Der Kaffee für den täglichen Aufstand

Wenn ein Ethnologe zwischen den Kaffeestauden der Zapatistas in Südmexiko herumläuft und dort auch als Menschenrechtsbeobachter und Einkäufer von solidarisch gehandeltem Kaffee aktiv ist, dann kann daraus ein spannendes Buch entstehen. Philipp Gerber schlägt in Das Aroma der Rebellion den Bogen vom solidarischen Handel zum politischen Projekt der Zapatistas.
Der Autor setzt die Entstehung der Kaffeekooperative „Mut Vitz“ in Beziehung zum Jahrzehnte alten Kampf der Kleinbauern um Zugang zu ihrem wichtigsten Produktionsmittel: Land. Dabei geht er in der Geschichte zurück und illustriert mit zahlreichen Beispielen die Ausbeutung der indianischen Arbeitskräfte durch die Schuldsklaverei des 20. Jahrhunderts, die Landbesetzungen in den siebziger und achtziger Jahren und die Bildung einer indigenen Bauernbewegung. Dem folgte die Gründung von Kooperativen unter dem Patronat maoistischer Mestizen bis es 1994 mit dem Aufstand der Zapatistas zu einer Neuordnung der Verhältnisse kam.
Dank langjähriger persönlicher Beziehungen des Autors zu wichtigen Akteuren vor Ort bietet das Buch Innenansichten einer Kooperative, deren Produkt uns auf dem deutschen und schweizer Markt begegnet. „Das Aroma der Rebellion“ präsentiert eine differenzierte Studie der Gesamtsituation und intime Portraits verschiedener Familien aus der ganzen Bandbreite der Kooperative. Da ist die Familie von Roberto, der gerade das Präsidentenamt der Kooperative inne hat, dem zapatistischen Verständnis nach eine ehrenamtliche Aufgabe. Oder die trotz Zapatismus patriarchal strukturierte Großfamilie von Don Martín. Hier thematisiert der Autor auch das Spannungsfeld von indigenem Patriarchat und emanzipatorischem Anspruch des zapatistischen Projekts. Er beschreibt wie sich „die starke Geschlechtersegregation in der Tzotzil-Kultur(…) auch in den Vermarktungsprojekten der Zapatistas“ manifestiert.
Der besondere Reiz des Buches besteht in der ehrlichen Analyse der Widersprüche, die Gerber im zapatistischen Umfeld identifiziert. Damit setzt er der in unseren Breiten latent vorhandenen Revolutionsromantik eine kritische Solidarität entgegen. Gerber berichtet, dass es zwischen den Kooperativen auch Neid gibt und dass Anspruch und Realität der Ämterrotation mitunter auseinanderklaffen. Letzteres kommentiert der Kassierer der Mut-Vitz-Kooperative mit den Worten „Ich muss durchhalten, weil mich die compañeros gewählt haben“. Die Idee, dass diejenigen, die ein Amt tragen von den anderen zum Beispiel bei der Feldarbeit unterstützt werden, setzt sich, so Gerber, nur langsam durch: „Da die Vorstandsmitglieder bei ihrer Arbeit nicht schwitzen, nicht den Rücken krumm machen, ist das in den Augen vieler Kooperativenmitglieder keine richtige Arbeit.“ Das Buch schildert aber auch, welche Lösungsansätze von den Kooperativenmitgliedern entwickelt werden.
Die Vorstellung von Arbeitsschritten im Export und ein kritischer Exkurs zum Wandel im fairen Handel machen Das Aroma der Rebellion auch über den Kreis der Chiapas-Interessierten hinaus lesenswert. Detailliert kritisiert der Autor, dass der faire Handel der großen Siegelinitiativen von einer ursprünglich antikapitalistischen Idee zu einer Marketing-Strategie degeneriert sei, bei der „(…) das Etikett ‚ethisch’ zum markttechnischen Vorteil gegenüber Konkurrenzprodukten“ werde. Er verweist darauf, dass „die Zahlung eines Aufpreises allein die Welt kein bisschen besser macht“. Stattdessen müssten „verschiedene Ebenen der Marginalisierung gleichzeitig angegangen werden.“.
Am Ende der Lektüre dürften die LeserInnen ihren solidarisch gehandelten Kaffee mit einem deutlich besseren Verständnis für die dahinter ablaufenden Prozesse konsumieren.

Gerber, Philipp: Das Aroma der Rebellion. Zapatistischer Kaffee, indigener Aufstand und autonome Kooperativen in Chiapas, Mexiko. 194 Seiten, 1. Auflage, Unrast-Verlag, Münster 2005. 14,- Euro
Vertrieb wird der Kaffee vom Hamburger Café Libertad Kooperative (www.cafe-libertad.de)

NAFTA-„Plus” – ein neues Minus?

Gut elf Jahre nach In-Kraft-Treten von NAFTA sind sich die Führungszirkel der internationalen Finanzwelt und der transnationalen Unternehmen wie auch die politischen Eliten einig: Das Abkommen reicht nicht mehr aus, sein Potenzial hat sich erschöpft. Aus ihrer Sicht ist es nötig, die so genannte strukturelle Reform zu vertiefen und die Agenda der nordamerikanischen Integration zu vervollständigen. In Mexiko verlaufen derartige Bestrebungen fernab der öffentlichen Wahrnehmung, geschweige denn Auseinandersetzung. Sie fußen auf einem neuen Konsens der Eliten der drei Länder, den strategischen Block im Norden auf neue rechtliche Grundlagen zu stellen.
Offiziell ins Leben gerufen wurde dieses Projekt auf dem Treffen der drei Staats- und Regierungschefs George W. Bush, Paul Martin und Vicente Fox am 23. März 2005 in Waco, Texas. Seitdem wird es unter dem Namen ASPAN, Alianza para la Seguridad y Prosperidad de América del Norte (Allianz für Sicherheit und Wohlstand in Nordamerika) gehandelt.
Als ob der Wirkungen durch NAFTA nicht genug wären: In Mexiko hat dieses Freihandelsabkommen, in dem den großen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Asymmetrien zwischen Supermächten und Entwicklungsländern keineswegs Rechnung getragen wird, eine schlimme Ungerechtigkeit und Ungleichheit begründet. Auch hat es zu weitreichenden Einschränkungen staatlicher Handlungsfähigkeit und damit zu einem steigendem Verlust an Autonomie und Unabhängigkeit geführt. Dies deutet sich beispielsweise durch ein Bankenwesen an, das sich mit der Ausnahme von zwei kleinen Banken, komplett in ausländischer Hand befindet. Auch gingen Möglichkeiten zu einer eigenständigen Industriepolitik auf nationaler Ebene weitgehend verloren.
Erschreckend ist vor allem, dass diese Situation dabei längst als Normalzustand hingenommen wird. Mehr noch: Es scheint sich innerhalb der mexikanischen Gesellschaft eine Gewissheit durchzusetzen, dass der einzig mögliche Weg, das Land zu „modernisieren“, eine Ausweitung der NAFTA ist.

Fox prescht vor

Am 28.Juni 2004 schlug Vicente Fox in Guadalajara vor, die Allianz der nordamerikanischen Staaten neu zu definieren: Er forderte eine weiter reichende finanzielle Integration, ein einheitliches Zollsystem, eine gemeinsame Energiepolitik, aufeinander abgestimmte Sicherheitssysteme, ein Kommunikations- und Transportnetz sowie eine Angleichung im institutionellen Aufbau und den Gesetzen. Das liegt durchaus auf Linie der USA. So fördert die Agentur für Wirtschaft und Entwicklung der Vereinigten Staaten (USTDA) die Sektoren Infrastruktur, Transport und Finanzdienstleistungen in Mexiko durch Machbarkeitsstudien, Unterstützung und technische Assistenz. Die USTDA unterstützt unter anderem die Modernisierung von Flughäfen, die Entwicklung des Marktes für Risikokapital, Wasser- und Abwassersysteme, Transportsysteme und Finanzierung des Wohnungsbaus. Im Jahr 2003 wurden Verhandlungen abgeschlossen, die der Overseas Private Investment Corporation (OPIC) erlauben, Programme anzubieten, um Auslandsinvestitionen in Mexiko zu unterstützen. Als vorrangige Handlungsgebiete wurden Wohnungsbau, Wasserversorgung, Bildung und städtische Infrastruktur bestimmt.
Die kanadische Regierung als Dritte im Bunde fordert unterdessen, dass flexible Mechanismen in Betracht gezogen werden, um die grenzüberschreitende Mobilität in der NAFTA-Region zu erleichtern und eine schrittweise Annäherung der Politik zu garantieren. Dieser den Vertrag erweiternde Ansatz verlangt eine Übereinkunft im Politischen ebenso wie in Fragen der Grenzen, des Transportes sowie der Mobilität der Arbeitskraft. Auch der Wettbewerb im Finanzsektor, Wechselkurse, Wettbewerbsregeln, Wirtschaftspolitik (Ausgleichszahlungen, Anti-dumping-Quoten), Umwelt- und Ressourcenprobleme müssten geregelt werden, ebenso wie die Rechte auf „Geistiges Eigentum“.

NAFTA-Plus schreitet voran

Die NAFTA-Kommision für Freihandel, die sich aus den Handelsministern der drei Länder zusammensetzt, verfasste die gemeinsame Erklärung „Ein Jahrzehnt der Errungenschaften”. Darin erklären sie ihre Bereitschaft, „die wirtschaftliche Integration Nordamerikas zu vertiefen, durch den Abbau von Transaktionskosten oder anderen bürokratischen Hindernissen den Handel und die Investitionen zu verbessern und verschiedene Mechanismen auszumachen, um unsere Wirtschaften durch mehr Handel noch weiter zu integrieren.”
Die genannte Kommission informierte über einen vorläufigen Vertrag über die Liberalisierung der Herkunftsregel für eine breite Produktpalette wie Lebensmittel, Konsum- und Industriegüter sowie alle Produkte, über welche die drei Länder eine Null-Zoll-Regelung abgeschlossen haben.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Handelsminister der drei Nationen sich in Richtung dessen bewegen, was die kanadischen Parlamentarier „Vertrag erweiternde Ansätze” nennen, aber mit der Perspektive, damit den Grundstein zu legen für den „Ansatz einer schrittweisen Integration”.

Mexiko verschläft
die Debatte

In Mexiko wird in der nationalen Debatte die Herausforderung durch NAFTA-Plus und der Verlust der Souveränität völlig ausgeblendet. Thematisiert werden die Widerstandskämpfe der Indígenas, der Campesinos, der Gewerkschaften und vieler anderer gesellschaftlicher Akteure und der parlamentarische Widerstand der strukturellen Reformen der Regierung und ihrer mächtigen transnationalen Verbündeten.
Jeden Tag wird die Idee stärker, sich ein eigenes Projekt des Landes vorzustellen und zu schaffen, auch wenn die führenden politischen Akteure auf ihrer politischen Agenda weder eine Antwort noch den Eifer haben, um sich dem NAFTA-”Plus” aktiv und nachhaltig zu widersetzen.
Das Mindeste, was man in diesem Zusammenhang fordern muss, ist eine demokratische Diskussion dieser gegen den Geist der Verfassung gerichteten Pläne.

Der Autor ist Mitglied des Red Mexicana de Acción Frente al Libre Comercio (RMALC)
rmalc@prodigy.net.mx

KASTEN:
Projekt „Erste Welt“

Mexiko habe die „Schwelle zur Ersten Welt“ überschritten, feierte der damalige mexikanische Präsident Salinas de Gortari die Unterzeichnung des Abkommens zur Nordamerikanischen Freihandelszone zwischen Kanada, den USA und Mexiko im Jahr 1993. Wachstum, die Steigerung der Exporte und Millionen neue Arbeitsplätze sollte dieser große Schritt bewirken. Wie der Vertrag am 1.Januar 1994 tatsächlich in Kraft trat, könnte symbolischer nicht für ihn stehen: Das Zapatistische Befreiungsheer (EZLN) besetzte Städte und Kasernen um gegen die Armut, die Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung und den Ausverkauf der öffentlichen Güter zu protestieren.
Die NAFTA war von Anfang an ein „Modell-Projekt“, sie sollte als erster Schritt in Richtung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone dienen , als ein radikales Experiment neoliberaler Politik. Tatsächlich wurden in dem trilateralen Abkommen zahlreiche Forderungen der Wirtschaft umgesetzt, die auf multilateraler Ebene bis heute nie durchgesetzt werden konnten. Der extrem weit gefasste Begriff geistigen Eigentums ist nur ein Beispiel. Vor allem aber die Rechte, die das Abkommen im so genannten „Chapter 11“den transnationalen Konzernen zuweist, sind atemberaubend: Nie zuvor war diesen das Recht zugestanden worden, gegen Gesetze und Regelungen der Länder, in denen sie ihre Investitionen tätigen, vor einem Streitschlichtungsgremium zu klagen. Dies bedeutete nicht nur, dass die Konzerne damit in den Rang staatlicher Akteure gehoben wurden – durch die Entschädigungszahlungen, die Unternehmen für ihre Gewinne einschränkende Regelungen zum Umwelt- oder Arbeitsschutz verlangen konnten, wurden die nationalen Gesetzgebungsverfahren untergraben. Die Regeln der NAFTA waren sozusagen als supranationales Recht zu betrachten.
Die Tragweite dieses Aspekts des Abkommens wurde wohl auch den Regierungen selbst erst im Laufe der folgenden Jahre bewusst, als die ersten Klagen gegen die Mitgliedsstaaten eingingen. So wurde Mexiko beispielsweise zur Zahlung von rund 16 Millionen Dollar verurteilt, weil der Staat San Luis Potosí dem US-amerikanischen Unternehmen Metalclad aus Umwelt- und Gesundheitsgründen den Bau einer Anlage zur Verarbeitung und Entsorgung hochgiftiger Stoffe untersagt hatte.
Was den einen erschreckend erscheint, ist für die anderen ein Erfolg: NAFTA diente in den vergangenen Jahren in verschiedenen weiteren Verhandlungen als Vorbild, zum zehnjährigen Jubiläum des Vertrages zeigten sich die Regierungen aller drei Mitgliedsstaaten hoch zufrieden. Es lässt sich durchaus nicht bestreiten, dass auch in Mexiko wirtschaftliche Erfolge zu beobachten sind: Die Exporte haben sich seit 1994 verdreifacht, die Direktinvestitionen sind sogar um das dreieinhalbfache angestiegen. Einige große, exportorientierte Unternehmen konnten ihre Gewinne steigern. Der erhoffte Aufstieg in die erste Welt, ja überhaupt ein Anstieg des Lebensniveaus der Bevölkerung blieben indes aus. Armut und Landflucht nahmen weiter zu und trieben immer mehr MexikanerInnen auf die „andere Seite der Grenze“: Die Geldsendungen aus den USA sind seit 1994 von 200 Millionen Dollar auf 300 Millionen Dollar gestiegen und machen die größte Devisenquelle des Landes aus.
Dass die Folgen der NAFTA die ländliche Bevölkerung und die kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft am härtesten getroffen haben, mag nicht überraschen: Die Importe von Mais und Ölsaaten stiegen zwischen 1994 und 2002 um das Dreifache, die zu Beginn noch versprochenen Übergangsfristen und Schutzzölle hatte die mexikanische Regierung zur Freude ihrer Nachbarn im Norden schon nach Kurzem aufgegeben. So kam es zur der absurden Situation, dass die mexikanischen Bauern ihren Mais nicht mehr los wurden, die Lebensmittelpreise durch die Abschaffung von Subventionen aber dennoch stiegen. 1,5 Millionen Menschen mussten seit In-Kraft-Treten der NAFTA das ländliche Mexiko verlassen. Hunderttausende Campesinos zogen schon im Dezember 2002 durch Mexiko-Stadt, um gegen die Zerstörung des ländlichen Mexikos zu protestieren: „El campo no aguanta más“ – mehr kann das Land nicht mehr ertragen!
Juliane Schumacher

