Nationaler Dialog als Strukturanpassung

Oktober 1996: Bereits seit dem 20. März schweigen die Waffen, eine Guerillaeinheit kommt nach Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Guerilleros ziehen durch die Innenstadt, durch ein Einkaufszentrum, reden mit Passanten, geben Radio- und Fernsehsendern Interviews. Nach dem Auftritt werden sie im Ehrensaal des Stadtpalastes von einer Abordnung der Stadtregierung empfangen. Schließlich ziehen sie sich wieder zurück. Die lokale Armeeeinheit war vorher unterrichtet worden, alles blieb ruhig. Das zunehmend öffentliche Auftreten von URNG-KämpferInnen im Land kündigt an, daß diese sich – nach mehr als 35 Jahren bewaffneten Konfliktes – in naher Zukunft in das zivile Leben integrieren wollen. Die Angaben über die Anzahl der aktiven KämpferInnen schwanken, die niedrigste liegt bei 3000. Sie kommen in eine Gesellschaft, die trotz der gerade beschriebenen Episode nach wie vor von Gewalt und Polarisierung, von massiven Menschenrechtsverletzungen und krasser ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit geprägt ist. Und sie werden mit den Auswirkungen der jahrelangen Regierungspropaganda konfrontiert, die sie als Terroristen diffamiert hat.

Die guatemaltekische Linke im Umbruch

Gleichzeitig wird die URNG, und mit der Gesamtorganisation auch die einzelnen KämpferInnen, auf eine guatemaltekische Linke treffen, in der sie sich neu verorten muß. Seit ihrer Gründung am 9. Februar 1982 ist die URNG, beziehungsweise in den vorangegangenen Jahren deren einzelne Teilorganisationen, die wichtigste oppositionelle Kraft. Die Guerilla war über lange Zeit in der Lage, auf militärischen und diplomatischen Wege politische Freiräume zu eröffnen sowie national und international als legitime Stimme der Unterdrückten aufzutreten. Innerhalb der erkämpften Spielräume konnten sich Volksorganisationen wie zum Beispiel die Gruppe für gegenseitige Hilfe (GAM), die Witwenbewegung CONAVIGUA oder die “Gemeinden der Bevölkerung im Widerstand” (CPR) bilden. In dieser sozialen Bewegung organisierten sich vor allem die Opfer der staatlichen Repression, aber auch Campesina/o-Gruppen und Gewerkschaften. Ziel war es, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, für die Demilitarisierung des Landes zu kämpfen und so Einfluß auf die nationale Politik zu gewinnen. Mit der Entschärfung der Kriegssituation konnte sich in den letzten Jahren allerdings ein weites oppositionelles Spektrum bilden, in dem linke AktivistInnen im Land u.a. die Politik der URNG hinterfragten. So wurden 1994 nach der Unterzeichnung des Teilabkommens zur Frage der Menschenrechte durch Guerilla und Regierung erstmals Stimmen laut, die sich von den schwachen Verhandlungsergebnissen enttäuscht zeigten und die URNG deswegen heftig kritisierten.
Eine wichtige Etappe im Prozeß der Differenzierung innerhalb der guatemaltekischen Opposition waren die Querelen um die Gründung des Frente Demócratico Nueva Guatemala (FDNG) im Sommer 1995. Im FDNG hatten sich RepräsentantInnen von Basisorganisationen zu einer Partei zusammengeschlossen und bei den Kongreßwahlen im letzten November auf Anhieb sechs Mandate errungen. Nach den Wahlen bezeichneten URNG-Kommandanten die FDNG immer wieder als ihre Schöpfung und kündigten an, sich nach Friedensschluß in die Partei zu integrieren. Die Distanzierungen seitens der FDNG-PolitikerInnen ließen nicht lange auf sich warten und lassen sich nicht allein mit der Angst erklären, in der guatemaltekischen Öffentlichkeit mit der URNG identifiziert zu werden und daher mit Repression rechnen zu müssen. Vielmehr entwickelt die Linke im Land gegenüber der URNG ein stärkeres Selbstbewußtsein und hinterfragt zunehmend den Avantgardeanspruch der URNG. Der FDNG ist nicht die einzige Organisation, in deren Verhältnis zur URNG Veränderungen sichtbar werden. Deutlich zu beobachten sind sie auch innerhalb des Spektrums der progressiven NGOs, unter Flüchtlingsorganisationen, Indígena- und Campesina/o-Gruppen.

Neuer Integrationskurs von Arzú

Mittlerweile hat die URNG bekanntgegeben, daß sie nach ihrer Eingliederung in das zivile Leben nicht in den FDNG eintreten, sondern eine eigene Partei gründen wird. Mit diesem Schritt kann die Hoffnung verbunden werden, daß die URNG den Übergang von einer politisch-militärischen Organisation, die in klandestinen Strukturen arbeitet, zu einer zivilen, linken Kraft vollzieht. Es steht aber zu befürchten, daß sich die guatemaltekische Linke weniger wegen inhaltlicher Differenzen, sondern eher wegen Streit um Organisationsfragen und wegen interner Machtkämpfe nach dem Friedensschluß aufsplittert, wie es schon in El Salvador und Nicaragua zu sehen war. Zeitgleich mit diesen Entwicklungen wird die Opposition durch die Politik des Präsidenten Arzú vor neue Herausforderungen gestellt.
Nach seinem Amtsantritt im Januar diesen Jahres machte Alvaro Arzú sofort deutlich, daß der schnelle Abschluß der Friedensverhandlungen eine Grundbedingung seiner Politik ist. Geschickt agiert er seitdem auf der politischen Bühne, im Machtgefüge zwischen Guerilla, Volksbewegung, Militär, Unternehmern und den internationalen Akteuren wie dem IWF (Internationaler Währungsfond) und den darin vertretenen Mächten. Dabei versucht er, die guatemaltekische Linke als Verbündete zu gewinnen. Der URNG kam er auf der diplomatischen Ebene weit entgegen. Noch nie zuvor hatte ein Präsident vor seinem Amtsantritt direkte Kontakte zur Guerilla aufgenommen oder gar einen URNG-Dissidenten zu seinem Verhandlungsführer ernannt. In Bereichen wie dem Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte und die Entmilitarisierung des Landes zeigt er immer wieder guten Willen. Direkte, wenn auch gescheiterte Gespräche mit Abgeordneten des FDNG über die Einrichtung eines Indígenasekretariats, zeugen von Arzús Bereitschaft bei einzelnen Themen das Gespräch mit RepräsentantInnen der Volksbewegung zu suchen. Eröffnet dies einerseits neue Einflußmöglichkeiten, stellt es die Volksbewegung andererseits vor neue Schwierigkeiten: Protestierte sie bisher immer gegen die “Schweinereien”, die von den Mächtigen begangen worden sind, wird sie jetzt – wenn auch an der Ernsthaftigkeit gezweifelt werden muß – von Regierungsseite in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Die Opposition steht vor dem Problem, eigenständige Vorschläge in die Politik einbringen zu müssen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach kultureller Anerkennung und deren praktischen Umsetzung sind Indígena-Organisationen hierzu auch in der Lage. In der praktischen Umsetzung der entsprechenden Vereinbarungen des Friedensabkommens werden sie besonders auf dem Land eine wichtige Rolle spielen. Schwieriger wird es bei der Entwicklung von Vorschlägen zur Wirtschaftspolitik, repräsentiert die Volksbewegung doch gerade die Bevölkerungsgruppen, die unter den ökonomischen und politischen Verhältnissen im Land besonders gelitten haben. Daher fehlt es ihnen oft an entsprechenden Kapazitäten. Am ehesten verfügen noch progressive NGOs, die im Entwicklungsbereich tätig sind, über solche Ressourcen. Das Verhältnis zwischen Volksorganisationen, die politischen Druck aufbauen können, und NGOs ist aber häufig gespannt. Das gegenseitige Mißtrauen vor Manipulation und Ausnutzung ist groß.
Innerhalb der guatemaltekischen Opposition wird die URNG – trotz der geschilderten Auseinandersetzungen – weiterhin eine zentrale Rolle spielen: aufgrund der Vergangenheit, in der sie immer wieder richtungsweisend für politische und soziale Kämpfe im Land war; aufgrund dessen, daß sie als Verhandlungspartei ein Gegengewicht zur Regierung bilden kann; aufgrund ihrer langen politischen, militärischen und diplomatischen Erfahrung. Neben den schon länger kämpfenden Volksorganisationen drängen neue Akteure auf die politische Bühne, erstarkende Campesino-Organisationen und zahllose lokale Initiativen, die für die direkte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen, eine Schule, einen Gesundheitsposten oder Trinkwasserversorgung. Es ist zu hoffen, daß die verschiedenen Gruppen die politische Polarisierung, die Guatemala prägt und ein schwieriges Klima für Einigungsprozesse hat entstehen lassen, zusammenfinden können. Denn eine starke linke Opposition nach dem Friedensschluß tut not. So ergeben sich aus dem Friedensprozeß zwar politische Spielräume, an der ökonomischen, patriarchalen und rassistischen Unterdrückung für einen Großteil der GuatemaltekInnen hat sich kaum etwas verändert.

Strukturanpassung in Guatemala

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre ein Präsident undenkbar gewesen, der die Volksbewegung nicht mehr nur mit Repression kleinhält und sich mit der Guerilla trifft. Er hätte es, zumindest politisch, nicht überlebt. Der Grund für die Aufgeschlossenheit Arzús ist sicherlich nicht, daß der schwerreiche Zuckerhändler ein herausragender Philantrop ist. Eher entspricht seine politische Haltung dem ökonomischen Projekt der neoliberalen Strukturanpassung. Das erklärte Ziel von Arzú – der die Interessen eines kleinen Kreises von finanzkräftigen, modernen UnternehmerInnen vertritt – ist es, Guatemala auf den Weltmarkt auszurichten, also über freie Marktmechanismen größere Standortattraktivität und Investitionssicherheit für internationales Kapital zu schaffen. Um dies durchzusetzen, wird die Regierung Arzú wohl drei Handlungslinien verfolgen: erstens die Beendigung des internen, bewaffneten Konfliktes, zweitens die Zurückdrängung von reaktionären Machtgruppen im Land, die durch eine Weltmarktintegration um ihre “traditionellen” Privilegien fürchten, und drittens die Verschlankung des aufgeblähten, unfähigen Staatsapparates sowie die Deregulierung der nationalen Wirtschaft.

Geld von außen

Dem ersten Ziel scheint die Regierung nahe zu sein, ist doch in absehbarer Zukunft mit dem Abschluß der Friedensverhandlungen zu rechnen (s. Kasten). Mit der “Befriedung des Landes” öffnen sich immense Finanzquellen. Bereits im letzten Jahr wurde über die “Entwicklungshilfegelder” verhandelt, die nach Friedensschluß von internationalen GeberInnen zur Umsetzung der ausgehandelten Abkommen ausgeschüttet werden. IWF, Weltbank und die Europäische Union haben angekündigt, Fonds in Höhe von insgesamt über einer Millarde US-Dollar ins Land fließen zu lassen, zu 90 Prozent in Form von Krediten. Mit diesen internationalen Institutionen verbindet die Regierung Arzú das gemeinsame Interesse an neoliberalen Wirtschaftsstrukturen in Guatemala. Hierfür benötigt die Regierung Geld von außen, da über die Steuern nicht genug in die Staatskasse fließt.
Die zweite Linie stellt ein deutlich schwierigeres und längerfristiges Problem dar: alteingesessene Machtcliquen in ihrem Einfluß einzudämmen. Zum einen ist da das omnipräsente Militär, das sich hemmungslos an allem bereichert, was ihm über den Weg läuft und für zahllose Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Dieser Apparat entwickelte im Laufe der Jahre eine Art Eigenleben. Jeglicher Kontrolle entzogen, baute das Militär einen “parallelen Staat” auf. Es besetzte Schlüsselpositionen in Bereichen wie der Telekommunikation, in der Errichtung und dem Unterhalt von Infrastruktur sowie in staatlichen Institutionen. Erste Erfolge im Rückbau dieses eigenen Staates kann Arzú bereits vorweisen: Nach mehreren Säuberungswellen im Staatsapparat erschütterte in den letzten Wochen die Zerschlagung eines großangelegten Schmuggler- und Korruptionsnetzes die guatemaltekische Öffentlichkeit. Auch wenn dieser Schlag gegen die organisierte Kriminalität nur die Spitze des Eisberges enthüllte, wird der Stellenwert dieser Aktion an zwei Dingen deutlich: Es wurden Machenschaften von hohen Persönlichkeiten des militärischen Geheimdienstes, die bisher als Unberührbare galten, ans Licht der Öffentlichkeit gezogen. Die Einflußmöglichkeiten dieser mafiösen Organisation waren in Guatemala ein offenes Geheimnis. Sie hatte eine Machtfülle erreicht, daß sich kein Unternehmen ihren Regeln entziehen konnte – keine guten Voraussetzungen für freies Unternehmertum.
Die andere Machtgruppe bilden die reaktionären GroßgrundbesitzerInnen, die ihre Vorgehensweise in der Vergangenheit mit den Militärs abstimmten. Es widerspricht ihren wirtschaftlichen Interessen, Guatemalas Märkte noch weiter als bisher für internationales Kapital zu öffnen. Es würde eine bedrohliche Konkurrenz für sie entstehen. Arzú ist allerdings klug genug, sich nicht auch noch mit ihnen anzulegen. Zwar möchte er deren Machtdünkel bekämpfen, gleichzeitig gibt es aber auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen, deren Opfer – wiedereinmal – Campesina/os sind. So gab es dieses Jahr schon mehrere Tote zu beklagen, nachdem Polizeieinheiten gegen Campesina/o-Gruppen vorgingen, die zur Durchsetzung ihrer Landrechte Fincas von GroßgrundbesitzerInnen besetzt hatten. Durch die äußerste Härte, mit der die Sicherheitskräfte bei diesen Räumungen vorgingen, zeigt die Regierung, daß ihre Liberalität durchaus ihre Grenzen hat, nämlich dort, wo die ökonomischen Privilegien der Reichen in Gefahr geraten. Dies stellte sie auch im Mai unter Beweis, als die Regierungsdelegation bei den Friedensverhandlungen mit der URNG beim Thema Wirtschaft durchsetzte, daß keinerlei Beschränkungen oder gar eine soziale Verantwortung für Privateigentum gelten sollen.

Neoliberale Strukturanpassung

Auch bei der Durchsetzung der dritten Leitlinie zeigt die Regierung Entschlossenheit. Parallel zum Vorantreiben der Friedensverhandlungen und dem Machtkampf mit dem Staat im Staate begann die Regierung in den letzten Monaten mit der Strukturanpassung: Antistreikgesetze für den öffentlichen Dienst, die Entlassung tausender Beschäftigter staatlicher Institutionen, die Erhöhung der Strompreise mit anschließender Privatisierung des Elektrizitätssystems. Die Maßnahmen lesen sich wie aus einem Leitfaden liberaler Regierungspolitik.
Guatemala befindet sich mitten in einem Transformationsprozeß am Schnittpunkt verschiedener sich kreuzender Entwicklungen, die immer wieder für Verwirrung und Erstaunen sorgen. Da ist zum einen der Übergang von der Zeit des bewaffneten, internen Konflikts zu der nach dem Friedensschluß. Dieser Prozeß ist eingebettet in die Zurichtung der bisher von einer nationalen, willkürlich agierenden Führungsclique dominierten Wirtschaft und Politik auf die Bedingungen des liberalen Weltmarktes. Irritierenderweise geht die ökonomische Liberalisierung mit einer politischen einher, ja sie unterstützt sie sogar. Diejenigen Kreise, die massive Menschenrechtsverletzungen als Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen, werden in ihrer Macht beschnitten. In einem Land, das unzählige Tote durch die Folgen staatlicher Repression zu beklagen hat und in dem Oppositionelle kaum Möglichkeiten hatten, ihren Widerstand auch nur verbal zu artikulieren, bedeutet dies einen nicht zu bestreitenden Fortschritt. Das politische Leben wird in Guatemala sicherer werden. Für die mehr als dreiviertel der insgesamt ca. 10 Millionen GuatemaltekInnen, die in Armut leben – mehr als die Hälfte von diesen wiederum in extremer Armut -, muß aber befürchtet werden, daß das Überleben unter der Strukturanpassung noch schwieriger wird.

