Bis auf die Socken ausgezogen

Wieviel schulden Sie Ihren Gläubigern?

Mehr als drei Millionen Pe­sos, also rund 390.000 US-Dollar.

Wie kam es dazu?

Mein Vater und ich besaßen bis vor kurzem einen Lebens­mit­telgroßhandel auf dem Cen­tral de Abastos, dem zentralen Markt von Mexico-Stadt, und außerdem Län­dereien in diversen Bun­des­staaten. 1988 nahmen wir einen Kre­dit in Höhe von 200.000 Pe­sos auf, damals etwa 80.000 US-Dol­lar. Wir wollten das Geld primär in den Guave-An­bau stecken. Aber das Wetter machte uns ei­nen Strich durch die Rechnung: Über­schwem­mungen und Hagel ließen von der Ernte nichts übrig. Un­sere Lagerhallen blie­ben leer.

Sie haben einen Kredit über 200.000 Pesos aufgenommen, müs­sen aber 3.000.000 zurück­zahlen. Die Banken fordern von Ih­nen jetzt also mehr als den zehn­fachen Ausgangsbetrag?

Ja, das sind unglaubliche Zins­sätze. Monatlich haben wir neue Schuldscheine zur Tilgung un­terschreiben müssen. Inzwi­schen wurde unser Grundbesitz ver­kauft, außerdem mehrere La­ger, sechs Autos und zwei LKWs. Die Anwälte der Banken wol­len keine Kompromisse; sie setzen auf Drohbriefe und Tele­fon­terror: “Wir ziehen dich bis auf die Socken aus!”, ist der üb­liche Spruch. In­zwischen haben die Gläubiger sogar unser Ge­schäft auf dem Zentralmarkt ver­scher­belt und sind dabei, meine El­tern auf die Straße zu setzen.

Aber diese Praktiken sind doch eigentlich un­gesetzlich …

Deshalb haben sich die ver­schul­deten Land- und Forstwirte schon 1992 zusammengetan. Damals wurde uns langsam klar, daß die Ban­ken systema­tisch Darlehen zu illegalen Konditionen ver­mit­telt haben. So entstand die Selbst­hilfeorganisation “El Bar­zón”. Später schlossen sich uns an­dere Berufs­gruppen, wie Klein­unternehmer und Händler, an.

Einige Ihrer Mitglieder waren früher sogar ein­mal Groß­grund­besitzer …

Die meisten von uns kommen aus der ehemali­gen Mittel­schicht, die den Wohlstand der sieb­ziger Jahre selbstherrlich ge­nos­sen hat. Über die Pro­bleme der mexikanischen Minderhei­ten, wie der indianischen Völker, ha­ben wir uns damals nie Ge­dan­ken gemacht. Viele Großbau­ern ha­ben ihre Ländereien inzwi­schen verloren, oder lassen sie brach­liegen, weil sie ihren Ge­richtsverfahren hin­terherrennen müs­sen. Zum Problem des Sub­sistenz-Anbaus der Indígenas ist jetzt also noch der Niedergang der industriellen Landwirt­schafts­betriebe hinzugekommen.

Wieviele Mitglieder hat “El Barón” mittler­weile?

Mehr als eine Million. Insge­samt gibt es rund acht Millionen Me­xikaner, denen die Kredite über den Kopf gewachsen sind. Je­der Schuldner muß im Durch­schnitt vier weitere Familienmit­glie­der durchfüttern. Das bedeu­tet, daß ein Drit­tel der Bevölke­rung von dieser Problematik be­troffen ist. Nach offiziellen An­gaben geht es um einen Gesamt­be­trag von 240 Milliarden Pesos, etwa 30 Milliarden US-Dollar. Nur der zehnte Teil davon wurde aber wirklich einmal verliehen.

Die Schuldenkrise der Land­wirtschaft begann schon in den späten achtziger Jahren unter dem “Mo­derni­sierungs­pro­gramm” des damaligen Prä­si­den­ten Carlos Salinas. Hat das Frei­han­dels­ab­kom­men mit den USA und Kanada 1994 die Si­tu­ation wei­ter verschärft?

Ganz sicher! Die gnadenlose Ein­fuhr von Bil­lig-Getreide, Fleisch und Früchten hat der hie­sigen Landwirtschaft enorm ge­scha­det. Auch der In­dustrie­sek­tor kann mit den nordameri­ka­ni­schen Produkten nicht mithalten. Die Regierung ver­suchte mitt­ler­weile zwischen “El Barzón” und den Gläubigern zu vermit­teln…. Der Schulden­kri­se ist aber nicht mehr mit staatlichen Kredit-Um­struk­tu­rierungspro­grammen bei­zu­kommen. Die Produk­tion muß drin­gend reakti­viert werden, un­sere Wirt­schaft neuen Schwung be­kommen. Wir brauchen mehr Bil­dungs- und Sozialausga­ben.

Wer soll das bezahlen?

Die Regierung des Präsiden­ten Ernesto Zedillo hat 25 Milli­arden US-Dollar aus diversen inter­na­tionalen Fonds erhalten, als die Entwertungs­krise im Dezem­ber 1994 akut war. Der Betrag wur­de aber ausschließlich den “armen”, kri­sen­ge­schüt­telten Ban­ken zugeführt. Weder der In­dus­trie- noch der Landwirt­schafts­sektor haben da­von etwas ge­sehen. Wirtschaftsminister Guil­ler­mo Ortíz hätte es damals nicht deutlicher sa­gen können: “Un­sere Priorität ist der Finanz­sek­tor.”

Im Kabinett von Zedillo sitzen Gra­duierte aus hoch­karätigen amer­ikanischen Universitäten. Wa­rum fällt denen seit Jahren nichts neues zum The­ma Armut ein?

Es liegt wirklich nicht am man­gelnden know how. Diese Leu­te stehen hundertprozentig hin­ter einem Wirtschaftsmodell, das sich dem “Federal Reserve Sys­tem”, der Weltbank und dem In­ternationalen Währungsfonds ver­pflichtet hat.

Aber selbst Michel Camdes­sus, der Direktor des Fonds, war befremdet darüber, wie pas­siv die Me­xi­kaner das vorge­schrie­bene Anpassungspro­gramm 1995 hingenommen ha­ben.

Das stimmt schon: Wir Mexi­ka­ner lassen manchmal zu lange auf uns einhauen. “El Bar­zón” ist in dieser Hinsicht ein Hoff­nungs­schimmer des Wider­stands.

Apropos Prügel: Wie wurdest Du bei der Fest­nah­me am 15. Ja­nuar behandelt?

Die Fahrt im Aufzug bis zum zehn­ten Stock des Polizeipräsi­diums werde ich nie vergessen: Schlä­ge und Tritte regneten ge­ra­de­zu auf mich ein. Ab­gesehen von diesem Zwischenfall, wurde ich kor­rekt behandelt.

Was wird Dir vorgeworfen?

Freiheitsberaubung, Mi­glied­schaft in einer ille­galen Ver­ei­ni­gung und Widerstand ge­gen die Staats­gewalt – damit könnte ich läs­sig zwischen 15 und 40 Jahre sitzen. Nur: Diese An­kla­ge­punk­te lassen sich leicht widerlegen. Film­material ei­nes anwesenden Re­por­ters beweist, daß wir zwar ge­gen die Über­gabe eines ver­pfän­deten Gebäu­des Widerstand ge­leistet haben, aber dadurch nie­mand in seinem Freiheitsrecht ein­geschränkt wurde. Daß “El Bar­zón” eine subversive Orga­ni­sation sein soll, kann nur ein Scherz sein: als eingetragene Ver­einigung wurden wir von of­fizieller Seite mehrfach em­pfan­gen. Und das De­likt des Wi­der­stands gegen die Staatsgewalt durch Hausbe­setzung steht in kei­nem Verhält­nis zur brutalen Fest­nahme mit einer Son­der­ein­heit und Haft im Hoch­si­cher­heits­trakt.

Letztes Jahr hast Du Dich auf dem Zócalo, dem zentralen Platz Mexiko-Stadts, öffentlich kreu­zigen lassen; kurz vor Dei­ner Festnahme standst Du noch nackt vor den Kameras. Ist die Öf­fentlichkeit ohne Skandal gar nicht mehr aufzu­rütteln?

Tja, das sind neue Ausdrucks­for­men der Unzu­friedenheit. In Mex­iko gehören zum Repertoire ei­nes guten Demonstranten in­zwischen, sich die Lippen zu­sam­men zu nähen, öffentlicher Ader­laß, FKK und natürlich Hun­gerstreiks. Diese spektakulä­ren Aktionen beinhalten anderer­seits ganz bescheidene Forde­run­gen. Oft geht es nur um ir­gend­welche Verordnungen, die nicht ein­gehalten werden.

Die Zapatistas haben im Ja­nuar 1994 zu den Waffen ge­grif­fen und sich dabei auf die Ver­fassung berufen. Wenn die Ge­setze nicht respek­tiert wer­den, hilft dann nur noch Ge­walt?

Wir haben wirklich zu lange ta­tenlos zugese­hen, wie unsere Magna Charta systematisch un­ter­graben wird. Gegen diese Ver­kehrung des Rechts­staates, die Ba­kschisch-Kultur müssen wir mit le­galen Mitteln angehen. Wenn die Reprä­sentanten des Rechts­staates die eigenen Grund­sätze mißach­ten, so ist al­lerdings auch ziviler Wi­derstand durch­aus berechtigt. Die aus der Re­vo­lu­tion von 1917 entstandene Ver­fassung gesteht der Bevölke­rung dieses Recht übrigens aus­drücklich zu.

Ist es in Mexiko inzwischen riskanter gewor­den, seine Mei­nung zu äußern?

Das politische Klima ist rau­her geworden. Im kommenden Som­mer werden sich die Chilan­gos, so nennt man hier die Ein­woh­ner von Mexiko-Stadt, erst­mals direkt für einen der Kandi­da­ten für das Bürgermeisteramt ent­scheiden können. Früher hätte die Regierung so kurz vor einer his­torischen Wahl eher Kom­pro­mißbereitschaft ge­zeigt. In­zwi­schen setzt sie auf Repres­sion.

Teuer und total daneben

Kampkötter sympathisiert mit der zapatistischen Erhebung in Chiapas und versucht, einen historischen Bogen zu spannen, der von der Spanischen Eroberung Mexikos über die Mexikanische Revolution bis in die heutige Zeit reicht. Damit stellt er sich eine Aufgabe, die auf 172 Seiten kaum zu bewältigen ist. Doch nicht nur daran scheitert das Vorhaben: Dem Autoren unterlaufen zahlreiche Irrtümer und historische Fehldeutungen, wobei diese erheblichen Schwächen durch stilistische Mängel und unglückliche Formulierungen zum literarischen Ärgernis werden.
Das Dilemma beginnt schon im Vorwort, in dem Kampkötter die Beweggründe für die Erstellung seiner Arbeit nennt. Angetreten sei er, um “den Kampf der Zapatistas in México zu unterstützen” und den Zugang zur historischen Person Zapata zu erleichtern. Daher habe er sich “herausgenommen, dieses Buch zu schreiben, ein bißchen vom Süden zu träumen”. Welchen Anlaß das von Guerilla-Krieg, Aufstandsbekämpfung, Repression und täglichen Menschenrechtsverletzungen geprägte Mexiko zum Träumen bietet, verschweigt der Autor allerdings.
Mit der “Entdeckung der Neuen Welt” beginnt die Reise durch die Jahrhunderte und Kampkötter erleidet sogleich Schiffbruch: “Vollbracht hat sie ein Idealist, der selbstlose und edle Christoph Columbus, keine Gefahren fürchtend, die Augen fest auf Indien gerichtet. Dabei weiß wirklich jedes Kind, daß im Westen, jenseits des großen Teiches, eben nicht Indien, sondern Amerika liegt”. Oh je, da sträuben sich einem die Haare. Doch die “Analyse” wird mit der Beschreibung der Conquista, die der Autor als “Beginn des Imperialismus” outet, noch besser: “Solange das so ist, beißen halt die Menschen (zum Beispiel in México) ins Gras, seit Generationen geht das schon so. Nur manchmal kommt es ihnen hoch, und sie versuchen, der Fratze wenigstens einen Zahn auszuschlagen”.
Doch sind es nicht derartige verquaste Formulierungen allein, die auf eine profunde Ahnungslosigkeit des Verfassers schließen lassen. Aus Azteken werden “Atzteken”, die Herrschaft des Diktators Porfirio Díaz wird mal als “porfiristianisches Regime”, mal als “porfirianische Ära” bezeichnet und die staatliche mexikanische Erdölgesellschaft Pemex wird in “Pimex” umgetauft. Allerdings muß hier vor allem dem Lektorat der Vorwurf schlampiger Arbeit gemacht werden.
Aber auch mit historischen Fakten nimmt es Markus Kampkötter nicht so genau: “1883 wurden die Gesetze von Baldíos verabschiedet, in denen die Erschließung und Kultivierung von unbebautem Land geregelt wurden”. Diese Aussage ist schlicht und ergreifend falsch. Richtig ist, daß die Gesetze über die tierras baldías erlassen wurden, denn tierras baldías bedeutet übersetzt nichts anderes als brachliegendes Land. Die spanische Sprache erweist sich auch später als häufiges Hindernis für den Autoren.
Bei dem Versuch, die Verbindung zwischen Mexikanischer Revolution und Zapatistischem Aufstand 1994 herzustellen, begibt sich Markus Kampkötter schließlich vollends aufs Glatteis. Die von Präsident Carlos Salinas de Gortari 1992 vorgenommene Änderung des Artikels 27 der Mexikanischen Verfassung war nämlich nicht, wie der Autor resümiert, “einer der Gründe für die Entstehung des Neozapatismo”. Die Streichung des Artikels 27, führte vielmehr zum Beschluß der Gemeinschaften, den bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Die politische Organisierung unter dem Namen Emiliano Zapatas hatte, ebenso wie die Aufstellung von Selbstverteidigungsmilizen, schon Jahre vorher eingesetzt.
Schöne Fotos können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Buch jegliche Tiefe vermissen läßt und der Preis von 29,80 DM für 172 Seiten in keinster Weise gerechtfertigt ist.

Markus Kampkötter: Emiliano Zapata, Unrast-Verlag, 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Präsident Zedillo provoziert Krieg

Ein kurzer Blick auf den Verlauf der noch immer – fast – ergebnislosen Gespräche von San Cristóbal, San Andrés Lar­ráinzar und La Realidad zwi­schen Regierung und Guerilla rechtfertigt den Pessimismus, in den EZLN-Sprecher Marcos in einem Kommuniqué Mitte letz­ten Jahres verfiel: “Dreißig Mo­nate später, 912 Tage später und wir kommen nicht weiter. Wie lange werden die Zapatistas wei­termachen? Bis wohin? Wann wer­den wir müde werden, Frie­densinitativen für Demokra­tie, Freiheit und Justiz zu ent­werfen? Wann werden wir auf­hören, der Regierung Magen­schmerzen zu ver­ursachen? Wann werden wir aufhören, Za­patistas zu sein?”
Seit drei Jahren laufen die Dialoge. Und wann immer es aussah, als kämen die Delegatio­nen endlich einen Schritt weiter, ge­fährdeten Provokationen der Bun­desarmee, die Arroganz und Ver­logenheit der Regierung oder schwerwiegende nationale Er­eig­nisse alles. Die Dialoge stan­den still oder wurden unterbro­chen und es mußte wieder von vorne begonnen werden. Ob es nun die Ermordung des PRI-Prä­si­dent­schafts­kandidaten Luis Do­naldo Colosio (März 1994) war, den die EZLN als verhand­lungsbereit und friedenswillig bezeichnet hatte, oder die Mi­litäroffensive und die Haftbe­fehle (Februar 1995), die der neu­gewählte Präsident Ernesto Ze­dillo ver­anlaßte, nachdem er noch wenige Tage zuvor öffent­lich für eine friedliche Lösung des Konfliktes plädiert hatte. Im­mer wieder war es die Regie­rung, die log, aus­wich und die Ver­handlungen tor­pe­dierte. Und im­mer wieder muß­te sich die EZLN neue Stra­tegien einfallen las­sen, um die Zi­vil­gesell­schaft ein weiteres mal auf die Straßen und die Ver­handlungen erneut auf den Weg zu bringen.