Vorsicht! Informationen unter Verdacht

Wessen Wirklichkeit wird in den Medien repräsentiert? Wer legt fest was der Öffentlichkeit als Realität verkauft wird? Informationen bestimmen entscheidend die Lebensverhältnisse von Menschen auf der ganzen Welt. Und überall wird mittels Information Herrschaft ausgeübt. In vielen lateinamerikanischen Ländern befinden sich die großen Medien in den Händen der besitzenden Klasse, manchmal nur weniger Familien eines Landes, die dadurch die eigene Machtposition sichern. Und nicht zuletzt ökonomisches Interesse bestimmt, was schließlich zur Nachricht wird und was nicht.
Die Realität, die sich in Fernsehen, Radio und Zeitungen widerspiegelt, entspricht damit nur bedingt der Lebenswirklichkeit großer Teile der Bevölkerung. Dieser Schwerpunkt beschäftigt sich mit alternativen Medien in Lateinamerika, die Informationen aus einer anderen Perspektive produzieren. Initiativen werden vorgestellt, die mit und ohne kommerziellen Interessen gesellschaftlich marginalisierten Gruppen und sozialen Bewegungen eine Stimme geben, und AktivistInnen, die daran arbeiten, Repräsentation aufzuheben und selber in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Die mexikanische Soziologin Martha Zapata Galindo erläutert im Interview die Rolle des Internets als alternatives Medium. Sie spricht über die Möglichkeiten, die das Internet für die Organisation und Vernetzung von sozialen Bewegungen bietet. Durch die Verquickung von technischem Know-how, Cyberaktivismus und politischer Arbeit können virtuelle wie reale Grenzen überschritten und Kontrollen umgangen werden.
Insbesondere Radio spielt in Lateinamerika eine große Rolle. Über die legale Situation von freien und nichtkommerziellen Radios in Mexiko informiert der Artikel von Kristin Gebhardt. Wie in Mexiko wird auch in Guatemala vehement ein neues Mediengesetz gefordert, das alternative Radioprojekte legalisiert und ihnen Sendefrequenzen sichert.
Die Medienkonzerne in Venezuela befinden sich in den Händen der rechten Opposition. Um der einseitigen Berichterstattung entgegen zu wirken, unterstützt die venezolanische Regierung seit 1998 Basisinitiativen, wie beispielsweise Nachbarschaftsradios, mit technischer Ausrüstung. Malte Daniljuk stellt das kontrovers diskutierte venezolanische Mediengesetz vor, das erst vor wenigen Monaten verabschiedet wurde: es schreibt eine soziale Verantwortung der Medien fest und reglementiert die Inhalte.
Mit dem gesamt-lateinamerikanischen Fernsehsender Telesur will eine Kooperation verschiedener Länder Südamerikas unter der Federführung von Venezuela und Argentinien ein alternatives Projekt im großen Stil ins Leben rufen. Der argentinische Journalist Diego Iturizza befragt den Generalsekretär des Senders, Aram Aharoniam, kritisch über die Wiederbelebung der lateinamerikanischen Integration und das Ziel, eine Alternative zu den großen Medienmonopolen aufzubauen.
Alternativ sind Medien auf Kuba schon, sobald sie nicht staatlich gesteuert werden. Bis heute ist die Medienkontrolle auf Kuba streng. Trotzdem ist der Zugang zu alternativer Information auf der Karibikinsel in den letzten Jahren vielseitiger geworden, besonders durch das Internet. Lotte Arndt analysiert Geschichte und Gegenwart kubanischer Medienpolitik.
Mit CIMAC und Cerigua werden zwei Nachrichtenagenturen porträtiert, deren Schwerpunkt auf gesellschaftlichen Gruppen liegt, deren Anliegen in den Mainstream-Medien oft keinen Raum finden. Aus Guatemala berichtet Markus Plate über Cerigua, die seit dem Bürgerkrieg Menschenrechtsverletzungen öffentlich anprangert. Bis heute richtet sie ihren Fokus auf die Lebensbedingungen der indigenen und ländlichen Bevölkerung, die Arbeit von Gewerkschaften, MenschenrechtsaktivistInnen sowie Jugendliche und Kinder. Die Journalistinnen der mexikanischen Agentur CIMAC, vorgestellt von Georg Neumann, produzieren Nachrichten aus Genderperspektive.
Kristin Gebhardt widmet einen Artikel der argentinischen Radiogruppe La Colifata, die Medienproduktion als Therapieform nutzt. Einmal wöchentlich geht das Projekt aus der psychiatrischen Klinik La Borda in Buenos Aires auf Sendung.
Saskia Vogel berichtet aus Brasilien, wie die Monatszeitschrift Caros Amigos bei stetig wachsender Auflage einer alternativen und unangepassten Berichterstattung treu bleibt.
Harry Thomaß besuchte das Independent Media Centre in San Cristóbal de las Casas im Süden Mexikos. Neben der Migration in den Norden stehen dort insbesondere die Zapatistas im Mittelpunkt der Berichterstattung.
Den Schwerpunkt begleitet eine Fotoserie mit Graffities und stencils aus Mexiko, Argentinien und Chile. Mauern und Häuserwände werden weltweit als Medium für alternative Kommunikation und Ausdruck von Kultur genutzt. Manchmal ähneln sich Botschaften und Bilder im öffentlichen Raum, ob sie aus Berlin, Barcelona oder Buenos Aires stammen. Doch auch der lokale Kontext ist Teil des Werkes. Am liebsten hätten wir immer noch die ganzen Häuser, Straßen und barrios abgebildet, wo die Bilder entstanden. Aus Platzgründen ging das natürlich nicht. Schade. Wir bedanken uns bei Wolf-Dieter Vogel und Harry Thomaß für die Graffitiefotos, sowie bei der Zeitschrift Cortejar aus Buenos Aires für die zahlreichen Aufnahmen der stencils.

„Es gibt im Internet die Möglichkeit, alle Grenzen und Kontrollen zu überschreiten“

Wofür nutzen Sie als kritische Wissenschaftlerin aus Mexiko in Berlin das Internet?
Ich nutze es in erster Linie für Recherche und Kommunikation. Ich finde über das Internet sehr schnell Informationen zu sozialen Bewegungen, alternativen Wissensformen, Datenbanken und Zeitschriften, die früher nicht zugänglich waren. Ich gebrauche das Internet auch politisch als Werkzeug für Cyberaktivismus.

Was muss man sich unter Cyberaktivismus vorstellen?
Ein sehr interessanter Bereich, in dem ich tätig bin, ist die Schnittstelle zwischen Aktivismus und Hacktivismus. Hackers verfügen über technologisches Wissen, das wir AktivistInnen aus anderen Zusammenhängen nicht haben. Daher ist eine Zusammenarbeit sehr wichtig. Beispielsweise wird Software produziert, damit politische AktivistInnen mit geschützten Identitäten kommunizieren können, ohne dass die Zensur das verhindert. Der Bereich Hacktivismus wurde nach dem 11. September sehr nah an den Bereich Cyberterrorismus gebracht. Das ist nicht gerechtfertigt, weil es klare Unterschiede gibt. Aber Regierungen, wie die der USA, neigen dazu, diese Grenzen zu verwischen. Für sie wird leicht alles zum Terrorismus: ob jemand einen Virus programmiert oder aber eine Zensur umgeht oder Informationsgrenzen durchbricht.

Der Schwerpunkt unserer Ausgabe lautet „Alternative Medien“. Wie und wofür wird das Internet heute von sozialen Bewegungen genutzt?
Es gibt unendlich viel alternative Nutzung des Internets. Politische und soziale Bewegungen nutzen das Internet zur Organisation, Koordination und auch für Cyberaktivismus. Interessant ist, dass es gerade innerhalb der Indígena-Bewegungen eine immer stärkere Nutzung des Internets für Mobilisierung und Aktivismus gibt. Konkrete Aktivitäten werden online und auch offline organisiert, weil ja auch Leute erreicht werden sollen, die keinen Zugang zum Internet haben. Das Internet erlaubt es, einen größeren Radius an AktivistInnen zu erreichen und diese multiplizieren dann die Information über andere Kanäle an die nicht „Angeschlossenen“.
Ein etwas anderes Beispiel ist ein von der UNESCO unterstütztes Projekt aus Peru, in dem mehrere Indígena-Gemeinden zur Zeit einen virtuellen Raum der Erinnerung aufbauen, in dem sie Gewalterfahrungen der Vergangenheit aufarbeiten und auf unterschiedliche Form kommunizieren, sei es durch Texte, Bilder oder Foren.
Früher wurde vermutet, dass die Beziehungen, die sich im Netz entwickeln, oberflächlich bleiben. Aber das stimmt nicht. Bei Gruppen, die lange Zeit zusammen im Internet arbeiten, entsteht das Bedürfnis, sich kennen zu lernen. Gerade wenn Menschen ein gemeinsames Ziel teilen, an dem sie arbeiten, entwickelt sich ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Art von Identität. Das beste Beispiel ist die Open Source Community, die eine Philosophie teilt und gemeinsam an der Entwicklung freier Software arbeitet. Es gibt in Lateinamerika verschiedene Provider, die nichts kosten, damit AktivistInnen ihre Seiten darauf stellen können.

Wie viele Menschen in Lateinamerika haben überhaupt Zugang zum Internet?
Der Zugang zum Internet bestimmt sich über zwei Faktoren: über die ökonomischen Möglichkeiten und über das erforderliche Wissen. Weltweit gibt es die meisten NutzerInnen in den USA, dann kommt Japan. Deutschland ist auf dem siebten oder achten Platz. Bei den lateinamerikanischen Ländern führt Brasilien, gefolgt von Argentinien und Mexiko. Aber weltweit liegt der Anteil der LateinamerikanerInnen insgesamt nur bei drei oder vier Prozent, Tendenz allerdings rapide steigend.
Die Politik der einzelnen Länder ist sehr unterschiedlich. Es gibt eine Verpflichtung von vielen Regierungen, dieses Medium zugänglich zu machen. Einige Länder haben das konsequent verfolgt. Zum Beispiel Peru hat überall öffentliche Kabinen aufgestellt, in denen ein Internetzugang umsonst angeboten wird. In Peru und Ecuador werden Schulungen durchgeführt – auch für die, die das nicht selbst finanzieren können. In Ecuador gibt es ein sehr interessantes Projekt namens chasquiNet, in dem technologische Unterstützung und Schulungen angeboten und auch die Server umsonst für AktivistInnen und soziale Bewegungen zur Verfügung gestellt werden. In Mexiko gibt es hingegen kein solches Engagement der Regierung.

Ist das Internet ein hierarchiefreier oder grenzenloser Raum? Oder haben sich durch das Internet die bestehenden Ungleichheiten vertieft?
Ich denke, das Internet kann demokratisch sein und man kann es alternativ nutzten. Gleichzeitig bezeugt die Wirklichkeit natürlich auch etwas anderes. Denn dort, wo die Armut groß ist, gibt es kein Internet. Wer schon arm ist, wird noch weiter ausgegrenzt. Da teilt sich die Welt. Neben diesem sogenannten digital divide gibt es auch einen gender divide. Immer noch nutzen viel mehr Männer das Internet als Frauen. Und es sind auch immer noch vorrangig Weiße.

Das liegt an ihrer marginalisierten Stellung in der Gesellschaft?
Einerseits ja, andererseits liegt es auch daran, dass die meisten lateinamerikanischen Regierungen ihren Auftrag nicht so ernst genommen haben. Auf Ebene der Vereinten Nationen haben sich alle Regierungen dazu verpflichtet, das Internet für alle zugänglich zu machen. Dafür müsste viel investiert werden. Das machen viele Regierungen nicht, weil sie andere Prioritäten setzen.

Gibt es überall in Lateinamerika staatliche Kontrolle im Internet?
Ich gehe davon aus, dass weltweit alle Staaten in irgendeiner Form eine Kontrollinstanz haben. Es gibt Staaten, die ungeheuerlich viel kontrollieren – wie China und Kuba. Sie haben die Macht über Knotenpunkte und es kommt nur rein, was sie wollen. Ich kann mir gut vorstellen, dass in Mexiko die Kontrolle über das Internet nicht so groß ist. Das Know-how ist da, aber bislang fehlt noch das Interesse. Andererseits gibt es die Möglichkeit, alle diese Grenzen und Kontrollen zu überschreiten für diejenigen, die über das Wissen verfügen. Das ist allerdings nicht leicht. Deshalb denke ich, dass die Zusammenarbeit zwischen hackers und AktivistInnen so wichtig ist für die politische Arbeit.

Wie wirkt sich der Trend der Kommerzialisierung im Internet aus?
Die privatwirtschaftliche Nutzung hierarchisiert das Internet und grenzt aus. Denn dadurch werden Netzbereiche geschlossen gehalten: Zeitschriften und Datenbanken sind teilweise nur noch gegen Geld zugänglich. Wissen, das früher umsonst war, wird jetzt merkantilisiert. Aber es gibt die Gegenbewegungen, wie beispielsweise Open Source, die das Wissen frei hält und publiziert. Dieser Kampf wird gerade geführt und er ist noch nicht entschieden. Obwohl diejenigen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Nutzung des Internets haben, natürlich viel mehr sind und viel mächtiger. Ob wir noch offene Bereiche im Internet behalten, liegt natürlich auch an uns selber. Die Frage ist, wie lange wir bereit sind, für dieses freie Internet zu kämpfen.

Als ich 1997 an die Universität in Mexiko-Stadt ging, hatte ich noch nie das Internet benutzt. An der UNAM war es gang und gäbe. Ist das eine verallgemeinerbare Erfahrung? Verbreitete sich das Internet in Lateinamerika früher als in Europa oder Deutschland?
Tatsächlich hat sich das Internet früher in Lateinamerika verbreitet. Das liegt daran, dass die USA, die am meisten zur Technologie des Internets beigetragen haben, ein Interesse daran hatten, die eigenen Entwicklungen in Lateinamerika zu vermarkten. Die mächtigen industrialisierten Länder haben hingegen zunächst im Alleingang geforscht. Die lateinamerikanischen Länder konnten von vorn herein nicht konkurrieren. Daher waren sie bereit, die US-Entwicklungen einfach zu übernehmen.
Die mexikanische Universität, an der ich studiert habe, wurde bereits vor 20 Jahren vernetzt, noch bevor es das www gab – die Freie Universität Berlin erst vor fünf Jahren.
In Deutschland gibt es eine sehr komplexe Beziehung zur Technik. Viele haben Schwierigkeiten mit dem Internet und Computern und sind eher kritisch eingestellt. Hier gibt es außerdem eine sehr gute Kommunikations-Infrastruktur. Nach wie vor kann man hier ohne Probleme ohne Internet leben, weil man telefonieren kann. In Lateinamerika gibt es verhältnismäßig wenige Telefone und die Verbindung ist auch nicht so gut. So ist das Internet auch eine Alternative, weil es viel billiger und zugänglicher ist. In Lateinamerika herrscht zudem im Gegensatz zu Deutschland eine viel größere Begeisterung darüber, mittels Internet etwas zu erreichen, das über die Grenzen des Landes und der Region hinausgeht.

Und auch über die Grenzen der staatlichen Kontrolle der Massenmedien? Auf Grund von Zensur und Kontrolle war das Internet ja oft per se erstmal ein alternatives Medium. Dass die mexikanische Regierung beim Aufstand der Zapatistas 1994 ihre über die Massenmedien verbreitete Darstellung nicht aufrechterhalten konnte, lag ja zum großen Teil an der Internetnutzung der Zapatistas…
Ja, genau. Aber ich würde weiter gehen und sagen, dass das Internet generell auch heute noch ein alternatives Medium ist., denn man hat die Freiheit zu gestalten. Das ist beim Fernsehen oder bei Zeitungen nicht möglich. Dort muss man sich unterordnen unter das, was sie veröffentlichen und wie sie es darstellen. Dagegen hat man im Internet die Möglichkeit, selber zu gestalten, selber ganz schnell Information zu vermitteln. Das hat einen sehr starken Reiz für soziale Bewegungen in Lateinamerika und in der ganzen Welt.

„Poetisch, solidarisch, kämpferisch“

Endlich bewegt sich auch in Mexiko etwas. Ende April diesen Jahres bekam Radio Calenda, ein radio comunitaria in einer zapotekischen Gemeinde im Bundesstaat Oaxaca, von der zuständigen Behörde die Sendeerlaubnis erteilt. Im Mai konnte dann auch Radio La Voladora in Amecameca im Bundesstaat Mexiko das lang erwartete Dokument in Empfang nehmen. Neun Radios, die bei der mexikanischen Vertretung des Weltverbandes für Communityradios AMARC organisiert sind, konnten damit in den letzten Monaten legal auf Sendung gehen. Ein Viertel der circa 100 im Land existierenden „illegalen“, also ohne Erlaubnis arbeitenden Basisradios, sind in dem Verband vertreten, der sich weltweit für das Recht auf Kommunikation und die rechtliche Anerkennung von Communityradios einsetzt. Leer ausgegangen sind bisher die Sender in Mexiko-Stadt. Hier gebe es keinen Platz mehr auf dem Äther, so die Antwort auf den Antrag von Radio Neza, einem Stadtteilradio in Ciudad Nezahualcóyotl, einer der größten suburbanen Ansiedlungen der Megametropole.
Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten, in denen nichtkommerzielle Basisradios auf gesetzlicher Grundlage arbeiten, gibt es in Mexiko keine juristische Garantie für die auf Partizipation setzenden Sendestationen. In Brasilien wurde 1998 ein Gesetz über radios comunitarias verabschiedet, in Chile gibt es ein Gesetz für „Radios mit minimaler Reichweite“. In der ecuadorianischen Verfassung ist „das Recht auf Kommunikation, sowie das Recht, soziale Kommunikationsmedien zu gründen und Zugang zu den Rundfunkfrequenzen zu haben“, festgeschrieben.