Der Friedensprozeß – eine schwierige Geburt

Die Friedensverhandlungen in Guatemala – sie schienen nicht zum Abschluß kommen zu wollen. Jetzt aber sind die wesentlichen Teilabkommen unterschrieben, die nach der Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages in Kraft treten sollen: das Abkommen zu den Menschenrechten vom März 1994 und das Abkommen zu Identität und Rechten der indigenen Völker vom März 1995. Nach über einem Jahr Verhandlungen und dem Präsidentenwechsel vom anfänglichen Hoffnungsträger de León Carpio auf den geschickt taktierenden Unternehmer Alvaro Arzú, wurde im Mai 1996 das Teilabkommen zur “Sozioökonomischen Aspekten und Agrarsituation” besiegelt. Nur vier Monate später folgte das nächste Dokument zur Rolle des Militärs in einer zukünftigen Gesellschaft und zur Stärkung der Zivilgesellschaft.
Zwar steht die Klärung einzelner Fragen noch aus, zum Beispiel die nach den Modalitäten für die Reintegration der URNG-KämpferInnen in die Gesellschaft und die Frage nach Amnestieregelungen. Die Frage des Ortes für die Unterzeichnung des abschließenden Abkommens wird aber bereits diskutiert. Bis Silvester diesen Jahres soll es soweit sein, nachdem die noch ausstehenden Teilabkommen im Rahmen einer Europatournee der Verhandlungsparteien in Oslo, Stockholm und Madrid unterschrieben werden sollen. Mit dem Akt in Madrid kehren die Parteien in die Stadt zurück, in der das erste Treffen zwischen VertreterInnen der URNG und der guatemaltekischen Regierung stattgefunden hatte. Im Mai 1986, also vor über 10 Jahren, legte die URNG erstmals einen Vorschlag zu direkten Verhandlungen mit der Regierung vor. Die Situation war günstig: Aus einer großen Offensive der Armee gegen die Guerilla war diese eher gestärkt denn geschwächt hervorgegangen, das Militärregime sollte die politische Macht an einen “bewachten” Parlamentarismus übergeben, die mittelamerikanische Friedensinitiative war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Aber erst nach Abschluß des Friedensvertrages Esquipulas II durch die mittelamerikanischen Präsidenten konnte die guatemaltekische Regierung nicht mehr anders, war man doch übereingekommen, schnellstmöglich die internen, bewaffneten Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu beenden: Also fuhr eine Regierungsdelegation zu ersten Gesprächen mit der Guerilla nach Madrid. Das war im Oktober 1987.
Je nach politischen Interessen der Verhandlungsparteien, immer abhängig von der internationalen Konjunktur, mal mißtrauisch beäugt, meist aber unterstützt von der guatemaltekischen Opposition, torpediert von den Reaktionären im Land, ging es am Verhandlungstisch auf und ab. Daß gerade die reaktionären Kräfte immer noch versuchen, den Friedenschluß zu behindern, wurde und wird immer wieder deutlich. Nach einem Versuch im Sommer 1994, mit einer Steuerreform die Unternehmer stärker zur Kasse zu bitten, wurden schnell Putschgerüchte laut, die nach Rücknahme der Maßnahmen wieder verstummten. Im Oktober vergangenen Jahres ermordeten Soldaten in Xamán elf aus Mexiko zurückgekehrte Flüchtlinge; ein Massaker, das unter anderem darauf abzielte, die Friedensverhandlungen massiv zu stören.
Daß die Reaktionäre immer noch große Erfolge verbuchen können, zeigte die jüngste Aussetzung der Friedensverhandlungen. Der Auslöser: Ohne Kenntnis der Führung hatte ein ehemaliges Kommando der ORPA, einer der vier URNG-Teilorganisationen, vor einigen Wochen die einfluß- und schwerreiche Unternehmerin Olga de Novella entführt. Nachdem die Entführung selbst bereinigt worden war, nutzten die Hardliner in Militär und Unternehmerkreisen diesen Anlaß zu einer Kampagne gegen den Verhandlungsfortgang im allgemeinen und die URNG im speziellen. Aufgrund des sich entwickelnden Druckes wurden die Verhandlungen am 28. Oktober ausgesetzt, woraufhin heftige Aktivitäten einsetzten: Weite Kreise der Bevölkerung, die Regierungen der “Gruppe der mit Guatemala befreundeten Länder” sowie UN-Institutionen drängten die Verhandlungsparteien, die Gespräche möglichst schnell wiederaufzunehmen. Nach einigen Tagen des Schweigens veröffentlichte die URNG-Führung schließlich ein Kommunique, in der sie verlautbarte, die Entführung sei zwar ohne ihr Mitwissen geschehen, sie übernehme aber trotzdem die politische Verantwortung. Einige Tage später erklärte Gaspar Ilom, Mitglied der Generalkommandantur für die ORPA, seinen Rückzug von der Verhandlungsdelegation der URNG. Zugleich kündigte er an, daß die ORPA in Kürze einen neuen Verhandlungsführer benennen werde. Gaspar Ilom, der mit bürgerlichem Namen Rodrigo Asturias heißt und der Sohn des guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias ist, galt bis zu diesem Zeitpunkt als derjenige URNG-Kommandant mit dem höchsten internationalem Ansehen und der größten Reputation im Land und wurde als durchaus aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaft im Jahr 2000 gehandelt.
Es scheint, daß der Rücktritt von Ilom den Weg zur Wiederaufnahme der Verhandlungen freigemacht hat, denn am 9. November trafen die Delegationen wieder zusammen. Vereinbart wurde, daß die Gespräche mit einer veränderten Tagesordnung weitergeführt werden. Vor der Unterbrechung hatten sich die Verhandlungen an der Frage der Amnestieregelungen festgefahren, die in der guatemaltekischen Öffentlichkeit heiß diskutiert werden. Dieses Thema wurde nun auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Statt dessen werden jetzt die Bedingungen für einen endgültigen Waffenstillstand und die anschließende Waffenabgabe durch die Guerilla besprochen. Die Konsequenzen für die Machtbalance am Verhandlungstisch sind erkennbar. Die URNG wird gezwungen sein, eines ihrer Druckmittel, eben ihre militärische Stärke, preis- und aufzugeben, noch bevor wichtige Teilaspekte des endgültigen Friedensabkommens behandelt worden sind.

EZLN: Keine Verhandlungen mit Regierung

LN: Nach langer Unterbrechung kam eine Delegation der EZLN wieder zu Gesprächen nach San Cristóbal, allerdings nur mit den Vermittlerorganisationen und nicht mit der Regierung, wie eigentlich geplant. Gibt es Fortschritte?

David: Die Friedensgespräche wurden unterbrochen, weil es keine Anzeichen für echten Friedenswillen der Regierung gibt. Wir haben fünf Mindestforderungen zur Wiederaufnahme der Gespräche genannt. Diese sind bisher noch nicht erfüllt worden. Aber es hat kleine Fortschritte gegeben. Zumindest ein Punkt, die Einrichtung der Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen (COSEVE), ist am 7.11.96 erfolgt. Aber alle anderen Punkte stehen noch aus. Und von Seiten der chiapanekischen Regierung hat es massive Provokationen gegeben. Indígenas werden vertrieben, entführt und ermordet. So wurde vor drei Tagen eine friedliche Demonstration von Campesinos im Landkreis Venustiano Carranza gewaltsam von Polizei und Militär aufgelöst. Anstatt mit den Campesinos über ihre Forderungen nach Anhebung der Maispreise zu verhandeln, wurden drei Campesinos durch staatliche Truppen erschossen und weitere fünf schwer verletzt. Unter solchen Bedingungen kann es keinen Friedensdialog geben, weil die Regierung von Chiapas keinen Frieden will.

LN: Welcher Form kann die Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen COSEVE Druck auf die Regierung ausüben?

Zepedeo: Zunächst geht es um das im Februar geschlossene Abkommen über die Rechte und Kultur der indigenen Völker, dem für uns wichtigsten Punkt. Bisher ist es durch die Regierung nicht umgesetzt worden. Die COSEVE wird prüfen, inwieweit den Worten Taten folgen. Die COSEVE wird die Nichteinhaltung des Abkommens offensichtlich machen und mit der Zivilgesellschaft Druck ausüben.

LN: Wie bewertet Ihr die Morde in Venustiano Carranza und den Überfall auf CONPAZ, sowie die Repression gegenüber internationalen BeobachterInnen?

David: Das sind Versuche der Regierung von Chiapas, den Friedensprozeß zu stoppen. Die Regierung ist sehr verärgert über die Gruppen, die sich für einen Frieden in Gerechtigkeit und Würde einsetzen. Die Präsenz von internationalen BeobachterInnen ist für die Regierung negativ, da sie ZeugInnen dessen sind, was wirklich in Chiapas passiert. Die Attacken sind Teil des Planes, die wirklichen Zustände zu verschleiern und den Friedensprozeß zu sabotieren. Besonders im Norden von Chiapas herrscht ein Klima des Terrors. Campesino-Organisationen und Mitglieder der PRD werden eingeschüchtert und bedroht. Verantwortlich dafür sind direkt der Gouverneur von Chiapas Ruiz Fero und der Innenminister Eraclio Zepeda und die gesamte Bande der PRI. Die Auflösung der Weißen Garden ist ebenfalls eine unserer Mindestforderungen. Ohne sie wird es keinen Friedensdialog geben. Das haben wir erklärt und dabei bleibt es.

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Menschenwürde ist nichts Überflüssiges

Ein Mann taucht ab. Er weiß, daß er überwacht wird und sein Leben bedroht ist. Das gebuchte Flugzeug startet ohne ihn, den Telefonhörer nimmt er nicht mehr ab. Von seinem Dableiben weiß nur die Haushälterin, die konsequent auf alle Fragen antwortet, der Señor sei für unbestimmte Zeit verreist und nicht erreichbar. Wir erfahren wenig darüber, wie es der Mann erträgt, wochenlang in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein, wenig auch über sein vorheriges Leben. Aber er arrangiert sich und nutzt die Zeit, um Mopán zu lernen, eine der indigenen Sprachen Guatemalas, die auch seine Haushälterin spricht. Schließlich die Entscheidung: Er zieht aus der Hauptstadt weg, in irgendein Kaff, in dem die Mopán-Frau Verwandte hat. Setzt sich also ab, gibt ein Leben auf in der Hoffnung, ein anderes zu gewinnen – oder wenigstens in Ruhe zu leben. An seiner Stelle im Haus vertritt ihn der Freund der Haushälterin. Wie ernst die Bedrohung war, zeigt ein Brief, den sie ihm in die Provinz schreibt: Der Mörder hat sich als Klempner ausgegeben und den Freund der Haushälterin, den er wohl für den Gesuchten hielt, im Badezimmer umgebracht.
In dem Dorf, wohin der Mann geraten ist, kann er kaum Fuß fassen; er wird ein Einsamer bleiben, ein Heimatloser im eigenen Land, wenngleich ein Überlebender. Den schlechteren Teil – la peor parte, so der Originaltitel der Erzählung – hat der Ermordete abbekommen.
Das alles ist auf fünfzehn Seiten zu lesen, kurz und knapp und doch fesselnd. Der Leser ist mittendrin, wie in einer langen Geschichte oder einem guten Film.

Nichts für Voyeure

Seine sprachliche Präzision macht es dem Autor möglich, mit wenigen Worten viel zu sagen. Gleichzeitig bewahrt Rey Rosa immer eine respektvolle Distanz. So entsteht spannungsvolle, beunruhigende Literatur: Die Treffsicherheit der Wortwahl öffnet der Imagination weite Räume, aber nie entsteht der Eindruck, die Figuren wirklich zu kennen. Immer bleibt ihnen ein Innenleben, das unsichtbar bleibt und nicht einmal angedeutet wird. Rey Rosa gibt seine Meinung zu den Personen nicht zu erkennen, sondern läßt sie sein, wer sie sind – und überläßt es den Lesenden, sich ein Bild zu machen. Keiner ist böse, keiner gut, und der voyeuristische Blick hat in seinen Texten nichts verloren.
In der Rolle des Voyeurs findet sich dagegen wieder, wer die Bücher Rodrigo Rey Rosas im Zusammenhang liest: Es ist, als häute sich da einer, als suche er sein Thema, seine Sprache, um darin Fuß zu fassen. Obwohl seine Texte in sich rund und vollständig wirken, denn es sind keine Fragmente, wächst eine Ahnung, der Autor werde mehr zu sagen haben.
Weder über die Biographie noch über die Persönlichkeit Rey Rosas ist viel an die Öffentlichkeit gedrungen, so daß kaum mehr bleibt, als sich mit seinen Texten zu beschäftigen. Das Bekannte ist schnell gesagt: Geboren 1958 als Sohn einer wohlhabenden Familie, wuchs er im Kontakt sowohl mit den kreolischen Traditionen seiner Eltern als auch der indigenen Welt der Hausangestellten auf. Als unter der Diktatur Lucas Garcías von 1978 an mehrere seiner Freunde ermordet wurden, nutzte er 1980 eine Einladung nach New York, um in die USA auszuwandern.
Rodrigo Rey Rosa erhielt seine wichtigsten literarischen Impulse von dem US-amerikanischen Autor Paul Bowles. Nachdem Rey Rosa an einer Literaturwerkstatt von Bowles in dessen Wohnsitz Tanger teilgenommen hatte, knüpften sie enge Kontakte und übersetzten gegenseitig ihre Bücher. Seit Mitte der achtziger Jahre wohnt Rey Rosa in Tanger, hat aber die Beziehungen zu seiner mittelamerikanischen Heimat aufrechterhalten.
Dies gilt vor allem für das literarische Werk: Guatemala ist Schauplatz bislang aller seiner Texte. Begonnen hat er mit Kurzprosa. Die Erzählungen aus “El cuchillo del mendigo” (1986, dt. 1990 unter dem Titel “Der Sohn des Hexenmeisters”, Wunderhorn Verlag) und “El agua quieta” (1990) sind knappe Beobachtungen, Szenen, oft durchdrungen von Legenden und mystischen Elementen. Die beiden darauf veröffentlichten Erzählungen, “Cárcel de árboles” und “El salvador de buques” (1991) sind bereits um einiges länger. Mit “Lo que soñó Sebastián” (1994), der spannenden Geschichte eines Mannes, der sich als Fremdling im guatemaltekischen Urwald niederläßt und unschuldig unter Mordverdacht steht, hat Rey Rosa einen beachtlichen, kurzen Roman vorgelegt.