Teilerfolge ohne bindenden Charakter

Und erstaunlicherweise ge­lang dies den zapatistas doch, trotz der fortschreitenden Mili­tarisierung von Chiapas und den um­liegen­den Bundesstaaten, den In­filtrie­rungs-, und Einschüch­te­rungs­versuchen durch regie­rungs­treue Kaziken, Weiße Gar­den und die Bundesarmee. Mit ih­ren bislang vier Deklarationen und Initiati­ven wie, der Grün­dung des Na­tionalen Demokra­ti­schen Kon­vents CND in Aguas­ca­lientes (August 1994), der Na­tionalen Umfrage (August 1995), der nachfolgenden Bildung der FZLN oder den kontinentalen und interkontinentalen Treffen für eine menschliche Gesell­schaft und gegen den Neolibera­lismus, konnte nach kritischen Mo­menten immer wieder verlo­re­nes politisches Terrain zurück­erobert werden.
Mit der im Februar 1996 durch die Delegationen der Re­gierung und der EZLN erfolgten Un­terzeichnung der Vereinba­rung über Indigene Rechte und Kul­tur schien ein erster Schritt hin­sichtlich einer politischen Lö­sung des Konfliktes getan. Für die EZLN bedeutete das Ab­kom­men einen Teilerfolg, da der er­arbeitete Kompromiß die hoch­ge­steckten Erwartungen der er-sten Monate nicht erfüllte. Die Vereinbarungen über Indigene Rech­te und Kultur und die Modi­fizierungen der Artikel 4 (über den multiethnischen Charakter der mexikanischen Nation) und 115, auf die sich die Regierung Zedillo einließ, blieben nicht nur weit hinter den ursprünglichen For­derungen der EZLN zurück, sie waren außerdem lediglich ei­ner von mehreren zur Diskussion ste­henden Punkten, die die Ver­handlungen insgesamt vorsahen. Und sie hatten überdies – auch wenn die ursprüngliche Verein­ba­rung ihre unveränderte Einfü­gung in die mexikanische Ver­fas­sung beinhaltete – in ihrer er­sten Formulierung keinerlei bin­den­den Charakter.
Um diesen zu erlangen, war zunächst eine detaillierte For­mulierung der einzelnen Inhalte durch EZLN und Cocopa, einer aus Parlamentariern der Parteien PRI, PAN und PRD zusammen­ge­setzten Vermittlergruppe, not­wendig, die dann Präsident und Ab­geordnetenkammer zur Ab­seg­nung vorgelegt werden sollte.
Zwar wurden direkte Gesprä­che mit der PRI-Delegation nach zahl­reichen Torpedierungsversu­chen der Regierung von den Za­pa­tistInnen als unsinnig ein­ge­schätzt und abgebro­chen, Ver­hand­lung­en zwischen EZLN und Cocopa fan­den je­doch weiterhin statt. Schließlich lag im De­zem­ber 1996 der von Cocopa und EZLN gleicherma­ßen akzeptierte Ent­wurf endlich vor.

Hardliner und Desillusionierte

Damit hatte Präsident Zedillo nicht gerechnet. Um Zeit zu ge­winnen, bat sich das mexikani­sche Staatsoberhaupt eine Frist von zwei Wochen aus, um den In­halt des Dokumentes “analy­sie­ren” zu können. Diese ließ er verstreichen und um wei­tere 14 Ta­ge verlängern. Am 11. Januar 1997 übergab Zedillo der EZLN sei­ne Antwort. Kaum et­was er­in­nerte noch an den von der EZLN und Cocopa erarbeiteten Text. Mit juristi­schen Spitz­fin­dig­kei­ten war der Entwurf ausgehöhlt und sinnent­stellt worden. Die we­sentlichsten der im Vorjahr ge­troffenen Ver­einbarungen wa­ren gestrichen. Damit rief Ze­dil­lo nicht nur den Zorn der Za­pa­tistInnen – Sub­co­man­dante Mar­cos sprach von Ver­höhnung – her­vor, sondern auch der Ver­mitt­lergruppe. Schließ­lich hatte die Cocopa von vorn­herein unmißverständlich klar­gestellt, daß es nur Zustimmung oder Ab­leh­nung geben könne, je­doch kei­ner­lei Änderungen des Kom­pro­miß­pa­pieres. Juan Guer­ra, Mit­glied der Cocopa, bringt es auf den Punkt: “Die Re­gie­rung hat das Abkom­men im Fe­bruar 1996 unter­zeichnet, um es nicht zu erfüllen. Sie unter­schrieben es, um sich über die EZLN lustig zu ma­chen.”
Angesichts der Sinnlosigkeit wei­te­rer Gespräche und der zu­neh­menden Militarisierung und Re­pres­sion in Chiapas droht wie­der einmal das Ausbrechen be­waff­ne­ter Kämpfe. Doch ist die La­ge nun ernster denn je. Ei­ner­seits setzen die Hardliner in­ner­halb der PRI ihre Strategie, po­li­ti­sche Lösungen zu sabotieren, er­folg­reich fort. Andererseits droht bei einem Scheitern – und nichts deutet auf eine andere Per­spek­tive hin – des um eine fried­li­che Veränderung be­müh­ten Ver­handlungsweges der EZLN ein weiteres Abfallen ihr­er Basis au­ßerhalb von Chiapas. Daß die Ein­satzbereitschaft der Zi­vil­ge­sellschaft arg ge­schmol­zen ist, wurde am dritten Jah­res­tag des Aufstandes mehr als deut­lich. Im Ge­gensatz zum Vor­jahr brach kei­ne Karawane von Mexiko-Stadt auf, um mit Hilfs­lie­fe­rungen und massiver Prä­senz in den indigenen Ge­mein­den Soli­darität zu demon­strieren. Die zapatistas blieben unter sich. Und auch in der 23 Mil­lio­nen-Metropole selbst traf sich nur ein Häuflein von etwa 200 Per­sonen auf dem Zócalo, um ih­re Ver­bundenheit mit den Auf­stän­di­schen auszudrücken.
Die Stunde derjenigen, die we­der Frieden noch eine Beteili­gung der Zivilgesellschaft bei der Umgestaltung Mexikos an­stre­ben, scheint angebrochen. Zum einen spielen die Militärs in­nerhalb des Machtgefüges eine im­mer stärker werdende Rolle, ge­duldet und gestützt von Präsi­dent Zedillo und der US-Admi­nistration. Und: Die im Juni 1996 erstmals in Erscheinung ge­tretene Revolutionäre Volks­ar­mee EPR, die durch Attentate und Überfälle bisher über 40 Sol­daten und Polizisten erschos­sen hat und jeden Dialog mit der Regierung ablehnt, gewinnt an Einfluß unter Teilen der desillu­sionierten und unter der Repres­sion leidenden Bevölkerung, vor al­lem auf dem Lande. Ihr YA BASTA – ES REICHT impliziert ei­nen sofortigen Stopp der Men­schen­rechtsverletzungen, die, wie derzeit in Teilen Guerreros und Oaxacas, an Grausamkeit kaum zu überbieten sind, egal auf welche Weise. Das Auf­tau­chen dreier weiterer Guerilla-Grup­pen in­nerhalb der letzten zwei Monate im mexikanischen Nor­den und der Südprovinz Guer­rero weist hin auf eine ge­walt­tätige Ent­wick­lung, die al­lein die korrupte Herr­schaftselite und ihre Hintermän­ner im Pen­ta­gon zu verantworten haben.

“Wir sind auf alles vorbereitet”

Als ich am Morgen des 24. Dezember 1996 von San Cristóbal aus aufbrach, um drei Wochen in einem “Campamento por la Paz” zu ver­bringen, hatte ich keinerlei Grund zur An­nahme, daß etwas Außer­ge­wöhnliches vorfallen könnte. Der Dialog zwi­schen Regierung und EZLN war zwar bereits seit Mo­naten abgebrochen, doch die Lage war ruhig.
Auch bei meiner Ankunft im Dorf, einer Gemeinde nahe La Garrucha, schien sich dieser Eindruck zu be­stätigen. Die Leu­te kannten mich bereits von vor­herigen Auf­ent­halten und freuten sich, daß je­mand die Hütte auf dem Dorfplatz, die aufgrund feh­lender Be­sucherInnen mehrere Wo­chen leerge­standen hatte, mit Leben füllte. Wie jeder Neuan­kömmling wurde auch ich als erstes nach Neuig­keiten vom Frie­densprozeß be­fragt, denn Zeit­schriften und Zeitungen ge­langen nur selten in die entlegenen Gemeinden. Ich hatte mir eine La Jornada (linke Tageszeitung aus Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) mitge­bracht, de­ren Erschei­nungsdatum zwar schon ei­nige Zeit zu­rücklag, in der jedoch der Brief vom EZLN-Sprecher Mar­cos an Präsident Ernesto Zedillo in voller Länge abgedruckt war. In diesem Brief for­derte der Sup, mittler­weile zum Range eines comandante avanciert, den mexikanischen Regierungschef auf, die indigene Bevölkerung in Chia­pas nicht mehr länger warten zu lassen, einen Schritt in Rich­tung eines dauerhaften Frie­dens zu tun und end­lich auf die von der EZLN aufgestellten Mindestfor­der­ung­en zur Wie­der­auf­nahme des Dia­logs ein­zugehen. Außer­dem be­tonte er die Dringlichkeit und Not­wen­digkeit, daß die aus­ge­arbeitete Gesetzesi­nitiative zum Schutz der Indigenen Rechte und Kul­tur vom Staatsober­haupt un­ter­schrieben wer­den muß. Eine Woche zu­vor hatte der Präsident die endgültige Fassung dieses Abkommens kurz vor ihrer Un­terzeichnung abgelehnt, sich eine Frist von zehn Tagen aus­erbeten und an deren Ende erklärt, daß der nach zähen Verhandlungen von beiden De­legationen un­terzeichnete Kom­promiß noch ein­mal von Grund auf über­ar­beitet werden müsse.

Frustration nach 3 Jahren Krieg

Der dritte Jahrestag des Aufstands wurde in vielen Orten der Selva Lacandona festlich be­gangen. Über tausend Menschen kamen aus allen Siedlungen der Um­gebung zusammen, um drei Tage und Nächte lang zu feiern und zu den Klän­gen einer in Ocosingo an­geheuerten ma­ri­achi-Ka­pelle zu tanzen.
Überraschenderweise waren die indígenas fast unter sich. Nur wenige Menschen aus anderen Tei­len Mexikos oder Inter­na­tionalistInnen waren an­wesend. Die sonst immer ein­ge­troffene Karawane “Todo para Todos” aus Mexiko-Stadt war diesmal nicht nach Chiapas aufgebrochen und auch BeobachterInnen aus anderen Na­tionen der Welt wa­ren zu Hause geblieben.
Einer der Höhepunkte des Festes war sicherlich die Ansprache des Sup in den ersten Minuten des neuen Jahres. Die Band stoppte und ein tiefbeweg­ter Repräsentant der Ge­meinde hielt ein Transi­storradio ans Mikrofon, damit alle Ver­sam­melten live das von at­mosphäri­schem Prasseln un­ter­malte Kommuniqué des Ge­heimen Re­volutionären In­di­genen Komitees – Ge­neralkom­man­dantur der EZLN ver­nehmen konnten.
Die Worte des EZLN-Spre­chers drückten Besorg­nis und An­spannung aus: Nach drei Jah­ren Krieg in Chiapas stünden die Dinge schlecht, die Re­gierung hätte 12 Tage Zeit, um ein Ent­gegenkommen zu sig­na­lisieren und bis dahin hieße es Ab­warten. Am Ende der Nach­richt waren al­le Ver­sam­mel­ten totenstill. Nach einer Minute rief einer mit sich über­schlagender Stim­me in die Menge: “Drei Jahre haben wir jetzt ausgehalten und was haben wir erreicht ?” “Nichts!” ant­wor­teten hunderte indí­genas aus dem Dunkel der Nacht.

Die Regierung zeigt ihre Krallen

Das Jahr 1997 hatte schlecht begonnen. Die Stimmung in den Ort­schaften verschlechterte sich von Tag zu Tag. Je näher der 11. Januar rückte, ohne daß ir­gend­ein Entgegenkommen von der Re­gierungsseite erkennbar wur­de, desto mehr verdü­sterten sich die Mienen in den Ge­sichtern. “Wenn bis zum Zwölf­ten keine Ant­wort kommt, wird es wieder Krieg geben,” erzählten mir sowohl ältere als auch jün­gere Männer. Und: “Wir haben drei Jahre Zeit ge­habt, uns im ganzen Land auszubreiten. In Oaxaca, in México, in Veracruz. Überall gibt es jetzt zapa­tistas. Wir sind auf alles vorbereitet.”

Vorboten der Aggression

Auch die Regierungs­truppen schienen sich auf etwas vorzubereiten. Tag für Tag nahm die Anzahl von Auf­klä­rungsflügen über den Schluch­ten und Tälern zu. Fast alle 20 Minuten erfüllte das Brummen von großen Hub­schraubern den Himmel, die in mehreren hundert Metern Höhe die Dörfer über­flogen. Am dritten Januar kam es dann zu einem dramatischen Zwischenfall: Nur wenige hun­dert Meter vom Frie­denscamp entfernt stürzte ein Helikopter der mexika­nischen Luftwaffe ab und zerschellte am Boden. Alle BewohnerInnen im Dorf schie­nen ihren Atem anzu­halten, bis zwei Tage spä­ter, nachdem die Leichen der Soldaten geborgen worden waren, ein Abschuß durch die Guerilla von of­fizieller Seite ausgeschlos­sen wurde.
Am 11. Januar fand die Ein­schüch­terungs­kam­pagne der Bun­des­armee ihren vorläufigen Hö­hepunkt: Gegen Mittag don­nerte ein Hubschrauber im Tief­flug über die Stroh- und Well­blech­dächer der Holzhäuser hin­weg. Eine klare Verlet­zung einer der in San An­drés getroffenen Vereinba­rungen, die der me­xikani­schen Armee Tiefflüge und Stops in den Gemeinden un­tersagen. Einige Stunden spä­ter wurde das Dorf von einer ängstlichen Aufregung ergriffen. Unzählige indí­genas liefen auf dem Dorf­platz zusammen, re­de­ten laut und wild gesti­kulierend durcheinander und deute­ten auf den Himmel: Es war kein Mo­to­rengeräusch zu hö­ren und doch war da ein Dü­senflugzeug zu er­ken­nen, das in einigen hundert Me­tern Höhe das Tal überflog. Von einer Frau erfuhr ich den Grund für die Aufregung. Das da oben war eines jener Flug­zeuge, die so­wohl in den ersten Ja­nuartagen 1994 Dörfer und Men­schen bombardiert hatten, als auch Vor­boten der Regie­rungs­of­fensive vom Februar 1995 gewesen waren: Pila­tus C-7, mit Bordkanonen und Luft-Bo­den­ra­keten bestückte Auf­klä­rungs­flug­zeuge aus der Schweiz.

