegspolitik Ernesto Zedillos protestieren, wird woanders gefeiert. Laurenz Schimpf-Hudler und Ehefrau Marianne, die Familie von Knoop und all die anderen Kaffeebarone spüren wieder Rückenwind.(…)
Guillermo Escudero, Präsident der Unión Nacional de Productores de Café (UNPC) und enger Geschäftsfreund der Familie Schimpf-Hudler, verlangt am 3. März 1995, daß die “besetzten zweitausend Ländereien außerhalb des zapatistischen Einflußbereichs” jetzt endlich geräumt werden müßten. Auch der Chef der Unión Estatal de Productores de Café (UEPC), Carlos Bracamontes Gris, ein Verwandter der von Knoops, fordert am 12. März in der Presse die Räumung der besetzten 30.000 Hektar Land in Angel Albino Corzo: “Es muß eine schnelle Lösung für das Problem gefunden werden, weil die Einnahme von Devisen notwendig ist”, sagt er.(…)
Am 28. April um sechs Uhr morgens rücken Armee, Judiciales und Seguridad Pública aus dem Tal in Richtung Liquidambar vor. In Nueva Palestina räumen sie die von den Villistas errichtete Straßensperre. Mit Jeeps und LKWs dröhnen sie die Straße zur Plantage empor.(…)
Den 300 BesetzerInnen der UCPFV bleibt nichts anderes, als in die umliegenden Berge zu fliehen.(…)
Am 17. Mai 1995 erläßt der Richter Alejandro Cardenas López in der Landeshauptstadt Tuxtla Haftbefehl gegen 170 vermeintliche Mitglieder der UCPFV. Die Anklage, Strafsache Nr. 207/95, lautet auf “bewaffneten Raubüberfall”.(…)
Die Villistas versuchen nach der Räumung mit Protestkundgebungen auf ihre dramatische Situation aufmerksam zu machen. Zwei Protestmärsche der UCPFV im Sommer 1995 nach Tuxtla enden im Kugelhagel der Polizei. Wieder werden Menschen aus Nueva Palestina verhaftet, wieder fließt Blut.(…)
Am 17. September 1995 wird der PRD-Bürgermeisterkandidat Antelmo Roblero Roblero in Jaltenango erschossen. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Nur wenige Stunden später wird der PRI-Kandidat José Rito Solis, ein langjähriger Freund der Schimpf-Hudlers, der von der Basis der PRD direkt für den Mord an Antelmo Roblero Roblero verantwortlich gemacht wird, entführt. Am 18. Sep-tember wird der PRI-Politiker Ausel Sánchez Pérez erschossen. Dieser hatte gegenüber einer Zeugin seine Beteiligung an der Ermordung Roblero Robleros gestanden und Laurenz Hudler und Folke von Knoop als Mittäter genannt. Die Welle der Gewalt, die den Landkreis erfaßt hat, fordert Opfer nach Opfer.(…)
Am 16. November 1996 nehmen Polizei-Einheiten nahe der guatemaltekischen Grenze zwei Campesinos aus der Umgebung Jaltenangos fest. Laut Angaben der Staatsanwaltschaft sollen sie drei Boden-Luft-Raketen samt Abschußgerät mitgeführt haben und Mitglieder der UCPFV sein.(…)

Dirk Pesara/Boris Kanzleiter: Die Rebellion der Habenichtse. Edition ID-Archiv 1997. 144 Seiten, 16,- DM (ca. 8 Euro).

Interkontinental gegen neoliberal?