Cárcel de árboles, Gefängnis aus Bäumen

In “Cárcel de árboles” geht es um das Experiment einer Ärztin, das sie an zum Tode Verurteilten vornimmt. Diese Menschen, die sie in einem Gefangenenlager mitten im Wald vor der Öffentlichkeit versteckt hält, wurden einer Operation unterzogen, bei der man ihnen die Zunge sowie Sprach- und Gedächtniszentren des Gehirns entfernt hat. Jeder ist nur in der Lage, eine Silbe zu sprechen, zum Beispiel “yu”. In einer Versuchsanordnung werden sie, die völlig ohne Willen sind, auf einem Platz zusammengebracht und durch Impulse dazu animiert, ihre Silbe zu sprechen. Die Abfolge der Silben ergibt einen Text: Das Experiment glückt.
Einer der Gefangenen kommt jedoch zufällig in den Besitz eines Schreibheftes und eines Stifts, und er beginnt zu schreiben. Schreibt zunächst automatisch, ohne zu wissen, was er schreibt, und ohne das Geschriebene wieder lesen zu können. Nach und nach vollzieht sich dabei ein Prozeß, auf den es dem Autor im Kern bei der Geschichte anzukommen scheint: Er gewinnt seine Erinnerung wieder. Er versteht plötzlich, was mit ihm und den anderen Gefangenen gemacht wird, er ertastet die Narben seiner Operationen, beginnt mit den neben ihm Angeketteten zu kommunizieren – und plant die Flucht aus dem Lager, die ihm auch gelingt. Als die Nachricht von der Existenz dieses Menschenlabors an die Öffentlichkeit dringt, wird es sofort aufgelöst.
Das Neue an “Cárcel de árboles” sind nicht die Themen und ist auch nicht deren formale Behandlung. Der Text im Text, nämlich die Aufzeichnungen von “Yu” innerhalb der übrigen Erzählung, darüberhinaus der Schreibakt als Selbstbefreiung, die sprach-, gedächtnis- und willenlos gemachten Menschen, die fürchterlich bedrohliche Stimmung im Lager – all das ist an anderer Stelle bereits gesagt.
Sicherlich ist es Aufgabe von Literatur, altbekannte Themen wieder aufzugreifen – die ganze Literaturgeschichte lebt davon, sie in einem anderen Licht, einer besonderen Situation neu sichtbar werden zu lassen. Es ist wichtig, ein derartiges Gefangenenlager nach Guatemala zu verlegen, auch wenn man die Geschichte nicht als Parabel auf konkrete guatemaltekische Verhältnisse auffassen muß – es läßt sich Individuelles wie Gesellschaftliches, Aktuelles wie Historisches gleichermaßen assoziieren.
Von Bedeutung sind aber noch zwei weitere Aspekte. Zum einen ist es originell, daß Rey Rosa die komplexe Problematik von Wissenschaft und Ethik aufgreift. Das Experiment der Ärztin läßt sich verstehen als plastische Darstellung sprachwissenschaftlicher Theorien, die sich mit dem Verhältnis von Denken und Sprache beschäftigen. Nicht zufällig steht der Erzählung ein Zitat von Wittgenstein voran, in dem er feststellt, daß wir kein körperliches Organ benennen können, das den Denkakt ausführt. Eine damit verbundene These lautet, Denken vollziehe sich durch den kollektiven Gebrauch von Zeichen, beispielsweise Worten oder Schrift.
Diese in der Linguistik viel diskutierte These wendet sich gegen die Auffassung, daß der Mensch erst denkt und sich dann zur Übermittlung seiner Gedanken der Zeichen bedient. Rey Rosa geht es dabei offenbar weniger um die Widerlegung oder Bestätigung von Thesen, sondern um die Feststellung, daß Forschung nicht an Menschen stattfinden darf, auch nicht an zum Tode Verurteilten, wenn sie sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Damit schaltet sich der Autor in eine Diskussion ein, die momentan an ethischer Brisanz zunimmt.
Es ist darüberhinaus der spezifische Blick von Rey Rosa, der den Menschen ihre Würde und Integrität zugesteht: Er stellt seine Figuren dar, nicht bloß. Damit vermeidet er zugleich alle Wertung, die über persönliche Sympathie hinausgeht und beispielsweise durch soziale Zuordnung kodifiziert ist. Indígenas werden nicht generell idealisiert, Beamte sind nicht notwendig korrupt, Offiziere nicht alle brutal. Die Individuen können das zwar jeweils sein, aber sie müssen es nicht sein, nur weil sie einer bestimmten Gruppe angehören. Das ist eine ganz andere Haltung zu den Figuren, als beispielweise die von Mario Vargas Llosa in seinem jüngsten Roman “Tod in den Anden”: Dort geht es um Typisierung. Alle Sendero-Terroristen sind ideologisch verbohrt und ohne jede Menschlichkeit, alle Straßenarbeiter einander in ihrer versoffenen Dumpfheit ähnlich.
Das bedeutet nicht, daß Rey Rosas Literatur unpolitisch wäre, ganz im Gegenteil. Es geht um die Politik beim einzelnen Menschen, um seinen besonderen Platz in der Welt, und es darf gefragt werden, ob das den “großen” politischen Vorgängen an Bedeutung nachsteht.
Daß Rodrigo Rey Rosa noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, ist verwunderlich. Die Ausnahme, der erwähnte Erzählungsband, ist nicht sein stärkstes Buch und möglicherweise keine günstige Visitenkarte. Aber die Bücher sind im spanisch- und (dank Bowles) im englischsprachigen Raum nicht mehr unbekannt. Warum nicht hierzulande auch? Sind es die Spielregeln des Marktes, die hier greifen, die nach leicht konsumierbarer und dementsprechend gut verkäuflicher Literatur verlangen? Rodrigo Rey Rosa bedient keine Klischees, er verzichtet auf billige Lockmittel. Dafür bietet er Stoff zum Kauen, gleichzeitig aber auch zum Kosten und Schmecken.

Von Rodrigo Rey Rosa sind erschienen:
El cuchillo del mendigo/El agua quieta, 1992,
Cárcel de árboles/El salvador de buques, 1992,
Lo que soñó Sebastián, 1994,
alle im Verlag Seix Barral, Barcelona.

Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald

“Also gut. Salud und guten Appetit. Die Lektüre ist eine Nahrung, die glücklicherweise nie sättigt.” (Subcomandante Marcos)
Mit den “Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald” stellt Edition Nautilus wesentliche Schriften der mexikanischen Guerilla vor. Die Textauswahl umfaßt die Zeit vom Aufstandsbeginn bis zum 503. Jahrestag der Eroberung Lateinamerikas am 12.10.1995 und vermag auch ohne Begleitkommentare einen spannenden und lehrreichen Überblick über Ursachen und Verlauf der bewaffneten Rebellion zu vermitteln. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Anthologie politischer Pamphlete, sondern – und das macht den besonderen Reiz der Lektüre aus – um Literatur. Gerade dieser Aspekt, die brutale Beschreibung alltäglicher Erfahrungen und die humorvolle, oftmals selbstironische Bewertung aktueller Ereignisse, macht die Zeugnisse aus der Feder des Subcomandante Marcos so wertvoll. Offizielle Erklärungen der Generalkommandantur der EZLN, Grußworte an die Gründungsversammlung des Nationalen Demokratischen Konvents (CND) und die Internationale Solidarität, Briefe an SchriftstellerInnen und Gewerkschaften, Analysen über Wesen und Art des Neoliberalismus, Ausflüge zu Traditionen und Visionen indigener Völker und surrealistische Exkursionen des Zapatistensprechers bilden einen Lesestoff, der fasziniert und gleichzeitig zum Nachdenken anregt:
“Der Vizekönig träumt, daß sein Land von einem fürchterlichen Wind durchgeschüttelt wird. Daß ihm weggenommen wird, was er geglaubt hat. Daß sein Haus zerstört wird und das Reich, das er regiert, untergeht. Er träumt und kann nicht schlafen. Also geht der Vizekönig zu seinen feudalen Herren, und die sagen ihm, sie hätten dasselbe geträumt. Der Vizekönig findet keine Ruhe, er sucht seine Ärzte auf und die sagen ihm, es handele sich um indianische Hexerei. Und sie entscheiden, er könne sich nur mit Blut von diesem Fluch befreien. Und der Vizekönig befiehlt, zu töten und einzukerkern und baut mehr Gefängnisse und Kasernen und der Traum raubt ihm weiterhin den Schlaf. In diesem Land träumen alle. Es ist Zeit aufzuwachen. Der Sturm… den es gibt. Er wird geboren aus dem Zusammenstoß der Winde, schon naht seine Zeit, der Ofen der Geschichte wird angeheizt. Jetzt herrscht der Wind von oben, schon kommt der Wind von unten, schon naht der Sturm. So wird es sein. Die Prophezeiung… die es gibt. Wenn der Sturm nachläßt, wenn Regen und Feuer die Erde wieder in Frieden lassen, wird die Welt nicht mehr die Welt sein, sondern etwas Besseres.” (Subcomandante Marcos)
Nicht unerwähnt bleiben darf, daß das Autorenhonorar dem Solidaritätsfond des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkomandantur der EZLN – zugeführt wird.

Subcomandante Marcos: Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald. Edition Nautilus, Hamburg 1996, 250 Seiten, 29,80 DM (ca. 15 Euro)

Zapatistas in der Hauptstadt

Vom 8.-12.10. fand der Congreso Nacional Indígena (CNI) im Zentrum von Mexiko-Stadt statt. VertreterInnen von über dreißig der 56 indigenen Völker Mexikos kamen zusammen, um Mißstände anzuprangern und einen Katalog von Forderungen für eine “neue, würdige Verfassung” zu formulieren. “Mexiko niemals mehr ohne uns!”, hieß das Motto. Die Eröffnungsveranstaltung lief eher verhalten und ohne Überraschungen ab. Forderungen nach mehr Autonomie und Demokratie wurden wiederholt. Die aktuelle Situation der indigenen Völker wurde allerdings zunächst wenig konkret diskutiert. Dies lag nach dem Bekunden einiger Delegierter vor allem an der Tatsache, daß sich unter den Teilnehmern auch einige Kaziken befanden, die für ihre Dienstbarkeit gegenüber der PRI auf der einen und ihre Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung oppositioneller indigener Dörfer andererseits bekannt sind.

Schlappe für die Staatspartei

Das Augenmerk der Medien hatte der CNI allerdings hauptsächlich deshalb erregt, weil im Vorfeld des Kongresses hitzig darüber diskutiert wurde, ob es den Rebellen des EZLN gestattet werden solle, eine Delegation zum CNI nach Mexiko-Stadt zu senden. RegierungsvertreterInnen wurden nicht müde zu betonen, daß das Gesetz über den Dialog Reisen von Mitgliedern des EZLN außerhalb Chiapas verbiete. Sie kündigten die sofortige Verhaftung einer zapatistischen Delegation auf dem Weg in die Hauptstadt an. Doch schließlich ging es doch. Die Forderung der Zapatistas nach einer Möglichkeit zur Teilnahme am CNI, der von der EZLN selbst mitinitiiert worden war, wurde von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Die PRI mußte schließlich widerwillig nachgeben. Anders als von vielen erwartet, war es dann aber nicht der Subcomandante Marcos oder ein anderer der bekannteren Zapatista-Führer, der in die größte Stadt der Welt aufbrach, sondern die Comandante Ramona, eine Tzotzil, die zuletzt in der ersten Runde der Friedensverhandlungen in San Cristóbal 1994 in der Öffentlichkeit erschienen war. Eine schwere, unheilbare Krankheit hatte sie in den letzten beiden Jahren daran gehindert, an den weiteren Verhandlungen teilzunehmen; nun jedoch hatte sich die Comandante dafür entschieden, vor ihrem Tode noch einmal im Namen der EZLN mit anderen Indigenas zusammenzutreffen.
Die Ankündigung, daß die EZLN tatsächlich eine Delegierte zum CNI schicken würde, war noch nicht verhallt, da wurden die Stellungnahmen der Kongreßteilnehmer bereits konkreter und weniger verhalten. Offenbar flöste diese Schlappe für die PRI den Delegierten der einzelnen Völker Mut ein und so kam es am Freitag und Samstag doch noch zu deutlichen Anklagen und Forderungen, die zuvor in verschiedenen, thematischen Kommissionen erarbeitet worden waren.
Am Freitag, Comandante Ramona nahm an diesem Tag lediglich beobachtend am Kongreß teil, äußerten sich die Delegierten ganz offen zur Existenz von Todesschwadronen, der wachsenden Militarisierung, die durch Raubbau entstehenden Umweltschäden und anderen Problemen, mit denen die indigenen Gemeinden des Landes zu kämpfen haben. Dem wurde die Forderung nach Schaffung eines wirklichen Rechtsstaates, der die Praxis des Verschwindenlassens, die Vergewaltigungen, den Amtsmißbrauch und die Folter durch die örtlichen Polizeitruppen verfolgen müsse, entgegengestellt. Wie deckungsgleich die Forderungen des CNI mit jenen der EZLN sind, machte ein Aufruf der CNI-Delegierten deutlich. Ausdrücklich schlugen sie die Annahme der von der EZLN im Dialog von San Andrés Larráinzar aufgestellten Demokratisierungsforderungen vor.
Als eine besonders wichtige Forderung für das Überleben der indigenen Völker wurde die Rückkehr zur ursprünglichen Form des Artikels 27 der Verfassung erhoben. Dieser Artikel, einer der Grundpfeiler der mexikanischen Verfassung von 1917, schützte das kommunale Eigentum an Land, über das viele indigene Dörfer verfügen. Salinas hob 1992 in einer Verfassungsreform diesen Schutz vor einer Privatisierung des Ackerlandes auf, und erklärte andererseits die Agrarreform für vollendet, obwohl noch Hunderttausende von landlosen campesinos auf den Wartelisten für Landzuteilungen stehen. Eine jüngst herausgegebene Studie des Nationalen Instituts für Ernährung (INN) verleiht der Forderung nach angemessener Landzuteilung Nachdruck. “Die Landkarte der Mangelernährung in Mexiko stimmt haargenau mit den von Indígenas besiedelten Zonen überein”, so Kirsten A. de Appendini vom Colegio de México. Mit einer gerechten Landverteilung allein könne das Problem zwar nicht beseitigt, zumindest aber entschärft werden.

“Legitimes Recht auf Rebellion”

Thematisiert wurde das Recht auf Rebellion, das sich die indigenen Völker angesichts der “schlechten Regierung” vorbehalten. Zwar seien die indigenen Völker keine Separatisten, sondern von ganzem Herzen Mexikaner. Doch solange dies von der anderen Seite ignoriert werde, und die indigenen Gemeinden weiterhin in einem Zustand der Fremdbestimmung, Rechtlosigkeit und Militarisierung lebten, würden die indigenen Völker ihrerseits nicht auf das Recht verzichten, eine Veränderung der Regierungsform – notfalls mit Gewalt – anzustreben. Die Regierung müsse sich darauf einrichten, daß Mexiko am Tor des neuen “Stadiums der sechsten Sonne” (alte indigene Zeitrechnung) stünde und sich der Lauf der Geschichte zu ändern beginne.
Am Ende des Kongresses stand am Freitagabend eine Resolution, in der die Comandante Ramona sich für die Wiederaufnahme der (von der EZLN am 2. August, aufgrund zunehmender Repression durch die Bundesarmee ausgesetzten) Friedensgespräche und einen breiten nationalen Dialog aussprach, sowie für ein Abschlußkommuniqué der versammelten Delegierten.
Das Kommuniqué bekräftigt den Wunsch auf ein “harmonisches Mexiko, in dem alle ihren würdigen Platz finden” und weist darauf hin, daß es sich dazu als notwendig erweisen wird, der Welt zu zeigen, daß es sich bei den Indígenas um eine Vielfalt von Völkern handele. Nur so könne erreicht werden, daß der mexikanische Staat das Recht der demokratischen Selbstbestimmung jedes einzelnen dieser Völker in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiere.
Das Dokument schließt mit einer Anklage der neoliberalen Politik. Da eine solche Politik darauf abziele, die ganze Welt in einen großen Markt zu verwandeln, sei die Beseitigung der widerstehenden Kulturen programmiert.