Kein Recht auf Partizipation

Je nach Eigendefinition nennen sich die nichtkommerziellen Projekte Basisradios, Community- oder Bürgerradios, freie oder alternative Radios. Oft sind sie aus den Bedürfnissen sozialer Bewegungen und indigener Gemeinden nach selbst verwalteten Medien entstanden. Viele dieser lokalen Sender befinden sich in ländlichen Gebieten und übertragen Bildungs- sowie Kulturprogramme für die indigene und bäuerliche Bevölkerung. Besonders für Indígenas, die etwa zwölf Prozent der mexikanischen Bevölkerung ausmachen, sind die Communityradios oft das einzige Medium, das Informationen und Unterhaltung in den entsprechenden indigenen Sprachen bietet. In abgelegenen Gemeinden, in denen es kaum Telefone gibt, wird das eigene Radio auch als Kommunikationsmedium zwischen den Orten eingesetzt. Nachrichten für Freunde und Familienmitglieder oder der Termin für das nächste Treffen einer Organisation werden übermittelt.
Kommerzielle Radios sind dort oft gar nicht zu empfangen, und in deren Programmen kommt die indigene Lebensrealität sowieso kaum zur Sprache. Für Menschen, die kein spanisch sprechen, sind sie zudem nicht zu verstehen. Zwar gibt es 25 so genannte „Radios Indigenistas“, die von der staatlichen Nationalen Kommission für Entwicklung der indigenen Völker verwaltet werden. Diese übertragen ihre Sendungen in 31 indigenen Sprachen und sind in 15 mexikanischen Bundesstaaten präsent. Wegen ihrer Abhängigkeit vom Staat sind sie aber nur bedingt den radios comunitarias zuzurechnen.
Im mexikanischen Mediengesetz ist es bisher nicht vorgesehen, zivilgesellschaftliche Organisationen trotz dieser Situation den Zugang zu Rundfunklizenzen zu gewähren. Die Sender werden zwar meist geduldet, leben jedoch ständig mit der Gefahr einer willkürlichen Schließung. Das Gesetz aus dem Jahr 1965 unterscheidet bei der Vergabe von Hörfunklizenzen zwischen Konzessionen, die an kommerzielle Anbieter vergeben werden und Genehmigungen für Sender, die nicht Gewinn orientiert arbeiten. So etwa Universitäten oder kulturelle Einrichtungen.
Faktisch ist die mexikanische Medienlandschaft jedoch durch die Konzentration der Lizenzen in den Händen Weniger monopolisiert. Nach Angaben der Zeitung Financiero teilen sich 15 Familien die Macht über die größten Medien des Landes. Die beiden privaten Fernsehkanäle Televisa und Televisión Azteca besitzen demnach zusammen 87 Prozent der Lizenzen für Fernsehkanäle. Die insgesamt 1149 zugelassenen Radiostationen gehören laut Financiero 14 Konzernen.

Forderung nach neuem Mediengesetz

VertreterInnen von NGOs fordern seit langem ein neues Gesetz. So soll ein Medienrat nach für die Öffentlichkeit nachvollziehbaren Kriterien die Lizenzvergabe regeln. Bisher ist dafür der Präsident zuständig. Und es sollen Grenzen der Medienkonzentration und der bezahlten Parteienwerbung in Rundfunk und Fernsehen festgelegt werden. Die Parteienwerbung gilt als eine der wichtigsten Einnahmequellen für große Sender. In einem untergeordneten Punkt soll in dem Gesetz auch die juristische Grundlage für nichtkommerzielle Basisradios geschaffen werden. Allerdings wird die Gesetzesreform bereits seit Jahren ohne Ergebnis diskutiert, vor allem, weil die großen Medienunternehmen alles daran setzen, eine Veränderung zu verhindern.

Jahre des Aufbegehrens

Die Geschichte der unabhängigen Radios ist relativ jung. Sie begann im Jahr 1994. In diesem Jahr des zapatistischen Aufstandes machten AktivistInnen aus der Stadtteilorganisation „Asamblea de Barrios“ und der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) in Mexiko-Stadt das erste Mal mit Piratenradios auf sich aufmerksam. Mit einem Fünf-Watt-Sender übertrug Televerdad aus einem Zelt auf einer Straßenkreuzung im Stadtzentrum einige Wochen lang täglich 17 Stunden. Schon Televerdad kämpfte gegen das Monopol der privaten Konzessionen. Kurz zuvor hatte die Rolle der Medien im Kampf um die Präsidentschaft zu harscher Kritik geführt. Die RadiomacherInnen forderten dazu auf, weitere demokratische Medien zu gründen. In der direkten Folge entstanden Radio Pirata und Radio Vampiro als Stadtteilsender.
In den ersten Wochen des studentischen Streiks an der Nationalen Autonomen Universität UNAM im Jahr 1999 begann Ké Huelga seine Übertragungen von der größten Hochschule Lateinamerikas aus. Das Radio wurde zum Sprachrohr der StudentInnen, die für die Verteidigung einer öffentlich organisierten und finanzierten Bildung als soziales Recht fast zehn Monate lang den Unibetrieb lahm legten. Die RadiomacherInnen legten Wert darauf, nicht nur ein Campus-Radio zu sein und bezeichneten sich als „ anarchistisch, poetisch, großartig, ordentlich, bizarr, solidarisch, kämpferisch, unerfahren und experimentell, eben genauso wie die Bewegung selbst“. Am 6. Februar 2000 war zunächst Schluss mit der Übertragung. Die Polizeieinheit PFP stürmte das Unigelände. Drei Monate später begann Ké Hulega wieder zu senden. Mit Unterbrechungen arbeitet das Radio bis heute. Zudem entstanden aus Ké Huelga weitere freie Medienprojekte.
Ein anderer fester Bestandteil der alternativen Radioszene in der Hauptstadt ist Radio Zapote. Dieser Sender entstand, als die Zapatistas im März 2001 nach einem mehrwöchigen Marsch in Mexiko-Stadt ankamen und dort auf dem Gelände der anthropologischen Hochschule ENAH untergebracht wurden. Da die kommerziellen Medien die indigenen Forderungen kaum zum Thema machten, gründete man gemeinsam mit Studierenden Radio Zapote. Die Zapatisten gingen, der Sender blieb.
Nicht einem politischen, sondern einem Naturereignis schuldet Radio La Voladora seine Entstehung. Als im Dezember 2000 der Vulkan Popocatépetl ausbrach, starteten in dem nahe Mexiko-Stadt gelegenen Amecameca einige linke RadioaktivistInnen ein Bürgerradio, das seine Mikrofone für alle EinwohnerInnen offen hielt. Damals gab es kein Medium, das die 25.000 BewohnerInnen des Ortes mit aktuellen Informationen versorgte und das Alltagsleben nach dem Vulkanausbruch koordinierte. Bei La Voladora kamen und kommen tatsächlich fast alle zu Wort, auch politische Parteien und KirchenvertreterInnen. Diese Zugangsoffenheit wird von anderen alternativen RadiomacherInnen oft kritisiert. Schließlich hätten PolitikerInnen ja genügend Möglichkeiten, sich in den Medien zu äußern. La Voladora-Gründerin Esperanza Rascón hält dagegen: „Für uns besteht die Gemeinschaft nicht nur aus Personen, die eine Affinität zu uns haben.“ Zwar gebe es auch bei La Voladora Grenzen, etwa gegenüber Faschisten, aber „wir nehmen das zapatistische Motto ernst, eine Welt zu schaffen, in die viele Welten passen“. Man respektiere die Haltung der freien Radios, einen gegenhegemonialen Diskurs schaffen zu wollen, ergänzt La-Voladora-Direktor Daniel Iván. Wer aber wie diese Radios für eine bestimmte politische Agenda kämpfe, müsse automatisch bestimmte Akteure ausschließen. „Die Antwort auf die Kritik des hegemonialen Diskurses kann aber nicht die Schaffung eines anderen hegemonialen Diskurses sein, sondern ist der Dialog,“ sagt Iván.

Kampf um Legalisierung

Nicht nur über unterschiedliche Konzepte, auch über die Bedeutung der Legalisierung von unabhängigen Radios wird in Mexiko viel diskutiert. Während die bei AMARC organisierten Projekte auf eine gesetzliche Grundlage hinarbeiten, spielt dies für andere wie etwa Radio Zapote keine Rolle. Zwar habe man nichts gegen die Bemühungen von AMARC, aber die Priorität von Zapote liege nicht darauf, mit Abgeordneten und MenschenrechtlerInnen zu sprechen, sagt El Monito Vodoo („Das Voodoo Äffchen“) vom Zapote-Kollektiv. „Unser Schwerpunkt ist es, über den Sender direkt mit den Leuten zu arbeiten und nicht, eine Sendeerlaubnis zu bekommen.“ Maru Chávez vom Frauengesundheitszentrum Sipam, das auch Radioprogramme erstellt und bei AMARC organisiert ist, hält dagegen den Kampf um Legalisierung für entscheidend. Dabei gehe es nicht nur um den juristisch abgesicherten Rahmen, sondern auch darum, in der Öffentlichkeit als organisierte Kraft präsent zu sein. „Durch die gesetzliche Grundlage würde auf der Makro-Ebene anerkannt werden, dass es andere Stimmen gibt,“ erklärt Chávez. „Wir sind nicht zur Marginalität berufen.“
Keine Gedanken um Lizenzen muss sich Radio Insurgente machen. Der Radiosender des Zapatistischen Befreiungsheers EZLN überträgt von mehreren Sendestationen in den Bergen des mexikanischen Südostens aus ein Programm, das „an die zapatistische Unterstützungsbasis gerichtet ist, sowie an die Aufständischen, MilizionärInnen, Comandantes und Comandantas, und an die regionale Zivilgesellschaft. Auch Soldaten und Paramilitärs gehören zum Zielpublikum. Dieses Programm wird neben Spanisch in den Indígena-Sprachen Tzotzil, Tzeltal, Chol und Tojolabal gesendet,“ heißt es in der Selbstdarstellung. Auch außerhalb von Chiapas ist Radio Insurgente zu hören. Der Sender strahlt freitags auf Kurzwelle eine einstündige Sendung aus, die auf der Insurgente-Homepage angehört oder heruntergeladen werden kann. Zudem rufen die zapatistischen RadiomacherInnen die Freien Radios in aller Welt dazu auf, ihr Programm zu übernehmen. „Das Wiederübertragen ist frei und umsonst, vorausgesetzt dass der Inhalt des Programms nicht verändert wird.”

Weitere Infos: www.lavoladora.net, www.radiozapote.cjb.net, www.kehuelga.org, www.radioinsurgente.org, www.mexico.amarc.org

Wind und Worte in Chiapas

Ein unscheinbares Haus in der Straße Ejercito Nacional Nummer 17 in San Cristóbal de las Casas, Chiapas: Man muss die Adresse kennen, denn von außen weist nichts auf das Independent Media Centre (IMC) hin. Das Zentrum ist in einer Jugendherberge für politische AktivistInnen untergekommen. Simon aus Kalifornien ist einer derjenigen, die sich im IMC engagieren. Eigentlich ist er nach Chiapas gekommen, um in der zapatistischen Gemeinde Morelia in einer Fahrradwerkstatt mitzuarbeiten. Doch jetzt ist er, wie viele politikinteressierte Reisende im Süden Mexikos, erstmal in San Cristóbal hängen geblieben. Die Ausstattung des IMC ist karg. Acht Computer stehen hier und viele Videos und CDs. An der Wand hängt eine große Tafel mit den Öffnungszeiten. Über die Woche verteilt halten sechs bis zehn Personen das Büro geöffnet.

Indymedia global

Das IMC Chiapas versteht sich als Teil des Netzwerkes Indymedia, das 1999 in Seattle anlässlich der Proteste gegen die WTO entstand. Damals versuchten diverse große Fernsehsender der Weltöffentlichkeit ein ruhiges, friedliches Bild zu vermitteln von der Stadt, in der die Polizei stark repressiv gegen globalisierungskritische DemonstrantInnen vorging. Indymedia gelang es via Internet Bilder von der Repression zu publizieren, die die Mainstreammedien einer krassen Lüge überführten. Das war der Start für eine weltweite Vernetzung von IMCs, zu dem sich 2001 IMC Chiapas gesellte.

Solidarität Zapatista

Anlass war die Ankündigung der Zapatistas nach Mexiko-Stadt zu marschieren. Im siebten Jahr des Kampfes gegen die mexikanische Armee, die Paramilitärs und gegen das Vergessen riefen die Zapatistas damals die mexikanische Zivilgesellschaft auf, sich zu organisieren und zu informieren. In dem Kommuniqué vom 1.1.2001 bezeichneten sich die Zapatistas selbst als Kommunikation. „Wir sind das Wort, nicht der Mund, der es ausspricht,“ verkündeten sie. Ein Wort, das ausgesprochen werden muss. Ein Wort, das in Bewegung bleibt: „Wir sind Schritte, nicht die Füße, die sie antreiben. Wir sind Pfad. Weder der Punkt der Ankunft noch des Aufbruchs.“
Die Indymedia-Homepage berichtete umfassend über den langen Marsch der Zapatistas. Drei Monate vor dem Marsch wurden Workshops organisiert, in denen Freiwillige lernten, selbst erstellte Informationen in Form von Radio, Film und Text im Internet zu veröffentlichen. Circa 150 MitarbeiterInnen von Indymedia begleiteten schließlich den Marsch „der indigenen Würde und der Farben der Erde“ nach Mexiko-Stadt.

Freie Information

Ana und Paco von Indymedia Chiapas erzählen, wie die Webseite funktioniert. „Wir versuchen hier in nicht hierarchischen Strukturen zu arbeiten. Das ist nicht immer einfach, denn wer mehr Verantwortung übernimmt, hat meistens auch mehr Macht“, bemerkt Paco selbstkritisch. „Freie Meinungsäußerung ist ein Grundsatz von Indymedia. Jeder kann auf der Homepage veröffentlichen. Allerdings haben wir uns das Recht vorbehalten, Beiträge von der Homepage zu entfernen, wenn sie etwa rassistisch oder sexistisch sind“, erklärt Ana. Die Bevölkerung habe ein Recht auf gute Information, aber in vielen Dörfern im Umkreis von San Cristóbal gäbe es keine Internetzugänge, berichtet die junge Frau. Daher haben die AktivistInnen Workshops organisiert, in dem Wandzeitungen erstellt und dann in den Dörfern an die Bäume gepinnt werden. Außerdem produziert IMC Chiapas ein Radioprogramm, das man in weiten Teilen von Chiapas empfangen kann.

Cancún und zurück

Als im Herbst 2003 die WTO in Cancún tagte, organisierte Indymedia ein eigenes Medienzentrum und akkreditierte zahlreiche internationale JournalistInnen. „Das schönste an der WTO-Konferenz war die Woche davor“, erzählen Ana und Paco. „Es war eine tolle Erfahrung, uns mit anderen Leuten von Indymedia aus der ganzen Welt auszutauschen und inhaltlich zu arbeiten.“

Neue Alphabetisierung

Für JournalistInnen in Chiapas sind insbesondere die Zapatistas von Interesse. Wenn diese eine lokale Aktion ankündigen oder ein Jubiläum ansteht, füllt sich das kleine IMC Büro mit internationalen JournalistInnen, die die Infrastruktur nutzen. So war es zum Beispiel 2003 bei der Gründung der zapatistischen Parlamente, den so genannten Caracoles.
Der Bundesstaat Chiapas ist stark durch Migration geprägt. Er grenzt an Guatemala und bildet somit die Südgrenze der Nordamerikanischen Freihandelszone. Viele Menschen kommen auf dem Weg in den Norden hier durch. Thema bei Indymedia Chiapas ist daher auch die Repression gegen MigrantInnen aus Zentralamerika.
Ihre wichtigste Aufgabe sehen Ana und Paco allerdings in der Zusammenarbeit mit den BewohnerInnen von Chiapas. Sie streben eine neue Art der Alphabetisierung an: den Umgang mit dem Internet. Insbesondere durch den Tourismus nimmt für viele EinwohnerInnen von Chiapas das Internet an Bedeutung zu. KunsthandwerkerInnen etwa bekommen von TouristInnen und HändlerInnen das Angebot, per E-Mail in Kontakt zu bleiben und Exportgeschäfte aufzubauen. Dafür müssen aber erst einmal Internet-Fertigkeiten erlernt werden. Keine Selbstverständlichkeit an einem Ort, wo nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung über Zugang zum Internet verfügt.
So arbeitet das IMC Chiapas mit zivilen und staatlichen Organisationen zusammen, um Ausbildungskurse durchzuführen. Eines der Probleme des IMC wird jedoch bei dieser Arbeit deutlich: „Es wäre schön, wenn das Angebot und die Infrastruktur von Indymedia mehr von der einheimischen Bevölkerung angenommen würden,“ kommentiert Paco. „Zur Zeit arbeiten hier immer noch hauptsächlich Ausländer.“

Zwischen Anti-Imp und post-kapitalistischem Begehren

Das Wort Revolution ist wieder im Kommen. So sahen es zumindest einige lateinamerikanische Intellektuelle nach dem diesjährigen Weltsozialforum (WSF). Viel stärker als noch auf den ersten drei WSF in Porto Alegre sei dieses Mal in einem undogmatischen Sinne von Revolution gesprochen worden. Ihres Erachtens hänge die Bedeutung des Begriffs mit den „wachsenden Wünschen nach post-kapitalistischen Orientierungen“ zusammen, die mit dem offenbaren „Scheitern des neoliberalen Modells, aber auch mit den konkreten Erfahrungen der Bewegungen zusammenhänge“. Exemplarisch dafür stehen die Erfahrungen der sozialen Bewegungen mit der Regierung Lula. Denn gerade die Regierung Lula verdeutlicht, wie eng die Spielräume für eine Politik unter dem „Sachzwang Weltmarkt“ ist. Sah man auf dem WSF einerseits viele AktivistInnen mit einem T-Shirt „100 % Lula“, wurde er gleichzeitig auf der Demonstration und in Diskussionen offen kritisiert. Vor zwei Jahren waren es noch 80.000 Menschen, die zum Auftritt Lula´s auf dem WSF kurz nach dessen Regierungsübernahme zusammen kamen, um ihn frenetisch zu feiern. In diesem Jahr fanden sich dazu etwa 10.000 Personen ein. Eine eigenartige „Präsenz“ genossen die mexikanischen Zapatistas. Offiziell dürfen sie als bewaffnete Bewegung nicht am WSF teilnehmen, was schon häufig kritisiert wurde. Gleichwohl spielten in vielen Diskussionen ihre Erfahrungen und Ansätze gesellschaftlicher Veränderung eine wichtige Rolle. Ana Esther Ceceña, Herausgeberin der Zeitschrift Chiapas, und John Holloway von der Universität Puebla, die beide den Aufstand von Beginn an intellektuell begleiteten, zählten zu den meist gehörten RednerInnen auf dem WSF.
Der internationale Rat des WSF hatte die Kritik der letzten Foren aufgenommen. Darin hatte es geheißen, dass die Themen zu stark gesetzt würden. Um das zu verhindern, gab es dieses Mal einen breiteren Themenfindungsprozess. In einem partizipativen Vorbereitungsverfahren wurden elf „thematische“ Achsen herausdestilliert, die für die globalen sozialen Bewegungen zurzeit zentral zu sein scheinen: Wissen und Wiederaneignung von Technologien; Diversität, Pluralität und Identitäten; Kunst und Kultur; Kommunikation; Gemeingüter als Alternative zu Privatisierung und Kontrolle durch transnationale Konzerne; soziale Kämpfe und Demokratie; Frieden und Demilitarisierung; internationale Demokratie; alternative Ökonomie; Menschenrechte, Ethik und Spiritualität. „Transversal“ hierzu sollten die Themen soziale Emanzipation und politische Dimension von Kämpfen, Kämpfe gegen den patriarchalen Kapitalismus, Kämpfe gegen Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Diversität in die Debatten eingewoben werden.