Und los ging’s. Seit letztem Dezember gab es mehrere Vor­bereitungstreffen. Es wurde eine weltweite Befragung (consulta) erarbeitet, um möglichst viele Meinungen hinsichtlich des end­gültigen Verlaufs des Treffens zu hören (siehe LN 274). Inzwi­schen arbeiten sechs internatio­nale Kommissionen zur Vorbe­reitung und des 2. Encu­entro In­tercontinental, das vom 25. Juli bis 3. Au­gust in Spanien stattfin­det. Es wird damit gerech­net, daß etwa 3.000 Menschen daran teilnehmen werden.
Der organisatorische Ablauf erinnert stark an das letzjährige Treffen in Chiapas. Die Arbeits­gruppen sollen jedoch nicht wie im vergangenen Sommer von den OrganisatorInnen vorgege­ben werden. Vielmehr sind die TeilnehmerInnen selbst gefor­dert, das Treffen inhaltlich vor­zubereiten und auszugestalten. Dazu kann es in den AGs ein­zelne vorbereitete Beiträge ge­ben.
Deshalb sind folgende Ter­mine in der Vorbe­reitung wich­tig: Bis 31. Mai: Anmeldung der Ar­beitsgruppen bei der Kommis­sion für Inhalte (Kontakt siehe unten). 15. bis 30. Juni: Anmel­dung der TeilnehmerInnen Zur Anmeldung der Teilneh­merInnen wird es nicht, wie im vergangenen Jahr, landesweite Kommissionen geben, sondern regio­nale Knoten­punkte. Dies wird beim nächsten Bundestref­fen in Hannover vom 23. bis 25. Mai genauer besprochen (Kon­takt: Jürgen Otte, Tel. 0511/455288 oder 455804).
Nicht zuletzt der dezentrale Charakter des Tref­fens erfordert einige finanzielle Mittel, denn die Reisen während des Treffens sollen aus dem Ge­samtetat fi­nanziert werden. Kalkuliert wird bislang mit einem Etat von etwa 800.000 DM, in dem 20 Prozent für Reisekosten von Teilnehme­rInnen aus peripheren Ländern verwandt werden. Von 15 Grup­pen in Deutschland wurde zuge­sagt, über die Organisierung von Feten, Spendenkampagnen oder An­träge bei Stiftungen etwa 35.000 DM beizusteu­ern. Den­noch wird ein Teilnahmebeitrag erhoben werden müssen.

Politische Diskussion bisher vernachlässigt

Bislang we­nig diskutiert wurde die poli­tische Bedeutung des Tref­fens. Dazu wollen wir hier le­diglich einige Probleme andeu­ten – nicht um das Treffen und die enorme Vorbereitungsarbeit zu denunzieren, sondern um eine Diskussion über den politischen Stellenwert zu entfachen:
Eine Gefahr der großen Vorbereitungs-dy­namik ist zweifellos, daß der Kern der Ak­tivistInnen we­gen des Zeitdrucks oder aus anderen Gründen den Vorbereitungsprozeß nicht mehr transparent ge­staltet, was im Endeffekt zu Lasten einer breiten Beteiligung gehen kann. Dies wird an der bereits erwähnten Befragung deutlich (abgedruckt in der Flugschrift Land und Frei­heit vom 1. März 1997).
Zum Teil hatten die Fragen das Ni­veau der Preis­lage wie “Das Treffen soll Räume zum Aus­tausch von Ideen, Praktiken und Wünschen öffnen” oder “Wir wollen daß Männer und Frauen gmeinsam voranschreiten, wobei die wirkliche Beteiligung der Frau gefördert werden soll.” Es war jeweils mit ja oder nein zu antworten. Viele beantworteten die Fragen gar nicht, denn sie wirkten eher wie eine Rechtferti­gung, zwar alle Interessierten ganz “zapatistisch” am Vorberei­tungsprozeß zu beteili­gen, sich aber im Grunde dann doch die wesentli­chen Entscheidungen vorzube­halten. Einige derer, die mit der Befragung angesprochen und motiviert werden sollten, spra­chen verärgert von “Verarschung”.
Viele Entscheidungen, die die Ausrichtung des Treffens prägen, werden vor Ort getroffen – und müssen in vielen Fällen auch dort getroffen wer­den.
Die Frage ist, wie transparent das geschieht und ob nicht doch manchmal “organisatorische Sachzwänge” vor­ge­schoben werden. So wurde bei­spielsweise von vielen an der internationalen Be­fragung kriti­siert, daß die Durchführung des Tref­fens an fünf veschiedenen Orten schon festgelegt sei. Warum nicht an einem Ort und die großen Fahrtzeiten ander­weitig nutzen? Warum nicht mit den hohen Fahrtkosten lieber Leute aus peripheren Ländern einladen? Diese Fragen wurden gar nicht gestellt, sondern waren, in einigen Fällen aus “orga­ni­sa­to­rischen Gründen”, schon ent­schie­den.