“Niemals mehr ohne uns”

Am vergangenen Samstag ergriff dann die EZLN-Delegierte Comandante Ramona das Wort bei einer Großkundgebung auf dem Zócalo, der Hauptstadt. Vor einigen tausend Sympathisanten verkündete Ramona ihre Botschaft. Nach einigen Grußworten in spanischer Sprache fuhr die Comandante in ihrer eigenen Sprache, Tzotzil, fort. Und es war mehr die Tatsache, daß zum ersten Mal vor dem Regierungspalast der Diskurs der Opposition seinen Ausdruck in Tzotzil fand, als die Botschaft an sich. Bischof Samuel Ruiz äußerte sich von seiner Diözese in Chiapas aus sehr zuversichtlich, was die Anwesenheit der Comandante Ramona auf dem Zócalo anging: “Endlich haben die Indígenas eine Plattform, von der aus sie Gehör finden”.
Comandante Ramona, die zeitweilig gestützt werden mußte, sprach sich in ihrer kurzen Rede im Namen der EZLN für die Fortsetzung des Dialogs aus. Die EZLN sei bereit, sich an einem großen nationalen Dialog zu beteiligen und appellierte an die Anwesenden, den “Zapatisten auf dem Weg dorthin so zu helfen, wie ihr auf dem Weg in die Hauptstadt geholfen worden” sei. Nie wieder solle es ein Mexiko ohne die indigenen Völker geben. Nach ihrer kurzen Ansprache und noch bevor die Veranstaltung zuende war, begab sich Comandante Ramona, die nach offiziellen Angaben schwer nierenkrank ist, zur Behandlung und weiteren Beobachtung ihrer Erkrankung in eine Klinik.
Mittlerweile haben EZLN und die parlamentarische Vermittlungskommission COCOPA im chiapanekischen Dorf La Realidad ein weiteres Treffen anberaumt, auf dem über eine Fortsetzung der Friedensgespräche verhandelt werden soll. Nach Angaben der EZLN könnte an diesen Gesprächen auch der Sub, der sich in den letzten Wochen nur wenig in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, teilnehmen.

Sprinter Kohl in Lateinamerika

Die erste Station: Argentinien
Zwölf Jahre nach seinem ersten Argentinien-Besuch traf Bundeskanzler Kohl am 14. September in Buenos Aires ein. In Argentinien wurde dieser Besuch als der bedeutendste seit der Visite des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Bush, im Jahr 1990 gehandelt.
Seit 1989 richtete sich der Blick der deutschen Wirtschaft hauptsächlich gen Osten. An den ersten großen Privatisierungswellen in Argentinien wurde nur beobachtend teilgenommen. Telefon-, Flug-, und Erdölgesellschaft wie auch die Wasser-, Gas-, Stromversorgungsunternehmen sind nun in spanischer, französischer oder nordamerikanischer Hand, die sich daran eine goldene Nase verdienen. Die bevorstehende Privatisierung der argentinischen Flughäfen soll nun nicht ohne deutsche Beteiligung geschehen. Der Prozeß der Wiedervereinigung und die Ostorientierung der deutschen Wirtschaft soll einem Engagement in Argentinien nicht mehr im Wege stehen. Rechtssicherheit, die Investitionen auch mittel- und langfristig sichern, wirtschaftlich stabile Rahmenbedingungen und politische Kontinuität werden nun seitens der Wirtschaft besser eingeschätzt als noch vor Jahren, müssen aber nichtsdestotrotz weiterhin ausgebaut werden. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind nur indirekt von Belang, der soziale Frieden und damit die politische Stabilität darf durch eine allzu ungleiche Verteilung nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Internationale Unterstützung

Nur eine Woche nachdem der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Camdessus und der Präsident der Welthandelsorganisation (WTO) Ruggero in Buenos Aires die jüngste wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens lobten, ordnete sich Kohl in diese illustre Reihe ein. Er bezeichnete den seit Anfang der neunziger Jahre verfolgten neoliberalen Wirtschaftskurs als sehr mutig und empfahl Menem ihn beizubehalten. Die Argentinier sollten sich in “Sturmzeiten” in Geduld üben, da letztendlich die Reformen ihre Wirkung zeigen und sich die Opfer auszahlen würden.
Die Parallelen zu der deutschen Wirtschaftssituation liegen für Kohl auf der Hand. Aus diesem Grund vertrat er die Meinung, daß in der heutigen Zeit, in der Globalisierung und die Standortkonkurrenz die Realität beherrschen, es keine Alternative – weder für Argentinien noch für Deutschland – zu einer Politik der Kostenreduktion, der Arbeitsflexibilisierung und der Neudefinition des Sozialstaates gäbe.
Nur mit gleichwertigen Partnern wie Argentinien, mit denen mensch viel gemeinsam habe, unter anderem die Vorliebe für die Marktwirtschaft, könnten die globalen Herausforderungen – Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Armut – gemeinsam gemeistert werden.
Menem kann die Unterstützung durch Kohl derzeit gut gebrauchen: Seine Popularität und damit auch die seiner Politik hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Geduld der Bevölkerung, auf deren Rücken die Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden, geht zu Ende. Bisher war es Menem gelungen, dank des “Inflationsbekämpfungsbonus” die Menschen immer wieder zu vertrösten. Die Zeiten der Hyperinflation Ende der achtziger sind noch sehr gut im Gedächtnis. Um die gewonnene Stabilität nicht aufs Spiel zu setzen wurden viele Opfer in Kauf genommen. Das letzte Sparpaket aber (siehe LN 266/267) brachte das Faß zum überlaufen. Der Generalstreik am 8. August legte das Land fast vollständig lahm – die OrganisatorInnen sprachen von einer neunzigprozentigen Streikbeteiligung. Damit nicht genug. Am 26. und 27. September erfolgte der nächste Generalstreik. 36 Stunden wurde gegen die Austeritätspolitik der Regierung protestiert. Auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, versammelten sich 70.000 DemonstrantInnen, die größte Demonstration seit 1989. Bemerkenswert ist, daß zu dem Streik der regierungsnahe Dachverband der Gewerkschaften aufrief und sowohl von dem Oppositionsdachverband als auch den Oppositionsparteien unterstützt wurde.

Allgegenwärtige Wirtschaft

So wie die wirtschaftlichen Probleme die Alltagssorgen der ArgentinierInnen dominieren, beherrschten wirtschaftliche Interessen den Kanzler-Aufenthalt. Und zwar auch dann, wenn der öffentliche Auftritt gar nicht im Zeichen der Wirtschaft stand. So geschehen beim Empfang der deutsch-argentinischen Gemeinschaft in der 1897 gegründeten Goethe-Schule. In der mit etwa 2000 Gästen überfüllten Turnhalle genoß Kohl ein Bad in der Menge. In Deutschland wäre ein solches Unterfangen an jenem Wochenende – nachdem die Kanzlermehrheit das Kürzungspaket im Bundestag endgültig verabschiedet hatte – wohl nicht sehr ratsam gewesen. Doch hier, in geschlossener Gesellschaft, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem wohlhabenden Wohnbezirk und abgeschottet von jeglichen sozialen Spannungen, war dieses gefahrlos möglich. Seine zum Ärger mancher Presseleute nicht ins Spanisch übersetzte Rede stand im Zeichen des deutsch-argentinischen Kulturaustausches, an dem die deutschen Schulen einen großen Anteil hatten. Ganz in seinem Sinne wurde die deutsch-argentische Freundschaft kulinarisch besiegelt. Dabei war es sicher kein Zufall, daß er sich zum Abschluß medienwirksam mit einem Becher Warsteiner erfrischte, hat doch Warsteiner kürzlich in ihre argentinische Tochtergesellschaft Isenbeck 80 Millionen Dollar investiert. Diese avancierte so zu einer der größten Brauereien des Landes. Die Rückfahrt erfolgte in einem von Mercedes Benz an die argentinische Regierung gestifteten Bus. Es war zwar kein Sprinter, aber der gute Stern auf allen Wegen war dabei nicht zu übersehen.
Claudia Martínez/Martin Spahr

Zweite Station: Kohl in Brasilien

Dreißig Stunden Staatsbesuch sind nicht viel Zeit, aber es reicht allemal, um sich ein wenig als Regenwaldbewahrer ins Rampenlicht zu rücken. Deutschland ist in dieser Disziplin nämlich führend unter den G-7-Nationen, wie die Brasilianer im September aus berufenem Munde erfuhren: “Alle reden, während wir zahlen”, brüstete sich Helmut Kohl bei einem Frühstück mit Industrievertretern in Brasilia. Gemeint hat er damit unter anderem die 187 Millionen US-Dollar, die Deutschland für ein kürzlich bewilligtes EU-Pilotprojekt in Amazonien ausgeben will. Mit dem Geld sollen nachhaltige Entwicklungsmodelle im größten Regenwaldgebiet der Erde finanziert werden. Brasilien probt derweil den schlanken Staat. Nachdem im Juni eine Studie ergab, daß der Regenwald im Moment schneller abgeholzt wird als noch zur Zeit des Erdgipfels in Rio 1992, wurde als Gegenmaßnahme das Abholzen einiger Edelholzarten verboten – eine überaus schlanke und kostengünstige Maßnahme. Dabei sollten die Beamten in Brasilia doch wissen, daß in Amazonien das Gesetz nicht viel wert ist. Immerhin mußte die Sicherheit der Gemeindewahlen Mitte Oktober dort mit Hilfe der Bundesarmee sichergestellt werden, weil sonst Großgrundbesitzer und kleine Industrielle mit bewaffneten Milizen für einen genehmen Wahlausgang sorgen. Die Soldaten ziehen nach dem Urnengang wieder ab, und mit ihnen vermutlich die staatliche Indianerstiftung FUNAI (Fundacao Nacional do Indígena), die im Zuge der Verminderung des Staatsdefizits aufgelöst werden soll. Ihre Aufgabe war es bislang, die Indianer vor der Gier der Goldsucher und Holzfäller und vor dem nackten Überlebenswillen von landlosen Siedlern zu schützen. Man braucht gar nicht darauf zu warten, daß das EU-Pilotprojekt in dieser Hinsicht etwas bewirkt.
Aber sicherlich hat Helmut Kohl recht, wenn er sagt, daß es Industriestaaten gibt, die weniger für Umweltschutz in Brasilien bezahlen als Deutschland. Brasilien selbst zum Beispiel, das in weiten Teilen ein Industriestaat ist und im Moment andere Probleme als den Raubbau im Dschungel meistern muß. Einige sind ganz ähnlich gelagert wie bei uns: Brasilien wie Deutschland wollen unbedingt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, ein hohes außenpolitisches Ziel, für das sich die Diplomaten Staatsbesuch um Staatsbesuch gegenseitige Unterstützung zusichern. Das brasilianische Staatsdefizit (3,72 Prozent des BIP) ist wie das deutsche zu hoch, und hier wie dort will die notwendige Reform des Sozialversicherungssystems nicht so recht gelingen. Wenn Brasiliens Staatsoberhaupt Fernando Henrique Cardoso in seiner Begrüßungsrede für Kohl dessen Erfolg bei der Reform des Renten- und Krankenversicherungssystems lobt, so nur, um seinem Kongreß ein wenig Beine zu machen. Denn für eine Reform des Staates braucht es jedesmal eine Verfassungsänderung, also eine Drei-fünftel-Mehrheit in beiden Kammern. Und diese Reformen sind nach Meinung von vielen WirtschaftsanalytikerInnen der einzige Weg, um Präsident Cardosos bislang erfolgreiche Antiinflationspolitik – die einer Regierungsstudie zufolge seit der Währungsreform im Juli 1994 die Zahl der Armen in den Ballungsgebieten um zwanzig Prozent vermindert hat – in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Boom umzuwandeln. Ein wenig boomt es jetzt schon. 5 Prozent Wachstum für 1996 sind nicht umwerfend viel, auch wenn einige ganz zufrieden sein können: etwa der deutsche Elektrokonzern Siemens, der Telefonanlagen und Kraftwerkturbinen verkauft, und dessen Gewinn in Brasilien im Vergleich zum Vorjahr um satte 400 Prozent gestiegen ist. In den nächsten fünf Jahren, so weissagt die deutsch-brasilianische IHK, werden jährlich Direktinvestitionen in der Höhe von einer Milliarde US-Dollar nach Brasilien fließen. Ganz vorne mit dabei: die Automobilhersteller Volkswagen und Mercedes, die in Europa keine wachsenden Märkte mehr sehen und den Anschluß an den Mercosur nicht verpassen wollen. Brasilien wird in Zukunft das einzige Land außer Deutschland sein, in dem Mercedes die legendären Luxusautos mit dem Stern anfertigen läßt. “Die Qualität der Produktion”, so ein Sprecher von Mercedes Benz do Brasil selbstbewußt, “ist in Brasilien so gut wie in Deutschland.” Den Reichen, die sich auch im Mercosur angemessen fortbewegen möchten, bietet Brasilien noch zwei weitere Chancen für deutsches Geld: eine Reihe von Staatsunternehmen stehen zur Privatisierung an, aus so lukrativen Sektoren wie Rohstoffabbau, Telekommunikation und Häfen. Und schließlich ist da noch die “Industrie der Zukunft”, wie Helmut Kohl betonte: Umweltschutz-Technik aus Deutschland, nicht im Regenwald, sondern dort, wo die Industrialisierung bereits mit Wucht zugeschlagen hat. Gewinn für Deutschland verspicht nicht der Regenwald, sondern die riesigen Müllhalden der Großstädte und die ungeklärten Abwässer der Industrie.
Martin Virtel

Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung

Das Bundeskabinett beschloß am 17. Mai 95 das Lateinamerika-Konzept. Dieser Maßnahmenkatalog, der nicht nur das Engagement der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika, sondern auch die technische und politische Zusammenarbeit fördern soll, wurde vom Auswärtigen Amt, dem Wirtschaftsministerium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) und dem Ibero-Amerika-Verein (IAV) erarbeitet. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Industrie ist nicht neu: Eine ähnliche Initiative war schon 1993 ins Leben gerufen worden, als die Asien-Strategie in Zusammenarbeit mit dem Asien-Pazifik-Ausschuß der deutschen Wirtschaft entstand. Im Gegensatz zu Asien kann im Fall Lateinamerika auf eine jahrzehntelange Präsenz aufgebaut werden.
Als Anlaß für die konzertierte Aktion wird ein Brief der deutschen Wirtschaftsverbände an Kanzler Kohl gesehen, in dem davor gewarnt wurde, daß die Deutschen den wirtschaftlichen Anschluß in Lateinamerika verpassen würden. Dabei sei das verlorene Jahrzehnt in Lateinamerika doch vorbei und der Subkontinent auf dem besten Wege zu einer politisch und ökonomisch stabilen, wachstumstarken Region. Obwohl es noch Nachholbedarf bei der sozialen Lage und der Menschenrechtssituation der indianischen Völker gebe, seien Fortschritte im Demokratisierungsprozeß, beim Aufbau von rechtstaatlichen Systemen und der Wahrung der Menschenrechte zu verzeichnen. Zusätzlich bemühten sich die Regierungen der jungen Demokratien – mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung der Wirtschaftsexperten des Internationalen Währungsfonds (IWF) – wirtschaftspolitische Veränderungen in Richtung Marktwirtschaft nach neoliberalem Vorbild durchzuziehen: Stabilisierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, Deregulierung der Märkte, Liberalisierung der Handel- und Kapitalströme. Zudem werden durch die Privatisierung der maroden Staatsbetriebe Anstrengungen unternommen, die Staatshaushalte zu konsolideren. Klare Zeichen dafür, daß die Reformen ernst gemeint sind und die jahrzehntelange Binnenorientierung vorbei ist. Hinzu kommt der offene Integrationsprozeß (NAFTA, Mercosur, Andenpakt), der zu einer Ausweitung des intraregionalen Handels geführt und damit einen Beitrag zum Erfolg der Wirtschaftsentwicklung geleistet hat.
Die deutsche Wirtschaft hat diesen Prozeß beobachtet, ohne sich aber stark an ihm zu engagieren: an den Privatisierungen waren überwiegend die Nordamerikaner, Franzosen, Spanier und Italiener beteiligt. Marktanteile gegenüber den Japanern, dessen Engagement in Lateinamerika schon vor einigen Jahren stieg, ging verloren. Zwar leisteten im Jahr 1995 die deutschen Tochtergesellschaften in Brasilien und Mexiko fast 15 Prozent der nationalen Industrieproduktion, die Exporte in die Region sind aber nur unterproportional gegenüber den Exporten in Richtung Süd-Ost-Asien und Osteuropa gewachsen. Die deutsche Wirtschaft befürchtet nun, daß durch den Wandel neue Wirtschaftsbeziehungen entstehen, die mittel- und langfristig auf Kosten der deutschen Lieferanten gehen. Um diesem Trend entgegenzuwirken soll nun Vater Staat der deutschen exportorientierten Wirtschaft unter die Arme greifen. Kräfte sollen gebündelt werden und politischen Rückhalt für die Rückgewinnung verlorenen Terrains erhalten: Durch Regionalkonferenzen mit Beteiligung deutscher Regierungsvertreter, Entsendung von Wirtschaftsdelegationen und einer aktiven Messepolitik sollen den Latinos die Produkte “Made in Germany” wieder schmackhaft gemacht werden. Gute Chancen werden in den Bereichen der Umwelt- und Verkehrstechnologie, Kraftwerkbau, Stromverteilung und Telekommunikation gesehen. Besondere Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Produkte soll der deutsche Mittelstand erfahren, dessen Angst vor wirtschaftspolitischen Rückschlägen noch nicht ganz genommen werden konnte. Er soll in besonderem Maß durch einen verbesserten Informationsservice über potentielle Wirtschaftpartner von dem engen Netz bilateraler Handelskammern profitieren.