Nationale Souveränität als Lösung?

Nach der Kritik vergangener Jahre an „Promi-Podien“ mit bis zu 5.000 ZuhörerInnen und einer Abschlussveranstaltung mit 25.000 Menschen vor zwei Jahren wurde dieses Mal auf Großveranstaltungen verzichtet. Neben der Auftaktdemonstration gab es nur einen einzigen Ort des allgemeinen Zusammenkommens, der von jemandem besetzt wurde, der einem beim Stichwort WSF nicht sofort einfällt: dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Chávez füllte offenbar eine von vielen so wahrgenommene Leerstelle. Er bediente aber nicht nur einen oft simplifizierenden Antiamerikanismus und das Bedürfnis nach einer personifizierten Projektionsfläche, sondern steht für eine wichtiger werdende Position, die ich mangels begrifflicher Alternative als „national-souveränistische“ bezeichnen würde. Die Verwerfungen der neoliberal-neoimperialistischen Globalisierung werden von einem nicht unerheblichen Teil der Bewegungen gerade in Lateinamerika in einem klassischen anti-imperialistischen Bezugsrahmen verortet. Dabei heißt der Gegner „die“ USA. Letzteres ist nicht so ganz falsch. Gleichwohl zeigen die meisten empirischen Beispiele der Durchsetzung neoliberaler Strategien – deutlich erkennbar bei den Privatisierungen von Staatsbetrieben – die hochgradige Verflochtenheit der jeweiligen Bourgeoisie.
Dass sich an Chávez derart viele ausrichten, könnte zum Problem für radikalere Strömungen werden, die nicht durch die Hintertür einen Staat als Instrument emanzipativer Transformation ins Zentrum stellen. Gleichwohl zeigt das Beispiel Venezuela deutlich, inwieweit eine unfähige Bourgeoisie und „Staatsklasse“ unter bestimmten Umständen dennoch entscheidend geschwächt werden kann. Zudem finden in Venezuela durchaus Prozesse in Richtung Demokratisierung statt, unter anderem weil Chávez auch gegen die alte Staatsbürokratie vorgehen muss.
Die langsame Stärkung einer „national-souveränistischen“ Position macht ein weiteres Dilemma deutlich: Es fehlte bei den Treffen – und wahrscheinlich auch darüber hinaus – eine entwickelte Streitkultur. Über teilweise erhebliche Differenzen oder sogar sich widersprechende Perspektiven wurde oft hinweg gegangen.
Das wird gerade dann zum Problem, wenn anerkannt wird, dass emanzipative Gesellschaftsveränderung nicht privilegiert über die Transformation staatlicher Institutionen stattfinden kann, sondern auch durch die Revolutionierung der Alltagsverhältnisse: Produktion, Reproduktion, Subjektivitäten, das Verhältnis von Gesellschaften zu Natur. Die enorme Vielfalt von konkreten alternativen Praxen und Ideen, von Politikvorstellungen und neuartigen Konstituierungen sozialer Subjekte, mit den mexikanischen Zapatistas gesprochen: die „Neuerfindung der Revolution“, könnte zu schnell wieder eng geführt werden auf eher traditionelle Vorstellungen. Gleichzeitig, und das macht Venezuela ja deutlich, gehen letztere in der Tat mit verbesserten Lebensbedingungen für viele Menschen einher.

Andere Formen gesellschaftlicher Reproduktion

Das WSF gibt einen – notwendig oberflächlichen – Eindruck, wie sich neue Formen materieller und sozialer Reproduktion herstellen. Der peruanische Dependenztheoretiker Anibal Quijano fragte, ob mit diesen kriseninduziert sich verändernden Mikrostrukturen eventuell neue Reproduktionsmodi entstehen, neue Subjektivitäten und Wünsche nach einem Leben jenseits kapitalistischer Marktvergesellschaftung und eines Staates, der für die politische Integration und die Abfederung von Lebensrisiken zuständig ist.
Das ist kein platter Anti-Etatismus, sondern konkreten Erfahrungen von Millionen von Menschen geschuldet: den Militärdiktaturen in vielen lateinamerikanischen Ländern sowie der formal-demokratischen Durchsetzung des Neoliberalismus. Der Begriff der Gemeinschaft wird für diese alternativen Formen gesellschaftlicher Reproduktion immer wieder diskutiert. Und zwar nicht im bloßen Sinne der Aufrechterhaltung „traditionaler“ Strukturen, sondern als Schaffung von Nahverhältnissen, in denen sich Menschen gegen die Brutalität des Ausschluss aus Produktions- und Konsumsystemen, Bildungs- und Gesundheitsleistungen wehren. Die „Organisationsfrage“ stellen sie alltagspraktisch. Das ist nicht zu romantisieren, aber es ist die konkrete Suche nach Alternativen jenseits von kapitalistischem Markt und zynisch-repressivem Staat. Die Suche nach gesellschaftlichen Formen, in denen Millionen von Menschen überleben und leben, welche aus Sicht der Herrschenden und großer Teile der Mittelschichten eigentlich nur noch stören. Darüber gibt das Weltsozialforum in Diskussionsveranstaltungen und Gesprächen am Rande einen kleinen Einblick, oder besser gesagt: eine grobe Ahnung.
Denn selbst wenn sich das einige selbsternannte AvantgardistInnen anders vorstellen: Gesellschaftliche Veränderung ist eben auch das „Bohren dicker Bretter“, bedeutet „Stellungskämpfe“ (Antonio Gramsci) an vielen Orten mit klugen Strategien und langem Atem gegen Gegner, die nicht dumm sind und über ungleich mehr Ressourcen verfügen. Vorschläge für abstrakte Masterpläne oder der traditionelle Dreischritt „Analyse der Widersprüche – Programm – Bündnisse“ waren eher am Rande zu finden.

Bewegungen und Institutionen

Eine andere, viel diskutierte Ebene war jene der nationalen und internationalen institutionellen Politik. Da ging es vor allem um das Agieren transnationaler Konzerne und um die Schwächung des Druckes, der von den internationalen Finanzmärkten ausgeht. Im Bezug auf letztere wurde es als Erfolg der Bewegungen verbucht, dass Schröder und Chirac sich in Davos zumindest symbolisch hinter die Tobin-Steuer stellten. Das wurde nicht bejubelt – weil von vielen als P.R.-Maßnahme interpretiert – aber doch erfreut zur Kenntnis genommen. Wichtiger ist wahrscheinlich, dass die Amerikanische Freihandelszone ALCA, die ursprünglich bis Januar 2005 eingerichtet sein sollte, weit von ihrer Realisierung entfernt ist. Hier spielt das Verhältnis von Bewegungen zu staatlichen Regierungen natürlich eine Rolle. Und auch die vielfältigen subtil und offen repressiven Politiken, denen verschiedenste Spektren der Bewegungen ausgesetzt sind, sind oft genug staatlich organisiert und müssen über Kämpfe zurückgedrängt werden, die zu anderem Staatshandeln führen.
Auffallend ist, dass es wenig Interesse daran gab, die Rolle des Staates in seinen je unterschiedlichen Kontexten oder internationaler Institutionen gründlicher zu diskutieren. Für viele ist der Staat neben dem Kapital die Ausgeburt des Bösen. Andere sehen in ihm eine unverzichtbare Regulierungsinstanz, die es angesichts der neoliberalen Verhältnisse zu demokratisieren gelte. Und auch die offizielle internationale Politikebene ist außer ALCA nicht von übermäßigem Interesse. So waren etwa die Veranstaltungen zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte eher schwach besucht.

Alternatives Wissen

Auf dem WSF wurde deutlich, dass die aktuellen Bewegungen es sehr ernst nehmen, dass es nicht zuletzt um alternatives Wissen geht: so zum Beispiel um konkurrierende Interpretationen zu den gegenwärtig herrschenden, sei es an den Universitäten oder im breiteren öffentlichen Diskurs. Aber auch Wissen über komplizierte Sachverhalte hieße es zu erarbeiten, um gegen neoliberale Technokraten argumentieren und Vorschläge machen zu können. Dabei geht es auch oft um ein Wissen darüber, wie ganz konkret das Leben anders gestaltet werden kann – sei es in der Landwirtschaft oder bei der Nutzung des Internet.
Dieses Wissen ist meist nicht akademisch. Es entsteht in den Bewegungen selbst oder wird dort erhalten, weil sich Menschen dagegen wehren, fremdbestimmt modernisiert zu werden. Insbesondere NGOs spielen hier eine wichtige Rolle, da sie häufig eine bewegungsorientierte Infrastruktur bieten und zum Beispiel organisatorische Erfahrungen, materielle Ressourcen, internationale Kontakte und Sprachkenntnisse oder spezifische Wissensformen vermitteln können.

Wie weiter?

Trotz des erfolgreichen Aufgreifens früherer Kritik gab es eine Anzahl von den Kritikpunkten, bei denen das diesjährige Treffen keine Abhilfe schaffen konnte: der Vorwurf, das Forum sei zu wenig aktionsorientiert, es gebe zu wenig Beteiligung aus Afrika, Asien, Osteuropa und dem arabischen Raum und zu wenig Arbeitssprachen (Portugiesisch, Spanisch, Englisch, teilweise Französisch). Bereits von den früheren Veranstaltungen bekannte Probleme wiederholten oder verschärften sich: Zum einen dominierte eine Veranstaltungsform, bei der vier bis acht Menschen zunächst referierten und dann mit dem Publikum diskutiert wurde. Zudem waren nach meiner Schätzung und dem Eindruck aus etwa 30 Veranstaltungen über drei Viertel der ReferentInnen Männer. Dennoch sind die Lernprozesse, wie solch eine Veranstaltung durchgeführt wird, enorm.
Das Weltsozialforum, das ist inzwischen deutlich geworden, ist ein Kristallisationspunkt enorm vieler Akteure und konkreter Kämpfe. Im kommenden Jahr soll es dezentral stattfinden, was für Europa wohl heißen wird, dass es mit dem Europäischen Sozialforum in Athen im April 2006 stattfinden wird. In Lateinamerika wird höchstwahrscheinlich Caracas, eventuell mit Buenos Aires, das dezentralisierte WSF beherbergen.
Ein erster Eindruck lässt erahnen welche Diskussionen von den globalen sozialen Bewegungen angesichts der Krise des Neoliberalismus in den kommenden Jahren stärker geführt werden (müssen): nämlich jene nach Stellenwert und Inhalten einer „post-neoliberalen Agenda“.

Literarisches Ping-Pong in Mexiko

Ich habe mich gefühlt, als hätte Marylin Monroe soeben um meine Hand angehalten“, sagte Paco Ignacio Taibo II zu dem Vorschlag von Subcomandante Marcos, zu zweit und vor aller Öffentlichkeit einen Kriminalroman zu entwickeln. Alles fing mit einem Boten an, der an Paco Ignacio Taibo II’s Haustür in Mexiko-Stadt klingelte. Er trug einen Umschlag aus dem lakandonischen Regenwald im Süden des Landes bei sich, unterzeichnet von Subcomandante Marcos. Taibo, der Marcos nach eigenen Worten noch nie persönlich begegnet ist, sagt, die Umstände der Übergabe hätten ihm die Authentizität des Schreibens garantiert. „Noch nie hatte mir jemand ein derartig verrücktes Abenteuer vorgeschlagen.“ Gerade deshalb hat Taibo, der das Chaos leidenschaftlich liebt, sich auf die Sache eingelassen. Und weil er tiefe, unverhohlene Sympathien für die indigene Zapatisten-Guerilla und deren wortgewandten Sprecher hegt.
Muertos incómodos ist mehr als ein Roman, es ist ein literarisches Abenteuer. Auf Initiative des international für seine Schriften bekannten, in Mexiko aber polizeilich gesuchten Guerillaführers Subcomandante Marcos schreiben er und der Schriftsteller und Historiker Paco Ignacio Taibo II diesen Roman vierhändig. Und zwar ohne die Möglichkeit, die Weiterentwicklung des Werks direkt miteinander absprechen zu können.

Die Umstände beeinträchtigen nicht die Idee

Als Mittlerin zwischen dem im chiapanekischen Urwald lebenden Marcos und dem städtischen Autor Taibo II dient die Tageszeitung La Jornada, die seit Mitte Dezember in regelmäßigen Abständen ein Kapitel des Romans veröffentlicht. In einem literarischen Ping-Pong spielen die beiden Autoren sich die Bälle zu, wobei sie immer auf das reagieren müssen, was der jeweils andere im letzten Kapitel veröffentlicht hat. „Wir schreiben gegen die Zeit, es ist eine seltsame Tour de Force“, sagt Taibo, da jeder der Gegenspieler exakt zwei Wochen hat, um aufgrund der vom Gegenüber gelieferten Vorlage die Handlung weiterzuspinnen. Direkt austauschen können sie sich über ihre Arbeit nicht, denn Taibo II ist eingefleischter Städter und sitzt in der Hauptstadt, während Marcos seit zwanzig Jahren durch den südmexikanischen Dschungel streift und seit dem zapatistischen Aufstand von 1994 auf den Fahndungslisten der mexikanischen Behörden steht. In dem als Kriminalroman angelegten Werk fließen zwei zunächst parallel verlaufende Handlungsstränge, die in Chiapas bzw. Mexiko-Stadt ihren Ausgang nehmen, im siebten Kapitel ineinander. Die zwei Hauptfiguren, der zapatistische, indigene Elías Contreras, der im Auftrag der Kommandanten der zapatistischen Guerilla Nachforschungen in Kriminal- und anderen Problemfällen anstellt, und der einäugige Kommissar Héctor Belascoarán, der bereits aus zahlreichen Kriminalromanen von Paco Ignacio Taibo II bekannt ist, kommen in diesem am Revolutionsdenkmal in der mexikanischen Hauptstadt zusammen und arbeiten von da an am selben Fall. Sie sind einem Mann mit vielen Gesichtern auf der Spur, der seit der Studentenbewegung von 1968 bei allen bedeutsamen politischen Ereignissen der jüngeren mexikanischen Geschichte seine Finger im Spiel hatte. Die Machenschaften dieser Figur, namens Morales, gilt es aufzudecken. Der Roman ist in der Gegenwart angesiedelt und spielt bereits jetzt nicht nur auf den Kampf der ZapatistInnen, sondern auch auf eine Reihe von Missständen an, die derzeit für die mexikanische Öffentlichkeit relevant sind – so zum Beispiel auf die erwiesene Korruption aller großen politischen Parteien und die Weigerung der heutigen Herrschenden, die politische Verantwortung für den schmutzigen Krieg Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre zu übernehmen. So führte Taibo einen 1971 ermordeten Aktivisten der 1968er Studentenbewegung ein, der plötzlich Nachrichten auf Anrufbeantwortern hinterlässt.