Ein diffuses “Wir”

Ein weiterer Aspekt ist der permanente Re­kurs auf ein ver­einheitlichendes Wir. Wir, die sich tref­fen; wir, die den Wider­stand gegen die neoli­berale Bar­barei vorantreiben; wir, die eine neue Welt schaffen wollen. Teilweise entsteht der Ein­druck, daß hier eine sehr problemati­sche Identi­tätsbildung betrieben wird. Nennen wir sie mal et­was über­spitzt die “Identität der Wi­derständigen”. Kon­struiert wird sie mit Sätzen wie diesem (aus einem Aufruf zum 2. Interkonti­nentalen Treffen): “Wir alle sind einer intensiven Kolonisierung unse­rer Aktivitäten und Bezie­hungen durch ein- und das­selbe System ausgesetzt… Überall sind wir viele, die wir unzufrieden sind.”Die genannten sechs interna­tionalen Kommissionen ha­ben jeweils in der Bundesrepublik Ansprechpart­ner.
Dieses Wir läuft Gefahr, in Schwarz-Weiß-Kate­gorien zu denken, Grautöne zu überse­hen und andere auszu­schließen. Es führt auch dazu, politi­sche Dis­kussionen innerhalb der politi­schen Zu­sammenhänge, die sich bei der Organisierung der Tref­fen gegen Neoliberalismus ein­bringen, auszu­blenden. Kom­plementär zu dieser “Wir”-Kon­struktion sind die unterschiedli­chen Verständnisse dessen, was nun unter “Neoliberalismus” ver­standen wird. Hier besteht unbe­dingter Diskussi­onsbedarf hin­sichtlich der Interpretation heuti­ger Verhältnisse und der Mög­lichkeiten für eine radi­kale emanzipatorische Poli­tik.

Der Zeitdruck verhindert inhaltliche Diskussion

Schließlich wird der andau­ernde Zeitdruck zum politischen Problem. Exemplarisch wird das deut­lich an der unzureichenden Auswertung der Tref­fen in Ber­lin und Chiapas 1996. Direkt nach Berlin wurden alle An­strengungen auf die Vorberei­tung des Treffens in Chiapas kon­zentriert. Es kam we­der zu einer umfassenden Auswertung des Berliner Treffens noch zu inhaltli­chen Diskussionen im Hinblick auf das zwei Mo­nate später in Chiapas stattfindende Meeting. Nach Chiapas war es ähn­lich. Beim zweiten bundes­weiten Auswertungstref­fen in Frankfurt kam ein kluger und lö­blicher Vorschlag aus Zürich für eine Vorbereitungssit­zung zum 2. Interkontinentalen Treffen. Seitdem fließt viel Kraft in die Vorberei­tung des Treffens. Was die Organisation angeht, so wurde einiges gelernt aus den Treffen in Berlin und Chiapas. Dennoch bleibt kein Raum für die entscheidende Frage, die gar nicht lähmend ver­standen wer­den soll: Was sollen eigentlich die ganzen Treffen? Steht das Thema Neoliberalismus im Mit­telpunkt? Warum nicht alle zwei Jahre ein Treffen? Welche Be­deutung soll/kann das immer wieder zitierte “Netz” haben? Wie können andere soziale und po­litische Spektren einbezogen wer­den? Geht es wirklich um “die” Marginalisierten oder darum, verschiedene existierende Kämpfe besser kennen­zulernen und an bestimmten Punkten zu­sam­menzuarbeiten?
Dies alles sind Fragen, die angesichts des enor­men Druckes bislang kaum gestellt wurden. Trotz­dem halten wir die Treffen für wichtig und werden auch daran teilnehmen. Allerdings warnen wir vor zu hohen Er­wartungen – und vor allem vor der Selbstüberschätzung der Or­ganisierenden. Erfahrungsaus­tausch und Vernetzungsprozesse sollten genauso vorangetrieben werden wie die Diskussionen mit anderen politischen Sprektren und untereinander. Jedoch: Die in Europa und an­derswo aktiven Gruppen, die sich an den Treffen gegen Neoliberalismus beteili­gen, sind nicht der wie auch im­mer geartete “Kern” das Wider­stands. Sie sind ein heterogener und relativ kleiner, wenn auch dynamischer Teil davon. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Liebe Barbara,