Nichts wirklich Neues auf 107.1

Der 11. Januar war ein Samstag. An diesem Tag um sieben Uhr abends ist es Zeit in der Selva La­candona, das Radio ein­zuschalten, denn das ist die einzige Stunde in der Wo­che, in der auf UKW 107.1 “Radio Insurgentes”, der revolutionäre Sender der EZLN, zu empfangen ist. Zwischen Revolutionslie­dern aus allen Ecken und Zeiten Lateinamerikas mel­det sich ab und zu eine ru­hige In­dí­genastimme, sagt die Zeit an oder grüßt die zuhörenden Zi­vilistInnen und Milizen. An jenem Abend jedoch kündigte die Stimme schon nach dem ersten Lied eine Botschaft der EZLN-Kom­mandantur an. Dio­nicio, einer der Kir­chenältesten, saß bei mir am Tisch und spielte voller Enthusiasmus “Schnipp-Schnapp” mit einem Kind, wäh­rend sich die Gemeinde draußen all­mählich zum Gottesdienst ver­sammelte. Sobald klar wurde, was da über den Äther kommen sollte, strömten mehr und mehr Menschen in meine Hütte, um der lange er­warteten Nachricht zu lau­schen. Mit starken Worten wies Marcos die Vorschläge der Regierung zurück und be­zeich­nete sie als Ver­spottung der zapatistischen Forderungen. Das Verhal­ten der Regierung sei eine Provokation zum Krieg. Den indígenas, die in den ersten Januartagen des Jahres 1994 im Kampf um Land und Freiheit ihr Le­ben gelassen hatten und all jenen Dorfgemeinden, die den Kampf der EZLN un­terstützten, sei es geschul­det, den Kampf um die Erfüllung der Forderungen fortzuführen und sich nicht mit einem faulen Kompro­miß zu­frie­denzugeben.

Ein mißverstandenes Erdbeben

Nach Ende der Übertra­gung war es erst einmal eine Minute lang still, dann kamen die ersten Re­aktio­nen. Niemand schien über­rascht. “Was soll’s”, war der Tenor, “dann gibt es halt Krieg. Was haben wir zu verlieren.” All­gemeines Achselzucken ge­folgt von einer gedämpften Dis­kus­sion, die in ein erleichtertes Lachen mündete. Schon wurden wieder die ersten Witze gemacht. Dann rich­tete sich die Auf­merksam­keit auf mich: “Hast du etwa Angst, Nico? Du hast doch Angst, oder?”
Zwar hatte Marcos der Regierung einen Tag Zeit ge­geben, dennoch herrschte unter den Dorf­bewohnerInnen an je­nem Abend Nervosität. Wenige Stun­den nach dem Kommuniqué kam in den Nachrichten eine Meldung über Stromaus­fälle in der Hauptstadt und in den west­lichen Teilen des Lan­des. Die Anwesen­den zogen sofort den Schluß, daß eine Kampagne der EZLN bereits begonnen ha­be. Da die Vorstellung, ein Großteil der mexikani­schen Be­völkerung sei auf ihrer Seite, bei den Dorf­bewohnerInnen sehr ver­breitet ist, paßte die Idee von den sie unterstützenden Massen, die be­reits mit der Lahmlegung des Elek­tri­zitätsnetzes begonnen hät­ten, genau ins Bild. Doch schon bald erfuhren wir von einem anderen Sender, daß es sich bei den Stromausfällen um die Fol­gen eines Erdbebens ge­handelt hatte.
Am nächsten Morgen ver­lie­ßen 30 bewaf­fne­te jun­ge Männer das Dorf, um die Auf­stän­dischen in den Ber­gen zu ver­stär­ken. Auch wenn der Frie­den vor­läu­fig ge­wahrt bleibt, so ist die Lage noch längst nicht ent­schärft. Es steht in den Sternen, wann die Milizionäre in die Dör­fer zurück­kehren und bis dahin ist davon auszugeh­en, daß sich die Zahl der kampfbereiten Gue­ril­leros in den Ber­gen von Chiapas im Ver­gleich zu den Wo­chen davor ver­viel­facht.

Editorial Ausgabe 272 – Februar 1997

Durch die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima rückte die peruanische Guerilla MRTA unerwartet ins Rampenlicht. Das Medienspektakel legte den Vergleich mit der EZLN nahe, deren Aufstandsbeginn sich diesen Januar zum dritten Mal jährte. Der Medienpräsenz wegen ist gelegentlich von einer neuen Qualität bewaffneter Erhebungen die Rede, ja es hat sogar den Anschein, als sei die globale Öffentlichkeit wichtiger als die lokale Aktion. Aber EZLN und MRTA lassen sich nicht ohne weiteres auf einen Nenner bringen.
Außer der Freisetzung des guatemaltekischen Botschafters -mit Blick auf das dortige Friedensabkommen im Dezember 96- ist der MRTA bisher kein symbolträchtiger Coup gelungen. Ihre Aktion erinnert an die siebziger Jahre und wirkt heute anachronistisch. Sie ist aus ihrer Sicht verständlich als Versuch, die gefangenen Mitglieder aus unmenschlichen Haftbedingungen freizupressen, aber eine Utopie, darin besteht weithin Konsens, ist so nicht mehr umsetzbar. Der zeitgleich abgeschlossene Friedensvertrag in Guatemala spricht eine andere Sprache, die mit der Botschaftsbesetzung wenig gemein hat.
Die EZLN verkörpert hingegen einen neuen Ansatz von Aufstandsbewegung. Sie unterscheidet sich sowohl in verbaler als auch politischer Praxis von anderen Guerillas. Ihr ging es von vornherein nicht primär um Kriegsgebaren und militärische Siege, sondern um friedliche Lösungen, bei denen die Zivilgesellschaft mobilisiert und in einen Prozeß grundlegender Demokratisierung einbezogen werden sollte.
Die Zapatisten in Chiapas bedienten sich in schneller Folge unterschiedlicher Strategien, ohne je im Dogmatismus zu verharren. Sie führten neue Werte in die politische Kultur ein, die auf die Formel “Ethik statt Linientreue” zu bringen wären. Ihr ging es um eine “gehorchend be-fehlende” Gemeinschaftsdemokratie. Von der MRTA ist sie damit ähnlich weit entfernt wie von der EPR im mexikanischen Guerrero.
Der dynamische Vorstoß der EZLN entspricht jedoch nicht ihrem konkreten politischen Erfolg. Die Zivilgesellschaft hat sich nicht in dem erwarteten Maße in einer zapatistischen Bewegung engagiert. Wenngleich der Widerhall in aller Welt enorm ist- es bleibt eine ent-täuschte Hoffnung, enttäuscht sowohl von der Unbeweglichkeit politischer Eliten als auch von mangelndem praktischen Engagement der “Massen”.
Aber auch die politisch mobilisierten Indigenas sehen pressen, aber eine Utopie, darin besteht sich immer wieder schwerstens getäuscht kein Wunder angesichts der Ausdauer, mit der die Verhandlungen von Regierungsseite behindert und Übereinkünfte und mißachtet werden.
Das Rückzugsgefecht der MRTA vermag als politisch-kämpferische Strategie neuen Ansatz von Aufstandsbewegung. nicht zu überzeugen. Die Utopie einer partizipativen, gerechten Zivilgesellschaft, die die EZLN aufgriff, ist hingegen nicht überlebt. Aber der Versuch, sie ausgehend von Chiapas in die Wirklichkeit zu übersetzen, scheint vorerst nicht zu gelingen. Wohin mit der Hoffnung?

Wollmützen auf der Bühne

Im Morgengrauen rückte sie an, die gefürchtete Justizpolizei. Mit Knüppeln bewaffnet spran­gen die Männer aus ihren Kom­bis und schlugen wahllos auf die versammelten Indígenas ein, egal ob Männer, Frauen oder Kinder. Die Scheinwerfer der Polizei­hubschrauber tauchten die Stra­ßen der chiapanekischen Stadt Venustiano Carranza in helles Licht. Dann fielen Schüsse auf die rund 500 Menschen, die sich dort eingefunden hatten. Drei Personen starben an diesem 9. November, ein zwei Tage altes Baby wurde zum Halbwaisen. Seit Tagen hielten die Campesi­nos die Straße nach Tuxtla Gutiérrez besetzt. Ihre Forderun­gen waren eher bescheiden: Mehr Geld für den Mais, den sie anbauen und von dessen Verkauf sie leben. Sie hofften auf Ver­handlungen mit der Regierung, auf die Erfüllung ihrer Forderun­gen. Doch die Machtinhaber in Chiapas schlugen hart zurück.
Knapp eine Woche zuvor, in der Nacht zum 4. November, hatten die berühmt-berüchtigten und allgegenwärtigen “Un­be­kann­ten” den Sitz der Co­or­di­na­do­ra Nacional por la Pa­ci­fi­ca­ción (CONPAZ) in San Cristóbal de las Casas überfallen, Unter­la­gen und Lebensmittel entwendet und anschließend die Büros in Brand gesteckt. Sie hinterließen Sprüche wie “Tod den Za­pa­ti­sten!” und “Weg mit den Za­pa­ti­sten! Man will Euch nicht.” Am näch­sten Tag fand sich auf dem An­rufbeantworter eine Mord­dro­hung gegen 26 Mitarbeiter aller Nicht-Regie­rungsorganisationen, die sich in der CONPAZ zu­sam­men­ge­schlossen haben. “Wir wer­den Euch alle umbringen, einen nach dem anderen. Und da, wo es Euch am meisten weh tut: Auch Eure Kinder!” sprach eine fin­stere Stimme vom Tonband. Um die Drohung zu unter­strei­chen, entführten die Täter den Ge­schäftsführer von CONPAZ und seine ganze Familie, schlu­gen ihn vor den Augen seiner Kin­der zusammen und entließen ihre Opfer mit kahlgeschorenem Kopf nach fast dreitägiger Haft.

Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser

Der Zeitpunkt war nicht zu­fällig gewählt. Die Morddrohun­gen und die Entführung fanden just zu einem Zeitpunkt statt, als sich viele Augen nicht nur in Me­xiko wieder einmal auf Chia­pas und auf San Cristóbal rich­te­ten. Für den 4. November war ur­sprünglich die Einrichtung der “Kom­mission zur Verfolgung und Überwachung des Friedens­ab­kommens von San Andrés Larráinzar” geplant. Hinter die­sem komplizierten Namen ver­birgt sich eine aus VertreterInnen der mexikanischen Regierung, der ZapatistInnen sowie der par­lamentarischen (COCOPA) und der kirchlichen (CONAI) Ver­mittlerorganisationen zusam­mengesetzte Instanz zur Ge­währleistung aller in Zukunft vereinbarten Abkommen zwi­schen den KontrahendInnen im Chiapas-Konflikt. Die Einrich­tung einer solchen Kommission gehörte zu den zentralen Forde­rungen des EZLN, um die Si­cherheit ihrer KämpferInnen und der überwiegend indigenen Be­völkerung in den umkämpften Zonen zu verbessern. Dieses “Eingeständnis” konnte die Bun­desregierung offenbar nicht ma­chen, ohne noch einmal ein­drücklich zu zeigen, wer denn eigentlich Herr im Hause Me­xiko ist. Drei Tage lang hielten sie die in San Cristóbal ver­sammelte EZLN-Delegation hin, bevor die Kommission offiziell ihre Arbeit aufnehmen konnte. Die von der Regierung zu stel­lenden Vertrauensleute wurden, obwohl es drei Wochen vorher Zeit gegeben hätte, erst einen oder zwei Tage vor Termin an­gesprochen. Zudem waren die Delegierten zum Teil für die Za­patistInnen unannehmbar, so daß diese ihre Zustimmung versag­ten.
Doch als die Kommission am 7. November endlich offiziell ins Leben gerufen wurde, revan­chierte sich die Guerilla auf ihre Weise. Ihr ursprünglich nicht eingeplanter Fußmarsch vom Ort der gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen – von dem ehe­maligen Kloster El Carmen zum Stadttheater von San Cristóbal – geriet zu einem regelrechten Tri­umphzug für die Comandantes mit ihren charakteristischen, nur Augen und Mund freilassenden Wollmützen. Auch im Saal des renovierten Theaters lagen die Sympathien der meisten Anwe­senden eindeutig bei den Zapatist­Innen. Doch es war nur ein kleiner propagandistischer Sieg in Anbetracht der Verzöge­rungstaktik der Bundesregierung. “Die Regierung will uns nur hin­halten und zum Aufgeben brin­gen,” zeigt sich denn auch Co­mandante Ramón etwas resi­gniert. Im Anschluß erklärt er zwar, das EZLN habe alle Zeit der Welt. Doch so ganz überzeu­gend klingt das nicht.
Nicht wenige politische Be­obachter sind der Auffassung, daß der EZLN-Aufstand letzten Endes nur der Regierungspartei PRI genutzt habe. Das stimmt si­cherlich nicht, diese Aussage muß zumindest auf die opposi­tionelle Partei der Nationalen Allianz (PAN) ausgeweitet wer­den. Die Rechtskonservativen haben erst am 24. November er­neut ihre wachsende Popularität unter Beweis gestellt. Bei den Kommunalwahlen in mehreren Bundesstaaten konnte die PAN in vielen Städten Siege erringen und ließ die linke PRD (Partei der Demokratischen Revolution) deutlich hinter sich. Und überall dort, wo die PAN auf Bundes­staatsebene zum zweiten Mal die Regierung stellt, vor allem in Baja California, ist ein neues Phänomen zu beobachten: Die PRI, aufgrund der heterogenen Struktur mehr ein Regierungsap­parat als eine Partei, zerfällt zu­sehends. Zumindest in der bishe­rigen Form sind ihre Tage ge­zählt. Diese Entwicklung werden wohl auch Wahlmanipulationen und Politikermorde nicht mehr aufhalten können. Dazu immer­hin hat der ZapatistInnenauf­stand wesentlich beigetragen.

“Wir haben der Regierung keinen einzigen Erfolg abringen können”

Wie würdet Ihr die entschei­den­den Gründe für den Auf­stand der ZapatistInnen in Chia­pas be­schreiben?

Comandante Ramón (C.R.): Wir als Zapatisti­sche Befrei­ungs­armee haben immer wieder betont, daß wir den bewaffneten Kampf aufgenommen ha­ben, weil wir die Fruchtlosigkeit ein­ge­sehen ha­ben, mit friedlichen Mit­teln gegen die Regierung zu kämpfen. Denn sie hat uns gar nicht angehört und ist nicht auf un­sere Bedürfnisse und Forde­run­gen eingegangen. Es blieb uns keine andere Mög­lichkeit, als uns zu organisieren und die Waf­fen zu erheben. So haben wir am 1. Januar 1994 den be­waff­ne­ten Kampf aufgenommen. Wir glau­ben, daß uns die Regierung zu­mindest so zuhört.

Gilt das auch heute noch?

C.R.: Zu Beginn des Krieges sah es so aus, als ob die Regie­rung uns endlich zuhören würde. Seit dem Beginn der Friedensge­sprä­che von San An­drés gibt die Re­gierung zwar immer wieder vor, auf unsere Forderungen ein­ge­hen zu wollen, aber wir sehen auch ihre tatsächlichen Beweg­grün­de. Denn ihre Haltung weist nicht darauf hin, daß sie unsere Prob­leme wirklich lösen will. Sie wol­len uns nur hinhalten und zum Aufgeben bringen, das ist die Politik der Regierung.

Damit greifst Du schon auf die nächste Frage vor: Welche Er­folge habt Ihr als Zapatisti­sche Be­freiungsarmee drei Jah­re nach dem Beginn des be­waff­ne­ten Kampfes vorzuwei­sen?

C.R.: Unser Volk hat sich sein Land zurückge­nom­men – das wird jetzt wieder gemeinschaft­lich be­arbeitet. Genauso wie wir es immer gesagt ha­ben, bearbei­ten wir das von uns kontrollierte Land in kollektiver Form. Denn: Wenn wir es aufteilen, reicht es nicht für alle. Wir haben unser ur­sprüngliches Land und etliche Groß­grund­be­sitz­tümer zurück­ge­won­nen. Das sind un­sere Fort­schrit­te, aber die Regierung hat uns immer wieder vertrieben, sie steht letztlich dahinter, daß die guardias blancas organisiert und Cam­pesinos be­waff­net wurden, da­mit wir uns untereinander be­krie­gen. Das spielt sich momen­tan in den Kon­flikt­ge­bieten ab.
Wir haben jedoch der Regie­rung bislang keinen einzigen kon­kreten Erfolg abringen kön­nen. Der entscheidende Fort­schritt unseres Kampfes liegt da­rin, daß wir die Unterstützung gro­ßer Teile der Zivilgesellschaft ge­winnen konnten. Das Haupt­ge­wicht liegt im Moment auf dem po­litischen Kampf. So konnte die Arbeitsgruppe zur Rechts­la­ge und zur Kultur der indigenen Be­völ­kerung ihre Ar­beit auf­neh­men, und es gibt ei­nige Ab­kom­men, aber die Regie­rung hat bis­her nichts eingehal­ten. Nicht ei­nen Punkt.