Dialog zwischen zwei Lebens- und Denkwelten

Literarisch handelt es sich bei Muertos Incómodos jedoch auch um einen Dialog zwischen zwei Lebens- und Denkwelten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Welt der indigenen Dörfer Südmexikos, die häufig weder Strom noch fließendes Wasser haben, wo bis heute bittere Armut die Regel ist, und deren Bevölkerung noch bis vor wenigen Jahren häufig Sklaverei-ähnlichen Lebensbedingungen ausgesetzt war. Und auf der anderen Seite der Dschungel aus Fernsehantennen und Lichtmasten von Mexiko-Stadt mit seinen Fast-Food-Ständen, seinem Straßenstrich und seinen alltäglichen Gefahren. Diese Begegnung findet in der Sprache von Muertos Incómodos ihren deutlichen Ausdruck. Elías Contreras erzählt und spricht in einer Sprache, die Ko-Autor Paco Taibo als „español tzotzilizado“ bezeichnet hat, also einem verfremdeten Spanisch, das merklich mit der Maya-Sprache Tzotzil eingefärbt ist, und obendrein die Spuren der antiquierten, ja geradezu feudalistischen Lebensverhältnisse und des extremen Bildungsrückstandes in Chiapas in sich trägt. Héctor Belascoarán hingegen ist eine Großstadtfigur, die einerseits im Slang des Distrito Federal zu Hause ist, andererseits sich einer elaborierten, situativ angepassten Ausdrucksweise bedient.

Dem Anliegen öffentliches Gewicht verleihen

Ursprünglich war geplant, den Roman sogar sechshändig zu schreiben, gemeinsam mit dem Spanier Manuel Vázquez Montalbán, der sich mit Subcomandante Marcos lange Zeit geschrieben und ihn auch in Chiapas besucht hatte, um daraufhin das Buch Marcos, Herr der Spiegel herauszugeben (Wagenbach 2000). Dieses Vorhaben konnte jedoch aufgrund des Todes von Vázquez Montalbán im vergangenen Jahr so nicht durchgeführt werden. Die beiden verbliebenen Verfasser lassen „Unbequeme Tote“ nun auch als Hommage an den verstorbenen Spanier entstehen, indem sie zahlreiche Hinweise auf Montalbán und dessen kulinarisch interessierten Kommissar Pepe Carvalho einbauen. Taibo, der für die Arbeit an diesem Gemeinschaftswerk die Biographie des mexikanischen Revolutionshelden Pancho Villa beiseite legen musste, an der er gerade saß, hat keine Angst, von den Zapatisten instrumentalisiert zu werden: „Im Gegenteil: Der Gedanke, dass sie mich benutzen könnten, um ihrem Anliegen mehr öffentliches Gewicht zu verleihen, ist mir ganz und gar angenehm“, so der mehrfache Preisträger und Organisator des alljährlichen Krimi-Festivals Semana Negra im spanischen Gijón vor dem Publikum der Buchmesse in Guadalajara, wo er das gemeinsame Vorhaben öffentlich machte. Zahlreiche Verlage aus aller Welt haben bereits die Rechte des gerade erst entstehenden literarischen Werks erworben – in Deutschland der Berliner Verlag Assoziation A, bei dem nach Vier Hände, Erzengel und Gerufene Helden soeben mit Die Rückkehr der Schatten ein weiterer Roman von Paco Ignacio Taibo II erschienen ist, in dem es um die deutsch-mexikanischen Beziehungen während der Nazizeit geht.

Im Sommer im Buchregal

Unbequeme Tote wird voraussichtlich im Sommer 2005 in die deutschen Buchläden kommen. Den Erlös aus den Autorenrechten wollen Subcomandante Marcos und Paco Ignacio Taibo II einer Nichtregierungsorganisation aus Chiapas zukommen lassen, die den Kampf der ZapatistInnen unterstützt. Welche das sein soll, sei noch nicht entschieden, so Taibo.

Miriam Lang übersetzt den Roman derzeit ins Deutsche

Neues aus den Bergen im Südosten Mexikos:

Nein, nicht von Subcomandante Marcos. Diesmal hatte der mexikanische Präsident Vicente Fox der Welt nach einem Rundflug über das Konfliktgebiet von Chiapas eine wichtige Botschaft mitzuteilen: „Der Gebrauch von Waffen seitens der EZLN gehört der Vergangenheit an. Schritt für Schritt setzt sich Gerechtigkeit, Sicherheit und Frieden in Chiapas durch.“ Anders ausgedrückt: Fox hält die EZLN als bewaffnete Befreiungsarmee für überflüssig, die Probleme in Chiapas würden sich auch ohne sie lösen.

Das Entscheidende an diesen von Fox wohl eher lapidar dahin gesagten Worten ist weniger ihre augenscheinliche Unwahrheit, als das erneute Deutlichwerden, wie Fox mit dem ungelösten Konflikt in Chiapas umgeht. Widerlegen lassen sich seine Aussagen leicht. Aus nur ein klein wenig näherer Entfernung als aus der Vogelperspektive seines Hubschraubers wird deutlich: Chiapas ist nach wie vor von Gewalt gezeichnet. Die soziale Situation hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verbessert. Noch immer schwelen aufgrund der extremen Armut schwere Konflikte zwischen verschiedenen indigenen Gemeinden. Noch immer treten Paramilitärs die Menschenrechte mit Füßen und werden dabei laut MenschenrechtsaktivistInnen vom ansässigen mexikanischen Militär gedeckt. Das Militär selbst ist mit 91 Kommandoposten in der Region vertreten, was das Klima von Gewalt und Repression zusätzlich aufheizt. Angesichts dieser Tatsachen ist es völlig unangebracht, der EZLN implizit die Überflüssigkeit ihrer Bewaffnung zu suggerieren und vom nahen Frieden in Chiapas zu reden.

Fox’ Sätze legen am ehesten zweierlei nahe. Einerseits einen Mangel an Taktgefühl für eine erfolgreiche Kommunikationspolitik bei diesem Thema. Denn wenn Fox die Zapatistas mit Worten in die Bedeutungslosigkeit drängen wollte, so ist der Schuss gewaltig nach hinten losgegangen. Politische und zivilgesellschaftliche Organisationen bescheinigten Fox die völlige Unkenntnis der Situation in Chiapas. Selbst einige von Fox‘ Parteifreunden fühlten sich genötigt klarzustellen, dass die EZLN noch immer eine wichtige politische Rolle spiele. Die Zapatisten-Armee musste sich dazu noch nicht einmal selbst einschalten.

Andererseits, und das wiegt schwerer, bekundet er mit diesen Aussagen erneut sein Desinteresse, die EZLN ernstzunehmen und den Konflikt im Dialog mit dieser und mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zu lösen. Nachdem er das Foto mit dem Sup zu Beginn seiner Amtsperiode nicht kriegen konnte, welches Fox zu internationalem Ruhm verholfen hätte, erlosch sein Interesse an den ZapatistInnen rasant. Nicht dass die „Aufstandsbekämpfung niederer Intensität“ der Vergangeheit angehöre. Schließlich versucht die Regierung bereits seit langem auf ihre Art und Weise die EZLN und das Projekt der zapatistischen Autonomie in Chiapas zu schwächen und zu sabotieren. So unterstützt sie beispielsweise explizit nicht-zapatistische indigene Gemeinden im Konfliktgebiet mit Geld und Hilfsprogrammen. Zusätzlich wird der Druck auf die BewohnerInnen der autonomen Gemeinden mit Lockangeboten, wie Düngemitteln und Saatgut, erhöht. Für Menschen am Rande des Existenzminimums oftmals eine Entscheidung zwischen Hunger und politischem Gewissen. Denn wer die Hilfe der Regierung annimmt, wird aus dem Kreis der Zapatistas ausgeschlossen. Politisches Dialoginteresse sieht anders aus.

Fox hat so mit seiner Aussage, die Sprache der Waffen in Chiapas gehöre der Vergangenheit an, am ehesten seine eigene Auseinandersetzung mit dem bewaffneten Konflikt zur Sprache gebracht. OppositionspolitikerInnen werfen Fox vor, dass er gerade durch seine Untätigkeit „die Aufstandsbekämpfung“ vorantreibe. Fox sollte dagegen endlich seinen einstigen Worten von der Lösung des Chiapas-Konflikts „in 15 Minuten“ vernünftige Taten folgen lassen, anstatt seinen fahrlässigen Phlegmatismus mit unvernünftigen Worten peinlich in Szene zu setzen.

Chronik einer Revolution

Aus meiner Sicht ist dies der vollständigste Bericht der öffentlichen Aktivitäten der EZLN“, schrieb Subcomandante Marcos in seiner Botschaft anlässlich der Vorstellung des Buches EZLN 20 + 10 Das Feuer und das Wort von Gloria Muñoz am 10. November 2003 in Mexiko und meinte damit dessen Herzstück, den Mittelteil – die Chronologie. Er selbst hat das Vorwort und ein 30 Seiten langes Interview am Ende des Buches beigesteuert. „Sie schickten mir die Fragen in schriftlicher Form zu, und ich musste vor einem kleinen Kassettenrekorder antworten. Ich verwechselte immer die ‚Rückwärtstaste’ mit ‚Aufnahme’, und so versuchte ich eine Einschätzung der letzten zehn Jahre zu machen, und auch noch über andere Dinge zu reflektieren.“
Im Kernteil des Buches, der EZLN-Chronologie, beschreibt Muñoz sehr klar zehn Jahre Kampf und Widerstand. Nüchtern ist hier die Darstellung, denn das Spektakuläre ist das zapatistische Projekt an sich – sowohl sein Wandel in der Kontinuität (von Marcos „die Prinzipientreue einer Bewegung“ genannt), als auch die Tatsache seines Fortbestandes und Gedeihens – aller Aufstandsbekämpfung zum Trotz, was vor allem seiner tiefen Verwurzelung in der indigenen Bevölkerung von Chiapas, aber auch der nationalen und internationalen Solidarität zu verdanken ist. Die Chronologie hat nur knapp halb so viele Seiten wie die Zapatista Chronicles von John Ross (die darüber hinaus im Frühjahr 2000 enden). Trotzdem stellt Glorias schlanke Chronologie den Wälzer von Ross in den Schatten.
Komplettiert wird das Buch durch „ein paar Puzzleteile“, die am Anfang des Buches stehen. Gloria Muñoz sammelte dafür die Aussagen einiger EZLN-Combatantes, die mehr als 19 Jahre im zapatistischen Kampf zugebracht haben und zum ersten Mal ihr Herz über diese Jahre des Schweigens öffneten und ihre Erinnerungen preisgaben. Unter anderem wird in diesem Rahmen des Anführers mit dem zweithöchsten militärischen Rang, Subcomandante Pedro, gedacht, der am Morgen des 1. Januars 1994 die Einnahme von sieben Dörfern leitete und beim Kampf um Las Margaritas, von mehreren Kugeln getroffen, fiel. Wir erfahren, dass er den Indígena-Gruppen Tojolabales und Tzeltales gut bekannt war, dass er Alas (filterlose mexikanische Zigaretten) rauchte, und dass er bei den EZLN-KämpferInnen beliebt war, weil er ihnen wichtige Anliegen sehr gut erklären konnte. Die Erinnerungen sind ein Teil des langsamen Enthüllungsprozesses der intimen Geschichte der EZLN.

Der Stoff des Gobelin-Spiegels
Vor allem durch die eindrucksvolle Auswahl von Zitaten gelingt Gloria Muñoz die konzentrierte Darstellung der Geschehnisse. Diese hat sie aus den zahlreichen EZLN-Kommuniques – „Spiegelstückchen“ (Marcos), die sie dann durch den Stoff ihrer eigenen Worte zu einem zapatistischen Gobelin verwebte. „Das Buch, …, ist ein Gobelin-Spiegel, aber als Buch verkleidet. Man kann ihn nicht an die Schranktür hängen, aber man kann sich ihm nähern und uns suchen und sich selbst suchen“, schreibt Marcos. Und so fühlt man sich beim Lesen der zapatistischen Bilanz der mexikanischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000 schnell in unseren Breiten zurückversetzt: „Der gemeinsame Nenner dieser Wahlkampagnen war die tiefe Verachtung des Bürgers. Die (…)Wahlkampagnen, die mehr einem Werbefeldzug glichen, begriffen den Bürger als einen vergesslichen Kunden, der bar bezahlt, der nicht viel Fragen stellt und keine Garantien fordert. Stur in eine andere Richtung laufend als die Bürger, ertrug die politische Klasse Mexikos die Kluft zwischen ihren Angeboten und den Erwartungen der Menschen.“
Die Parallelen zu den eigenen Verhältnissen sind jedoch nur ein Aspekt. Die kompakte Darstellung der Geschichte des zapatistischen Aufstandes selbst hält auf der anderen Seite auch für jene Überraschungen parat, die glauben, das Geschehen einigermaßen aufmerksam verfolgt zu haben. JedeR dieser Kundigen weiß, dass sich heute in Chiapas 60-70.000 Soldaten der mexikanischen Armee tummeln. Das Ausmaß der Militarisierung wird aber erst durch den im Buch aufgebauten Kontrast richtig fassbar: 1994, im Jahr der bewaffneten Auseinandersetzungen betrug die Zahl der Soldaten nur 17.000, und die Regierung hatte nach Vereinbarung des Waffenstillstandes in jenem Jahr die Militarisierung auf vier Landkreise eingeschränkt: San Cristóbal de las Casas, Las Margaritas, Ocosingo und Altamirano. Bis zum Jahr 1999 war die Truppenstärke auf die heute noch gültige Zahl erhöht worden und der Aktionsradius der mexikanischen Armee wurde auf 66 der 111 Landkreise ausgedehnt. Im Gebiet der Selva Lacandona mit ihren knapp 300.000 Menschen kommt auf neun Einwohner je ein Soldat.

Ein potentes Nachschlagewerk
Die zusammenhängende Darstellung der Entwicklungen des Konflikts macht das Buch zu einer äußerst wertvollen Quelle. Prägnant werden die unterschiedlichen Mobilisierungen der Zapatistas beschrieben, angefangen von den allerersten Gesprächen mit der Regierung über die Verhandlungen in San Andrés, in die von den Zapatisten eine große Anzahl von zivilen Ratgebern aus ganz Mexiko miteinbezogen wurden. Die encuentros („Treffen“) mit der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft – wobei bei den Zapatistas der Begriff Zivilgesellschaft eine andere Bedeutung hat als in seiner instrumentalisierten Bedeutung des westlichen Politikjargons – werden in dem Buch ebenso gewürdigt wie die zwei großen, landesweiten consultas, die die EZLN – neben vielen kleinen consultas – zu wichtigen Fragen durchführte. Der „Marsch der Farbe der Erde“, bei der eine Karawane von mehreren tausend Angehörigen der Zivilgesellschaft aus dem In- und Ausland im Frühjahr 2001 die Generalkommandantur der EZLN nach Mexiko-Stadt begleitete, wird authentisch nachgezeichnet. Weitere Ereignisse – Perioden des zapatistischen Schweigens eingeschlossen – bis hin zur Gründung der caracoles, der zapatistischen Regionalverwaltungen in Chiapas im August 2003, werden zudem erwähnt.
Wer sich dem Phänomen des zapatistischen Aufstandes erstmalig nähert, findet in dem Buch eine verbindliche Einstiegslektüre, einen verlässlichen Kompass, mit dessen Hilfe die Navigation durch die Vielfalt der Ereignisse leicht fällt.
Wer die Rebellion seit vielen Jahren solidarisch begleitet, wird es genießen, die Zeit „in einem Guss“ Revue passieren zu lassen.

Gloria Muñoz Ramírez: EZLN 20 + 10 Das Feuer und das Wort. Unrast-Verlag, Münster 2004, 18 Euro

Rassismus und Antirassismus in Lateinamerika

Rassismus entspricht der Unterstellung einer qualitativen Hierarchie zwischen den Menschen, die aufgrund bestimmter Körpermerkmale in verschiedene Gruppen aufgeteilt werden. Daraus ergeben sich sowohl sozioökonomische als auch soziokulturelle Folgen. Erstere beziehen sich auf die Entstehung einer ungleichen Chancenstruktur, da diejenigen, die in der unterstellten rassistischen Hierarchie schlecht da stehen, im sozialen Wettbewerb (Jobsuche, Zugang zum Schulsystem usw.) systematisch benachteiligt werden. Die kulturelle Dimension des Rassismus drückt sich im Alltag durch Verhaltensformen, Rituale (rassistische Beschimpfungen, Demütigungen) sowie räumliche und soziale Exklusion aus.
In verschiedenen Regionen Lateinamerikas lassen sich beide Dimensionen des Rassismus beobachten. Allgemein richten sich die rassistischen Vorurteile gegen Bevölkerungsgruppen, deren Aussehen einem idealisierten europäischen Menschentypus nicht entspricht. Generell erfolgt dies nach einer Diskriminierungsskala: Je mehr sich das Aussehen vom imaginierten Idealbild entfernt, desto härter ist der Rassismus. Etwa im Fall der Bevölkerungsgruppen mit indigenen Körpermerkmalen in Mexiko oder für die Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer tritt diese perverse Regel ein.