“mit jedem Menschen stirbt eine ganze Welt, seine Welt”. Dieses Zitat von Paul Westheim habe ich in einem Deiner vielen Artikel über Mexiko und über Menschen, die, wie Du, dieses Land lieb­gewonnen haben, gefunden. Er und noch viel mehr seine Übersetzerin und Frau, Marianne Frenk Westheim, weisen mir und den vielen, die Du an deiner Welt teilnehmen ließt, einen Weg durch dein vielseitiges Arbeiten und Leben. Über sie und Brigitte Alexander hast du in letzter Zeit nicht nur geschrieben, sondern kurz vor deinem Tod ein wunderschönes Radiofeature erabeitet, das dem­nächst beim SFB zu hören ist.
“Mexiko als Exil und Wahlheimat für Men­schen, die der individuellen Freiheit des künstleri­schen Schaffens verpflichtet sind und jede ideolo­gische Instrumentalisierung von Kunst ablehnen” und die deutschen ExilantInnen, die in Mexiko blieben und dort in der vielfältigen mexikanischen Kunst ein neues kreatives Betätigungsfeld gewon­nen haben, sind für Dich in den letzten Jahren im­mer wichtiger geworden. Nicht zufällig in einer Zeit, in der das Heine-Zitat “denk ich an Deutsch­land in der Nacht, so bin ich um den Schlaf ge­bracht” eine neue, traurige Bedeutung bekam, suchtest Du Menschen wie die 97 jahre alte ham­burger Jüdin Marianne Frenk Westheim mit mexi­kanischem Paß, die nicht an Nationalitäten glaubt und gerne mit Heine fragt: “Wozu brauchen wir eigentlich ein Vaterland?”.
Du fandest Gefallen daran, Grenzen zu über­schreiten und Dich zwischen Ländern, Disziplinen und Formen der Darstellung zu bewegen und zu vermitteln, und Dich damit zugleich immer wieder einzumischen. Du interessiertest Dich für die ver­schiedenen sozialen Bewegungen, die politischen Brüche und Kontinuitätslinien in Mexiko, für die Rebellion 1994 in Chiapas, den alltäglichen Kampf der Chilangos, der Bewohner der mexikanischen Hauptstadt, der in der Figur des Superbarrios eine Repräsentation fand, und selbstverständlich für die zapatistische Bewegung, die zwar zu den politi­schen Verlierern der mexikanischen Revolution gehört, doch bis heute das Imaginäre dieser Revo­lution wesentlich bestimmt. Mit Figuren wie Mar­cos, Superbarrio und Emiliano Zapata, mit Frauen der städtischen Bewegungen und den alten Zapati­sten befaßtest Du dich in Deinen unterschiedlichen wissenschaftlichen und journalistischen Veröffent­lichungen. Imagination, Mythen, Masken und Fi­guren aus Pappmaché faszinierten Dich wie die buntbemalten Dorfläden von Morelos oder das La­byrinth von Mexiko-Stadt. Doch es waren konkrete Menschen, an deren Problemen, Forderungen und Utopien Du teilhattest und mit denen Du Dich so­lidarisiertest. Ihre Welt hast Du immer wieder ent­stehen lassen in Radiosendungen, Artikeln, Aus­stellungen und Veranstaltungen.
Zugleich könntest Du, wie eine andere Berline­rin, Marlene Dietrich, von Dir gesagt haben: “Ich bin, Gott sei Dank, Berlinerin”. Deine Weltoffen­heit und Verbundenheit mit Mexiko wurzelte hier. Identitätskonflikte waren Dir fremd, anderes und andere vertraut. Diese Haltung prägte auch den Umgang mit der eigenen Stadt, in welcher Du me­xikanischen und anderen KünstlerInnen und Ver­treterInnen sozialer und politischer Bewegungen Begegnungen mit Deiner Stadt ermöglichtest. Un­terschiedliches sollte sich berühren können, ver­schiedene Blicke sich treffen, andere Perspektiven möglich werden. Die Zusammenarbeit mit Kunst­schaffenden, die Mitarbeit bei Ausstellungen der Arbeiten deutscher KünstlerInnen in Mexiko und mexikanischer KünstlerInnen in Berlin sowie die Begeisterung für die (Alltags)Kunst prägten wei­tere Deiner Arbeits- und Lebensbereiche. Begeg­nung suchstest Du nach dem 3. Oktober 1990 auch mit Schauspielerinnen, Musikerinnen, Tänzerinnen und anderen Künstlerinnen, “die aus einem Land kamen, das soeben von der Landkarte verschwun­den war”. Geprägt von der Vorstellung: “Wo im­mer in der Welt sich Frauen als Künstlerinnen mit der Gesellschaft auseinandersetzen, bewegen sie sich außerhalb und mittendrin” gestaltetest Du 1991 die erste Ausstellung von Künstlerinnen aus der ehemaligen DDR im ehemaligen Westberlin mit.
In diesem vielfältigen Leben und Arbeiten zwi­schen Mexiko und Berlin spielte seit fünf Jahren Deine Tochter Frieda die zentrale Rolle. Ihr La­chen und ihr Selbstbewußtsein zeugen von Deiner großen Liebe. Deine Familie und deine zahlreichen Freunde und Freundinnen in Berlin und Mexiko werden Ihr Deine Welt lebendig erhalten können. Dein Blick auf die Welt, der sich sowohl auf die warmen Farbtöne als auch auf die Grautöne rich­tete, der die Trauer, den Enthusiasmus und die Utopien von Menschen wahrnahm, ist in den bun­ten Ergebnissen Deiner Arbeiten präsent.
Barbara Beck, am 7. Juli 1949 geboren, ist am 12. März 1997 völlig unerwartet gestorben.