Die letzten Tage haben deut­lich gemacht, daß die Regierung wei­terhin zeigen will, wer Herr im Hau­se ist. Wie kann das EZLN dieser Politik be­geg­nen?

C.R.: Wir geben unseren Kampf nicht auf, denn das ist der Wil­le des Volkes. Wir machen kei­nen ein­zigen Schritt zurück, wir werden weiterkämp­fen. Die Re­gierung stellt uns Fallen, mit dem Ziel, daß wir den Dialog ab­bre­chen. Den Krieg hat letzten En­des die mexikanische Zivilge­sell­schaft gestoppt, und wir müs­sen ihren Willen respektie­ren. Aber einige Erfolge haben wir in den drei Jah­ren durchaus errun­gen. Als wir den bewaffneten Auf­stand begannen, wußten wir nicht, ob das Volk auf unserer Seite stehen würde. Und jetzt se­hen wir, daß das Volk Gerech­tig­keit fordert. Denn wir führen un­se­ren Kampf für ganz Mexiko, nicht nur für Chiapas. Wenn wir den Frieden erreichen, gilt er nicht nur für Chiapas, sondern für ganz Mexiko.

Habt Ihr damals am 1. Ja­nu­ar 1994 bereits mit einer der­ar­ti­gen Unterstützung gerechnet oder wie habt Ihr die Lage ein­ge­schätzt?

C. R.: Wir sind nicht davon aus­gegangen, daß uns die Bevöl­ke­rung als Armee akzeptieren wür­de. Und wir dachten nicht, daß der Krieg schon nach 6 oder 12 Tagen zu Ende gehen würde. Wir hatten uns zehn Jahre lang vor­bereitet und hatten nicht ein­ge­plant, daß wir uns so schnell zu Gesprächen zu­sammensetzen wür­den.

Der Kampf im EZLN bedeutet zwei­fellos er­hebliche Ein­schrän­kungen in vielerlei Hin­sicht. Worauf müßt Ihr als Za­pa­tistInnen verzichten?

Comandante Leticia (C.L.): Unsere Hauptauf­gabe besteht da­rin, die Kämpferinnen im Za­pa­ti­sti­schen Befreiungsheer zu or­ga­ni­sieren und auf ihre Arbeit vor­zu­bereiten, damit sie gemein­sam mit uns kämpfen können. Schließ­lich sind wir Frauen am stärk­sten benachteiligt und wur­den seit vielen Jahren nie richtig wahr­genommen. Deshalb muß­ten wir kämpfen, um Verände­run­gen und ein wür­diges Leben für die Compañeras zu erreichen. Das Opfer, das wir für die Teil­nah­me am Kampf auf­bringen, ist er­heblich, denn für uns Frauen ist es immer schwieriger, unser Zu­hause und die Familie zu ver­las­sen. Es ist viel Arbeit, die uns oft schwer­fällt, aber was bleibt uns anderes übrig? Wenn wir nicht kämpfen, wird sich unsere Lage nie verän­dern.

Die zapatistischen Kämpfe­rin­nen haben si­cherlich keine Kinder…?

C. L.: Einige schon. Wir ha­ben alle das Recht, selbst zu ent­schei­den, was wir machen wol­len. Hier wird kein Unterschied ge­macht zwischen denen, die Kin­der haben, und denen, die kei­ne ha­ben. Das Entscheidende ist es, zum Kampf bereit zu sein. Kei­ner der zapatistischen Kämp­fe­rinnen wird in Sachen Le­bens­weise etwas verboten.

Wie groß ist der Anteil der Frau­en im EZLN? Gibt es gleich viele Männer und Frauen oder sind die Männer in der Überzahl?

C.L.: Das Verhältnis ist in etwa gleich. Und es werden auch kei­ne Unterschiede zwischen Män­nern und Frauen gemacht. Wir stehen in einem ge­mein­sa­men Kampf, und die Männer sind sich über die wichtige Rolle der Frauen im Klaren. Viele Com­pañeros kämpfen für die Ver­besserung ihrer La­ge und für Frie­den und Demokratie, für Ge­rech­tig­keit und Würde. Das vor allem wollen wir für unsere Com­pañeras erreichen, nicht nur für die indigenistischen Compas, denn wir sind weitaus mehr. In der ganzen Welt gibt es Leute, die den Kampf der ZapatistInnen mit Interesse ver­folgen.

Durch die Berichterstattung aus Mexiko haben wir in letzter Zeit vor allem von der Coman­dan­te Ramona gehört. Welche Rol­le spielt sie innerhalb der za­pa­tistischen Frauen?

C. L.: Sie war die Vertreterin aller Frauen in­ner­halb des EZLN. Wie gesagt, wir sind ein Kol­lektiv, und sie hat uns alle beim Indígena-Kongress in der Haupt­stadt vertreten. Damit alle se­hen konnten, daß wir keine Prob­leme haben, uns als Frauen in der Öffentlichkeit zu präsen­tie­ren und in einen an­de­ren Bun­des­staat zu fahren.

In den Nachbarländern Gua­te­mala und El Sal­vador sind jahre­lange Guerillakriege zu Ende ge­gangen, die vor allem im Fall El Salvadors auch mi­li­tä­risch erfolgreich waren. Dort hat sich die FMLN aber mitt­ler­weile in das politische All­tags-Geschehen und Geschäft in­te­griert und von den Zielen des ein­stigen Kampfes entfernt. Wel­che Über­legungen stellt Ihr an, um einen ähnlichen Aus­gang in Chiapas zu vermeiden?

Comandante Valentín (C.V.): Wir vergleichen uns nicht mit dem Kampf in El Salvador. Un­ser Kampf begründet sich auf die Tra­dition von Emi­liano Zapata. Auch Zapata hat nicht darum ge­kämpft, an die Macht zu kom­men. Seine Hauptfor­derung war die, das Land solle denen gehö­ren, die es bearbeiten. Auch wir wol­len, daß uns das Land zu­rück­gegeben wird: Denn das Land gehört uns. Es gehörte un­se­ren Großvätern, Urgroßvätern, und es ist uns weggenommen wor­den. Die FMLN in El Sal­va­dor ist im Gegensatz zu unseren An­sprüchen ei­ne Partei, die ger­ne die Macht übernehmen wür­de. Wir aber wollen die Macht nicht. Wir wollen, daß es Frei­heit gibt, Demokratie, Ge­rech­tig­keit – alles für alle (“todo para todos”). Dafür kämpfen wir.

Bedeutet das, wenn die soziale Ge­rechtigkeit ein­mal erreicht ist, zieht Ihr Euch zurück und geht nach Hause?

C.V.: Wenn wir das erreichen soll­ten, ziehen wir uns nicht zu­rück, sondern führen die politi­sche Arbeit fort. Auch wenn un­se­re Ziele erreicht sind, hö­ren wir, sofern es uns dann noch gibt, nicht auf zu kämpfen. Das Land muß noch wiederaufgebaut wer­den.

Welche Mindestforderungen müs­sen erfüllt sein, damit Ihr den bewaffneten Kampf zugun­sten des rein politischen auf­gebt? Und sogar die Woll­müt­zen absetzt?

C.V.: Nicht bevor die letzte der von uns gefor­derten Arbeits­grup­pen eingerichtet ist. Wir wol­len sechs verschiedene Ver­hand­lungsgruppen ins Le­ben ru­fen. Aber im Augenblick ist der Dia­log prak­tisch unterbrochen. Denn die Regierung will uns nicht als Gesprächspartner ak­zep­tieren. Wenn die Re­gierung sich weiterhin so arrogant ver­hält, geben wir natürlich auch kei­nen Schritt nach. Wir müssen mo­mentan weiter auf die Waffen set­zen, weil uns kein anderer Weg bleibt.

Comandante, warum schreibst Du alle Fragen auf?

Comandante Ramón: Ich tue das deshalb, weil alles, worüber wir hier sprechen, nicht auf die­sen Augenblick beschränkt blei­ben kann. Wir handeln als Kol­lek­tiv, wir sprechen als Kollek­tiv, und alle Fragen richten sich an uns als Kollektiv. Und so kom­men die Interviewfragen auch unserem Volk zu Ohren. Denn ich kann hier nicht als Ein­zel­person sprechen. Alle wollen wis­sen, was die in­ternationale Ge­meinschaft interessiert, wel­che Fra­gen sie stellen. Oft wer­den uns Dinge versprochen, die nicht eingehalten werden. Oder es wird be­hauptet, die Interviews wer­den veröffentlicht, und nichts da­von geschieht, die Sachen lan­den in den Archiven oder wer weiß wo. Außerdem bin ich sehr ver­geßlich.

Ein anderes Thema: Zumin­dest im Ausland wird das Bild der ZapatistInnen im Wesentli­chen durch den Subcomandante Mar­cos bestimmt. Gleich­zeitig ist der Chiapas-Konflikt aber ein Kampf der Indígenas für For­derungen der Indí­genas. Wie geht Ihr mit diesem schein­ba­ren Wi­der­spruch um?

C.V.: Richtig, die meisten neh­men nur den Sub­comandante Mar­cos wahr. Aber da besteht eine Ver­wirrung, weil Marcos nicht die Führung ist. Marcos ist le­diglich ein Compañero mehr. Mar­cos sind wir alle. Warum sage ich das so? Weil die Füh­rung kollektiv funktioniert, die Füh­rung liegt bei den schon er­wähn­ten Komitees, den Revolu­tio­nä­ren Indígena-Untergrund­komi­tees. Von ihnen hängt ab, was gemacht wird. Marcos kann nicht alleine entscheiden, son­dern die Leitung arbeitet al­les kol­lektiv aus.

Bedeutet das nicht, daß durch die Konzentra­tion der Medien auf Marcos ein etwas verzerrtes Bild vom EZLN erzeugt wird?

C.V.: Nein. Er ist zwar am mei­sten hervorge­treten, und da­rum wird er am ehesten aner­kannt. Aber wenn wir von der Lei­tung sprechen, die wie gesagt bei den Komitees liegt, dann weiß ja keiner, wo die genau sind. Da ist der Unterschied, bei Mar­cos wissen sie, wo er ist, aber von den Untergrundkomi­tees eben nicht. Das ist geheim.
C.R.: Um das etwas zu ergän­zen, was Coman­dante Valentín eben gesagt hat: Zu der Frage, warum der Subcomandante Mar­cos immer auf den Fotos er­scheint, ist zu sagen, daß wir im EZLN keine Unterschiede zwi­schen den verschiedenen Leuten ma­chen. Wer sich bei uns einrei­hen möchte, wird akzeptiert, Frau­en, Männer, Mesti­zen. Haupt­sache, er will sich unserem Kampf an­schließen, egal welches Ge­schlecht, welche Reli­gion er hat. Und so hat der Subcoman­dan­te Marcos durch seine Arbeit und unsere Unterstützung den Po­sten erworben, den er jetzt ein­nimmt. Marcos erscheint un­ter anderem häufiger auf Fotos, weil er die militärische Führung hat. Er hat den Auftrag, die Trup­pen zu befehlen, die Ge­neh­mi­gung, diese Arbeit zu ma­chen, aber auch er unterliegt den Ent­schei­dungen des Untergrund­ko­mi­tees.

Unter welchen Schwierigkei­ten leidet Ihr und leiden alle In­dí­genas in Chiapas derzeit am mei­sten? Was macht der Bevöl­ke­rung hier am mei­sten zu schaffen?

C.R.: Das größte Problem für un­sere Völker sind die Militari­sie­rung, die paramilitärischen Grup­pen, die Aufstandsbekämp­fung, die “weißen Wachen” (guardias blancas), die von der Re­gierung geschaffen wurden, um unsere Völker zu schwä­chen, die Menschenrechtsverletzungen durch die Bundesarmee. Sie be­stim­men im Moment ent­schei­dend unser Leben und das unse­rer zapati­stisch kämpfenden Be­völ­kerung.

Und was schränkt, abgesehen von der Repres­sion, die Ent­wick­lung der Menschen in die­ser Re­gion am meisten ein?

C.R.: Ein großes Problem ist, daß die Campesi­nos wegen der An­wesenheit des Militärs im Mo­ment ihre Felder nicht mehr be­stellen können. Sie erlauben uns praktisch keine Feldarbeit. Das Leben wird dadurch immer schwie­riger, denn aufgrund der Blockade durch die Armee pro­du­zieren wir weniger. Es gibt daher bei unseren Völkern mehr Hun­ger als sonst ohnehin schon.

Jeder im politischen Kampf En­gagierte hat ja nicht Ziele vor Augen, sondern auch Träu­me und Hoffnungen. Was sind Eure Hoffnungen für die Zu­kunft? Von welchem Mexiko träumt Ihr für das Jahr 2000?

C.R.: Das wissen wir noch gar nicht. Träume können wir uns viele vorstellen, darüber, wohin wir in drei Jahren kommen könn­ten. Aber dazu können wir noch nichts sagen, weil wir uns an die Tat­sachen halten müssen. Wenn wir uns etwas vornehmen, kann es sein, daß wir es nie er­reichen. Wir werden weiterma­chen. Denn wir erleben die größten Probleme der indigenen Völker wirklich und faßbar als Krankheiten. Hier gibt es keine Kli­niken, keine Ärz­te, es sterben viele Kinder an Unter­ernährung. Die Regierung führt seit vielen Jahren Krieg gegen uns, aber wir haben es nicht gemerkt. Und darum müs­sen wir weiterma­chen. Für uns steht bei den Ver­handlungen auch nicht das Nie­derlegen der Waf­fen zur Dispo­sition, so­lange die Regierung diese Probleme nicht löst.