Von „weißer“ Dominanz zum Konzept der Mestizaje
Rassistische Vorurteile haben tiefe historische Wurzel in Lateinamerika. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rezipierten die Gründungsväter der lateinamerikanischen Nationen die Theoreme des europäischen pseudowissenschaftlichen Rassismus, wonach die Dominanz der weißen Bevölkerung eine Voraussetzung für die Entstehung moderner und fortschrittlicher Gesellschaften darstellt. Davon ausgehend entwarfen die Nationsideologen in Lateinamerika unterschiedliche Konzepte für die „Europäisierung“ ihrer Gesellschaften: Während einige dieser Intellektuellen eine offensive Migrationspolitik befürworteten, die möglichst viele europäische EinwandererInnen ins Lande ziehen und durch „Vermischungsprozesse“ zu einem graduellen „Weißwerden“ der Gesamtbevölkerung führen könnte, plädierten andere für interne Maßnahmen, die die „Vermischungsprozesse“ stoppen sollten, damit eine intakt gebliebene weiße Elite die Führungsfunktionen übernehmen könne.
Erst in den 1930er Jahren konnte Lateinamerika das Vermächtnis des europäischen pseudowissenschaftlichen Rassismus überwinden. Zu dieser Zeit setzte sich in verschiedenen Ländern des Subkontinents die Ideologie der Mestizaje durch, welche die Nationen Lateinamerikas zu einem positiven Modell für die friedliche Verschmelzung von vielfältigen Kulturen und Menschentypen erklärte. Die Botschaft der Mestizaje ist allerdings ambivalent: Einerseits ermöglichte diese Ideologie die symbolische Inklusion von dunkelhäutigen, indigenen und als „Mestizen“ bezeichneten Bevölkerungsgruppen in die lateinamerikanischen Nationen, womit diese Gruppen nicht mehr die Rolle des „internen Anderen“ spielten. Gleichzeitig blendete das ideologische Lob der Verschmelzung die in der Gesellschaft tief verankerten rassistischen Hierarchien aus.

Antirassistische Bewegungen
Gegen derartige rassistische Vorurteile, die mit der Ideologie der Mestizaje historisch koexistierten, richten sich heute antirassistische Bewegungen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Im Allgemeinen versuchen diese Gruppen, den Rassismus sowohl auf der sozioökonomischen Ebene durch die Forderung kompensatorischer Politiken, als auch in seiner soziokulturellen Dimension herauszufordern. Dazu zählen die Aufwertung bzw. die Rekonstruktion des kulturellen Erbes von indigenen und afroamerikanischen Bevölkerungen. Konkret lassen sich bereits im Rahmen der lateinamerikanischen Historiographie wichtige Veränderungen feststellen: Waren die nationalen Geschichten der Länder Lateinamerikas bis vor nur wenigen Jahren vornehmlich durch die Präsenz weißer Helden gekennzeichnet, die „barbarischen Einheimischen“ moderne und universelle Werte auferlegten, so vermitteln die Museen, aber auch die Schulbücher heute ein anderes Bild. Die Kolonisierung wird nicht mehr als eine altruistische Ausdehnung der europäischen Aufklärung, sondern als eine ökonomische und kulturelle Ausrottung dargestellt. Dabei werden indigenen Aufständen und Rebellionen gegen die Sklaverei ein positiver Stellenwert zugeschrieben.
Die antirassistischen Mobilisierungen, die sich derzeit in Lateinamerika beobachten lassen, sind heterogen und vielschichtig. Doch einige Charakteristika scheinen die unterschiedlichen Bewegungen gemein zu haben. Insgesamt bringen diese neuen antirassistischen Akteure einen wichtigen Innovationsimpuls in die lateinamerikanische Politik ein, da sie inhaltlich und anhand ihrer Handlungsformen Verbindungen zwischen Ebenen herstellen, die bislang als unvereinbar erschienen.

Über Grenzen hinweg
Diese neuen Mobilisierungen handeln gleichzeitig national und transnational. Sowohl die neuen indigenen, als auch die afroamerikanischen Bewegungen versuchen neue Räume in der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit zu schaffen, um ihre Staatsbürgerrechte zu verwirklichen. Gleichzeitig artikulieren sie sich weltweit: Sie suchen die Unterstützung von Geldgebern aus dem Norden, wie transnationalen NGOs, Stiftungen und Entwicklungsagenturen; sie bilden aber auch neue transnationale Vernetzungen wie etwa die seit 1998 bestehende Alianza Estratégica de Afro-Latino-Americanos. Dabei verbinden sie Kultur und Politik.
Charakteristisch für den neuen Antirassismus ist der Rückgriff auf einen kulturellen Fundus, der sich von der nationalen kulturellen Landschaft vermeintlich abhebt. Hier lässt sich die Suche nach kulturellen Attributen und Produkten feststellen, welche die nationalistischen Assimilierungsstrategien überlebt haben. Damit wird das differenzierte Kulturerbe, wie etwa im Fall der Mapuche in Chile oder der Mobilisierungen der AfrokolumbianerInnen, zum politischen Mittel, um Zugang zur Öffentlichkeit zu erhalten und ihre politischen Forderungen zu begründen.

Performances als Politik
Mit der Koppelung von Kultur und Politik hängt ein weiteres Merkmal des neuen Antirassismus in Lateinamerika zusammen: Die Verknüpfung von Ethik und Ästhetik bzw. von Argumenten und Performance. Wer den öffentlichen Auftritt der Zapatistas in Mexiko oder die von der brasilianischen antirassistischen Bewegung Movimento Negro Unificado veranstalteten Demonstrationen ins Auge fasst, dem fällt der medienkonforme Charakter dieser Ereignisse auf.
Durch das Verstecken ihrer Gesichter im ersten Fall oder das Schminken und die Stilisierung des eigenen Körpers im zweiten Beispiel erinnern beide Bewegungen in unterschiedlicher Weise daran, dass sie Bevölkerungsgruppen vertreten, die historisch zur politischen Unsichtbarkeit verurteilt wurden. Es handelt sich hier doch um mehr als eine bloße symbolische Politik. In den neuen Formen des Antirassismus in Lateinamerika gehören Körperinszenierungen und öffentliche Performances zu einem integrierten politischen Programm, das fundierte und im Rahmen von Studien, Publikationen und öffentlichen Reden verbreitete Argumente ebenfalls miteinbezieht.

Politische Unzulänglichkeiten
Trotz seiner jüngsten Erfolge ist der neue Antirassismus in Lateinamerika natürlich noch weit davon entfernt, die rassistischen Spuren wegzufegen, die sich während mehrerer Jahrhunderte Kolonisierung, Sklaverei und Import europäischer rassistischer Ideen eingeprägt haben. Auch einige grundsätzliche politische Unzulänglichkeiten des neuen Antirassismus lassen sich bereits konstatieren. So konnten die antirassistischen Mobilisierungen – mit wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel in Bolivien – noch nicht die breite Basis der Bevölkerung erreichen, die vom alltäglichen Rassismus betroffen ist. Oft vertritt nur eine kleine Minderheit einen dezidiert antirassistischen Diskurs, während die betroffenen Gruppen entweder noch auf die Ideologie der Mestizaje setzen oder politisch desinteressiert sind. Was die konkreten Maßnahmen zur Etablierung einer realen Gleichberechtigung anbelangt, ist eine ähnliche Einschränkung festzustellen. Bislang begünstigten Politiken – wie die bevorzugte Zuschreibung von Studienplätzen für dunkelhäutige BewerberInnen an einigen staatlichen Universitäten Brasiliens (affirmative action) – nur die etwas besser situierten Individuen im Rahmen der diskriminierten Gruppen. Schließlich sind universitäre Quotenprogramme einer kleinen Minderheit der AfrobrasilianerInnen vorbehalten, die es schafft, die Oberschule abzuschließen. Aufgrund ihrer schlechten sozialen Stellung müssen die meisten dunkelhäutigen BrasilianerInnen bereits in der Grundschule die schulische Bildung abbrechen. Überdies sind antirassistische Politiken darauf angewiesen, ihre Zielgruppen zu benennen und dabei auf die gleichen Kategorien zurückzugreifen, die die rassistischen Konstruktionen begründen. Mit anderen Worten: Maßnahmen, die eine reale Chancengleichheit erzielen, müssen die benachteiligten Gruppen erfassen und definieren, womit die bestehenden rassistischen Hierarchien diskursiv bestätigt werden. Gegen solche Paradoxien des Antirassismus gibt es allerdings kein theoretisches Patentrezept. Im Rahmen der politischen Praxis und in jedem spezifischen Kontext müssen Lösungsansätze gefunden werden, die den Rassismus und seine distributiven Folgen adäquat bekämpfen. Diese Tatsache ist den neuen antirassistischen Bewegungen längst bewusst.

Mazahua-Indígenas kämpfen um Wasser

Recht grimmig schaute die
Comandanta Victoria Martínez Ende Oktober auf die ausgestreckte Hand des mexikanischen Innenministers. Zwar haben die Mazahua aus dem Bundesstaat Mexiko gerade ein Abkommen mit der Regierung unterschrieben, in denen ihren Forderungen im Rahmen des Wasserkonfliktes auf dem Papier weitgehend entsprochen wird. Doch das Misstrauen bei Martínez und anderen Mazahuas aus dem Landkreis Villa de Allende sitzt tief. Schließlich ist es nur mit öffentlichkeitswirksamen Protestaktionen gelungen, die offiziellen Stellen zu einer Reaktion zu zwingen.
Maßgeblichen Anteil daran hatte das „Zapatistische Frauenheer zur Verteidigung des Wassers“. Mit Stöcken, Macheten und einigen Holzgewehren bewaffnet demonstrierten deren Anführerin Victoria Martínez und etwa 60 weitere Mazahuafrauen ihre Entschlossenheit, für ihre Rechte einzutreten. Revolutionsheld „Emiliano Zapata kämpfte für Land und Freiheit, wir kämpfen für Wasser und Fortschritt mit Würde“, so die Comandanta. „Wir nehmen bezug auf unsere Geschwister“, die aufständischen Zapatisten im Staat Chiapas.
Ein Jahr lang hatten vor allem die Männer der Gemeindeallianz für die Verteidigung der Menschenrechte und Naturressourcen der Mazahua-Bevölkerung gekämpft. Vergeblich versuchten sie mit Eingaben beim Umweltministerium und der ihm unterstellten Nationalen Wasserbehörde CONAGUA ihr Anliegen vorzubringen. Ausgangspunkt waren von offizieller Seite überhörte Entschädigungsforderungen wegen der zeitweisen Überflutung von 300 Hektar landwirtschaftlich genutzter Flächen. Der Schaden war durch das Überlaufen des nahen Stauwerks Villa Victoria entstanden. Mitte September dieses Jahres waren es die Mazahuas endgültig leid. „Wir haben gemerkt, dass der Gesprächsweg erfolglos war und die Männer nicht für voll genommen wurden. Jetzt sind wir an der Reihe und werden zeigen, dass mit den Mazahuafrauen nicht gespielt werden kann“, begründete Victoria Martínez damals die aktive Rolle der Frauen. Zusammen mit den Männern blockierten sie kurzerhand einen mit 12.000 Liter Chlor beladenen Tankwagen, der für die ebenfalls in der Mazahua-Region angesiedelte Trinkwasseraufbereitungsanlage Los Berros bestimmt war. Die Anlage ist die größte in ganz Mexiko und unabkömmlich für die Wasserversorgung der Hauptstadtbewohner.

Warten auf den Wasseranschluss
Von der Anfang der achtzigerer Jahre gebauten Anlage Los Berros werden pro Sekunde etwa 16. 000 Liter Trinkwasser Richtung Mexiko-Stadt gepumpt. Dagegen warten mehrere Gemeinden aus Villa de Allende seit Jahrzehnten auf einen Anschluss ans Trinkwassernetz. Deshalb beschränken sich die Mazahuas nicht darauf, eine Entschädigung einzuklagen. Schneller Bau der Wasserleitungen in ihre Gemeinden, Unterstützung für ökologisch nachhaltige Projekte in ihrer Region, darunter ein breit angelegtes Wiederaufforstungsprogramm, sind Bestandteil ihres Forderungskatalogs. Sie wollen ebenso Boden zurück, der vor Jahrzehnten mit der Begründung vom Staat enteignet wurde, er werde für die Trinkwasserversorgung und die entsprechende Infrastruktur benötigt. In der Praxis lag das Land aber einfach nur brach.
Die mehrtägige Blockade des Tankwagens ergänzten die Mazahuas schnell mit weiteren Aktionen. Vor Los Berros schlugen sie ein Lager auf, in dem vor den Augen der Bundesarmee das Zapatistische Frauenheer patrouillierte. „Wir haben keine Angst vor der Armee, sondern vor Hunger und Elend, vor der fehlenden Zukunft für unsere Kinder“, machten die Frauen klar. Mehrere Männer warfen sich an Händen und Füßen gefesselt in einen der von Los Berros wegführenden Wasserkanäle. Nur ein symbolischer Akt, doch die Indigenas drohten, dies mit hundert Personen zu wiederholen und sich in den Kanälen verbluten zu lassen, „damit das in den Bundesdistrikt geschickte Wasser mit unserem Blut ankommt. Wir geben das Leben für das, was uns gehört: das Land und das Wasser dieser Region“. Protestdemonstrationen vor der präsidentiellen Residenz und dem Kongresses rundeten die Aktionen ab. Die Medienresonanz war groß.

„Wasser für alle“
Auf einmal konnten die staatlichen Autoritäten schnell reagieren. Wie von den Mazahuas verlangt, bewegte sich Umweltminister Alberto Cárdenas persönlich zu ihrem Protestcamp. Gegenüber der Presse sprach er zwar nur von einem „Brennpünktchen“, doch kam er nicht umhin, die Legitimität der Mazahua-Proteste anzuerkennen. Die CONAGUA sieht sich jetzt in der Lage, die Trinkwasserversorgung in allen Gemeinden von Villa de Allende innerhalb weniger Monate sicher zu stellen und auch die Entschädigungssumme von umgerechnet etwa 140 000 Euro zu zahlen. Einbezogen in die Verhandlungen waren auch das Landwirtschafts- und Innenministerium der Zentralregierung sowie Funktionäre des Bundesstaates.
Das Einlenken der staatlichen Stellen kommt nicht von ungefähr. Zwar sind die Wasservorkommen in Mexiko theoretisch ausreichend für die gesamte Bevölkerung. Doch der offizielle Slogan „Wasser für immer, Wasser für alle“ zeichnet ein falsches Bild. Schlechte Wasserqualität oder ein völlig fehlender Anschluss an das Wassernetz sind vor allem auf dem Land nicht ungewöhnlich.
CONAGUA-Direktor Cristóbal Jaime Jáquez gibt selber „irrationale Nutzung und schlechte Verteilung“ zu. Keine Hundert Kilometer von der Mazahua-Region entfernt liegt beispielsweise mit Valle de Bravo ein weiteres Gebiet, in dem die einheimischen Bauern darunter leiden, dass ein Großteil der Wasserreserven nach Mexiko-Stadt gepumpt wird. Seit Jahren ein Konfliktpotenzial.
Auf der anderen Seite gewinnt in Mexiko die Bewegung gegen die Errichtung immer weiterer Stauseen und der damit verbundenen Flutung ganzer Dörfer an Bedeutung. Proteste gegen den geplanten Stausee San Nicolás im Bundesstaat Jalisco oder das beabsichtigte Wasserkraftwerk La Parota im Bundesstaat Guerrero finden immer mehr Beachtung.

Ungelegener Protest
Nichts könnte der Regierung ungelegener kommen, als dem Kampf der Mazahuas um ihr Wasser angesichts landesweit schwelender Wasserkonflikte dauerhaft überregionale Bedeutung zu verleihen. Der Protest könnte überschwappen. Und Mexiko will sich im März 2006 als guter Gastgeber des nächsten Weltwasserforums profilieren. Nicht als eines der Problemländer.
Allerdings gibt es trotz dieses Hintergrundes und des Abkommens mit den Mazahuas Anzeichen, dass die mexikanischen Autoritäten antesten wollen, wie weit sie mit einer so oft bewährten Zermürbungs- und Spaltungsstrategie bei den indigenen Bauern kommen können.
CONAGUA will offenbar erst 2005 mit Infrastrukturarbeiten in Villa de Allende beginnen. Zugesagt war ein sofortiger Start der Maßnahmen für die Trinkwasserversorgung der Landkreisgemeinden. Die Regierung des Bundesstaates Mexiko will sich zwar finanziell beteiligen, doch erst nach der Übergabe von Bundesmitteln. Auch das Vorgehen bei den Entschädigungszahlungen für die 300 Hektar überflutetes Land ist noch unklar.
CONAGUA stellt sich Zahlungen an die einzelnen Gemeindebauern vor. Dies könnte schnell zu Streit zwischen den Empfängern führen. Die Mazahuas wollen zusammen über die Verwendung des Gesamtbetrages bestimmen.
Ein Wiederaufleben der Proteste ist jederzeit möglich, wenn die Mazahuas keine wirklichen Fortschritte bei der Umsetzung der Zusagen sehen. Sie selbst haben dabei keinen verengten, nur auf die eigene Situation beschränkten Blick. Deutlich haben sie erklärt, den Großstädtern nicht das kostbare Nass vorenthalten zu wollen. Aber sie fordern Gehör und beschreiben ihre Lage stellvertretend für viele Landgemeinden: “Wir tragen zur Wasserversorgung und Entwicklung der Städte, der Industrien und der Touristenzentren bei, aber vielen von uns fehlt es an elementarsten Versorgungsleistungen.”

30 Jahre FDCL – ipresente!

Im Sommer 1974 wurde in Berlin das Fußball-WM-Spiel zwischen Chile und Australien durch auf das Feld stürmende DemonstrantInnen unterbrochen. Bilder der großen Transparente gegen die chilenische Militärdiktatur fanden ihren Weg bis nach Chile. Es war eine der ersten größeren Aktionen des Chile-Komitees, aus dessen Umfeld sich noch im selben Jahr das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika, das FDCL, gründete.