Monolog der Macht

Nach langem Hin und Her, nach kleinen Fortschritten und großen Enttäuschungen in den Verhandlungen hat die Hoff­nungslosigkeit einen neuen Hö­hepunkt erreicht. Seit Ende Au­gust 1996 hat die EZLN wegen anhaltender Feindseligkeiten und Wortbrüche der Regierung Ze­dillo den Verhandlungsprozeß unterbrochen, doch die Krise der letzten Wochen macht die ohne­hin schwierige Situation noch komplizierter.
Ihren Ausgang nahm die ak­tuelle Verhandlungskrise bereits am 29. November letzten Jahres, als die parlamentarische Ver­mittlungsgruppe COCOPA ihre endgültige Ausarbeitung der Ab­kommen von San Andrés über “Rechte und Kultur der indige­nen Völker” mit dem Hinweis an den Präsidenten Ernesto Zedillo weiterleitete, sie würde nur Zu­stimmung oder Ablehnung ak­zeptieren, aber keinerlei weitere Modifikation.

Nachträglicher Rückzieher des “besoffenen” Ministers

Das Abkommen war im Februar 1996 zwischen EZLN und Regierung vereinbart worden und beflügelte die Hoff­nung auf substantielle Reformen und eine friedliche Lösung des bewaffneten Konfliktes in Chia­pas. Und zunächst sah es auch tatsächlich so aus, als würde die Regierung Wort halten.
In Abwesenheit Präsident Ze­dillos, der auf Staatsvisite in Ländern Südostasiens weilte, versicherte Innenminister Emilio Chauyffet, der Entwurf sei für die Regierung akzeptabel, nur könne er ihn vor der Rückkehr des Präsidenten nicht offiziell unterzeichnen. Doch nach der Rückkehr des Staatsoberhauptes und nachdem dieser sich eine Frist “zur Durchsicht und Klä­rung” ausgebeten hatte, kam die brüske Absage. Chauyffet er­klärte – symptomatisch für die Regierungselite Mexikos – er habe den Entwurf nur deshalb positiv bewertet, weil er sich vorher mit einem alkoholischen Getränk, Chinchon, betrunken hätte. In den folgenden Wochen setzten Zedillo und die Hardliner in seiner Regierung sich mit ei­ner Juristenriege um Ignacio Burgoa Orihuela, dem Vorsit­zenden des Verbandes mexikani­scher Juristen, zusammen, um mit spitzfindigen, scheinbar un­wichtigen Bemerkungen am Ori­ginaltext der COCOPA dessen In­halte auszuhöhlen und damit die Verhandlungsergebnisse von San Andrés zu entstellen.
Freilich lehnten die Zapatistas Zedillos Gegenvorschlag Mitte Januar nach wenigen Tagen Be­denkzeit ab und erteilten der “arroganten kreolischen Haltung, die in der mexikanischen Macht­elite noch immer weiterlebt und der rassistischen Überzeugung anhängt, daß Indios sich nicht selbst regieren können” (so der Historiker und EZLN-Berater Antonio García de León in ei­nem Kommentar) eine glatte Ab­fuhr. Da nützte es der Regierung auch nichts, an den traditionell starken Nationalismus der mexi­kanischen Bevölkerung zu ap­pellieren, indem sie behauptete, die Anerkennung indigener Au­tonomie “führe zur Balkani­sie­rung und Kleinstaate­rei” in Me­xiko und stelle somit eine Gefahr für die Souveränität des Landes dar.