Erst vergessen, dann verschleppt

Viel hat sich im Leben der Men­schen in Loxicha nicht ver­än­dert, seit zapotekische In­dí­ge­nas vor 300 Jahren mit Santa Cata­rina und der jetzigen Kreis­haupt­stadt San Agustin die ersten der mittlerweile 32 Gemeinden die­ses Landkreises gründeten. Als Transportmittel dienen Esel und seltener auch Pferde, um die spär­lichen Maiserträge, die sich den kargen Böden abtrotzen las­sen, von den Feldern zu holen. Spa­nisch ist für die meisten der 35.000 BewohnerInnen eine Fremd­sprache und die Analpha­be­tenrate liegt bei 80 Prozent. Me­di­zinische Versorgung für Loxicha ist im Haushaltsbudget der seit 70 Jahren regierenden Staatspartei PRI nicht vorgese­hen. Lediglich ein Arzt, dessen Mög­lichkeiten aufgrund fehlen­der Medikamente in der Land­kli­nik mehr als begrenzt sind, steht den Menschen dieser Re­gion zu Dien­sten. Lastkraftwa­gen gibt es kaum und nur ein Bus quält sich täg­lich die schlängelnde Schot­ter­piste hin­auf, um die Pas­sa­giere ins 60 Kilometer, aber drei Fahrt­stunden ent­fernte Städtchen Mia­huatlán zu bringen. “Die Re­gie­rung hat uns hier in den Ber­gen einfach ver­gessen”, klagt ein al­ter Campe­sino, “nicht einmal eine Straße gibt es.” Doch mit dem Leben in Abgeschiedenheit ist es nun end­gültig vorbei.
Begonnen hatte alles Anfang Sep­tember 1996, als 1200 Be­woh­nerInnen Loxichas zu Fuß zur Landeshauptstadt Oaxaca auf­brachen, um die Freilassung von Francisco Valencia zu for­dern. Dieser war in einer Militär­sper­re mit angeblich subversiven Schrif­ten festgenommen worden. Nur zehn Tage nach dem Protest im 130 Kilometer weiter nörd­lich gele­genen Regierungssitz wur­de San Agustin von Armee- und Poli­zeieinheiten besetzt. Un­ter dem Vorwurf, die im an­gren­zen­den Bundesstaat Guerrero auf­ge­tauchte Guerilla EPR zu un­ter­stützen, wurden zwanzig Per­so­nen – darunter der PRI-Bür­ger­meister und die Polizisten der Kreis­stadt – festgenommen. Acht Be­wohner San Agustins wur­den wenig später, mit von Fol­terspu­ren gezeichneten Kör­pern, frei­ge­lassen. Einige be­fin­den sich in Ge­fängnissen außer­halb Oaxa­cas, von anderen fehlt bis­her je­des Lebenszeichen.
Wiederum machten sich die Men­schen auf den Weg, um für die Freilassung ihrer Angehöri­gen zu demonstrieren. Diesmal wa­ren es 600 Menschen, die bis zum Präsidentenpalast der 600 km entfernten mexi­ka­ni­schen Haupt­stadt aufbrachen. Mit Ver­spre­chungen, die vor­ge­tra­genen Kla­gen zu prüfen und der notlei­den­den Bevölkerung mit Nah­rungs­mittelzuweisungen zu hel­fen, wurden sie nach Hau­se ge­schickt. Doch daraus wur­de nichts. Statt der erhofften Le­bens­mittel kamen am 7. No­vem­ber erneut Polizeitrupps und Sol­da­ten: 22 BewohnerInnen San Agustins – unter ihnen der Lehrer Lau­reano Ramirez – wurden ver­haf­tet. Als Grund dieses Über­falls wurde von staatlicher Seite er­neut das Auftreten der EPR ge­nannt.
Am 28. Oktober hatte die nach der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung EZLN nun zweite in Mexiko operie­ren­de Guerilla ihren einseitigen Waf­fenstillstand für beendet er­klärt und eine bewaffnete Kam­pag­ne eingeleitet. Bei mehreren Über­fällen auf Polizei- und Ar­mee­posten in den Bundesstaaten Guer­rero, Oaxaca und Mexiko wur­den 20 Angehörige der Poli­zei und Armee von Kommandos der EPR erschossen, weitere 20 ver­letzt. Bei keinem dieser EPR-An­griffe hatte es eigene Verluste oder Verhaftete gegeben.
Trotz penibler Hausdurchsu­chun­gen waren in San Agustin kei­nerlei Waffen oder Militär­klei­dung gefunden worden. Den­noch wurden der Öffentlich­keit meh­rere Bewohner aus Loxicha als Mitglieder der EPR prä­sen­tiert. Nach Angaben der un­ab­hän­gigen Menschenrechts­or­ga­ni­sa­tion Limeddh waren diese ge­zwun­gen worden Ar­mee­uni­for­men anzuziehen und sich mit Waf­fen in Händen fo­tografieren zu lassen. Somit konnte die Re­gie­rung in der Presse erste Erfolgs­meldungen im Kampf ge­gen die EPR ver­melden. Al­ler­dings kam die staatliche Version, daß die ver­meintlichen Gue­ril­le­ros in Tarn­anzügen und zudem be­waffnet ohne Widerstand in ih­ren Häu­sern festgenommen wer­den konn­ten, nicht wenigen Be­obachterInnen seltsam vor. Schließlich ist das Polizeimassa­ker an unbewaffneten Campesi­nos am 28. Juni 1995 nahe der Tou­ristenmetropole Acapulco in Guer­rero noch allen im Gedächt­nis. Damals waren den 17 zum Teil durch Genickschüsse er­mor­de­ten Bauern Waffen in die Hän­de gedrückt worden, um das bar­ba­rische Vorgehen der Staats­or­ga­ne zu rechtfertigen. Zwar konnte das “Waffensäen”, wie der­artige Polizeipraktiken in Me­xi­ko genannt werden, von in­ter­na­tionalen BeobachterInnen nach­gewiesen werden, das Echo die­ser Bluttat hallt jedoch nach. Ein Jahr später, während der Ge­dächt­nisfeier am Ort des Massa­kers Aguas Blancas, trat die EPR erst­mals in Erscheinung und er­klär­te der mexikanischen Regie­rung den Krieg.
Für die BewohnerInnen Lo­xi­chas hat ein Alptraum begon­nen. Nie­mand weiß genau zu sa­gen wie­viele Angehörige ver­haftet oder verschwunden sind. Weder Poli­zei noch Armee wol­len Aus­künfte über den Verbleib einiger Ver­schleppter machen. Und die Re­pression gegen die Menschen die­ser Region nimmt weiter zu. Bei mehreren Polizei­razzien zwi­schen dem 26. November und dem 1. De­zember wurden in den Or­ten San Vicente Yagondoy, Loma Bo­nita, Llano Maguey, Santa Cruz de las Flores und Mag­dalena – allesamt im Land­kreis Loxicha gelegen – 24 Per­so­nen verhaftet, deren jetziger Auf­enthaltsort un­be­kannt ist. Nach Angaben der An­gehörigen sind keine Haftbe­fehle vorgelegt wor­den. Ledig­lich das Schicksal von Adrian Sebastian Antonio ist be­kannt. Er wurde am Ort seiner Fest­nahme tot­ge­foltert und lie­gen­gelassen.
Der Ruf der Menschen von Loxicha nach Gerechtigkeit, Frei­lassung der Gefangenen und dem Abzug der Armee aus ihrer Re­gion stößt bei den Regieren­den auf taube Ohren. General­staats­anwalt Pedro Martinez Or­tiz hat weitere Militäroperatio­nen angekündigt.

Ein Kongreß über Gedichte?

Wie Mitglieder eines Ge­heimbundes reisten LyrikerInnen und AkademikerInnen aus Ar­gen­tinien, Chile, Mexiko, Frank­reich, Deutschland und US-amer­ikanischen Universitä­ten nach Eugene, einer grünen Klein­stadt an der Pazifikküste. Vom 24. bis 26. Oktober vollzog sich eine poetische Inbesitz­nahme der Stadt unter dem Dach des Romanischen Instituts der University of Oregon. Sie ging im Stillen und nicht ohne Hin­dernisse vor sich, denn Flug­zeuge verspäteten sich, verirrten sich oder kamen einfach nicht an ihrem Ziel an. Schließlich reg­nete es erbarmungslos.
Schon unterwegs in den Flug­zeugen ver­suchten sich die Teil­nehmer ge­genseitig zu erkennen – sei es an einer träumerischen Ausstrah­lung, an Brillen, Bärten, sei es an der Bescheidenheit der einen, der Bedeutsamkeit der an­deren, an Kleidung, spanisch­sprachigen Büchern, Witzen oder Kompli­menten. So waren unter den Pas­sagieren die Poeten von den Po­litikern zu unterscheiden, von Managern, Schmugglern, Stu­denten, chicanos, Touristen. Nicht immer fand man sich, aber zuweilen. Die Erschöpfung nach endlosen Reisen, die Zeit­um­stel­lungen, das Wiedersehen nach vie­len Jahren, Schreie, in­nige Um­armungen, Lachen: Die la­tein­amerikanischen Diktaturen ha­ben die Menschen über den gan­zen Globus zerstreut. Als sich die Stürme der Gefühle ge­legt hatten, ging es an die Arbeit.
“The Powers of Poetry in Spa­nish, Latin American and La­ti­no/a Cultures”, so der Name des Kongresses, brachte nicht nur la­tein­amerikanische, sondern auch spa­nische Dichter und Lite­ra­tur­wis­senschaftler zusammen.

Übereinstimmungen und Kontraste im Blick

Die übli­che Aufspaltung nach Ge­ne­ra­tionen oder Ländern und die Aus­richtung auf spezielle Autoren spielte keine Rolle. Es handelte sich darum, “die Über­ein­stimmungen und Kontraste in den Blick zu bekommen, die in der zeitgenössischen Lyrik aus Spanien, Lateinamerika und – so­fern spanischsprachig – den USA be­stehen”, so Juan A. Epple, ei­ner der Organisatoren. Die über zweihundert Einsen­dun­gen, die im Vorfeld des Kon­gres­ses ge­zählt wurden, bewie­sen nach­drücklich, daß an der Be­schäf­tigung mit Lyrik reges In­teresse be­steht. Mangels Platz und Zeit konnte davon nur die Hälfte in den Kongreßverlauf integriert wer­den. So beschäf­tig­ten sich sechs parallele Ar­beitsgruppen mit den Papieren, in jeder Gruppe lasen Dichter aus ihren Werken. So gingen drei Tage dahin… Unter den angebo­tenen Themen: Der Dichter und die kollektive Seele, Weibliche Iden­tität, Homosexuelle Liebe, Technische Probleme bei Lesun­gen und Übersetzungen, Das Ver­hältnis von Poesie und Mu­sik, Poetische Gerechtigkeit, Kör­per und Text, Aids, Leroy Quintana und die chicano-Poe­sie, Die Avantgarde in Chile, Das imaginäre Wir… Es gab Re­fe­rate über Werke zahlreicher Lyriker, darunter García Lorca, Pablo Neruda, Patricio Manns, César Vallejo, Astrid Fugellie, Ga­briela Mistral.
Besonders an dem Treffen war, daß Literaturwissenschaftle­rIn­nen mit LyrikerInnen zusam­menkamen und miteinander spra­chen. Das geschieht selten. Zu den Besonderheiten zählte aber auch die Anwesenheit von drei TeilnehmerInnen, die spezi­ell eingeladen wurden und län­gere Lesungen hielten: Patricio Manns, ein in Frankreich leben­der chilenischer Komponist und Schriftsteller, sang seine Ge­schichten, durch die die Gruppe In­ti Illimani berühmt geworden war, und stellte sein “Memorial de Bonampak” vor, in dem es um das Leiden der Maya-Völker geht und der Zapatistenaufstand ein­bezogen ist… María Negroni, Ar­gentinierin, zerbrechlich, klein, fast ein Nichts, las ihre voll­tönenden Verse: “…en esto de existir/ conviene quedarse en lo oscuro…// …esa mujer/ con un balcón en la mano…// …un día me dirás que no existes/ y tu ausencia será toda mía…” (…was das Dasein anbelangt/ empfiehlt es sich, im Dunkeln zu blei­ben…// ..diese Frau/ mit einem Balkon in der Hand…// …eines Tages wirst du mir sagen, daß du nicht existierst/ und deine Abwe­senheit wird ganz mein sein…). Das Dreiergespann vervollstän­dig­te Juan Gelman, in Mexiko le­bender Argentinier, der seine Gedichte mit der Schlichtheit ei­nes Weisen las, der viele Wege gegangen ist und etwas verstan­den hat. Seine Stimme eines al­ten Kindes schlug den Takt zum launischen Regen, der gnadenlos gegen die Fenster peitschte.

Wohnhafte Schlangen und andere Viecher

Außerhalb der Universität, dem Regen näher, bot ein impro­vi­sierter Tisch die wertvollsten Schätze dieser Tagung dar: die Bücher, verfaßt von den Anwe­senden, den Fehlenden, den To­ten. Vom erst kürzlich verstor­benen Jorge Teillier die posthu­men Gedichte “Hotel Nube” (Ho­tel Wolke), von den nicht Gekommenen: Sybil Brintrup, “Va­ca Mía” (Du meine Kuh) und “Ella y las ovejas” (Sie und die Schafe), und Omar Laras “Ser­pientes habitantes y otros bi­chos” (Wohnhafte Schlangen und andere Viecher).
Der jüngste Dichter, Jesús Se­púlveda, ein chilenischer Student in Eugene, provozierte mit sei­nem frischen Humor: “…las pruebas son contundentes:/ Dios es una negra…” (…die Beweise sind stichhaltig:/ Gott ist eine Schwarze…). An seiner Seite ein Poet in Schlips und Kragen, An­drés Morales: “El hombre que come palomas/ no conoce el Pa­raíso” (Der Mensch, der Tauben ißt,/ kennt nicht das Paradies). Carlos Trujillo präsentierte Tex­te, die auf Chiloé, seiner chi­lenischen Heimatinsel im Süden der Welt geschrieben wurden. Jorge Madrazo glänzte mit sei­nen starken sinnlichen Bildern aus Argentinien. Mauri­cio Ostria schließlich stellte seine Schü­lerInnen aus Concep­ción, Chile, vor.

Keine Scheu vor schwierigen Themen

Eine der wichtigsten Sitzun­gen war der Vorstellung des Bu­ches “POESIdA” (span. si­da= Aids) gewidmet, einem kol­lek­tiven Werk unter Feder­führung von Carlos Rodrí­guez-Matar. Von Aids zu spre­chen, ist eine Sache, aber daß lateiname­ri­ka­ni­sche Männer Ge­dichte über Lie­be und Tod mit Blick auf die Krankheit schrei­ben, dürfte ein Schock für die übrigen Männer gewesen sein, eine Wunde im ma­chistischen Weltbild und schon daher von Wert.
Und es gab deutlich sichtbar ei­ne weibliche Poesie: Von der bereits erwähnten, überzeu­gen-den María Negroni zur liebe­vol­len, vitalen, verschmitzten Lyrik von Lilianet Brintrup: “Estoy en la tierra de América la del Norte/ que me avasalla per­fectamente/ en su odio por lo que represento” (Ich bin in Amerika, dem nördlichen/ das mich her­vor­ragend begleitet/ in seinem Haß auf das, was ich verkör­pere). Alejandra Basualto, stark, ero­tisch, herablassend, zärtlich: “podría morir/ de inviernos como éste/ si no supiera/ que existes” (ich könnte sterben/ an Wintern wie diesem,/ wenn ich nicht wüßte,/ daß es dich gibt). Astrid Fugellie stellte eine konfessio­nelle Lyrik vor, mit mythischer und biblischer Sprache, in deut­licher Parteinahme für die aus­gelöschten indigenen Völker: “Cier­to día me dormí y desperté intuyendo/ ser vida y muerte al mismo tiempo” (Eines gewissen Tages schlief ich ein und wollte beim Aufwachen/ Leben und Tod zur gleichen Zeit sein).

Lyrik ist Wirklichkeit

Und wozu so viel Lyrik? Wem nützt sie etwas in diesen Zeiten? Es geht darum, “sich nicht darauf einzulassen, diese Welt gefällig zu beschreiben”, so Juan Epple, sondern sich ihr zu verweigern, dissident zu sein und sich eine eigene Sprache zu er­finden.
Auf dem Rückflug wird über Bord­funk bekanntgegeben, daß Clin­ton als Präsident wiederge­wählt wurde. Die Reaktionen der Pas­sagiere waren gespalten – in Applaus und Schweigen. In die­sem Moment kommt mir das Bild von jenem Mann in den Sinn, den ich auf dem Highway bei Washington D.C. sah, ein Schild in der Hand: “I will work for food”. Und ich sage mir, auch das ist Poesie, die nackte Wirk­lichkeit.
Übersetzung:Valentin Schönherr

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Der Friedenspreis ist ein Politikum

Das literarische Werk von Vargas Llosa ist von hoher Qualität, daran besteht kein Zweifel. Daß seine Bücher millionenfach verkauft wurden und werden, hat mit bestsellerischer Seichtigkeit nichts zu tun, ist nicht allein Erfolg gekonnter Vermarktung und liegt auch nicht daran, daß er wie viele andere mit reißerischen Texten auf Modeströmungen reagiert hätte. Die Langlebigkeit der Bücher, ihre detaillierte literaturwissenschaftliche Rezeption und nicht zuletzt die Dekorierung des Autors mit hohen Preisen sind Argumente dafür, Vargas Llosa als einen der wichtigsten Schriftsteller Lateinamerikas zu bezeichnen. Daran wird sich nichts mehr ändern. Gewiß: Die sagenhafte Beredsamkeit, sein Charme bei Interviews und Reden, seine faszinierende Weltgewandtheit erinnern gelegentlich an Showtalente, machen einen vielleicht manchmal mißtrauisch und begründen den Verdacht, ganz so weit könne es mit der unerbittlichen Berufung zum Schriftsteller doch nicht her sein. Aber wenn man sich dann wieder in einen seiner Romane hineinliest und nicht mehr davon wegkommt, ist man still und möchte nichts gesagt haben. So weit, so gut.
Doch die Sache hat einen Haken. Denn der Preis beschränkt sich ausdrücklich nicht auf die Würdigung des literarischen Werks einer Person, sondern hat als Friedenspreis eine politische Dimension. Mehr noch: gerade auf die kommt es an, das unterscheidet diesen Preis von den zahllosen anderen. Und die Verleihung auf der weltweit bedeutendsten Buchmesse macht aus dem Preis ein vielbeachtetes Votum für die literarischen und politischen, ästhetischen und ethischen Äußerungen eines Autors, den der Deutsche Buchhandel sich erwählt. An diesem Punkt wird es schwierig.