Mogelpackung Lateinamerika-Konzept

Die vorangigen Bemühungen der Bundesregierung beschränken sich derweil aber nur auf die Erweiterung bestehender, beziehungsweise der Erschließung neuer Märkte auf dem Subkontinent, der 450 Millionen Menschen beherbergt und ein Bruttosozialprodukt von über 1 Billion Dollar aufweist: Ein riesiger Absatzmarkt, der nicht allein den anderen Industrienationen überlassen werden soll. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind aber vierzig Prozent der Bevölkerung an dem jetzigen wirtschaftlichen Aufschwung nicht beteiligt. In einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación anläßlich der Konferenz in Buenos Aires im Juni 1995 bekannte Rexrodt Farbe: im Mittelpunkt der Analyse seien die ökonomischen Aspekte. Damit werden andere wie politische Kooperation, Entwicklungshilfe und Umweltschutz mal wieder diesem Ziel untergeordnet. Bei der Lektüre des dritten Kapitels des Lateinamerika-Konzeptes über Entwicklung und Umwelt stechen hochgesteckte Ziele hervor, die zur Zeit anscheinend in Vergessenheit geraten sind: die Länder Lateinamerikas sollen “auf ihrem Weg zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung” unterstützt werden. Dieses sei nur in einem “entwicklungsfördernden Umfeld”, mit einer marktwirtschaftlichen und sozialen Wirtschaftsordnung in ökologischer Verantwortung möglich. Entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, die Achtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß und Rechtssicherheit müsse ebenfalls gewährleistet werden. Schwerpunkte seien dabei unter anderem die Bekämpfung der Armut und die Entwicklung des Ressourcen- und Umweltschutzes. Wenngleich Kohl während seiner Reise auch immer wieder auf die sozialen Aspekte hinwies, die im Wachstumsprozeß nicht außer acht gelassen werden dürften, war sein Schwerpunkt ein anderer. Er lobte die mutigen Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme. Die hohen sozialen Kosten blieben nachgeordnet, die weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich ebenso. Die tendenziell kapitalintensiven deutschen Investitionen, insbesondere aus der Autobranche, haben relativ geringe Beschäftigungseffekte. Der Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und damit der soziale Situation bleibt schwach. Somit verkommt das Lateinamerika-Konzept zu einem simplen Exportförderungspaket.
Martin Spahr

Dritte Station: Mexiko

Mariachi-Musik, jede Menge wohlklingender Reden und begeisternd kreischende Schulkinder – vom Kanzler Besuch in Mexiko bleibt vor allem Stimmung. Ansonsten fällt die Bilanz von insgesamt 10 öffentlichen Kohl-Auftritten in nur zwei Tagen mager aus: konkret vereinbart wurde nichts. Der Bundeskanzler versicherte seinen Gastgebern, daß die deutsche Fixierung auf die Einheit nun vorbei sei. Die Bundesregierung werde nun auch in Richtung Lateinamerika wieder aktiver – mit Mexiko als einem Schwerpunktland. Mexikos Präsident Ernesto Zedillo empfing den Kanzler als den Architekten der deutschen Vereinigung und größten Europäer. Er lobte die Rolle der deutschen Investoren, die 1995 mehr Geld in Mexikos Wirtschaft pumpten (eine Milliarde DM) als in jedes andere Schwellenland der Welt. In so gut wie allen Nachrichtensendungen des nationalen Fernsehens war die Kohl-Visite der Aufmacher. Die völlig überfüllte Pressekonferenz des Kanzlers wurde in einem Kanal sogar live übertragen. Dem deutschen Regierungschef, schon 14 Jahre an der Macht, schlug offene Bewunderung entgegen. Viele Mexikaner sahen den mächtigen Mann, der ihren eigenen Präsidenten um mehr als Haupteslange überragte, als Repräsentanten von Europas größter Wirtschaftsmacht und als eine Möglichkeit, sich von der erdrückenden Abhängigkeit von den USA zu befreien. Mexiko drängt seit langem schon auf ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) und hofft dabei auf deutsche Unterstützung. Diese hatte Außenminister Kinkel bei seinem Besuch im April auch zugesagt, sich jedoch anschließend bei der Agrarlobby in Brüssel eine blutige Nase geholt. So gab es denn die absehbare herbe Enttäuschung. “Wir verhandeln nicht mehr über ein Freihandelsabkommen”, hieß es während der Kanzler-Visite von deutscher Seite. Für die nun im Oktober beginnenden Verhandlungen zwischen EU und Mexiko wurde hastig ein neuer Begriff erfunden: Progressive Handelsliberalisierung. Im Klartext: Die Zölle sollen runter, aber nur für Waren, die keinem weh tun. Heikle Produktgruppen wie mexikanischer Honig, Bananen oder gerösteter Kaffee werden ausgeklammert und weiterhin an den Zollhürden der EU scheitern. Dennoch versicherte der Kanzler: “Wir wollen ein europäisches Haus errichten, keine Festung.”
Ein weiterer Mißerfolg: wie zuvor schon Klaus Kinkel konnte auch Helmut Kohl das lange schon avisierte Investionsschutzabkommen nicht mit nach Hause bringen. Denn Bonn beharrt auf der Änderung einer Enteignungsklausel in der mexikanischen Verfassung und damit ist vor den Parlamentswahlen nächstes Jahr nicht zu rechnen.
Kohls erster Mexiko-Besuch seit dem Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft 1986 blieb im wesentlichen eine Werbetour für die Lateinamerika-Initiative der Bundesregierung und ihre Beteuerungen, zukünftig nicht mehr nur nach Osteuropa und Asien zu schielen, wenn es um wirtschaftliche Wachstrumsregionen geht. Die Chemie bei diesem Besuch jedoch stimmte. Bei der Grundsteinlegung für den Neubau der deutschen Schule in Puebla bereiteten hunderte Jungs und Mädels dem Kanzler einen euphorischen Empfang, führten folkloristische Tänze auf und sangen auf deutsch das Lied: Die Gedanken sind frei. Und Präsident Zedillo, ein ernster Mann, nahm sich ungewöhnlich viel Zeit für seinen Gast, traf sich insgesamt dreimal mit ihm. Im Volkswagen-Werk in Puebla zwängte er sich schließlich sogar gemeinsam mit ihm in einen handgearbeiteten Prototypen des Käfer-Nachfolgers New Beetle hinein. VW (mit 12 000 Beschäftigten größter deutscher Arbeitgeber in Mexiko) und Zulieferer wollen sich den Aufbau dieser Produktion insgesamt rund 1,5 Millarden DM kosten lassen. Das neue Auto soll nur in Mexiko gebaut und von hier aus in die ganze Welt exportiert werden. Bundeskanzler Kohl bezeichnete Mexikos Präsidenten bei einer Tischrede als ungewöhnlich offen und sympathisch, äußerte Bewunderung für die von ihm eingeschlagene Politik in den ersten 20 Monaten seiner Amtszeit. Zedillo hat Mexikos Wirtschaft in der schwersten Krisensituation seit über 60 Jahren übernommen und fährt seither einen harten Anpassungskurs mit hohen sozialen Kosten. Tags darauf, beim Frühstück mit deutschen und mexikanischen Unternehmern, mahnte Kohl, mehr auf den inneren Frieden im Lande zu achten. Der Abstand zwischen Arm und Reich im Land der Azteken ist so groß wie fast nirgendwo sonst. In der Forbes-Weltrangliste der US-Dollar-Milliardäre steht Mexiko auf Platz 5 – gleichzeitig aber leben hier 50 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Luten Peer Leinhos

Rettet die Weltbank den Regenwald?

Satellitenbilder der jüngsten Erhebung zeigen deutlich, daß in einem Zeitraum von zwei Jahren (von Mitte 1992 bis Mitte 1994) 14.896 km² Regenwald zerstört wurden. Dies bedeutet einen Anstieg von immerhin 34 Prozent gegenüber dem Zeitraum 1990-1991. Insgesamt sind inzwischen 469.978 km² Primärwald vernichtet worden, was etwa 12 Prozent des Waldbestandes der Region entspricht. Diese von dem brasilianischen Regierungsinstitut INPE gelieferten Zahlen sind die offiziellen Angaben der Regierung, die in der Vergangenheit oft erheblich unter den Daten anderer Institutionen lagen.
Die Zahlen schlugen ein wie eine Bombe, hatte die brasilianische Regierung doch versucht, eine gewisse Entwarnung zu geben. Die immensen Entwaldungsraten von über 20.000 km² pro Jahr in den siebziger und achtziger Jahren hatten sich Anfang der neunziger Jahre fast halbiert. Zwar liegen die neuen Zahlen immer noch erheblich unter den alten Spitzenwerten, aber es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß eine Tendenz zu Minderung der Entwaldung stabilisiert worden ist. Im Gegenteil, die Kritiker, die in den niedrigeren Zahlen von 1989 -1999 eher die Auswirkungen der Wirtschaftskrise sahen als eine Folge gezielter Politikbemühungen oder verbesserter Kontrollen, scheinen recht zu behalten.

Ungebremster Holzeinschlag

Ein vom brasilianischen Umweltministerium und der Weltbank herausgegebenes Papier zum Bonner Treffen zitiert die brasilianische Umweltbehörde IBAMA, die drei Hauptursachen in der erneuten Zunahme der Entwaldung sieht: den illegalen Holzeinschlag, die Ausweitung der Viehweiden und den Bau von Straßen. Dies ist eigentlich nichts Neues, allerdings hat sich in den letzten Jahren in Amazonien eine bedeutende und schwerwiegende Veränderung ergeben: Während vor noch etwa 10 Jahren die Auswirkungen des kommerziellen Holzeinschlages in der Region gering waren, hat sich dies bis heute drastisch geändert. Um es nur mit zwei Zahlen zu dokumentieren: Para, der wirtschaftlich bedeutendste Bundesstaat der Amazonasregion, exportierte 1988 Holz im Volumen von 492.000 Kubikmetern, 1992 waren es schon 922.500 Kubikmeter. In einem Zeitraum von 10 Jahren (1982-1992) hat sich das registrierte Volumen an eingeschlagenem Holz fast verdreifacht. Und selbst nach Regierungsangaben kommt nur ein zu vernachlässigender Anteil von weniger als 1 Prozent dieses Holzes aus nachhaltiger Nutzung.

Das Pilotprogramm – ein innovativer Ansatz in der Entwicklungspolitik?

Es fehlt also nicht an guten Gründen für konkrete Aktionen zum Schutz der brasilianischen Regenwälder. Das Pilotprogramm, das während des G-7 Treffens 1990 in Houston, auf die Initiative Kohls hin, ins Leben gerufen wurde, wird inzwischen als das größte internationale Programm für nachhaltige Entwicklung angepriesen. Es beeindruckt dabei weniger durch die Summe der Geldmittel, denn 250 Millionen US$ für das gesamte brasilianische Amazonasgebiet sind letztendlich eher bescheiden. Dafür steht hinter dem Pilotprogramm eine geballte politische Kraft: Die G-7 (+EG) und die Weltbank vereint können gegenüber der brasilianischen Regierung natürlich eine große Verhandlungsmacht in die Waagschale werfen. Die G-7 Staaten fungieren dabei als Geldgeber (die Bundesregierung steuert etwa 2/3 der Gesamtsumme bei), während die Weltbank koordiniert. Die administrative Struktur des Pilotprogramms ist hochkomplex. Es vereinigt eine multilaterale Finanzierung über einen Regenwaldfond, in den die Geberstaaten einzahlen, mit sogenannten bilateral-assoziierten Projekten. Den innovativen Charakter des Programms macht jedoch nicht dieser eher problematische Komplexitätszuwachs aus, sondern folgende Merkmale:
– Das Programm verfolgt einen policy-Ansatz. Das heißt, daß im Mittelpunkt nicht konkrete Projekte (die es durchaus gibt) stehen sondern die Beeinflussung und Umformulierung der Politiken, die zur Vernichtung der Wälder führen.
– Das Programm bekennt sich zum Ideal einer nachhaltigen Entwicklung und setzt konkret das Ziel, eine Reduzierung der Entwaldungsrate zu erreichen. Mit der Unterschrift zu dem Programm hat sich auch die brasilianische Regierung diesem Oberziel verpflichtet.
– Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen sind in das Programm einbezogen. Zwei Unterprogramme beziehen sich direkt auf wichtige soziale Gruppen des Regenwaldes: das Programm zur Demarkierung von Indianergebieten und das Programm für die Einrichtung von Sammelreserven für Kautschukzapfer.
– Etwa 12 Prozent der Gesamtmittel sollen direkt an NGOs fließen, in sogenannte Demonstrativprojekte. In den anderen, den sogenannten strukturellen Programmen geht es zum Beispiel um die Stärkung der Landesumweltbehörden, um die Förderung von Forschungszentren und die Einrichtung von Naturparks. Bisher hat sich die Umsetzung dieser einzelnen Programmteile schwerfällig angelassen, aber in diesem Jahr ist der Mittelfluß doch einigermaßen in Gang gekommen.

Grenzen des Pilotprogramms

Entscheidendes Merkmal des Pilotprogramms soll die Einbeziehung der “Zivilgesellschaft” in Ausarbeitung und Umsetzung der einzelnen Programmteile sein. Die GTA (Grupo de Trabalho Amazônico, Arbeitsgruppe Amazonien), ein Zusammenschluß von NGOs, wurde eigens gegründet um die Begleitung des Pilotprogramms zu garantieren und umfaßt inzwischen über 300 Organisationen, von größeren Dachverbänden bis hin zu Basisgruppen. Und so waren in Bonn auch die NGOs vertreten. Die GTA durften drei Repräsentanten schicken: einen Vertreter der Kautschukzapfer, einen Indio (des Dachverbandes COIAB) und einen Vertreter der Organisation der traditionellen Fischer. Deutsche (Urgewald, Kobra) und internationale NGOs (WWF, Friends of the Earth) waren mit vier Personen vertreten. Angesichts der über 50 Regierungsvertreter, Unternehmer und Berater von internationalen Entwicklungsagenturen war die Präsenz von sieben Exemplaren der “Zivilgesellschaft” doch eher bescheiden. Aber immerhin hatten sowohl die deutschen wie auch die internationalen und brasilianischen NGOs (ein joint-venture von Friends of the Earth und GTA) Dokumente zum Stand des Pilotprogramms erarbeitet.
Bei beiden Dokumenten fällt zunächst auf, daß die Kritik an dem Pilotprogramm eher vorsichtig formuliert ist und von einer Zustimmung zu den Grundideen des Programms ausgeht. Tatsächlich sieht das Pilotprogramm vor, die Forderungen der indianischen Völker und der Kautschukzapfer umsetzen. Es geht also eher um die Garantie der Umsetzung, als darum grundsätzliche Kritik zu üben. Jenseits von Detaildiskussionen über einzelne Subprogramme ergibt sich die zentrale Fragestellung, ob das Pilotprogramm tatsächlich seinem policy-Ansatz gerecht werden kann.
Beide Dokumente stellen fest, daß die Realität von einer Kohärenz des Pilotprogramms mit anderen politischen und ökonomischen Interventionen in Amazonien weit entfernt ist. So hat die brasilianische Regierung mit dem Erlaß des Dekrets 1775 die Überprüfung aller Demarkierungen von Indianergebieten zugelassen und damit große Unsicherheit und Proteste provoziert. Zwar haben die zuständigen Behörden inzwischen fast alle Einsprüche zurückgewiesen, doch die rechtlich Lage von immerhin acht Indianergebieten (zwei davon fallen unter das Pilotprogramm) bleibt vorerst ungeklärt.