Ein Vorwurf, der vor dem Hintergrund der jüngst ans Licht gekommenen Skandale um die Verbindungen des Militärs zur Drogenmafia und die grotesken Verwicklungen höchster Funk­tionäre in Korruptions- und Mordfälle besonders absurd er­scheint. So absurd, daß sich die Öffentlichkeit nicht überzeugen lassen wollte und internationale Beobachter nachdrücklich die Einhaltung des Abkommens von San Andrés forderten. In Anbe­tracht der Tatsache, daß dieses weitgehend dem Abkommen Nr.69 über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisa­tion ILO, einer UN-Sonderorga­nisation, entspricht, ist Letzteres sicher nicht die “Einmischung in innere Angelegenheiten”, die die mexikanische Regierung darin sehen wollte. Schließlich wurde das ILO-Abkommen 1989 auch von Mexiko unterzeichnet.

Ablenkungsmanöver in der Presse

Als Zedillo und die um ihn gescharte Machtclique innerhalb der seit beinahe 70 Jahren regie­renden Partei der Institutionali­sierten Revolution PRI sich be­wußt wurde, daß sie die intel­lektuelle Auseinandersetzung zu diesem Thema mangels Argu­menten nur verlieren konnten, verlegte sich die intrigenerprobte Machtmaschine darauf, aus dem Hinterhalt zu operieren: Wäh­rend in den folgenden Wochen ganz Mexiko über den Justiz­skandal um den Staatsanwalt Lo­zano Gracía, seinen Gehilfen, den Strafverfolger Chapa Beza­nilla und die Seherin “La Paca” staunen durfte und mal wieder ein bißchen in der Ermittlungs­suppe um den Mord am PRI-Prä­sidentschaftskandidaten Colosio herumgerührt wurde (siehe LN 273), gingen die Warnungen der COCOPA-Mitglieder in der Tages­presse unter. Immer wieder ver­suchten diese, darauf auf­merk­sam zu machen, daß es sowohl eine “Kampagne zur Dis­kreditie­rung der COCOPA” ge­be, als auch ganz direkten “Druck auf deren Mitglieder”, wie der PRD-Abge­ordnete Heberto Castillo – eben­falls Mitglied der Vermittlungs­kom­mission – sich ausdrückte. In einer Erklärung der Cocopa ist nach der Kampagne der letzten Wochen nun keine Rede mehr davon, daß das Abkommen von San Andrés unantastbar sei. Die parlamen­tarischen Ver­mittler sind unter dem präsidentialen Druck eingeknickt und räumen ein, daß durchaus über “bessere Formulierungen” nachgedacht werden könne und mahnen die “Dialogbereitschaft” beider Kon­fliktparteien an. Im Klartext: Auch die COCOPA verteidigt das bereits geschlossene Abkom­men nicht mehr, wie sie ursprünglich beteuert hatte. Damit ist die EZLN wieder auf sich alleine gestellt.