Seine politischen Positionen gehen ins Extrem

Vargas Llosa hat, was seine politischen Positionen angeht, zu zwei zentralen Erkenntnissen gefunden: daß Diktaturen jeder Art, sei es von rechts oder links, verdammungswürdig sind, mit ihnen alle Autoritarismen, Despotien und Nationalismen, und daß zu einer globalen Durchsetzung liberaler Prinzipien keine Alternative besteht.
Der Wendepunkt für den jungen, vom revolutionären Kuba begeisterten Sozialisten kam bekanntlich 1968. Die schockierenden August-Ereignisse in Prag und der “Fall Padilla”, jener Maulkorb für den kubanischen Poeten Heberto Padilla, mit der Fidel Castro der Hoffnung auf einen demokratischen, pluralistischen Sozialismus einen herben Dämpfer verpaßte, brachten Vargas Llosa zu der Überzeugung: daß es den sozialistischen Regimen an Demokratie mangelte war keine Kinderkrankheit, sondern Prinzip. In der Folge wurde er zu einem wortgewaltigen Anticastristen, was er bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstrich (die Rede bei der Preisverleihung in Frankfurt bildet da keine Ausnahme). Mit den Konsequenzen fand er sich ab: In seiner heftigen, bisweilen sehr emotionalen Kritik, beispielsweise an García Márquez, den er als Hure Castros bezeichnete, oder an Günter Grass, dem er Rassismus vorwarf – darin mochten ihm viele nicht mehr folgen.
Mit Recht, denn seine Position zum Sozialismus schlug ins Extrem aus. Nicht nur, daß er sich gegen den stalinistischen Terror “sozialistischer” Regime gewandt hätte, auch dem nicaraguanischen Projekt konnte er nichts abgewinnen. Und den Zapatistenaufstand sah er in der gleichen Perspektive, als “reaktionäre und anachronistische Bewegung, noch autoritärer und obsoleter als die PRI” (taz, 17.1. 92). Denn Vargas Llosa zufolge sind es die linken Guerillas gewesen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika die vielen Putsche von rechts überhaupt erst provoziert haben und die aus Scheindemokratien Militärdiktaturen werden ließen. Das klingt nach Ernst Nolte, der ja in der sowjetischen Dikatur Stalins die Ursache für die nationalsozialistische gesehen hat.
Vargas Llosa macht sich unglaubwürdig, wenn er sich immer wieder vehement für Demokratie und gegen Gewalt ausspricht und bei seiner Kritik an der Linken die Tatsache ignoriert, daß die Rebellionen nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern aus der generationenlangen Erfahrung, daß die Demokratie in Lateinamerika oft eine Farce war und jegliche Formen gesellschaftlicher Mitbestimmung immer wieder brutal verhindert wurden. Vargas Llosa setzt blind westliche Demokratien und lateinamerikanische Schambedeckungsversuche repressiver Oligarchien ineins. Das ist Universalismus eigener, zweifelhafter Art.
Dieser Universalismus findet seine logische Fortsetzung darin, wie sich Mario Vargas Llosa die Zukunft der Welt vorstellt: Er denkt, knapp gesagt, ultraliberal. In seinem Präsidentschaftswahlkampf in Peru 1990 hat er das vielfach zu erkennen gegeben. Dem politischen Kommentator Vargas Llosa ging und geht es nicht um einen Ausgleich, einen Mittelweg, sondern – wiederum – ums Ganze. Seine politischen Leitbilder sind zum einen Margaret Thatcher, deren Politik er als wahrhaft revolutionär ansieht, weil sie die BürgerInnen von der staatlichen Bevormundung befreit und ihnen ihre Selbstverantwortlichkeit zurückgegeben habe. Zum anderen verfaßte er einen Wahlaufruf für den nunmehrigen spanischen Regierungschef Aznar. Den forderte er auf, von seinem im Wahlkampf gegebenen Versprechen, den Wohlfahrtsstaat zu erhalten, abzugehen – was Aznar ja nun auch konsequent befolgt. Mit den Sozialleistungen hat es Vargas Llosa jedenfalls nicht; das Niveau der südostasiatischen “Tiger” würde für Spanien genügen, meint er. Und wer sich ihm in seiner neoliberalen Konsequenz nicht anschließt, muß sich – beispielsweise in El País – als “Idiot” beschimpfen lassen.

Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich

Wie er die Sache sieht, mag ein Ausschnitt aus einem Interview verdeutlichen (Der Spiegel, 15/96): “Die große Frage ist: Kann eine Gesellschaft ihr soziales Netz noch verstärken und trotzdem auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben? Ich glaube, nein. Das Auffangsystem, das mit viel Idealismus und Großzügigkeit errichtet wurde, ist heute nicht mehr realistisch. Daran festzuhalten wird zum unüberwindlichen Hindernis, wenn es darum geht, Märkte zu erhalten oder gar zu erweitern. Andererseits schafft die Internationalisierung der Wirtschaft phantastische Möglichkeiten für arme Länder. Ich glaube, Politiker haben die Pflicht zu erklären, daß die Reform weg von staatlichen Subventionen hin zur Eigeninitiative der Bürger nicht länger aufgeschoben werden kann.” Wohlgemerkt, Vargas Llosa bezieht sich nicht nur auf, sagen wir mal, Schweden, sondern auch auf Peru.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels macht mit der Entscheidung deutlich, wohin seiner Meinung nach die Reise gehen soll. Es braucht nicht dabei zu bleiben, daß der Sozialstaat (wir reden von der westlichen Welt) durch Effizienz gesichert wird, er darf demontiert werden – der Markt wird’s schon regeln, und die Straßenkinder in Lima (die schließt Vargas Llosa nolens volens mit ein) sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Auf alle Fälle sind sie weniger wichtig als das Funktionieren der Wirtschaft, das steht ohnehin und seit langem fest.
Mario Vargas Llosa, der immer betont hat, daß es für einen ernsthaften Schriftsteller Bedingung ist, “Zustimmung, Unterordnung und offizielle Komplizenschaft” zu vermeiden, ist längst zum Komplizen geworden. Das naive Vertrauen, daß sich nach einer wie auch immer gearteten Übergangsphase die sozialen Probleme in der perfekt funktionierenden neoliberalen “Ordnung” von selbst lösen, hilft keinem weiter – und erinnert fatal an eben jene Versprechungen von einer besseren Welt, die Vargas Llosa am Sozialismus so heftig kritisiert hatte.
In seiner Rede zur Friedenspreisverleihung bezeichnete sich der Geehrte als Dinosaurier, der die gute Literatur gegen die Massenschwemme an “Literatur light” und visuellen Medien verteidige. Das klingt gut, aber es sind doch recht selbstgefällige Krokodilstränen, die Vargsa Llosa da vergießt. Er nimmt politisch in Kauf, daß durch Strukturanpassungsmaßnahmen die soziale Misere zunimmt – nicht nur die soziale Misere als abstraktes Phänomen, sondern als ganz konkrete Entmündigung von immer mehr Menschen. Es ist absurd und peinlich, angesichts zunehmender Armut, wachsenden Analphabetismus und der sich verschlechternden medizinischen Versorgung davon zu schwärmen, daß die Mitbestimmung aller am Gemeinwesen zunehme. Das Gegenteil ist der Fall, und für gute Literatur hat dann auch kaum noch einer etwas übrig.
Noch einmal Mario Vargas Llosa im erwähnten Spiegel-Interview: “Literatur sollte sich von dem anstecken lassen, was draußen passiert, sonst wird sie trivial und dekadent.” Eben.

Zapatistas in der Hauptstadt

Vom 8.-12.10. fand der Congreso Nacional Indígena (CNI) im Zentrum von Mexiko-Stadt statt. VertreterInnen von über dreißig der 56 indigenen Völker Mexikos kamen zusammen, um Mißstände anzuprangern und einen Katalog von Forderungen für eine “neue, würdige Verfassung” zu formulieren. “Mexiko niemals mehr ohne uns!”, hieß das Motto. Die Eröffnungsveranstaltung lief eher verhalten und ohne Überraschungen ab. Forderungen nach mehr Autonomie und Demokratie wurden wiederholt. Die aktuelle Situation der indigenen Völker wurde allerdings zunächst wenig konkret diskutiert. Dies lag nach dem Bekunden einiger Delegierter vor allem an der Tatsache, daß sich unter den Teilnehmern auch einige Kaziken befanden, die für ihre Dienstbarkeit gegenüber der PRI auf der einen und ihre Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung oppositioneller indigener Dörfer andererseits bekannt sind.

Schlappe für die Staatspartei

Das Augenmerk der Medien hatte der CNI allerdings hauptsächlich deshalb erregt, weil im Vorfeld des Kongresses hitzig darüber diskutiert wurde, ob es den Rebellen des EZLN gestattet werden solle, eine Delegation zum CNI nach Mexiko-Stadt zu senden. RegierungsvertreterInnen wurden nicht müde zu betonen, daß das Gesetz über den Dialog Reisen von Mitgliedern des EZLN außerhalb Chiapas verbiete. Sie kündigten die sofortige Verhaftung einer zapatistischen Delegation auf dem Weg in die Hauptstadt an. Doch schließlich ging es doch. Die Forderung der Zapatistas nach einer Möglichkeit zur Teilnahme am CNI, der von der EZLN selbst mitinitiiert worden war, wurde von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Die PRI mußte schließlich widerwillig nachgeben. Anders als von vielen erwartet, war es dann aber nicht der Subcomandante Marcos oder ein anderer der bekannteren Zapatista-Führer, der in die größte Stadt der Welt aufbrach, sondern die Comandante Ramona, eine Tzotzil, die zuletzt in der ersten Runde der Friedensverhandlungen in San Cristóbal 1994 in der Öffentlichkeit erschienen war. Eine schwere, unheilbare Krankheit hatte sie in den letzten beiden Jahren daran gehindert, an den weiteren Verhandlungen teilzunehmen; nun jedoch hatte sich die Comandante dafür entschieden, vor ihrem Tode noch einmal im Namen der EZLN mit anderen Indigenas zusammenzutreffen.
Die Ankündigung, daß die EZLN tatsächlich eine Delegierte zum CNI schicken würde, war noch nicht verhallt, da wurden die Stellungnahmen der Kongreßteilnehmer bereits konkreter und weniger verhalten. Offenbar flöste diese Schlappe für die PRI den Delegierten der einzelnen Völker Mut ein und so kam es am Freitag und Samstag doch noch zu deutlichen Anklagen und Forderungen, die zuvor in verschiedenen, thematischen Kommissionen erarbeitet worden waren.
Am Freitag, Comandante Ramona nahm an diesem Tag lediglich beobachtend am Kongreß teil, äußerten sich die Delegierten ganz offen zur Existenz von Todesschwadronen, der wachsenden Militarisierung, die durch Raubbau entstehenden Umweltschäden und anderen Problemen, mit denen die indigenen Gemeinden des Landes zu kämpfen haben. Dem wurde die Forderung nach Schaffung eines wirklichen Rechtsstaates, der die Praxis des Verschwindenlassens, die Vergewaltigungen, den Amtsmißbrauch und die Folter durch die örtlichen Polizeitruppen verfolgen müsse, entgegengestellt. Wie deckungsgleich die Forderungen des CNI mit jenen der EZLN sind, machte ein Aufruf der CNI-Delegierten deutlich. Ausdrücklich schlugen sie die Annahme der von der EZLN im Dialog von San Andrés Larráinzar aufgestellten Demokratisierungsforderungen vor.
Als eine besonders wichtige Forderung für das Überleben der indigenen Völker wurde die Rückkehr zur ursprünglichen Form des Artikels 27 der Verfassung erhoben. Dieser Artikel, einer der Grundpfeiler der mexikanischen Verfassung von 1917, schützte das kommunale Eigentum an Land, über das viele indigene Dörfer verfügen. Salinas hob 1992 in einer Verfassungsreform diesen Schutz vor einer Privatisierung des Ackerlandes auf, und erklärte andererseits die Agrarreform für vollendet, obwohl noch Hunderttausende von landlosen campesinos auf den Wartelisten für Landzuteilungen stehen. Eine jüngst herausgegebene Studie des Nationalen Instituts für Ernährung (INN) verleiht der Forderung nach angemessener Landzuteilung Nachdruck. “Die Landkarte der Mangelernährung in Mexiko stimmt haargenau mit den von Indígenas besiedelten Zonen überein”, so Kirsten A. de Appendini vom Colegio de México. Mit einer gerechten Landverteilung allein könne das Problem zwar nicht beseitigt, zumindest aber entschärft werden.

“Legitimes Recht auf Rebellion”

Thematisiert wurde das Recht auf Rebellion, das sich die indigenen Völker angesichts der “schlechten Regierung” vorbehalten. Zwar seien die indigenen Völker keine Separatisten, sondern von ganzem Herzen Mexikaner. Doch solange dies von der anderen Seite ignoriert werde, und die indigenen Gemeinden weiterhin in einem Zustand der Fremdbestimmung, Rechtlosigkeit und Militarisierung lebten, würden die indigenen Völker ihrerseits nicht auf das Recht verzichten, eine Veränderung der Regierungsform – notfalls mit Gewalt – anzustreben. Die Regierung müsse sich darauf einrichten, daß Mexiko am Tor des neuen “Stadiums der sechsten Sonne” (alte indigene Zeitrechnung) stünde und sich der Lauf der Geschichte zu ändern beginne.
Am Ende des Kongresses stand am Freitagabend eine Resolution, in der die Comandante Ramona sich für die Wiederaufnahme der (von der EZLN am 2. August, aufgrund zunehmender Repression durch die Bundesarmee ausgesetzten) Friedensgespräche und einen breiten nationalen Dialog aussprach, sowie für ein Abschlußkommuniqué der versammelten Delegierten.
Das Kommuniqué bekräftigt den Wunsch auf ein “harmonisches Mexiko, in dem alle ihren würdigen Platz finden” und weist darauf hin, daß es sich dazu als notwendig erweisen wird, der Welt zu zeigen, daß es sich bei den Indígenas um eine Vielfalt von Völkern handele. Nur so könne erreicht werden, daß der mexikanische Staat das Recht der demokratischen Selbstbestimmung jedes einzelnen dieser Völker in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiere.
Das Dokument schließt mit einer Anklage der neoliberalen Politik. Da eine solche Politik darauf abziele, die ganze Welt in einen großen Markt zu verwandeln, sei die Beseitigung der widerstehenden Kulturen programmiert.