Letztendlich Erschließungspolitik

Ein großer Entwicklungplan (Brasil em Acçâo) von der Regierung FHC im August diese Jahres lanciert, sieht Investitionen im Infrastukturbereich von 54 Milliarden US$ bis 1998 vor. Von den insgesamt 42 Projekten entfallen sechs mit einem Volumen von 2.3 Millarden auf die Amazonasregion. Die Mittel sind dabei ausschließlich für Projekte der allertraditionellsten Art vorgesehen: Ausbau von Wasserstraßen, Bundesstraßen und der Energieversorgung. Amazonaspolitik wird so immer noch als Erschließungspolitik verstanden.
Die Infrastrukturprojekte im Regierungsprogramm bestätigen die Wahl von Integrationsachsen als regionale Entwikklungsstrategie. Auch die Sprache dieser Pläne betont das nachhaltige Wachstum in Gegensatz zu einer nachhaltigen Entwicklung (GTA /Friends of the Earth).

Mehr Macht für die Weltbank dank NGOs?

So fällt die Schlußfolgerung nicht schwer, daß das Pilotprogramm bisher nicht zu einem Schlüssel für ein grundsätzliche Umorientierung der brasilianischen Amazonaspolitik geworden ist. Eine andere Kritik findet zumindest Eingang in das Dokument der GTA und Friends of the Earth: Das Pilotprogramm behandelt Amazonien als großen Wald und reduziert damit eine komplexe soziale Realität auf eines ihrer (allerdings zentralen) Elemente. Damit bekommt das Programm einen starken naturschützerischen Akzent, der nur noch die sozialen Gruppen einschließt (indigene Völker und traditionelle Sammler), die vermeintlich leicht an Schutzkonzepte anzukoppeln sind. Weitgehend ausgegrenzt bleiben dabei die KleinbäuerInnen, die mit Abstand größte Gruppe auf dem Land. Ausgeblendet wird auch, daß in Amazonien, im Gegensatz zu allen Klisches, inzwischen fast 60 Prozent der Bevölkerung in Städten lebt.
Alle diese Kritiken gehen davon aus, daß das Pilotprogramm eher unzureichend als falsch ist. Tatsächlich hat das Pilotprogramm durch die Einbeziehung von Kautschukzapfern, Indios und zahlreichen NGOs einen Grad von Legitimität erreicht, der von außen schwer zu kritisieren ist. Und offensichtlich haben die beteiligten brasilianischen Gruppen wenig grundsätzliche Einwände hervorzubringen. Allerdings bleibt bis heute die Frage unbeantwortet, ob die Beteiligung der Zivilgesellschaft ein Programm legitimiert, das diese letztendlich nicht oder nur marginal beeinflussen kann, oder ob hier im Umfeld der internationalen Kooperation neue Handlungsspielräume eröffnet werden können, die tatsächlich Positionen stärken, die der Regenwaldvernichtung und der damit verbundenen Marginalisierung der traditionellen Bevölkerung Einhalt gebieten kann.
Bei aller Kritik im Einzelnen sehen die beteiligten brasilianischen Gruppen im Pilotprogramm doch einen Ansatz, der erfolgversprechend ist und dessen Umsetzung ernsthaft versucht werden sollte. Das Pilotprogramm steht dabei nicht allein, sondern auch andere Programme, die durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwikklungsbank koordiniert werden, haben inzwischen die Beteiligung auf ihre Fahnen geschrieben. Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit NGOs dazu dienen, über eine fragmentierte Beteiligung an spezifischen Projekten, bei denen sich dann oft noch Beteiligung mit dem Empfang von Geldmitteln verknüpft, den internationalen Banken über ihre Legitimationskrise hinwegzuhelfen. Der Weltbank kann jedenfalls ein Unternehmen wie das Pilotprogramm, zu dem sie noch dazu keinen Pfennig beigesteuert hat, nur hochwillkommen sein, um ihre Öffnung hin zu Umweltbelangen zu demonstrieren.
Im Falle des Pilotprogramms gibt es aber noch einen besonderen Aspekt zu beachten. Sein Entstehen ist zum einen sicherlich eine Konsequenz der Kritik an zerstörerischen Projekten der internationalen Kooperation in Amazonien, zum anderen aber auch Ausdruck von Tendenzen, bestimmte Probleme als globale Aufgaben zu definieren. Das Pilotprogramm selbst nimmt in seiner offiziellen Begründung ausdrücklich auf zwei globale Aspekte der Regenwaldzerstörung Bezug: den Beitrag des Abbrennens des Regenwaldes zu den Kohlendioxyd Emissionen und die Verminderung der Artenvielfalt. Auch das bereits zitierte Papier von Weltbank und brasilianischem Umweltministerium stellt fest, daß die nachhaltige Entwicklung der Ökosysteme der tropischen Regenwälder Brasiliens eine globale Herausforderung ist.
Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal, daß Brasilien internationale Mittel bereitgestellt werden müßten, um Aufgaben zu lösen, die globale Aspekte beinhalten. Zum anderen aber bedeutet es auch, daß Definitionsmacht neu verteilt wird, weg von nationalen hin zu internationalen Instanzen. Für NGOs und soziale Bewegungen, die durch nationale Instanzen drangsaliert oder auch brutal unterdrückt werden, kann dies zunächst durchaus attraktiv erscheinen. Aber ist es dies auch auf lange Sicht? Oder laufen NGOs da nicht Gefahr, zum Spielball von Interessen zu werden, die sie gar nicht mehr kontrollieren können?
Nur scheint es, daß dies eher eine Frage langfristiger Perspektiven ist. Die angeführte Kritik, daß das Pilotprogramm bisher seinem policy-Ansatz nicht gerecht wird, weist eher in eine andere Richtung: Nicht daß die Weltbank enorme Definitionsmacht in Amazonien gewinnt, sondern daß es – trotz Weltbank und G-7 – ein marginales Programm bleibt. Dann wäre also weniger ein neues hegemoniales Projekt zu fürchten als (postmoderne) Beliebigkeit nach dem Modell des Supermarktes: Der ist zwar bei weitem kein ökologisches Projekt, bietet aber doch auch inzwischen Ökowaschpulver und Müsli aus biologisch-organischem Anbau an. Das Pilotprogramm diene dann wohl der Befriedigung der Umwelt-, Regenwald- und Indianerlobby, die sich zwar lautstark artikuliert, aber auf lange Sicht doch immer marginal geblieben ist.
Das Bonner Treffen jedenfalls belegt eher die Marginalitätsthese. Die brasilianische Seite (Regierung wie NGOs) hatte offensichtlich gehofft, daß in Bonn eine zweite Phase des Pilotprogramms eingeläutet werden könnte, bei der dann eine ursprünglich in Aussicht gestellte Milliardensumme ins Spiel käme. Stattdesen bekräftigten lediglich Deutschland und die EU die Außsicht auf eine zweite Phase. Und die Bundesregierung zog es vor, statt eine bereits angekündigte Aufstockung der Gelder für die NGO-Projekte zu ratifizieren, auf eine gleichere Verteilung der Finanzierungslasten unter den Geberländern zu pochen. Auch hier ließ anscheinend Waigel grüssen.

KASTEN:
Die Jahrestagung des Pilotprogramms fand in diesem Jahr vom 9. bis 12. September in Bonn statt. Um Einfluß auf diese Konferenz und den entsprechenden politischen Prozeß zu nehmen wurde von deutschen NGOs eine öffentliche Erlärung zum Pilotprogramm und der Politik, in die es eingebunden ist, abgegeben. Auch die LN schloß sich dieser Erklärung an.
Aus der Erklärung deutscher NGOs zur Teilnehmerkonferenz des Pilotprogramms:
(…)Wenn die G7 und andere Industrieländer über Sachstand und Perspektiven des “Pilotprogramms zur Bewahrung der Tropenwälder in Brasilien” beraten, können sie ihre Verantwortung für die Folgen ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen nicht ignorieren. Für den Erfolg ist nicht nur die Kohärenz der brasilianischen Politik erforderlich, sondern auch die Kohärenz der Außenwirtschaftspolitik der Industrieländer mit den Zielen des Pilotprogramms. Über sechs Jahre nach seiner Initiierung besteht die Herausforderung an die Industrieländer darin, ihre außenwirtschaftliche Verantwortung anzuerkennen und praktische Schritte zu unternehmen, um Ziele des Pilotprogramms durch das Handeln aller relevanten Ressorts zu unterstützen.
Zur Teilnehmertagung 1996 stellt sich dementsprechend eine Reihe aktueller Herausforderungen an die Träger des Programms:
– Die Teilnehmer sollen den dringendsten sozialen und ökologischen Anliegen, darunter an erster Stelle der Schutz der indigenen Völker, in der Programmdurchführung einen höheren Stellenwert geben und diese zu einem beschleunigten Abschluß bringen.
– Die Teilnehmer sollen die politischen, finanziellen und zeitlichen Aktivitäten auf die öko-sozialen Kernpunkte dieses Programms konzentrieren, damit es den Charakter eines echten Pilotprogramms gewinnt.
– Die Industrieländer sollen eine praxisorientierte Überprüfung ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen mit dem Ziel auf den Weg bringen, die dem Pilotprogramm entgegenwirkende Einflüsse zu korrigieren und solche Außenbeziehungen zu unterstützen, die den Zielen des Pilotprogramms förderlich sind.
– Nach der langen Stagnation in ihrer Indianerpolitik soll die brasilianische Regierung die Demarkierung und den nachhaltigen Schutz der Indianergebiete zügig voranbringen und die juristischen und politischen Rahmenbedingungen entsprechend den Forderungen der betroffenen Indianer gestalten. Zudem soll die brasilianische Regierung weitere deutliche Schritte in Richtung auf Tropenwaldschutz und fort von riskanten Erschließungsstrategien unternehmen.
Der Bedrohung der brasilianischen Tropenwälder kann nur mit einem strategischen, kohärenten Entwurf begegnet werden, der die hier skizzierten Elemente integriert. In dem Maße, wie die Teilnehmer des Programms entsprechende Schritte unternehmen, kann das Pilotprogramm zu einem wichtigen Beitrag für eine zukunftsfähige Entwicklung werden.

Der Rock, der aus dem Barrio kommt

Es ist ihre erste Auslandstournee überhaupt. Allerdings waren LOS MOJARROS bisher im eigenen Land überaus beschäftigt: Erst 1992 hatten sie ihr erstes Konzert, und schon ein Jahr später wurden sie eingeladen, die Musik für den Film “Anda, corre, vuele…” (Geh, lauf, flieg…) zu produzieren. Seither können sie über mangelnde Popularität nicht klagen. 1994 und 1995 machten sie die Musik für zwei beliebten Fernsehserien, und ihre CDs und Videos stehen in den Hitlisten weit oben.
Damit scheint zu gelingen, was LOS MOJARROS sich vorgenommen haben. Denn bisher war Rock in Peru eher eine Sache für Reiche, nichts für die Leute “aus dem Viertel”. In ihrer Musik wollen sie diesen Riß zwischen “weißem” Rock und der populären Musik, die eher von Mestizen und Indígenas gehört wird, kitten – es ist ein Riß, den sie als Mestizen am eigenen Leibe erfahren. Die Traditionen ihrer Vorfahren gehören genauso zu ihnen wie die Kultur der Großstadt. Um die alltäglichen Erfahrungen der Zerrissenheit geht es in ihren Texten, und aus der Musik kann man das heraushören. Sie sind auf der Suche nach einem lebenswerten Leben, natürlich nach Liebe, und nach soetwas wie Identität der jungen PeruanerInnen.
Ihre Musik bezeichnen sie selbst als mestizisch. Populäre Rhythmen wie Chicha, Huayno, Salsa und Vals werden aufgegriffen und mit frischem, druckvollem Rock gemischt. Dieses Konzept scheint anzukommen, denn es entspricht der Lebenswirklichkeit von Tausenden, die aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen sind – ebenso wie die Vorfahren der Band-Mitglieder. Sie wissen also, wovon sie reden. “Das Gute an LOS MOJARROS ist, daß wir die breite Masse verstehen, ohne darüber nachdenken zu müsen, weil wir Teil von ihr sind”, so Hernán Condori, Chef der Gruppe.
Auf ihrer Tournee durch Deutschland stellen sie ihre neue CD vor: “Opera salvaje para tribus urbanos”, Wilde Oper für Stadtvölker. 1997 geht es dann weiter mit einer Rockoper, die unter anderem beim Festival des lateinamerikanischen Theaters “Theater Adelante” in den USA gespielt werden soll.
Übrigens: Der Film “Anda, corre, vuele…” ist eine Koproduktion mit dem ZDF. Die deutsche Fassung hat den Titel “Gregorio und Juliana” und wird parallel zur Tournee in 19 deutschen Städten gezeigt.
P.S.: Es ist bedauerlich, daß die Tournee nicht auch irgendwo in Neufünfland Station macht. Sei es, daß das am mangelnden Engagement der Organisatoren oder an fehlender Bereitschaft der Kulturleute vor Ort liegt – Interesse an lateinamerikanischem Rock besteht nicht nur in Tübingen, Hamburg & Co.

Kommt mit Arzú der Frieden?