Aushöhlung des Abkommens

Die Erklärung der COCOPA läuft letztlich darauf hinaus, daß sie sich mindestens mit einer Neubearbeitung des Ver­trags­ent­wurfes, wenn nicht sogar mit Neuverhandlungen des ei­gentlich längst unterzeichneten Abkom­mens abfindet. Und dabei brin­gen ihre Mitglieder nicht einmal den Mut auf, mit dem Finger auf diejenige zu zeigen, die von Anfang an den Dialog und später die Verhandlungser­gebnisse zum Scheitern bringen wollte: Die Regierung. Stattdes­sen müssen sich die Zapatistas nun anhören, ihre Dialogbereit­schaft sei “verbesserungsbedürf­tig”. Zynischer geht es nicht.
Präsident Zedillo und die als “Dinosaurier” bezeichneten Bos­se der diversen einflußrei­chen Cliquen in der PRI dürften dagegen frohlocken. Innenminis­ter Chauyffet kann fortfahren bei der Militarisierung weiter Teile vor allem Süd-Mexikos und der Polizeistruktur der Hauptstadt. Verhaftungen Oppo­sitioneller, “Verschwindenlassen” und poli­tischer Mord gehören mittler­weile zur Tagesordnung in Guer­rero, Oaxaca und Tabasco. Auch der “Krieg niedriger Intensität” in Chiapas geht weiter.
Kaum jemand außerhalb der zapatistischen Solidaritätskomi­tees und einer Handvoll Intel­lek­tueller hat bisher die Trag­weite dessen erfaßt, was das Ein­knicken der COCOPA vor dem Präsidenten wirklich bedeutet: Wieder einmal setzt sich die Exekutive über die Legislative hinweg. Die Rechtlosigkeit in der mexikanischen Gesellschaft wird exemplarisch deutlich. Wie soll ein Dialogprozeß funktionie­ren, wenn bereits beschlossene Ergebnisse wieder zur Disposi­tion gestellt werden? Wieder einmal zeigt sich der mexikani­sche Präsidentialismus als die “perfekte Diktatur”, als die der peruanische Schriftsteller Vargas Llosa das mexikanische System bereits vor vielen Jahren be­zeichnete. Und damit erfährt nicht nur in Chiapas, sondern in ganz Mexiko vorerst eine Hoff­nung auf Veränderung eine glatte Ohrfeige, die das Land gerade jetzt in der schwersten Wirt­schafts- und Sozialkrise seiner Geschichte so dringend bräuchte: Die Hoffnung auf eine grundle­gende Demokratisierung der Ge­sellschaft.

Intergalaktisches in Spanien

Seit dem Treffen in Chiapas hat man wenig gehört aus Me­xi­ko und von denjenigen, die sich frischen Wind für die Lin­ke aus dem Lakandonischen Ur­wald erwarten. Welche Ini­tia­tiven bereitet Ihr momentan vor?

Auf einer europäischen Sit­zung in Zürich wurde letzten Dezember von 160 Delegierten von 54 Gruppen aus 14 europäi­schen Ländern vereinbart, den Be­schluß von Chiapas umzu­set­zen, ein “2. Interkontinentales Tref­fen gegen den Neoliberalis­mus und für eine menschliche Ge­sellschaft” in Europa zu orga­ni­sieren. Wir einigten uns auf den Vorschlag, das Treffen vom 26. Juli bis zum 3. August in Spanien durchzuführen. Auf ei­ner ähnlich gut besuchten zwei­ten Sitzung Anfang März in Bar­celona haben wir das Projekt konkretisiert. Unser Vorschlag ist jetzt, eine zentrale Auftakt­veranstaltung in Madrid zu ma­chen, dann über mehrere Tage the­matische Diskussionen in ver­schie­denen Städten durchzufüh­ren und zum Abschluß alle Teil­nehmerInnen in einem von Land­ar­beiterInnen besetzten Land­strich in Andalusien wieder zu­sam­mentreffen zu lassen. Über die­sen Vorschlag führen wir mo­men­tan eine weltweite Befra­gung durch, weil es uns sehr wich­tig ist, zu erfahren, was an­dere Gruppen und Einzelper­so­nen davon halten.