“Niemals mehr ohne uns”

Am vergangenen Samstag ergriff dann die EZLN-Delegierte Comandante Ramona das Wort bei einer Großkundgebung auf dem Zócalo, der Hauptstadt. Vor einigen tausend Sympathisanten verkündete Ramona ihre Botschaft. Nach einigen Grußworten in spanischer Sprache fuhr die Comandante in ihrer eigenen Sprache, Tzotzil, fort. Und es war mehr die Tatsache, daß zum ersten Mal vor dem Regierungspalast der Diskurs der Opposition seinen Ausdruck in Tzotzil fand, als die Botschaft an sich. Bischof Samuel Ruiz äußerte sich von seiner Diözese in Chiapas aus sehr zuversichtlich, was die Anwesenheit der Comandante Ramona auf dem Zócalo anging: “Endlich haben die Indígenas eine Plattform, von der aus sie Gehör finden”.
Comandante Ramona, die zeitweilig gestützt werden mußte, sprach sich in ihrer kurzen Rede im Namen der EZLN für die Fortsetzung des Dialogs aus. Die EZLN sei bereit, sich an einem großen nationalen Dialog zu beteiligen und appellierte an die Anwesenden, den “Zapatisten auf dem Weg dorthin so zu helfen, wie ihr auf dem Weg in die Hauptstadt geholfen worden” sei. Nie wieder solle es ein Mexiko ohne die indigenen Völker geben. Nach ihrer kurzen Ansprache und noch bevor die Veranstaltung zuende war, begab sich Comandante Ramona, die nach offiziellen Angaben schwer nierenkrank ist, zur Behandlung und weiteren Beobachtung ihrer Erkrankung in eine Klinik.
Mittlerweile haben EZLN und die parlamentarische Vermittlungskommission COCOPA im chiapanekischen Dorf La Realidad ein weiteres Treffen anberaumt, auf dem über eine Fortsetzung der Friedensgespräche verhandelt werden soll. Nach Angaben der EZLN könnte an diesen Gesprächen auch der Sub, der sich in den letzten Wochen nur wenig in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, teilnehmen.

Editorial Ausgabe 267/268 – September/Oktober 1996

Die Zapatisten erklären die Dialogver­handlungen in Chiapas vorerst für been­det. In sechs verschiedenen Bundesstaaten Mexikos attackiert die in den letzten Wo­chen neu aufgetretene Guerillaorganisa­tion EPR (Revolutionäre Volksarmee) Mi­litärcamps und Polizeiposten, Präsident Ernesto Zedillo erklärt dem “Terrorismus” den Krieg und wünscht sich ein hartes Durchgreifen der Sicherheitsorgane: In Mexiko gehören die Zeiten politischer Stabilität schon lange der Vergangenheit an.

Es ist sicher noch zu früh, den unruhi­gen August zu einer entscheidenden Zäsur, einem Wendepunkt der Entwicklung Mexi­kos zu erklären. Aber es fallen doch immer dunklere Schatten auf das nur noch schwach scheinende Licht der Hoffnung des zivilen Über­gangs vom Einpar­tei­en-Staat zu einer de­mokratischen Ge­sellschaft. Seit 67 Jahren hat die re­gierende PRI (Par­tei der Institu­tio­nalisierten Re­vo­lu­tion) das Land be­reits im Griff, und nichts deutet darauf hin, daß die Funk­tionäre der Staatspartei auch nur auf ein Körnchen Macht ver­zichten wol­len. Statt­dessen scheinen sie bereit, das Land bis an den Rand des Bür­gerkrieges schlit­tern zu lassen – koste es was es wolle.

Das im Januar mit großem Getöse und Jubel­kommentaren gefeierte Abkommen zwi­schen EZLN und Regierung über “Rechte und Kultur der indianischen Völ­ker” steht nur auf dem Papier. Die eu­phemistischen Wörter über eine “neue Be­ziehung zwi­schen indianischen Völkern und dem Staat” blieben hohle Rhetorik. Stattdessen führt die Regierungsdelega­tion die Zapatisten an der Nase herum und ver­stärkt derweilen die Militarisierung nicht nur des südlichsten Bundesstaates Chia­pas. Im Moment ist es sicher noch zu voreilig, die Guerilleros der EPR klar einzuschätzen, doch bereits jetzt kann ge­sagt werden, daß ihre militäri­schen Ak­tionen und die damit verbun­denen pro­grammatischen Vorstel­lungen kaum zur Lösung der Probleme beitragen werden.

Einzig die Zapa­tistas verbinden den so­zialen Protest noch mit der konstruktiven Vision einer plu­ralen und sozialen Gesell­schaft, die auf den vielen Beinen einer partizipativen Demokratie stehen könnte. Doch die Uh­ren ticken gegen die Rebellen im Dschun­gel. Auf diesem Boden kann auch eine Or­ganisation wie die EPR wachsen, die aber eher ein Teil des Pro­blems zu sein scheint: des ruinösen und gewalttätigen Zerfalls der mexikanischen Gesellschaft, in der kein politischer Ak­teur mehr einen glaub­wür­digen Aus­weg aus der Dauer­krise an­zu­bie­ten vermag. Ihr Dis­kurs und ihre bisherigen be­waff­neten Ak­tionen er­innern an Theorie und Praxis der Guerillabewegungen der 60er und 70er Jahre: Eine be­waff­nete Avantgarde eröff­net den Krieg gegen die Staatsmacht, die Massen sollen folgen, und schließlich zieht eine “revolutionäre Arbeiter- und Bauern­regierung” in die Hauptstadt ein.

Zehn­tausende waren die Opfer der Guerilla­kriege Zentralamerikas, die mit diesem Programm ausgefochten wurden, und die Ergebnisse sind niederschmet­ternd. Doch daraus folgt nicht unbedingt, daß die EPR keine Basis aufbauen könnte, zu groß ist die Verbitterung in den abgelegenen Berg­dörfern im Süden Mexikos. “Die EPR kämpft um die Macht, die EZLN für Frei­heit, Demokratie und Gerechtigkeit”, so formulierte Subco­man­dan­te Marcos den entschei­den­den Unter­schied.

“…Und tausend Abenteuer”

Im Niemandsland:
Die deutsche Exilkolonie in Mexiko
“Es gab hier eine deutsche Kolonie, wie eine Großfamilie, hauptsächlich reiche Händler. Als Hitler an die Macht kam, wurde der größte Teil von ihnen Nazis, mit Ausnahme von vielleicht zwanzig Personen – und das, wo sie doch nicht un­ter diesem schrecklichen Druck wie in Deutsch­land standen. Hier war es mehr eine Sache des Lu­xus. Aus diesem Grund hatten wir fast nur mit ei­ner deutschen Familie, die gegen die Nazis war, Kontakt, der Familie Bopp. Marianne Bopp hat das Institut für deutsche Literatur an der UNAM gegründet.
Als die ersten deutschen Flüchtlinge kamen, haben wir sie mit unbegrenztem Mitleid empfan­gen – mein Mann behandelte sie umsonst, und ich gab Spanischunterricht. Fast alle blieben in einem Niemandsland, in der Vergangenheit, einem Deutschland, das nicht mehr existierte. Sie inter­es­sierten sich kaum für Mexiko. Viele kamen aus Konzentrationslagern. Ich glaube, der Mensch kann nur ein gewisses Maß an Leid ertragen, da­nach erliegt er ihm.
Die politische und kulturelle Szene des deut­schen Exils in Mexiko war alles andere als ein Idyll. Es gab einen schrecklichen Kampf zwischen den Stalinisten und den Sozialdemokraten und So­zialisten. Wir selber waren verfemt, weil wir mit Otto und Alice Rühle befreundet waren, und es hieß schnell, die Frenks seien Trotzkisten. Das war absurd, denn wir waren überhaupt nicht poli­tisch aktiv. Die Feindseligkeiten waren so groß, daß wir mit einigen, zum Beispiel mit Egon Erwin Kisch, gar nicht mehr redeten. Er hatte mich ein­mal gefragt, warum ich nicht mitarbeite in der Zeitschrift Alemania libre, dort könnte ich mich selbst verwirklichen. Da habe ich einen solchen Lachanfall bekommen, daß er zutiefst gekränkt war. Er war ja persönlich ein sehr reizender Mensch, aber er war auch ein fanatischer Stalinist und Denunziant, der viele auf dem Gewissen hatte.
Nach dem Krieg sind die Parteipolitiker alle zu­rückgegangen, von den anderen sind einige in die Vereinigten Staaten gegangen, aber ich habe von Anfang an gesagt, diese Sache kommt wieder – da haben die Leute gesagt, du bist eine Kassandra, das wird nie wieder kommen. Heute sieht es in Deutschland ja geradezu entsetzlich aus. Ich habe mal gedacht, wenn man von hier wieder fliehen muß, nach Deutschland keinesfalls.

Kaputte Telefone:
Der mexikanische Alltag
“Ich rechne damit, daß nichts funktioniert: und dann, wenn es doch funktioniert, sage ich “que maravilla”. Was für eine herrliche Angelegenheit ist das, daß das kaputte Telefon nach zwei Tagen schon wieder geht. Und wenn man dafür bezahlen muß – natürlich ist das eine Unsitte und es ist un­moralisch, aber es ist nun mal so, und wenn ich es kann, tue ich es.
Aber zum Beispiel einen Polizisten zu beste­chen, würde ich noch immer nicht fertigbringen, obwohl ich vorher schon weiß, daß er die Hand so aufhält. Seien Sie also von vornherein darauf ge­faßt, daß die Dinge nicht funktionieren, und dann werden sie glücklich sein, wenn Sie mal einen Po­lizisten treffen, dem ihr Gesicht gefällt und der lä­chelt und sagt:”Schön, fahren sie weiter”.
Oder wenn ich zum Beispiel einen Anruf ma­chen muß, dann rechne ich damit, daß es minde­stens eine halbe Stunde dauert, wenn ich Glück habe. Gibt es mal das große Glück, daß er oder sie zu Hause oder in dem Amt ist, wo er oder sie sein müßte, dann fängt es so an: also das Telefon ist fünfmal besetzt, das sechste Mal verbindet es nicht, das siebte Mal macht es nur “öh”, wenn es “öh” macht, dann weiß ich, da ist Hoffnung, da kann man insistieren; das nächste Mal machte es schon “ööööh” und so geht es weiter und tatsäch­lich klingelt es schließlich und dann kommt das Mädchen und sagt: “la senora acaba de salir”- “die Senora ist gerade aus dem Haus gegangen”. Sowas muß man riskieren hier.

Charismatischer Kämpfer: Subcomandante Marcos
“Er ist offensichtlich ein sehr gebildeter Mensch, nicht nur mit aufgeschnappten Bil­dungsbrocken. Und natürlich wäre es interes­sant zu wissen, wie jemand dazu kommt, zehn Jahre in der Selva zu leben, in einer völlig anderen Welt, in einer Traumwelt. Im Laufe dieser Monate hat mich das nicht nur ein bißchen, sondern glü­hend interessiert. Ich bin zu fast nichts anderem mehr gekommen, als die Zeitungen zu lesen und die no­ticieros zu hören. Das war dauernd in mei­nem Be­wußtsein, während scheinbar große Teile der Be­völkerung vergessen, daß in diesem Mo­ment ein Teil von Mexiko im Krieg lebt und sie weiter auf dem Vulkan tanzen.
Ich weiß, daß es im ganzen Land bewaffnete Gruppen gibt. Wahrscheinlich sind sie nicht so gut bewaffnet wie die Zapatistas, wahrscheinlich auch nicht so gut organisiert, und vielleicht gibt es nicht überall einen Mann mit soviel Charisma wie Mar­cos. Aber es ist zu befürchten, daß Menschen, de­nen es wirklich elend gegangen ist, einfach nicht mehr können. Und was eine Revolution be­deutet, das wissen wir ja- wenn es eine Revolu­tion gibt, dann wird sie uns alle verschlingen.