Eigentlich schien nach dem ersten Wahlgang am 12. November die Sache klar zu sein: Alvaro Arzú von der Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) verfehlte zwar mit 36 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit, der Abstand zu seinem schärfsten Konkurrenten war aber mit über 14 Prozent ausreichend groß, so daß er beruhigt der notwendig gewordenen Stichwahl gegen Alfonso Portillo der Republikanischen Front Guatemalas (FRG), der Partei des ehemaligen Putschgenerals Efraín Ríos Montt, entgegensehen konnte. Wenige Wochen vor dem zweiten Wahlgang mehrten sich jedoch die Anzeichen, daß es vielleicht noch einmal spannend werden könnte. Arzú konnte sich schließlich nur mit einem knappen Vorsprung von 31.950 Stimmen ins Ziel retten. Sein Wahlsieg stützte sich dabei fast ausschließlich auf eine deutliche Mehrheit in Guatemala-Stadt. Dort erhielt er mit 65,23 Prozent über 130.000 Stimmen mehr als Portillo (34,77 Prozent). Dagegen konnte sich Arzú im Inneren des Landes nur in drei Departamentos durchsetzen (El Progreso, Petén und Jalapa). In allen anderen 18 Departamentos gewann Portillo, zum Teil mit klarem Abstand. Insgesamt vereinte der Kandidat der FRG in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt 55,68 Prozent der Stimmen auf sich. An der Südküste und besonders in den indianisch geprägten Regionen konnte der weiße Städter Arzú kein Bein auf den Boden bekommen, zu eng ist er mit den Interessen der wirtschaftlich Mächtigen verbunden und wird mit ihnen auch identifiziert, und zu weit ist er von den Problemen des Lebensalltags auf dem Land entfernt. In Guatemala-Stadt kehrt sich dieses Bild um: Arzú genießt dort durchaus gutes Ansehen, das sich vor allem aus seiner Zeit als Bürgermeister der Hauptstadt von 1986 – 1990 nährt, als er gezielt und mit gewissem Erfolg versuchte, die Stadtverwaltung effizienter zu gestalten und gegen die schlimmsten Auswüchse der Korruption vorzugehen.
Ähnlich wie nach dem ersten Wahlgang bemühten sich die offiziellen internationalen WahlbeobachterInnen, den sauberen Ablauf der Wahlen zu bestätigen. Diesmal war am technischen Ablauf des Wahlvorganges auch wirklich wenig auszusetzen, hielt doch selbst das nationale Stromnetz im Gegensatz zum ersten Wahlgang den Belastungen der Stimmenauswertung sowie fallenden Bäumen und Ästen stand. So waren dann in der Wahlnacht auch viele Stimmen zu hören, die diese Wahlen als einen Meilenstein in der Demokratisierung des Landes sahen. Löst man sich aber von einer rein technischen Betrachtung des Wahlvorganges und wertet die Wahlen als Gradmesser für das Vertrauen, das die Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen und der politischen Entwicklung des Landes entgegenbringt, so muß insbesondere der zweite Wahlgang als Debakel bezeichnet werden. Im ersten Wahlgang brachte zumindest die FDNG (Frente Democratico Nuevo Guatemala) frischen Wind: Sie konnte mit einem unerwartet guten Ergebnis überraschen und mit 6 Abgeordneten in den Kongreß einziehen. Dieser Achtungserfolg einer oppositionellen Kraft konnte aber nur kurze Zeit über das Mißtrauen hinwegtäuschen, das die große Mehrheit der guatemaltekischen Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen des Landes entgegenbringt. Im zweiten Wahlgang war mit 63,12 Prozent die höchste Wahlenthaltungsquote bei Präsidentschaftswahlen seit 1985 zu verzeichnen.

Die ersten Schritte

In der Woche vor seinem Amtsantritt am 14. Januar verkündete Arzú, daß er für seine persönliche Sicherheit nicht den eigentlich zuständigen Generalstab des Präsidialamtes (EMP) in Anspruch nehmen werde, sondern einen privaten israelischen Sicherheitsdienst, der schon seit längerem für ihn arbeitet. Ferner gab er bekannt, er und seine Familie würden nicht in der offiziellen Residenz wohnen. Allgemein wurden diese Äußerungen als ein Versuch gewertet, sich der Kontrolle des Militärs, das den EMP stellt, zu entziehen. Nach heftiger Kritik von seiten führender Militärs, die es als eine “Schande” bezeichneten, wenn Ausländer für die Sicherheit des Präsidenten zuständig seien, nahm Arzú seine Ankündigung zurück. Er blieb jedoch dabei, nicht in die Residenz des Präsidenten einzuziehen, da seine Familie zu groß sei. Auch Ex-Präsident De León Carpio hatte zu Beginn seiner Amtszeit versucht, sich der Kontrolle des Militärs zu entziehen und nicht im Präsidentenpalast zu wohnen. Letztlich mußte er jedoch dem Druck des Militärs nachgeben. Arzú scheint widerstandsfähiger zu sein. Nicht nur durch diesen mehr als symbolischen Akt versucht er, sich dem Einfluß der Militärs zu entziehen. Einige Wochen nach seiner Amtsübernahme wurden ca. 50 hohe Armeeoffiziere entlassen beziehungsweise suspendiert, bei einer Hausdurchsuchung im Privathaus des Militärkomandeurs des Quiché wurden Utensilien zur Kokainherstellung sichergestellt. Diese Maßnahmen spiegeln die Bemühungen Arzús und seiner Militärführung wieder, seine Macht gegenüber ultra-konservativen Militärs, den sogenannten Hardlinern, durchzusetzen.
In seiner Antrittsrede definierte Arzú die wichtigsten Handlungslinien seiner Regierung: Neben einem möglichst schnellen Abschluß der Friedensverhandlungen mit der Guerilla kündigte er Reformen zur Dezentralisierung kommunaler Regierungsstrukturen sowie zur Umgestaltung der Sicherheitskräfte an. Ferner sagte er der Diskriminierung der Indígenas und der Frauen, den Privilegien bestimmter Gesellschaftsgruppen, der Armut sowie der Straffreiheit den Kampf an. Zudem versprach er ein 180-Tage-Programm zur Bekämpfung der Kriminalität. Der neue Innenminister Rodolfo Mendoza legte noch in derselben Woche der Öffentlichkeit Pläne zur Vereinheitlichung der zivilen Sicherheitskräfte vor. Danach sollen die Nationalpolizei, die Zollpolizei und die Gefängnispolizei nach dem Vorbild der spanischen “Guardia Civil” zusammengefaßt sowie die Mobile Militärpolizei (PMA) in die zivilen Sicherheitskräfte integriert werden. Die spanische Regierung und die Europäische Gemeinschaft haben Unterstützung zugesagt und Mitte April sind die ersten spanischen Spezialisten im Land eingetroffen.
Aufschlußreich ist ein Blick auf die Personalentscheidungen. In sein Kabinett hat Arzú Repräsentanten der ihn stützenden Machtsektoren berufen. “Verteidigungsminister” Balconi ist Teil des reformbereiten, sogenannten “Institutionalisten-Flügels” innerhalb des Militärs, Landwirtschaftsminister Luis Reyes Mayén ist einer der führenden Köpfe des Zusammenschlusses von alteingesessenen Großgrundbesitzern UNAGRO, Arzú selbst, mit seinen engen Verbindungen zu den Zuckerfinqueros, repräsentiert die Interessen derer, die sich ihre Chancen am Weltmarkt ausrechnen. Zudem hat er mit Peter Lamport einen Botschafter nach Washington entsandt, der wie alle anderen genannten – außer Balconi – dem mächtigen Unternehmerverband CACIF angehört und dessen Agrarexportinteressen in den USA vertreten wird, in die nach wie vor mehr als 70 Prozent der Exporte Guatemalas gehen. Mit der direkten Vertretung verschiedener Interessengruppen dürfte Arzú zwei Ziele verfolgen: Zum einen kann er sich so der Unterstützung der unterschiedlichen Machtgruppen gerade bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen versichern, zum anderen verschafft er sich einen starken Rückhalt bei seinen Bemühungen, die Militär-Hardliner in ihrer Macht zu beschneiden.

Volksbewegung im Kongreß

Mittlerweile hat auch die Frente Democrático Nueva Guatemala (FDNG) die ersten drei Monate Parlamentsarbeit hinter sich. Mit den sechs Abgeordneten der FDNG, einem Bündnis von Gewerkschaften, Indígenaorganisationen, Menschenrechtsgruppen u.a. sind erstmals RepräsentantInnen der Volksbewegung im Kongreß. Die Frente-Abgeordneten müssen sich in der neuen, ungewohnten Umgebung erst noch einarbeiten. Es ist aber bereits abzusehen, daß die FDNG sich in Richtung einer konstruktiven Oppositionsarbeit orientiert. Die Abgeordneten versuchen, eher über Verhandlungen mit der Regierung als über konfrontative Fundamentalopposition vorhandene politische Spielräume zu erweitern. Inwiefern diese Strategie angesichts der absoluten Kongreßmehrheit der PAN Erfolg haben kann, bleibt jedoch abzuwarten.

Der Anfang vom Kriegsende

Nach wie vor ist die FDNG aber auch noch damit konfrontiert, daß sie in der Öffentlichkeit gedrängt wird, ihr Verhältnis zur URNG zu klären. In der Presse wird immer wieder gemutmaßt, die Frente sei nur eine Filiale der URNG – was für die AktivistInnen eine große Gefährdung darstellt, da dies trotz politischer Öffnung des Landes massive Repressalien nach sich zieht. Die Äußerungen von URNG und FDNG tragen zur weiteren Konfusion bei: Während aus der URNG immer mal wieder verlautet, die FDNG sei in irgendeiner Weise “ihr” Parteiprojekt, dementiert diese solche Äußerungen umgehend. Eine Klärung muß wohl auf die Zeit nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages verschoben werden, wenn die URNG sich in das zivile politische Leben des Landes integrieren wird.
Und dieser Zeitpunkt scheint gar nicht so fern zu sein – auch wenn mit solchen Einschätzungen sehr vorsichtig umzugehen ist, denn seit Jahren wird dieser Satz wiederholt. Einen Monat nach Amtsantritt benannte Arzú die Mitglieder der Verhandlungskommission der Regierung (COPAZ). Zum Chefunterhändler bestimmte er seinen Wahlkampfleiter und persönlichen Sekretär Gustavo Porras Castejón, der den Ruf eines fortschrittlichen Intellektuellen genießt. Des weiteren arbeiten Richard Aitkenhead, Wirtschaftsminister zu Beginn der Regierungszeit Jorge Serranos, und Raquel Zelaya, Direktorin des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung ASIES, das u.a. enge Kontakte zu der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterhält, in COPAZ mit. Gleichzeitig wurde sowohl von Regierungsseite als auch von der URNG bekanntgegeben, daß es seit Anfang Dezember bereits insgesamt fünf vertrauliche Treffen zwischen Kommandanten der URNG und Alvaro Arzú bzw. mit dessen politischen Vertrauten gegeben habe. Und seit Ende Februar wird auch wieder auf offizieller Ebene mit Volldampf verhandelt. Zwar gab es noch kein neues Abkommen zwischen Regierung und URNG – seit über einem Jahr wird das Thema “Sozioökonomische Aspekte und Agrarsituation” diskutiert -, aber dennoch wurde schon der Anfang vom Ende des Krieges konkretisiert. Am 19. März gab die Guerillaführung die vorläufige Einstellung aller Offensivaktionen ihrer Einheiten bekannt. Zwei Tage später reiste Arzú öffentlichkeitswirksam in den Ixcán, eine der Konfliktzonen im Nordwesten Guatemalas, um den dort versammelten Militärkommandanten, stellvertretend für die gesamte Armee, den Befehl zu geben, alle Aktionen gegen die Guerilla auszusetzen. Am 23. März fügte Arzú hinzu, die Regierung sei bereit, Propagandaaktionen der URNG zu erlauben, sofern sie friedlich und ohne Risiko für die Bevölkerung durchgeführt würden. Allgemein wurde diese Entwicklung als ein großer Fortschritt auf dem Weg zum Frieden gefeiert. Noch stehen allerdings fünf Teilabkommen zu verschiedenen Themen aus, unter denen beispielsweise auch solch komplexe Probleme wie die zukünftige Rolle des Militärs und Amnestiebedingungen sind.

Hartes Durchgreifen gegen Landbesetzungen

Und erst einmal geht es noch um das Abkommen zum Wirtschaftsthema, das nicht nur ein Punkt auf der Agenda ist, wie die vielen Landbestzungen in letzter Zeit zeigen. So waren im Februar letzten Jahres insgesamt 124 Fincas von organisierten Campesinos/as besetzt. Einige dieser Besetzungen dauern nach wie vor an, bei anderen wurden die BesetzerInnen von der Polizei vertrieben. Auch in den letzten Monaten haben Campesinas/os, die in der Nationalen Koordination der Indígenas und Campesinas/os CONIC organisiert sind, immer wieder Fincas besetzt, um ihre Forderungen nach würdigen Lebensbedingungen durchzusetzen. Gerade im nordwestlichen Hochland erfahren sie dabei auch Unterstützung seitens der katholischen Kirche. Die Regierung Arzú hat in den Landkonflikten, im Gegensatz zu ihrer ansonsten recht liberal wirkenden Politik, klar Farbe bekannt. Vizepräsident Flores Asturias erklärte, die Regierung werde künftig weder Besetzungen von Land noch von sonstigem Privateigentum hinnehmen und rekurrierte dabei auf die Einhaltung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Die Mission der Vereinten Nationen in Guatemala (MINUGUA) bat er um Begleitung bei Landräumungen, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern.
Am 17. April marschierten etwa 150 Polizisten einer Schnellen Eingreiftruppe (FRI) in der Nähe der Finca El Tablero/Departamento San Marcos auf, um die dortige Besetzung durch mehrere hundert Campesinos/as zu beenden. Bei dem Räumungsversuch, der letztlich am Widerstand der BesetzerInnen scheiterte, wurden mindestens drei Besetzer durch Schüsse verletzt, einer starb einige Tage später an seinen schweren inneren Verletzungen. Daß bei den Auseinandersetzungen auch ein Polizist getötet wurde, hat zu einem entsetzten Aufschrei in der guatemaltekischen Presse geführt. Alvaro Arzú kündigte an, gegen die “Wildheit” der LandbesetzerInnen nun erst recht mit “harter Hand” durchzugreifen. Aus Regierungskreisen verlautete, man werde die Räumung von Landbesetzungen in Zukunft forcieren.
Nach Meinung der FDNG sind die Verantwortlichen für die Eskalation der Landkonflikte unter denen zu suchen, die einer Lösung der grundlegenden Probleme wie der Landverteilung, der hohen Arbeitslosigkeit und der großen Armut der Landbevölkerung entgegenstehen.
Auch wenn, wie aus verschiedenen Quellen verlautet, dieses Jahr noch ein abschließender Friedensvertrag unterzeichnet wird, so fehlt dann noch dessen Umsetzung. Die Erfahrungen El Salvadors haben die Probleme dabei überdeutlich gemacht. Arzú könnte als der Präsident in die Geschichte Guatemalas eingehen, in dessen Amtszeit der Frieden “ausbricht”. Bisher hat er viel Wert auf sein liberales Image gelegt. In der Landfrage ist allerdings von seiner sonst so hochgepriesenen Dialogbereitschaft nichts zu spüren. Langsam aber sicher bröckelt sein Image.

Dunkle Wolken über Chiapas

Am 20. April 1995 sollte der Friedensdialog zwischen der me­xikanischen Regierung und den Zapatisten in dem in den Hö­hen von Chiapas gelegenen Ort San Andrés Larráinzar be­ginnen. So war es elf Tage zuvor bei den ersten Sondierungsge­sprächen in San Miguel, Land­kreis Oco­singo, vereinbart wor­den. An der Sturheit der Regie­rung drohte der Dialog jedoch schon vor Be­ginn der Gespräche zu scheitern.
Daher waren am Nachmittag des 19. April 95 die Vorbereitun­gen in dem rund eine halbe Au­tostunde von San Cristóbal de las Casas entfernten Städtchen abge­schlossen. Auf dem Basketball­platz war für das Zusammentref­fen zwischen den zapatistischen Delegierten und den Abgesand­ten der Regierung eine Baracke errichtet worden, so wie es zuvor hunderte von Delegierten der 46 Gemeinden dieses Landkreises beschlossen hatten.
Da die Regierung den Dialog nicht in Mexiko-Stadt stattfinden lassen wollte, brachen Staats­vertreter und Presse auf in das Land der Tzotzil-IndianerInnen, der Fledermaus-Menschen, wie sie sich selbst nennen.
Der Dialog : Das Volk wird ausgesperrt
Tausende Indígena-Familien erreichten am Nachmittag des 19.April das Ortszentrum, um bei dem für ihre Zukunft so wichtigen Ereignis dabei zu sein. Gekleidet in ihre traditionellen Trachten und mit pro-zapatisti­schen Spruchbändern säumten sie die Straßen und bereiteten den in der Nacht eintreffenden Comandantes der EZLN Tacho, David, Zebedeo, Guillermo, Ra­món, Moisés und Galindo einen würdigen Empfang.
Das Tagungsgebäude befand sich unter dem Schutz einer drei­fachen Menschenkette. Den er­sten Ring bildeten örtliche Tzot­ziles, den zweiten Mitglieder verschiedener Nichtregierungs­organisationen und den dritten unbewaffnete Polizei-Einheiten.
Doch gerade die unbewaffne­ten und zum Großteil barfüßigen Indígenas dienten Sprechern der Armee, die sich mit tausenden Soldaten und schwerster Be­waff­nung in unmittelbarer Um­gebung verschanzt hielt, zum Anlaß, den Dialog wegen “fehlender Si­cherheit für die Re­gie­rungsvertreter” aufzuschie­ben.
Die Regierung begann in der staatlich kontrollierten Presse mit einer Kampagne, und die EZLN und die Vermittlerorgani­sation CONAI durch “Nicht­erfüllung der Sicherheits­ga­ran­tien” für das Scheitern der Ge­spräche verantwortlich zu ma­chen. Die Repräsentanten der EZLN äußerten sich dazu fol­gen­dermaßen: “Die hier ver­sam­mel­ten 7.000 Indígenas sind nicht ge­kommen, um den Dialog zu stö­ren, sondern um sich mit der Suche nach einem Frieden in Würde und Gerechtigkeit, etwas, das sie nie kennengelernt haben, zu solidarisieren “. Nach vielen Beratungen der Tzotziles-Ver­tre­ter mit CONAI und EZLN ver­ließen die Familien den Ort, in dem nun ohne sie über ihre Zu-kunft verhandelt werden sollte. In tiefer Nacht, bei strö­mendem Regen und beißender Kälte, zo-gen die Menschen ihren Gemein­den entgegen, desillusio­niert von einer Regierung, die erneut ihren Rassismus unter Beweis gestellt hat und diejeni­gen ausschließt, die sie nicht versteht, nie ver­standen hat, nicht verstehen will und lediglich als Propagandamit­tel mißbraucht, eben wie immer.