Die technische Organisation des Treffens ist eine Sache, die an­de­re allerdings, welche in­halt­liche Debatten man führen möchte. Sieht es da nicht ein biß­chen dünn aus?

Die Befragung dient auch dazu, die Inhalte des nächsten In­ter­kontinentalen Treffens nä­her zu bestimmen. Bei der nächsten Vorbereitungssitzung, die wir an Os­tern in Prag durch­führen wer­den, wird die Befra­gung dann aus­gewertet. Prag ha­ben wir übri­gens ausgewählt, weil es uns sehr wichtig ist, mehr osteu­ro­pä­ische Gruppen einzu­beziehen. Über die inhaltliche Diskussion ent­scheiden diejeni­gen, die sich in die Vorbereitung des Treffens ein­mischen und daran teil­neh­men. Bisher ist der Diskus­sions­stand, daß zu den Themen große Ar­beitsgruppen ge­bildet werden sollen, die be­reits in Chiapas im Mittelpunkt standen. Dies sind beispiels­weise: die Wirt­schaft und ihre Horror­ge­schich­ten, Be­wegungen in der Kultur – vom Farbtupfer zum Cyberspace, so­wie die grundlegende Frage­stel­lung: Welche Politik brau­chen wir? Letztlich hat das “Zwei­te Inter­kontinentale Treffen” be­reits be­gonnen, denn die Diskus­sionen im Vorbereitungs­pro­zeß sind ge­nauso wichtig wie das Treffen an sich.

Gibt es eigentlich eine inhalt­liche Diskussion zwischen den eu­ro­pä­ischen Gruppen und den Za­pa­tistas?

Das ist schwierig. In Chiapas ist die Situation militärisch und politisch sehr gespannt, und das er­schwert die Bedingungen für eine Debatte ganz erheblich. Schließlich kämpfen die Zapati­stas um das Überleben und da ge­rät die inhaltliche Diskussion oft in den Hintergrund. Aber ich bekomme mit, daß verschiedene Gruppen aus Europa einen regen Kontakt mit den Zapatistas pfle­gen und eine politische Diskus­sion führen. Die EZLN hat uns zur Vorbereitungssitzung nach Bar­celona eine Grußbotschaft per Video geschickt und sie hat auch betont, auf jeden Fall eine De­le­gation aus Chiapas zum In­ter­kontinentalen Treffen nach Spanien zu senden.

Welche politischen Organisa­tionen in Spanien tragen die Idee des Treffens? Hier in der Bun­desrepublik sind es ja nur sehr wenige und zudem schwa­che Gruppen, die sich bisher für die Initiative interessieren.

Mittlerweile sind auf interna­tionaler Ebene nicht nur die So­lidaritätsgruppen in den Prozeß ein­gebunden, sondern eine Reihe von Gruppen aus verschiedenen so­zialen Bewegungen und viele Ein­zelpersonen. Im spanischen Staat reicht das Spektrum von Haus­be­setzerInnen, Leuten, die sich in der Bildungspolitik enga­gieren, Frau­en­projekten und Ge­werk­schaftlern bis zu den Land­be­set­zerInnen in Andalu­sien. Dort unter­stützen ganze Dörfer die Zapatistas, auch im Bas­ken­land ist das Interesse sehr groß. Al­lein in Madrid haben sich im Ja­nuar 220.000 Men­schen an der Be­fra­gung über das geplante “Zwei­te In­terkontinentale Tref­fen gegen den Neoliberalismus und für eine menschliche Ge­sell­schaft” betei­ligt.

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