Nachdem die Lateinamerika Nachrichten bereits letztes Jahr ihr 30jähriges Bestehen feiern konnten, gibt es diesen Herbst erneut Grund zum Feiern: „30 Jahre FDCL“! Anfangs war das Motto klar: “Wir brauchen Regale”. Die (damals noch) Chile-Nachrichten wollten ihre umfangreichen Materialien ordnen und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Das FDCL wurde mit dem Ziel gegründet, Räume anzumieten und ein politisches Informations- und Kommunikationszentrum zu schaffen, in dem sich Interessierte über Lateinamerika informieren oder sich zu bestimmten Themen engagieren konnten. Das umfangreiche Archiv des FDCL stellt bis heute historische und aktuelle Informationen zur Verfügung und ist mittlerweile zum größten unabhängigen, nicht-staatlichen Lateinamerika-Archiv im deutschsprachigen Raum herangewachsen. Soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklungen in Lateinamerika werden hier, größtenteils aus einer Sicht der „Geschichte von unten“, gesammelt und dokumentiert.

Bereits nach kurzer Zeit wurde deutlich: Das FDCL war ein Selbstläufer. Forschung und Dokumentation nicht nur zu Chile, sondern zu ganz Lateinamerika, das sprach damals viele Menschen an. Dennoch war immer klar, dass Solidaritätsarbeit zwischen Lateinamerika und Deutschland nie mit wissenschaftlichen Forschungszielen betrieben werden durfte. Vielmehr war und ist sie der Versuch, politisch etwas zu bewegen: man wollte nicht Lateinamerika verändern, sondern hier in Deutschland eine Gegenöffentlichkeit schaffen und Erinnerungsarbeit leisten.

In all den Jahren haben die MitarbeiterInnen und FreundInnen des FDCL immer „große Ideen” gehabt und das Unmögliche zumindest versucht: Die Lateinamerika-Tage, die zwischen 1980 und 1991 fünfmal durchgeführt wurden, und die Chile-Tage 1983 und 1989 waren Anziehungspunkte, die teilweise in einer überfüllten Berliner Eissporthalle oder dem Audimax der Technischen Universität mit jeweils tausenden Gästen stattfanden. Zwar konnten später nie mehr so viele Begeisterte mobilisiert werden, aber auch die Gegenaktivitäten zur offiziellen 500-Jahr-Feier des „V. Centenario“, die Kampagne zu „500 Jahre Brasilien – Wem gehört das Land?“ oder die Öffentlichkeitsarbeit zur zapatistischen Bewegung in Mexiko fanden in den neunziger Jahren ihren Platz in der bundesdeutschen Solidaritätsszene.

Neben der Durchführung kleiner und großer Veranstaltungen wurden MigrantInnen beraten, Demonstrationen, Mahnwachen und Briefkampagnen organisiert und Informationsarbeit zu bürgerlich-politischen und sozialen Menschenrechten in Lateinamerika geleistet. Dabei versteht sich das FDCL bis heute als Referenz- und Knotenpunkt für Solidaritätsgruppen, Länderkomitees und Interessierte, die hier ein offenes Projekt nutzen und sich engagieren können.

Seit Anbeginn in zyklischem Auf-und-Ab durchlebte das FDCL Anfang der achtziger und vor allem Mitte der neunziger Jahre inhaltliche, aber noch weitaus schärfere finanzielle Krisen. Man fragte sich: „Macht es noch Sinn?“ Dennoch ist es immer weiter gegangen. Ohne das Engagement vieler ehrenamtlicher MitarbeiterInnen und FreundInnen wäre das allerdings nicht möglich gewesen.

Angesichts der fortbestehenden Ungerechtigkeiten in Lateinamerika und der Notwendigkeit, im Austausch zwischen Lateinamerika und Deutschland hierzulande kritische Fragen zu stellen und politische Arbeit zu leisten, ist für die kommenden Jahre auch weiterhin klar: „Preguntando caminamos” – hoffentlich noch viele weitere Jahre! In diesem Sinne gratuliert die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten zu 30 Jahren FDCL – ¡presente!

Kampf gegen Bürokratie-Windmühlen

Vor dem Rathaus in San Cristobal de las Casas, Chiapas, schwingt ein Spinnweben im Wind und trieft im Regen. Die Fäden spannen sich von den Säulen vor dem Kolonialgebäude zu den Bäumen des Parks gegenüber und haben auch die Kanonen eingesponnen, die den Eingang zum Rathaus schmücken. Die Schnüre spannen bunte, behelfsmäßige Zelte aus Plastikplanen auf und sperren ein Areal vor dem Rathaus ab. Auf Transparenten und Zetteln wird der Grund für die Belagerung des Rathauses erklärt:
Seit dem 8. Juni streiken die StudentenInnen einer pädagogischen Hochschule für würdige Studienbedingungen. Ihre Forderungen sind grundlegend: Ein eigenes Gebäude, bessere und ausreichende Dozenten und gerechte Behandlung im Vergleich mit anderen Hochschulen. Denn die Streikenden gehören zur ersten und einzigen „Escuela de educación bilingue intercultural indígena Jacinto Canek“ (Hochschule fuer zweisprachige, interkulturelle und indigene Bildung Jacinto Canek“) in Chiapas. Das bedeutet, dass sie alle eine indigene Sprache lesen und schreiben können und dafür ausgebildet werden sollen, diese zu unterrichten. Doch was schön klingt, funktioniert in der Praxis schlecht. Die Schule erhält keinerlei Unterstützung vom Staat. Die StudentenInnen fühlen sich diskriminiert und sehen darin die politische Absicht: den Indígenas eine gute Ausbildung zu verweigern, um kritisches Denken in einem der ärmsten Staaten Mexikos zu verhindern. Die Probleme ihrer Schule seien symptomatisch auf dem Weg Mexikos hin zu einer privatisierten Bildung
Die zuständigen Politiker auf bundesstaatlicher und kommunaler Ebene sind hingegen sehr optimistisch und malen ein schönes Bild der indigenen Bildung. Der Staat fördere die Bildung der Indígenas wie nie zuvor, heißt es da, und alles ist unter Dach und Fach. Der Gouverneuer von Chiapas, Salazar Mendiguchea, behauptete zum Beispiel die indigene Bildung habe Priorität in seiner Politik.

Kritisch, reflexiv und analytisch
Das Zeltlager ist voll von Transparenten, die die Forderungen der StudentenInnen ausdrücken. Das größte zeigt Subcommandante Marcos, Zapata, Che Guevara, und Lucio Cabañas. Letzterer ist so etwas wie der Schutzheilige der StudentenInnen: In den sechziger Jahren kämpfte er als Lehrer und Guerrillero an einer pädagogischen Hochschule auf dem Land in Guerrero für soziale Gerechtigkeit. Neben dem Transparent mit den Konterfeis der vier Revolutionshelden führt ein kleiner Pfad zwischen Plastikplanen zum versteckten Eingang des größten Zeltes. Drinnen wärmt ein kleiner Kohleofen die Streikenden, die jeden Tag dem chiapanekischen Regen trotzen. Das Zelt ist voll von StudentenInnen mit ernsten Gesichtern, aber nur einer beantwortet alle Fragen: Daniel, ein kräftiger Glatzkopf mit einem freundlichen Gesicht, dem anzumerken ist, dass er schon oft erklärt hat, was er und seine Kommilitonen wollen.
Zweisprachige, interkulturelle Erziehung bedeutet für ihn vor allem „SchülerInnen zu unterrichten auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und Umgebung.“ Es sei wichtig, betont er, dass die SchülerInnen in ihren Sprachen Lesen und Schreiben lernten, damit die indigenen Sprachen weiterlebten und nicht alle nur noch spanisch sprächen.
In Chiapas werden 13 indigene Sprachen gesprochen. Die am häufigsten gesprochenen sind Tzotzil und Tzeltal, die Muttersprache von vielen StudentenInnen. „Oft werden die Lehrer in Orte geschickt, wo ihre eigene Muttersprache gar nicht gesprochen wird“, erklärt Daniel, „außerdem war die Ausbildung der LehrerInnen für die indigene Bildung in der Vergangenheit sehr viel schlechter. Sie brauchten nur ihr Abitur und wurden schon an die Schulen geschickt.“ Nach dem Abitur gab es noch einen zweimonatigen Kurs, um die zukünftigen LehrerInnen in die Besonderheiten der indigenen Erziehung einzuweisen.
An der Hochschule Jacinto Canek dauert das Studium vier Jahre. Ihre Gründung im Jahr 2000 war ein Ergebnis der Friedensverhandlungen von San Andres Larainzar zwischen den ZapatistInnen und der mexikanischen Regierung. Eine Komission von StudentInnen hat schon bei einer zapatistischen Versammlung um Unterstützung gebeten, aber die Antwort steht noch aus. „Die ZapatistInnen bauen ihre Autonomie ohne die mexikanische Regierung auf und wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben“, so erklärt es eine Studentin: „Vielleicht werden uns die ZapatistInnen nicht unterstützen, da wir unsere Forderungen an die Regierung stellen.“

Prekäre Bedingungen
„Richtiges Lernen ist an der Schule nicht möglich“, so Daniel, „denn sie hat kein eigenes Gebäude, sondern mietet am Nachmittag die Räume einer Grundschule mit Kinderstühlen und Kindertischen“. 13 Lehrer unterrichten 264 Studenten in 8 Semestern. Und diese Lehrer sind meistens schlecht ausgebildet und erscheinen auch mal betrunken zum Unterrricht. Es gibt noch mehr, wogegen die StudentInnen protestieren: Die Einschreibegebühren und die Gebühren für die Prüfungen sollen auf das fünf- bis zehnfache angehoben werden. Eine Prüfung kostet dann nicht mehr 50 pesos ( etwa 4 Euro), sondern 550 (etwa 42 Euro). „Wie sollen wir das bezahlen, die wir alle aus armen Familien kommen?“ fragt Daniel und zieht aufgeregt an seiner dicken Weste. Zumal der Job nach dem Studium noch nicht einmal sicher ist, wie anfangs versprochen. Alle hatten sich eingeschrieben und dabei das Versprechen bekommen, automatisch einen Arbeitsplatz in einem Dorf, in dem ihre Sprache gesprochen wird, zu bekommen. Das ist jetzt vorbei: Die HochschulabgängerInnen sollen erst ein Examen ablegen, und dann werden die besten ausgewählt. Dabei sehen die StudentInnen zwei Probleme auf sich zu kommen: Erstens sind sie wegen ihrer schlechten LehrerInnen nicht gut vorbereitet und zweitens sind sie die einzige Hochschule für indigene Erziehung. Wie sollen sie zu den anderen in Konkurrenz treten?

Ein anderes Chiapas
Diese Frage ist für den Pressesprecher der Regierung im Rathaus, vor dem die Studenten kampieren, leicht zu beantworten: „Statt hier zu protestieren, sollten sie zu Hause sein und studieren“, sagt Hector Santiago, der mit seiner Weste und seinem jugendlichen Aussehen fast einer der Streikenden sein könnte. Nur was er sagt, klingt ganz anders. Seiner Ansicht nach wäre es ungerecht, die StudentInnen der Jacinto Canek nicht dem gleichen Examen zu unterziehen wie alle anderen PädagogikstudentenInnen. „Wenn sie gut vorbereitet wären, hätten sie auch keine Angst vor dem Examen“, meint er. Es gäbe einfach zu viele fertig ausgebildete LehrerInnen, so Santiago, daher sei eine Auswahl nötig. Das liegt auch daran, dass in vielen Dörfern Schulen fehlen, aber „neue Schulen sind teuer. Nicht nur die Gebäude, sondern auch die Straßen dort hin müssen gebaut werden“, gibt er zu bedenken. Abgesehen von diesen Problemen spricht Santiago aber von einem ganz anderen Chiapas als die StudentInnen. „Die jetzige Regierung fördert die indigene Bildung mehr als jede andere zuvor“, betont er „es werden Schulen gebaut und Lehrer ausgebildet, und wir lernen alle gerade eine Indígena-Sprache“. Das Bild von Chiapas, das er mit seinen Worten malt, ist fast zu schön, um wahr zu sein.
Diego Guzman hat einen anderen Eindruck. Er arbeitet im Sna Jtz’ibajom einem vom Staat unabhängigen Institut, das indigene Sprachen unterrichtet und Bücher herausgibt. „Es haben immer alle von der Wichtigkeit der indigenen Bildung geredet“, sagt er, „aber funktioniert hat das noch nie“.
Das Projekt der indigenen Bildung in Mexiko stammt aus den 30er Jahren. Damals war das Ziel vor allem die Verbreitung des Spanischen. Und auch bilinguale Lehrer, die in den 70er Jahren auf dem Land unterrichteten, versuchten eher die spanische Sprache zu etablieren als die indigenen zu erhalten.

Plurikulturalität im Schulbuch
Seit 1992 Mexiko in der Verfassung als plurikultureller Staat angesehen wird, versucht auch die staatliche Bildung einen neuen Weg einzuschlagen: In neuen staatlichen und kostenlosen Schulbüchern wird die Plurikulturalität betont. Und viele Staaten haben eigene Institute für indigene Bildung und Bücher in den indigenen Sprachen.
Dennoch, so insistiert Guzman, funktioniert es nicht. „Manchmal werden die Lehrer von ihrer Arbeit in den Dörfern weggeholt, um an Versammlungen und bürokratischen Treffen teilzunehmen“, erzählt er gequält lächelnd. Tatsächlich liegen an den Straßen in den chiapanekischen Bergen erstaunlich viele Schulgebäude – mit erstaunlich wenig Schülern. Woran liegt das? „Ein riesiger bürokratischer Apparat“ ,meint Guzman, „der alles schluckt.“

Trend zur Privatisierung
Auf dem Papier scheint die Situation der mexikanischen Bildung nicht nur auf der Ebene der indigenen Bildung gut zu sein: Schulen und Unis müssen gratis, laizistisch und autonom sein, sagt die Verfassung im dritten Artikel, auf den sich auch die Streikenden immer wieder beziehen. Und auch die Schulbücher bekommen alle Kinder landesweit umsonst. Doch, so beteuert Guzman, „die Tendenz zur Privatisierung der Bildung in Mexiko verursacht Kopfschmerzen.“ Immer mehr der pädagogischen Hochschulen auf dem Land verschwinden, dafür gibt es immer mehr Private Hochschulen, die für die arme ländliche Bevölkerung unbezahlbar sind. Darauf hatten die StudentInnen der Mexikanischen Autonomen Universität (UNAM) schon bei ihrem Streit vor vier Jahren aufmerksam gemacht. Für StudentInnen mit knappen finanziellen Mitteln werden technische Studiengänge angeboten, die zur Arbeit in Fabriken qualifizieren und letztlich nur das Missverhältnis zwischen schlecht ausgebildeten und bezahlten ArbeiterInnen und an Privatunis lernender Oberschicht verstärkten. Diese Befürchtung teilen auch die StudentInnen von der Jacinto Canek.
Auf der Internetseite des Bildungsministeriums wird es in einem Text zur Geschichte der indigenen Erziehung die neue Aufgabe des Staates in einer globalisierten Welt betont. In neoliberaler Manier heißt es dort, Aufgabe des Staates sei es angesichts von Freihandelsverträgen und neuer Wirtschaftsordnung, nur noch einen legalen Rahmen für die Entwicklung von Individuen zu gewährleisten. Und für die Entwicklung von privaten Bildungsinstitutionen, könnte man hinzufügen.
Diego Guzman nennt einen weiteren Grund für die Marginalisierung der ländlichen Hochschulen: Mexikanische PolitikerInnen fürchten sich vor gut gebildeten Indigenas: „Sie haben Angst, weil sie unsere Sprachen nicht verstehen“, lacht er, „und dann denken, wir planen heimlich eine Revolution“. So wie Lucio Cabañas in Guerrero, der heute von dem Transparent auf die StudentInnen hinabsieht.