Begegnung mit den Lacandonen

Die 38jährige Schweizerin Gertrud Düby ist seit einem Jahr hier, im Land des ewi­gen Früh­lings. Frankreich, Deutschland, die Schweiz – die wichtigsten Stationen auf ihrem abenteuerli­chen Weg nach Mexiko.
Im Berner Oberland der Schweiz, da ist sie am 7. Juli 1901 geboren und verlebt inmit­ten der Berge die er­sten Jahre ih­rer Kindheit. Sie liebt die Pflan­zen und Tiere – die einzige Liebe, die ihr Leben lang anhält.
Der Vater, Otto Lört­scher, Pfarrer in Wimmis, wird 1910 zum Ar­meninspektor nach Bern be­rufen. Gertrud fühlt sich fremd in der Stadt. Schließ­lich findet sie einen Freund in Kurt Düby, Sohn des Ge­werkschaftsvorsitzenden der Ei­senbahner. Er weckt ihr Interesse für Ideen, die au­ßerhalb des kon­servativen Elternhauses und der Schule liegen. In den Gesprä­chen bei den Dübys ist von Klas­senkampf, Streik und Sozialde­mokratie die Rede.
Der Vater sieht es nicht gern, wenn seine Tochter mit Kurt zusam­men ist. Er hofft, daß sie im Gymnasium und der Garten­bauschule das Interesse an ihrem Freund und den linken Ideen ver­liert. Aber der erste. Welt­krieg, die revolutionären Er­eignisse in Rußland und Deutschland, der General­streik in der Schweiz rei­ßen Gertrud mit. Sie will zu denen gehören, die für eine ge­rechtere Welt kämpfen. Sie wird Mitglied der Sozial­demokratischen Partei der Schweiz und studiert an der So­zialschule in Zürich. 1921 erhält Gertrud das Di­plom als Sozial­fürsorgerin.
Doch es hält sie nicht in der Schweiz. Andere Länder will sie ken­nenlernen. Zwei Jahre später fährt sie nach England und Ita­lien. Artikel über die sozialpoli­tische Lage in diesen Ländern ent­stehen. In Italien herrscht Mussolini. Mord und Ver­haftungen sind an der Ta­gesordnung. Auch Gertrud wird festgenommen, verhört und we­nige Tage später aus­gewiesen. Als sie am 17. Juni 1925 in Bern ein­trifft, jubeln ihr die jungen Sozialdemo­kratInnen zu. Gertrud ge­nießt den Empfang. Doch gleichzeitig empfindet sie voll Bitter­keit, daß sie von nun an keinen Fuß mehr ins Haus ihrer Eltern set­zen kann. Zu weit ha­ben sie sich voneinander ent­fernt.
Aus Trotz heiratet Ger­trud den Freund Kurt Düby. Sie ar­beitet von nun an für die Sozial­demokratische Partei in Bern. Schon nach we­nigen Monaten wird die ehrgeizige und selbstbe­wußte junge Frau mit der Funk­tion der Vorsitzenden der neuen Frauenagitations­kommission be­traut und da­mit Leiterin der Sozialde­mokratischen Frauenbewe­gung des Landes.
1928 nimmt sie als erste Schweizer Sozialdemokratin an der Ta­gung der Sozialisti­schen Internationale teil. Die deutschen Frauen laden sie ein, in Deutschland zu sprechen. So reist Gertrud anläß­lich des Inter­nationalen Frauentages 1929 nach Ber­lin. Sie ist be­eindruckt von der Stärke der deutschen So­zialdemokratie. Allein in Berlin sind Zehntausende Frauen in ihr organisiert. In der ganzen Schweiz gehören etwa 2000 Frauen der Sozi­aldemokratischen Partei an und sie sind längst nicht so aktiv wie die deutschen Frauen. Vielleicht hat Ger­trud in diesen Tagen den Entschluß ge­faßt, sich in Deutschland niederzu­lassen. Im Oktober er­klärt sie wäh­rend einer Frauen­konferenz in Bern ih­ren Rück­tritt, ver­läßt die Schweiz und Kurt.
Kampf gegen den Fa­schismus
Ihr Weg führt sie nach Danzig und später nach München. Sie en­gagiert sich in der Sozialisti­schen Ar­beiterjugend und später im linken Flügel der SPD. Unter der Führung von Kurt Ro­senfeld und Max Seydewitz, die im September 1931 aus der SPD ausgeschlos­sen worden sind, gründen linke SozialdemokratIn­nen am 4. Oktober in Berlin die Sozia­listische Arbeiterpartei Deutschlands. Gertrud wird in den Parteivorstand ge­wählt. In den folgenden Mo­naten zieht die begabte Red­nerin durchs Land und spricht auf Versammlungen gegen die aufkommende Ge­fahr des Faschismus. Aber die SAP bleibt eine kleine Partei, ihr Ein­fluß ist gering, die Streitereien groß. Ger­trud zieht die Konse­quenzen und tritt in die KPD über. Für die Polizei ist Gertrud keine Unbekannte. Ihre Mit­gliedschaft in der KPD bietet dem Reichsinnenministe­rium einen willkommenen Grund, die Schweizerin aus Preußen auszu­weisen. Doch Gertrud spricht weiter auf Versammlungen und über­nimmt Kurierdienste.
Einen Monat nach dem Machtantritt Hitlers am 30. Ja­nuar 1933 geht Gertrud eine Scheinehe mit dem Hamburger Arbeiter Otto Piehl ein. Durch die Heirat verliert sie ihre Schweizer Staatsbürger­schaft und kann einen deutschen Paß bean­tragen. Aber sie bekommt ihn nicht mehr. Otto wird von der Gestapo verhaftet und geschla­gen. Gertruds Paß und andere Dokumente verschwinden in einer Poli­zeiakte. Otto Piehl gelingt später die Flucht nach Dä­nemark. Gertrud hält sich in Berlin versteckt und über­nimmt weiter Kurier­dienste. Doch die Situation wird im­mer gefährli­cher. Die Ge­stapo durchsucht die Woh­nung, die ihr als Zuflucht dient. In ihrer KPD-Gruppe wird ein Spitzel vermutet. Im Frühling flieht Gertrud mit dem Paß einer englischen Freundin nach Bar­celona und von dort aus nach Pa­ris.
In Paris wird im August 1934 das “Internationale Frauenkomi­tee ge­gen Krieg und Faschis­mus” gebildet. Gertrud gehört zu seinen Mitgründerinnen und arbei­tet fortan für das Komitee.
Als Mitglied einer KPD-De­legation reist sie für ei­nige Mo­nate in die So­wjetunion. Es ist die Zeit der einsetzenden Verfol­gungen, Zeit des Mißtrauens und Verrats. Nicht alle verteidi­gen, was pas­siert, auch Ger­trud nicht. “Man sollte an das Menschliche denken”, sagt sie in einem Ge­spräch mit dem Schriftsteller Bodo Uhse und ihrem Lebensge­fährten Rudi Feistmann. “Wer von uns ist nicht einmal schwach? Wer hat nicht auch ge­schwankt? Jeder hat ir­gendwo ein Faiblesse. Man schweigt dar­über, solange jemand in führen­der Stellung ist, und nachher wird nichts als diese Schwäche gezeigt. So springt man aus der einen Kategorie in die andre über – und niemand versteht, was ei­gentlich vorgegangen ist.” Ger­truds Offenheit trifft je­doch nicht überall auf Sym­pathie. In einem Be­richt an die Komintern wird sie als Agentin westlicher Ge­heimdienste verdächtigt.
Von USA nach Me­xiko
Mit Beginn des Krieges än­dert sich die Situation der Emi­grantInnen schlagartig. Gertrud wird bereits am 29. August 1939 verhaftet, ins Gefängnis und später ins Internierungslager für Frauen im südfran­zösischen Ri­eucros gebracht. Mit Hilfe der Schweizer Botschaft kann sie das Lager und das Land am 6. März 1940 ver­lassen.
Von der KPD bekommt sie den Auftrag, sich in den USA für die Ausreise weite­rer inhaftierter Kommuni­stInnen einzusetzen. So schließt sich Gertrud in New York der Hilfsorganisation Joint Antifascist Refu­gee Comittee (“Barsky-Komitee”) an, die sich um die Einreise von Kommuni­stInnen in die USA und nach Mexiko bemüht.
Im Dezember 1940 reist sie weiter nach Mexiko, um von dort aus ihre Tätigkeit an der Seite des Schriftstel­lers Bodo Uhse fortzusetzen. Schon bald kennt sie sich aus in den mexikani­schen Einreiseformalitä­ten. Die Behörden rufen sie lachend und ehrfurchtsvoll La Di­námica.
Gertrud ist mit anderen deut­schen und österreichi­schen Emi­grantInnen zunächst in der überparteili­chen Liga Pro-Cul­tura Alemana en Mexiko aktiv, die jedoch bald auseinander­bricht.
Mit der Ankunft zahlrei­cher weiterer Antifaschi­stInnen bis zum Juni 1942 formieren sich neue Organi­sationen. Die deut­schen Kom­mu­nistInnen bilden eine eigenständige Gruppe. Zu ihnen gehört auch Gertrud Düby, seit 1932 Mitglied der KPD. Diese Gruppe ent­wic­kelt vielsei­tige Aktivitäten. Unter der Lei­tung von Lud­wig Renn, Anna Seghers, Egon Erwin Kisch ent­steht der “Heinrich Heine Klub”, der bald zum geistigen Hort der emigrierten deutschsprachi­gen Antifa­schistInnen wird.
Auch Gertrud hält in die­sem Klub Vorträge über ihre Reisen ins Landesinnere und zu den La­candonen. Sie en­gagiert sich in der von den deutschsprachigen Kommu­nistInnen ins Leben gerufe­nen “Bewegung Freies Deutschland”. Die Bewegung versteht sich als Vereinigung von HitlergegnerInnen, un­abhängig von politischer oder religiöser Herkunft. Darüber hinaus schreibt Gertrud für die anti­faschistischen Zeitschriften “Freies Deutschland” und “Demokratische Post”.
Aber Gertrud genügt die Ar­beit innerhalb der EmigrantInnenorgani­sationen und der KPD-Gruppe nicht. Sie interes­siert sich vermut­lich auch wenig für die ewigen Streite­reien und Machtkämpfe un­ter den KommunistInnen. “Ich habe nicht viel mit den Emigranten zu tun ge­habt.” Das ist alles, was sie später dazu sagt. Dennoch nennt sie immer Freunde aus dieser Zeit – Egon Erwin und Gisl Kisch, Ilse und Otto Katz (André Simone), Steffi Spira, Paul Mer­ker und an­dere. Mit ihnen unter­nimmt sie auch Ausflüge ins Land und orga­nisiert Bergtouren auf den Popocatepetl.
“Zapata ist nicht tot”
Oft jedoch ist Gertrud al­lein unterwegs und beteiligt sich an staat­lichen Projekten des Ge­sundheits- und Sozi­alwesens. Eine ihrer vielen Reisen, führt sie in das kleine Dorf Anene­cuilco, Geburtsort des legen­dären Emiliano Zapata. “Ich bin richtig ein wenig aufgeregt, denn ich liebe Emi­liano, ich bewun­dere ihn nicht nur. Das Dorf ist herrlich gele­gen. Ein Flüßchen fließt her­unter, hohe Bäume überall, grün wo man hinschaut. Die meisten Häuser sind Stroh­hütten, nur wenige Stein­bauten. … Wir steigen das Dorf hinan, über sehr stei­nige Wege. Da oben ist das Land überhaupt viel steini­ger als unten. Wir steigen über Steinzäune und kom­men zu einem Haus mit einer sehr verwa­schenen Tafel, doch kann man noch folgen­des lesen: Aquí nació el 20 de Julio de 1879 el Gene­ral Emiliano Zapata. Herr­liche große, dunkle Au­gen. Eine hohe freie Stirn und eine feinge­zogene doch kräftige Nase. Lei­der kann man wegen des Riesen-moustache seinen Mund nicht sehen.”
Das Erlebnis hinterläßt Spu­ren in den Gedanken Gertruds. Sie folgt ihnen. Sie begibt sich auf die Suche nach den Zapati­stas. Frauen, die für und mit Za­pata ge­kämpft haben. Im Dorf Yautepec im Staa­te Morelos wohnt die 86jährige Ventura. Sie erzählt Gertrud von ih­rem Gene­ral: “Als Zapata 1911 nach Yautepec kam, wurde ich die beschei­denste Dienerin meines Chefs Emi­liano. Und von diesem Augen­blick an, bis zu seinem Tode diente ich meinem Ge­neral, blieb bis zur Einigung 1921 und war dreimal Ver­bindungsperson der Genera­le, die in Morelos, Oaxaca und Puebla kämpften.” Al­lerdings be­zweifelt Ventura den wahr­haften Tod Zapa­tas: “Er ist nicht tot, mein General. Er war viel zu wichtig, um zu sterben. Und er ritt auf einem Araber da­von und verschwand im Ge­birge. Eines Tages wird er wieder zu uns, die ihn nie­mals verraten haben, zurückkeh­ren. Er wird sehr gut sein, er wird die Verräter nicht töten, er wird sie nur anspucken.” Gertrud schreibt nicht nur über Ventura, Amelia, Robles, Apolinaria Flores und die anderen Zapatistas. Sie fo­tografiert die Frauen. Ein­drucksvolle Porträts entste­hen. Sie bilden den Anfang einer Sammlung von zehn­tausenden Fotogra­fien, die Gertruds Schaf­fen im Ver­lauf der folgenden 45 Jahre do­kumentieren.
Aufbruch in die selva lacandona
Zum wichtigsten Erlebnis ih­rer Exilzeit in Mexiko wird für Gertrud die Begegnung mit den Lacandonen. Sie le­ben in der selva lacandona, dem Regen­wald im Bundes­staat Chiapas. Den Wunsch, diese letzten Nach­fahren der Mayas ken­nenzulernen, hat sie schon lange. Er wurde geweckt, als sie wäh­rend der langen Überfahrt von Frankreich nach New York das Buch “terre indienne” (indianisches Land) von Ja­ques Soustelle gelesen hatte. Nun will sie ihn sich erfüllen.
Im Februar 1943 fährt Gertrud nach Tuxtla Gutièr­rez, der Haupt­stadt von Chiapas. Sie hat Glück. Der damalige Gouverneur Dr. Rafael Pascacio Gamboa empfängt sie nicht nur, son­dern emp­fiehlt ihr, sofort mit der Zu­sammenstellung der Ausrüstung für die selva zu beginnen. Am nächsten Tag soll von San Cristóbal de las Casas aus die er­ste offi­zielle Kommission auf Expe­dition in die selva ge­hen, um einen ersten Kontakt mit den Lacandonen herzu­stellen. Ger­trude glaubt zu träumen. Mit wieviel Hindernissen hatte sie ge­rechnet, wie viele Argumente hatte sie sich zurechtge­legt und nun nimmt sie als einzige Frau unter sieben Mexikanern und obendrein Ausländerin an einer Expedition in die selva la­candona teil.
In San Cristóbal wirbeln mit dem Staub Gerüchte und schwärzeste Prophezeiungen durch die Luft. Wer in die selva lacandona geht, der kehrt nicht zurück: Selbst wenn es den Rei­sen­den ge­lingen sollte, dem Gelbfieber zu entgehen, könnten sie sich nicht von den Lacando­nen befreien. Das seien wilde In­dios, die die benachbarten Dörfer überfielen, die Wei­ßen töteten und die abscheu­liche Ange­wohnheit hätten, sich von Men­schenfleisch zu ernähren.” Ger­trud besorgt sich sicherheitshal­ber eine Großkaliberpistole, die sie jedoch nie in ihrem Leben benutzen wird.
Gemeinsam mit Manuel Ca­stellanos, Leiter der Ex­pedition und gleichzeitig Präsident der Gemeinde Ocosingo und den an­deren Teilnehmern begeben sie sich auf die Reise. Sie kom­men an Vieh­zuchtfarmen und kleinen Indio-Siedlun­gen der Tzotzil und Tzeltal vorüber. Die Schönheit des üppigen Waldes, die Berge nehmen Gertrud gefangen.
Langsam nähern sie sich dem Gebiet, in dem der nördliche Stamm der Lacan­donen lebt: “Wir wollen nicht durch unsere gemeinsame Erscheinung ihr Mißtrauen erwecken und be­schließen, daß nur Florentino, einer un­serer Tzeltal Begleiter, Don Manuel Castellanos Can­cino und ich vorgehen sollen, um zu verhandeln.
Aber wir drei haben einige Schritte gemacht, als wir auf ei­nem an­gekohlten Baum­stamm steif einen Mann ste­hen sehen. Wir ha­ben ihn nicht bemerkt, je­doch er hat uns längst beobach­tet. Auf­gerichtet steht er da, sein Baumwollhemd reicht bis zum Knie, sein Haar fällt über die Schultern. Er ist von hellerer Haut als an­dere In­dios. Da steht er als eine natürliche Erhöhung des Baum­stammes, bewußt eine Einheit mit der Natur bil­dend.”
Andere Gestalten nähern sich der Gruppe, unter ihnen ist der Chef, Quintin. Mit Hilfe von Florentino erklärt Don Manuel das Anliegen der klei­nen Gruppe, auch daß sie mit Unter­stützung anderer Tzeltalen neue Hütten für die Lacandonen bauen wollen und übergibt die Ge­schenke, die sie mit­gebracht ha­ben: Salz, Mes­ser, Körbe…
Die Lacandonen empfan­gen die Gäste freundlich, aber nicht ganz frei von Argwohn. Einige von ihnen sprechen ein bißchen spa­nisch. Sie lernen von den Holzfällern, die hin und wie­der vorbei­kommen. Sie ha­ben auch Geschenke für die Gäste, Früchte, Ge­müse, Tabak, Mais, alles was der Urwald bietet und was sie selber anbauen. Die Lacan­donen sind ausgezeichnete Jäger. Früher be­nutzten sie aus­schließlich ihren selbst­gefertigten Pfeil und Bogen. Heute gebrau­chen sie Ge­wehre, um die Hirsche, Fa­sane, Wild­schweine und an­dere Tiere zu erlegen.
Einst waren die Lacando­nen ein großes Volk. Nach Schät­zungen Gertruds lebten 1943 etwa noch 200 von ih­nen in die­sen Wäldern. Nach einer vier­monatigen Reise nimmt Gertrud von den La­candonen Abschied. Noch ahnt sie nicht, daß diese Be­gegnung ihr Leben völlig ver­ändern wird.
Bis in die 80er Jahre un­ternimmt sie unzählige Rei­sen in die selva, verbringt viele Monate bei den Lacan­donen und kämpft um die Er­haltung dieses einzigarti­gen Regenwaldes von Me­xiko.
Nach der Expedition bleibt Gertrud zunächst in Chiapas, in der kleinen ver­träumten Ort­schaft Oco­singo. Sie lernt den char­manten, blonden Archäolo­gen Frans Blom kennen und ver­liebt sich in ihn. Sie verabreden sich bei den Maya-Ruinen von Ya­xchilán am Fuße des Usuma­cinta, im Herzen des Dschungels.
Viele Wochen ziehen sie auf der Suche nach Mayarui­nen durch den Dschungel. Dann keh­ren sie nach Me­xiko+Stadt zu­rück. Gertrud trennt sich in Freundschaft von Rudi Feist­mann und be­zieht mit Frans eine Woh­nung in der Nähe des Parks von Chapultepec.
In den folgenden Jahren be­teiligt sie sich an weiteren Expeditio­nen in die selva lacandona. Ihre ersten Er­fahrungen und Erleb­nisse faßt sie zusammen unter dem Titel “Los Lacandones su pasado y su pre­sente” (Die Lacandonen, ihre Vergan­genheit und ihre Gegen­wart). Das Buch erscheint 1944 in Mexiko.
Nach Kriegsende kehren viele Freunde Gertruds nach Deutschland, in die Sowjeti­sche Besatzungszone, zu­rück. Auch Gertrud tritt 1947 die Reise nach Berlin an. Aber es hält sie nichts im grauen, zerstörten Deutsch­land. Schon nach wenigen Tagen trifft sie eine endgül­tige Ent­scheidung. Sie kehrt zurück nach Mexiko, in ihre neue Hei­mat, zur selva la­candona und zu Frans Blom.

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