Enttäuschung auf der ganzen Linie
Diese planen indes gar keine Revolution, sondern wollen nur, dass ihre Forderungen erfüllt werden. Nach einer Woche Warten soll endlich etwas passieren: Um halb zwölf Uhr nachts wird der Direktor des Instituts für Indigene Bildung in Chiapas, Guadalupe Gómez Cruz, erwartet. Um das Rathaus fahren Kombis der Polizei ohne Nummernschilder, und die Streikenden haben sich mit Knüppeln bewaffnet. In ihren Gesichtern wechseln sich Angst und Hoffnung ab.
Dann, wie aus dem nichts, taucht plötzlich eine Delegation von fünf anständig gekleideten Männern mit Aktenmappen unter dem Arm auf. Sie gehen zu Fuß und zögern kurz, bevor sie die Schnüre passieren, die das Camp absperren. Die beiden Parteien stehen sich einige Minuten schweigend gegenüber. Schließlich ruft einer der Streikenden in die Stille: „Adelante Señores!“ („Bitte sehr, meine Herren“). Die fünf zögern noch, aber schließlich klettern sie auf die Bühne, sich an ihren Papieren festhaltend. Ein allgemeines „schtscht“ sorgt für Ruhe, und Gómez Cruz beginnt das Dokument zu verlesen, das auf die Forderungen der StudentInnen antwortet.
Schon nach den ersten drei Punkten macht sich in den Gesichtern Enttäuschung breit. Keine der Forderungen wurde erfüllt. Das gedrechselte Amtsspanisch vermeidet jede klare Aussage. So wird eine Mindestsumme für die Einschreibegebühr genannt, aber keine Obergrenze. Was das Gebäude angeht, so sollen die StudentInnen sich am folgenden Tag in einer anderen Hochschule einfinden, um künftig mit dieser ihre Räume zu teilen. Und die Auswahlprüfungen finden den dementsprechenden Gesetzen folgend statt. Punkt.
Bis Gómez Cruz endet, herrscht völliges Schweigen. Danach hebt ein Student die Hand für eine Nachfrage: Was ist denn aus dem Grundstück geworden, das uns schon einmal für ein eigenes Gebäude versprochen wurde? Gómez Cruz, ein kleiner Mann mit tiefen Falten in der Stirn, äußert unbeteiligt, dass darüber noch verhandelt werde. „Dies ist die offizielle Antwort“ wiederholt er dann nur noch, und schließlich: „Wer nimmt das Dokument entgegen?“ Jetzt entlädt sich die Wut der Studierenden: „Niemand“, rufen viele, und die fünf Männer ziehen sich schnell, noch immer zu Fuß, in eine andere Richtung zurück, verfolgt von Protestrufen der StudentInnen. „Wir kämpfen weiter“, das ist für sie völlig klar. Daniel erhält noch einen Anruf von Gómez Cruz, der ihn daran erinnert, um zwei Uhr am nächsten Tag in der anderen Hochschule zu sein. Sonst, so die Drohung, verlieren die StudentInnen das Semester.
Danach warten alle auf die Polizei, aber sie kommt nicht, nicht in dieser Nacht.
Schließlich bekommen Daniel und seine MitstreiterInnen doch noch die Gelegenheit zu verhandeln: Am nächsten Tag wird in der anderen Hochschule ein runder Tisch einberufen. Gómez Cruz erscheint wie immer mit Aktenordner und undurchschaubarer Mine, die StudentInnen sehen müde aus.
Während sie erneut ihre Forderungen formulieren, findet in einem anderen Raum Unterricht statt. Die meisten Studierenden des Abschlusssemesters wollen nicht an den Protesten teilnehmen.
„Mir gefallen diese Aktionen nicht“, sagt eine Studentin, „ich bin zufrieden mit den neuen Räumen hier. Und ich habe auch kein Problem damit, das Examen abzulegen, um einen Job zu bekommen.“ Auch die erhöhten Einschreibegebühren stören sie nicht. Es gebe sowieso zu viele BewerberInnen, meint sie, und durch erhöhte Gebühren werde ein wenig selektiert.

Räumung droht
Die Verhandlungen haben nicht mehr ergeben als der nächtliche Besuch vor dem Rathaus: Es gibt kein Gelände und es gibt nicht mehr LehrerInnen. Ihr Semester haben die Streikenden bereits verloren. Sie halten weiter im Spinnennetz unter ihren Plastikplanen aus. Lange werden sie dort nicht mehr sein, denn eine Räumung ist jede Nacht wahrscheinlicher.

Blut statt Wasser

Niemand in Zinacantán ist darauf vorbereitet. Der Ostersamstag hat ruhig begonnen. Die religiösen Oberhäupter der indianischen Gemeinde nahe San Cristóbal de las Casas im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas haben, wie der Brauch es vorschreibt, ein schweres Holzkreuz einmal um den Platz und in die Kirche getragen. Am Abend soll der Judas, eine Pappfigur, die den Verrat an Christus symbolisiert, öffentlich verbrannt werden. Doch der Tag nimmt einen ganz anderen Verlauf. Ein Mädchen, das in einem Restaurant einem Touristenpärchen gerade die Speisekarte bringt, wird von einer Freundin abgelenkt, die angerannt kommt: „Die Zapatisten“ raunt sie atemlos.
Von einer Sirene angekündigt und Sprechchöre rufend, fahren plötzlich etwa zweihundert Fahrzeuge in einer endlos scheinenden Kolonne ins Zentrum von Zinacantán ein. Die Pickups, Lkws und Schulbusse sind vollbesetzt mit Frauen und Männern in indianischer Tracht, deren Gesichter von schwarzen Wollmützen verdeckt sind. Sie lassen nur die Augen erkennen. Trotz dieses martialischen Aussehens scheinen die DorfbewohnerInnen keine Angst zu haben. Neugierig bleiben sie am Straßenrand stehen, um dem kommenden Schauspiel beizuwohnen. Parolen und ein Flugblatt erinnern sie daran, dass der 10. April nicht nur Ostersamstag, sondern auch der 85. Jahrestag der Ermordung von General Emiliano Zapata ist, der Anfang des 20. Jahrhunderts während der mexikanischen Revolution für die ärmsten und entrechtetsten Gruppen in der Bevölkerung kämpfte.
Die ersten Fahrzeuge kommen vor dem Rathaus zu Stehen. Ein Maskierter hält per Megafon eine an den Bürgermeister gerichtete Ansprache: „Wir Zapatisten verlangen“, sagt er, „dass ihr uns respektiert, dass ihr unseren Widerstand respektiert, unseren Kampf. Ihr als Indígenas könnt uns nicht das Recht auf Wasserversorgung streitig machen, oder auf Land, Holz und Strom – wir Indígenas haben ohnehin alle nur wenig davon.“
Der unmittelbare Anlass für die Kundgebung in Zinacantán ist lokaler Natur: Es geht ums Wasser, in der monatelangen Trockenzeit von Chiapas lebenswichtiges Gut. Die Gemeinde hat drei comunidades aus ihrem Einzugsbereich seit Monaten von der Wasserversorgung abgeschnitten. Der Grund: Die BewohnerInnen von Jechvó, Elambó Alto und Elambó Bajo sympathisieren mit den ZapatistInnen und nicht mit der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die den Bürgermeister stellt. Nun fordern die zapatistischen DemonstrantInnen, die sechzehn autonome Gemeinden aus dem umliegenden Hochland vertreten, an Ort und Stelle eine vernünftige Beilegung des Konflikts.
Dann lässt die Kolonne die Motoren an und fährt weiter. Ihr Ziel ist Jechvó, eine der von Wasser abgeschnittenen Gemeinden. Die ZapatistInnen haben hunderte Flaschen und mehrere Container mit tausenden Litern Trinkwasser mitgebracht, um den dortigen Familien über die nächsten Wochen zu helfen. Während auch hier wieder auf dem Dorfplatz eine Ansprache gehalten wird, in Spanisch und Tzotzil, der hier vorherrschenden Indianersprache, tragen MilizionärInnen das Wasser an seinen Bestimmungsort.

Der Hinterhalt
Als die DemonstrantInnen sich wieder auf den Rückweg machen wollen und die ersten Fahrzeuge Jechvó bereits verlassen, schnappt die Falle zu: 30 bis 50 militante PRD-Anhänger aus dem benachbarten Pasté bauen eine Barrikade aus Felsbrocken, die den Fahrzeugen den Weg versperrt.
Zunächst beobachten die ZapatistInnen und warten ab. Als die Blockierer jedoch eher mehr werden, gehen sie zusammen los, um den Weg freizuräumen. Sie werden von einem Steinhagel begrüßt. Zwei lokale Polizeifahrzeuge, die kurz vor der Auseinandersetzung an den Ort des Geschehens gekommen waren, werden in letzter Minute noch hinter der Barrikade quer über den Weg geparkt, um die Blockade zu verstärken. Die Polizisten ziehen sich gemeinsam mit den Angreifern von der PRD zurück. Ihre Streifenwagen werden von den ZapatistInnen weggeräumt und wütend demoliert.
Das Drama erreicht seinen Höhepunkt, als zwei Drittel der Kolonne die Blockade bereits passiert haben und die Angreifer zurückgeschlagen scheinen. Es knallt wiederholt. Zunächst sind es nur Böller, doch dann wird auch scharf geschossen. Die Heckenschützen haben sich hinter Hütten und im Wald versteckt und begleiten das Ende des Demonstrationszugs über mehrere Kilometer. Verletzte bleiben auf dem Weg liegen, bis ihre GenossInnen sie auf einen der Pickups hieven, die jedoch auch nicht richtig vorwärts kommen. Ein Zapatist wird zweimal in den Kopf getroffen, ein anderer in die Lunge. Viele weitere tragen Schussverletzungen an Armen, Beinen und Oberkörper davon. Für Krankentransporte ist kein Durchkommen. Die Spitze der Kolonne kann nicht weiter vorrücken, um die Angegriffenen aus dem Schussfeld zu nehmen, weil vorne drei dicke Baumstämme den Weg versperren, die inzwischen gefällt und über die Straße gelegt worden sind. Doch die ZapatistInnen sind gut vorbereitet: Mit einer Motorsäge werden die neuen Hindernisse entfernt.
In Nachig, dem Ort, wo der Feldweg auf die Panamericana einmündet, die hier die Städte Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de las Casas verbindet, steht eine Menschenmenge auf der Kreuzung und sieht zu, wie die ZapatistInnen erschöpft und zum Teil blutend aus dem Hinterhalt kommen. Mehrere VertreterInnen der Landesregierung befinden sich darunter, sowie Sicherheitspersonal mit Videokameras.

„Eine ruhige Osterwoche“ – offizielle Reaktionen
Am Abend wird gemeldet, dass die Verletzten je nach Komplikationsgrad in die Landeshauptstadt oder aber in die autonome Klinik von Oventic transportiert wurden. Die linksliberale chiapanekische Koalitionsregierung von Pablo Salazár Mendiguchía bedauert und verurteilt die Vorfälle zunächst, verkündet aber schon Tage später, die Osterwoche sei in Chiapas ruhig verlaufen, die Tourismuszentren seien sicher gewesen und auch in Zinacantán sei alles normal, man habe mehrere Tanklaster mit Wasser dorthin geschickt, um die Wasserversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.
Wie realitätsfern diese Verlautbarung ist, wird vor dem Hintergrund klar, dass noch am Abend des Hinterhalts die Angreifer in die Gemeinden Jechvó, Elambó Alto und Elambó Bajo gezogen waren, dort die frisch angelegte Wasserreserve ausgekippt und mehrere Häuser vollständig zerstört hatten. Die BewohnerInnen, insgesamt 125 Familien, mussten flüchten und hielten sich in den nächsten vierzehn Tagen an einem geheim gehaltenen Zufluchtsort auf.
Die Tanklaster der Regierung dienten lediglich dazu, das Polizeiaufgebot, das nun an den Orten des Geschehen stationiert worden war, mit Wasser zu versorgen.
Ohnehin ignorierte die Regierung den politischen Charakter des Konflikts, indem sie vorgab, es herrsche in Zinacantán Wassermangel, anstatt zur Kenntnis zu nehmen, dass der Zugang zu den vorhandenen gemeinschaftlichen Wasserstellen den zapatistischen Gemeindemitgliedern seit Monaten unter Waffenandrohung verwehrt worden war.
Obwohl die zapatistische Autonomieregierung Junta de Buen Gobierno in Oventic bereits wenige Tage nach dem Hinterhalt mehrere der Angreifer namentlich benannte und Foto- und Videomaterial von dem Angriff existiert, wurde keiner der Betreffenden bisher festgenommen, verhört oder gar verurteilt. Von offizieller Seite heißt es, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen – ob sie das jemals sein werden, bleibt abzuwarten.
Diese Strategie, politische Konflikte in indigenen Gebieten als lokale oder „sittenbedingte“ Streitigkeiten zu entpolitisieren und auch juristisch zu verharmlosen, hat von Seiten der mexikanischen Regierungen bereits seit langem Tradition. In diesem Fall wurde sie jedoch nicht von der langjährigen Staatspartei PRI (Partei der Institutionellen Revolution) angewandt, sondern von der Regierung Pablo Salazar, die bei ihrem Amtsantritt im Jahr 2000 große Hoffnungen auf einen politischen Wechsel geweckt hatte und es auch seitdem geschafft hat, einen Teil des chiapanekischen Widerstandspotenzials in ihre Programme einzubinden.

PRD und EZLN
Interessant ist auch der Umstand, dass die Angreifer keine rechten oder PRIistischen Paramilitärs waren wie im Fall des Massakers von Acteal 1997, sondern Mitglieder der PRD.
Diese Partei, die allgemein dem linksliberalen Spektrum zugeordnet wird und durch den Aufstand der EZLN 1994 erheblichen Zulauf erhielt, regiert seit 1997 die mexikanische Hauptstadt. Dort muss sie sich derzeit wegen eines Korruptionsskandals verantworten. Zumindest bis 2001, als die zapatistischen comandantes nach Mexiko-Stadt kamen, um vor dem Parlament einzufordern, dass endlich die Ergebnisse des Friedensvertrags in Gesetzesform gegossen würden, galt die PRD als der EZLN wohlgesonnen. Dann jedoch stimmten ihre parlamentarischen VertreterInnen mit den Konservativen für einen Gesetzentwurf, der die wichtigsten Interessen der indigenen Bevölkerung, zum Beispiel das Recht zu bestimmen, was mit den Naturressourcen in ihren Territorien geschieht, bewusst außen vor ließ.
Am 1. Januar 2003, als die EZLN nach einer langen Periode des Schweigens wieder an die Öffentlichkeit trat und 30.000 ZapatistInnen in San Cristóbal de las Casas demonstrierten, sagten verschiedene comandantes in ihren Ansprachen, mit der PRD sei kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Sie habe sich den unlauteren Gepflogenheiten der politischen Klasse inzwischen vollständig angepasst und sei nur eine Partei mehr, mit der ab sofort die Kommunikation abgebrochen würde.
Sicherlich kann der Hinterhalt von Zinacantán nicht der Partei als Ganzes angelastet werden. Nach Ansicht von Andrés Aubry, einem französischen Anthropologen, der schon mehrere Jahrzehnte in Chiapas lebt, liegt die eigentliche Verantwortung bei einem Transportmonopol im zu Zinacantán gehörenden Nachig, das durch die günstige Lage an der Panamericana zu Geld und Macht gelangt ist und seit Jahrzehnten die politischen Geschicke der Gemeinde aus dem Hintergrund lenkt. Dies würde auch die Aussagen eines zufällig anwesenden Augenzeugen erklären, der in indianischen Gemeinden religiöse Riten verrichtet: Er sei von PRD-Leuten aus dem Ort Pasté, von dem aus der Angriff zunächst gesteuert wurde, zunächst wegen „Zapatismusverdachts“ zusammengeschlagen worden. Später habe er dann den Funkverkehr mitgehört zwischen Pasté und Nachig. Daraus habe er entnehmen können, dass in Nachig zusätzlich zu den eingesetzten Waffen noch Kalaschnikows vorrätig waren, und eigentlich geplant gewesen war, die Spitze der Karawane von diesem Ort aus ein weiteres Mal anzugreifen, was aber auf Grund fehlender zeitlicher Koordination gescheitert sei. „Jetzt können wir sie nicht mehr fertig machen“, will der Mann einen Funkspruch gehört haben, „denn die Ersten sind schon auf die Straße raus und würden es überall erzählen.“
Obwohl diese lokalen Machtfaktoren sicher eine Rolle gespielt haben, brauchte das nationale Leitungsgremium der PRD über eine Woche, um sich von ihrem Bürgermeister in Zinacantán, der auf Grund des Verhaltens seiner Gemeindepolizei direkte Verantwortung für den Überfall trägt, zu distanzieren und zu verkünden, man habe ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet.

Überwachte Rückkehr
Unterdessen sind am 25. April die 125 vertriebenen Familien wieder in ihre Häuser zurückgekehrt, aus denen mittlerweile Hühner, Schweine und andere Haustiere spurlos verschwunden waren. Circa 200 AnhängerInnen der zapatistischen Basis und 100 NGO-Mitglieder und InternationalistInnen waren dem Aufruf aus Oventic gefolgt, die Flüchtlinge auf ihrem Rückweg zu begleiten und zu schützen. Diesmal war das Überwachungsdispositiv der chiapanekischen Regierung überwältigend: Alle, aber vor allem die ausländischen TeilnehmerInnen der Begleitaktion wurden ausgiebig gefilmt und fotografiert. „Es war wie wenn Du in ein Wespennest getreten bist, die waren einfach überall, es gab kein Entkommen,“ schildert eine Betroffene. Eine unmissverständliche Drohgebärde gegenüber der internationalen Solidarität mit der EZLN, da Mexiko 1998 – nach dem Massaker von Acteal – unter Ernesto Zedillo bereits mehrere Dutzend internationale AktivistInnen deportiert hat, weil sie sich in innere politische Angelegenheiten eingemischt hätten.
Die zapatistischen Familien von Jechvó, Elambó Alto und Elambó Bajo sind nun zwar wieder in ihren Hütten, Zugang zu fließendem Wasser haben sie jedoch nach wie vor nicht. Der Konflikt mit den NachbarInnen von der PRD ist ungelöst. Die Präsenz internationaler BeobachterInnen in jedem der drei Weiler bietet ihnen derweil einen relativen Schutz vor weiteren direkten Übergriffen.

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