Natürlich war der gesamte Dialogverlauf durch die Bedin­gungen geprägt, die die mexika­nische Regierung durch die Ver­treibung der Indígenas geschaf­fen hatte. Selbst die Menschen­kette der Tzotziles war ver­schwunden und somit die zapati­stische Delegation mehr oder
weniger schutzlos eventuellen Angriffen der Regierungstruppen ausgesetzt. Dazu Comandante David: “Uns ist es nicht wichtig, ob wir von Militärs umstellt sind und Gewehrläufe und Panzer auf uns gerichtet sind. Wenn die In­dígenas uns auffordern an die­sem Ort den Dialog mit der Re­gierung zu führen, dann tun wir das. Aber uns überrascht, daß sich Männer und Frauen, die mit dem Wunsch nach einem ge­rech­ten und würdigen Frieden ge­kommen sind, zurückziehen müssen, um den Dialog zu er­möglichen”
Die Arroganz der Macht
Diejenigen, die sich irgend­welche Hoffnungen auf Fort­schritte gemacht hatten, wurden bitter enttäuscht. Auf die Vor­schläge der EZLN ging die Re­gierungsseite unter dem Vorsitz von Marco Bernal Gutiérrez nicht ein, ganz im Gegenteil. Die Regierungsvertreter, die Coman­dante Tacho nach Beendigung des Dialogs als Rassisten be­zeichnete, wollten den Delegier­ten der EZLN eine Totalkapitu­la­tion befehlen. Die EZLN solle sich in drei verschiedenen La­gern zur Entwaffnung einfinden, wo sie Nahrungsmittel und ärzt­liche Betreuung erhalten würden. Im Gegenzug würde die mexika­nische Armee ihre Präsenz redu­zieren. Über einen von der EZLN geforderten Rückzug der Besatzungstruppen aus der Selva Lacandona auf die Positionen vom 8. Februar 95 wurde nicht geredet. Ohne konkrete Ergeb­nisse wurde der Dialog am 22. April beendet, jedoch eine Fort­führung der Gespräche für den 12. Mai angesetzt. Die EZLN hatte diese 20-Tage-Frist erbe­ten, um die indianischen Völker von Chiapas über die Vorschläge der Regierung, die die Co­mandantes als Witz (burla) bezeichneten, beraten zu lassen.
Die Art und Weise, in der die Regierung bei dem Dialog autrat, geben zu Befürchtungen Anlaß, da es Präsident Ernesto Zedillo nicht an einer Lösung gelegen ist. Es wird nach Möglichkeiten gesucht, die EZLN für das Schei­tern der Gespräche verant­wort­lich zu machen, um einen mili­tä­rischen Vernichtungs­schlag durch­führen zu können.

Walter Reuter: Deutschland – Spanien – Mexiko

“Das sind schöne Bilder. Aber wohl leider nicht von mir…” sagt der eine. “Moment mal,” sagt der andere. Er hat den Namen un­ter dem dazugehörigen Artikel ent­deckt: Walter Reuter. “Na siehst Du,” sagt dieser, “ich habe doch gleich gesagt, es sind gute Bil­der.”
1989 blättert der 83-jährige Walter Reuter mit Diethart Kerbs, Fotohistoriker aus Berlin, in den gesammelten Ausgaben der “Arbeiter-Illustrierten-Zei­tung” aus den frühen 30er Jah­ren. Sie suchen nach Fotos von Walter Reuter, die damals dort aus Sicherheitsgründen meist ohne Namensnennung veröffent­licht worden sind. Es ist schwie­rig, sich nach so vielen Jahren an Themen, an die eigene Aufnah­meweise, an die konkrete Auf­nahmesituation zu erinnern.
Walter Reuter wird am 4. Ja­nuar 1906 in Berlin-Charlotten­burg in einer Arbeiterfamilie ge­boren. Der Vater ist Straßen­bahnführer, seine Mutter später Schlafwagenschaffnerin. Wäh­rend des ersten Weltkriegs ist der Junge über längere Zeiträume auf dem Land, so daß der Schul­besuch ziemlich knapp ausfällt. Seine Schule wird die Jugend­bewegung, der er als Zehnjähri­ger beitritt. Das Leben dort ge­fällt ihm, hier findet er die Kon­takte, die ihn fördern, die ihm entscheidende Anstöße für die Entwicklung von künstlerischen und kulturellen Interessen geben.
Mit vierzehn Jahren beginnt er eine Lehre als Chemigraph, be­treibt aber mindestens so inten­siv seine sportlichen und kul­turellen Ambitionen. Er begei­stert sich für den Tanz, beson­ders für den modernen Aus­druckstanz, über­haupt für die Ausdrucksfähigkeit der moder­nen Kunst. Angeregt durch sei­nen Freund Wolfgang Lukschy, dem späteren bekann­ten Berliner Schauspieler, nimmt auch er Schauspielunterricht. Beide wir­ken als Statisten, später in klei­neren Rollen an den aufre­genden Inszenierungen dieser Jahre mit.
Walter Reuter ist, abgesehen von einigen Unterbrechungen, bis Mitte 1929 als Chemigraph tätig. Er verliert die Stellung, als er als Gewerkschafter in seinem Gewerbe Unterschriften gegen das mörderische Vorgehen der Polizei bei der Berliner Mai-Demonstration 1929 sammelt, der über 30 Arbeiter zum Opfer gefallen sind. Da er nun auf einer Schwarzen Liste steht, bleibt seine Arbeitssuche, quer durch Deutschland, erfolglos. Zurück in Berlin, erhält er eine minimale Arbeitslosenunterstützung, lebt ab Frühjahr 1930, wie viele mit­tellose Jugendliche, an einem See am Rande der Stadt. Da bietet sich die Gelegenheit zum Kauf einer gebrauchten 6×9-Kamera.
Der kritische Blick
des Autodidakten
Die Aufnahmen vom Leben in einer Laubenkolonie werden von der “Arbeiter-Illustrierten-Zei­tung” sofort akzeptiert. In der Folge arbeitet er für sie und ei­nige andere linke und liberale Zeitschriften als freier Mitarbei­ter. Reuter ist als Fotograf Auto­didakt, bezeichnet sein Auge als geschult durch die Beschäftigung mit dem Tanz, mit der modernen Malerei, will mit seinen Auf­nahmen “soziale Mißstände auf­decken, Beweise liefern, wach­rütteln”, ist aber bewußt partei­po­litisch unabhängig. Reuter wird bereits vor 1933 wegen sei­ner Reportagen für die “Arbeiter-Illustrierten-Zeitung” von der SA bedroht.
Seine Freundin, die Schau­spielschüle­rin Sulamith Siliava, ist Jüdin. Ihr gemeinsa­mer Freund, der linke Rechtsan­walt Hans Litten, wird unmittel­bar nach dem Reichstagsbrand ver­haftet. Dies alles veranlaßt Wal­ter Reuter, Sulamith und eine ge­mein­same Freundin um­gehend, be­reits Mitte März 1933, zur Flucht. Über die Schweiz, Süd­frankreich und Madrid kommen sie nach Andalusien. Dort schla­gen sie sich mit Sin­gen und Mu­si­zie­ren auf den Straßen durch. 1934, Walter und Sulamith hei­ra­ten, kauft Reuter eine Mittel­for­mat­kamera. Es ge­lingt ihm, in den beiden folgen­den Jahren in Má­laga ein erfolg­reicher Por­trait­fotograf für wohlhabende Ein­heimische und Engländer zu werden.
Im Sommer 1936 lernt Reuter zufällig García Lorca kennen. Sie sprechen eine Nacht lang über Lorcas neues Stück “La casa de Bernarda Alba”, auch über Möglichkeiten seiner Dar­stellung in Fotosequenzen. We­nige Wochen später wird García Lorca ermordet. Reuter wird das Thema ein Leben lang beglei­ten. Viele Jahre später, Anfang der 50er Jahre und Ende der 80er Jahre, wird er sich fotografisch mit Ballettversionen des Stückes auseinandersetzen.
Der Spanische Bürgerkrieg bricht aus. Reuter schickt Frau und Sohn zu Verwandten nach Paris und schließt sich einer Mi­liz der Vereinigten Sozialisti­schen Jugend an. Er versteht dies als “Kampf für die Freiheit in ei­gener Sache”, weigert sich je­doch, sich an der Erschießung Gefangener zu beteiligen. Drei Monate später, eingekreist von den Putschisten, flieht er in einer Schauspielertruppe nach Madrid. Dort nimmt er nun statt des Ge­wehrs die Kamera zur Hand und fotografiert im Auftrag des Au­ßenministeriums und anderer staat­licher Stellen.
Die Aufnah­men gehen an viele ausländische Agenturen wie “Black Star” in London und New York, an Zeit­schriften wie “Regards” (Paris) und die “Züricher Illustrierte”. Kurze Zeit gibt es eine Zusam­menarbeit mit “Ahora”, der Ma­drider Illu­strierten der Vereinig­ten Soziali­stischen Jugend unter der Lei­tung von Santiago Ca­rillo. Reu­ter ist auch mit zahlrei­chen Auf­nahmen an der Pariser Ausstel­lung des spanischen Au­ßen-mi­ni­steriums über das Schicksal der Kin­der im Bürger­krieg beteiligt.
Der andere Blick im Spanischen Bürgerkrieg
Walter Reuter zeigt im Ge­gensatz zu vielen seiner Kolle­gen weniger das Leid, die Zer­störung, das Elend des Krieges, sondern oft den Mut, die Gelas­senheit, den Optimismus der Menschen, das Funktionieren der Versorgung an der Front und der Produktion in der Etappe – trotz der großen Schwierigkeiten, denen die Republik gegenüber­steht.
Reuter folgt der Regierung von Madrid nach Valencia, dann nach Barcelona. Als Barcelona im Januar 1939 unmittelbar be­droht ist, flieht er und über­schreitet am 9. Februar die fran­zösische Grenze. Sein Archiv, der Koffer mit den Negativen, bleibt in Barcelona im Presse­zentrum der Regierung zurück. Über fünfzig Jahre gänzlich verloren geglaubt, befindet sich das Material nun vermutlich un­ter den noch nicht archivierten Negativen der Biblioteca Nacio­nal in Madrid.
Reuter schlägt sich zu seiner Familie nach Paris durch. Die fehlende Aufenthaltsgenehmi­gung zwingt ihn zu ständigem Wohnungswechsel. Während Su­la­mith in Malschulen Modell steht, kann Reuter hin und wie­der einige Modelle fotografieren und in Robert Capas Labor ent­wickeln.
Als der Weltkrieg aus­bricht, meldet er sich freiwillig zur französischen Armee, wird je­doch als Deutscher interniert. Damit beginnt sein Weg durch eine Reihe französischer Lager. Schließlich gelingt ihm die Flucht nach Marseille. Dort trifft er seine Frau, seinen Sohn, doch die nächste Trennung steht un­mittelbar bevor. Während Sula­mith durch den Besitz eines ägyptischen Passes relativ ge­schützt ist, muß Reuter ständig den Zugriff der Gestapo fürch­ten. Als einziger Ausweg er­scheint die Flucht über Marokko nach Mittel- oder Südamerika. Reuter nutzt die Möglichkeit der Demobilisierung französischer Armeeangehöriger nach Nord­afrika, wird jedoch in Marokko festgenommen und tritt nun sei­nen Weg durch die dortigen La­ger an. Die Häftlinge, Juden, po­litisch Verfolgte und viele Frem­denlegionäre, werden zum Bau der Transsahara-Eisenbahn ein­gesetzt. Die Lebensbedingungen sind äußerst hart, bessern sich einige Monate später jedoch et­was, als Reuter zur Beaufsichti­gung marokkanischer Bauarbei­ter abgestellt wird. Sein solidari­sches Zupacken sollte ihm später bei der Flucht unverhofft zugute kommen.
Anfang März 1942 erreicht Reuter die Nachricht seiner Frau, sie habe noch für denselben Mo­nat drei Schiffspassagen von Casablanca in die Neue Welt und Einreisevisa für Mexiko. In abenteuerlicher Flucht schlägt sich Reuter bis Casablanca durch und erreicht in letzter Minute das Schiff. Trotz der Visa gibt es für die Familie Walter Reuters und zwanzig weitere politisch Ver­folgte Schwierigkeiten, Mexiko zu betreten. Das gelingt erst, als die beiden Deutschen Heinrich Guttmann und Max Diamant, die sich bereits im Land befinden, ihren Einfluß geltend machen können.
Reuter bezeichnet die beiden ersten Jahre in Mexiko als die schwierigsten seines Lebens. Kurz nach der Ankunft wird die Familie durch einen Diebstahl im Hotel um ihre letzte Habe ge­bracht. Die Aufenthaltsgenehmi­gung ist auf Puebla beschränkt, wo es keine Arbeitsmöglichkei­ten gibt.
Die parteipolitisch or­ga­ni­sier­ten Hilfskomitees, denen Reuter auf­grund seiner Spanien-Er­leb-nis­se zurecht miß­traut, die Zwie­tracht und der Egoismus unter vie­len Emigran­tInnen, der Kon­takt zu wenigen Freunden, hin und wieder etwas Hilfe von ein­zel­nen, das sind die prägen­den Er­fahrungen dieser Zeit. Reuters wirtschaftliche Si­tuation ist so ka­tastrophal, daß er ge­zwungen ist, auf der Straße und in den Ca­fés der Hauptstadt zu betteln.
Die Dächer von Mexiko
Schließlich gelingt es ihm, eine Kamera zu leihen. Er macht erste Portraitaufnahmen von jü­dischen Familien, Kontakte, die seine Frau ihm vermitteln kann. Ende 1943 ersteht er im Leihaus eine eigene Rolleiflex, die er al­lerdings mehrfach wieder in Zahlung geben muß. Angeregt durch seinen – illegalen – “Wohn­sitz”, einer Dienstboten­kammer auf einem Dach in Me­xiko-Stadt, macht er seine erste me­xi­ka­ni­sche Fotoreportage Los techos de Mé­xico. Er schildert das Leben des bunten, verarmten Völk­chens, das wie er hier oben Zu­flucht gefunden hat. Die Bil­der wer­den in der anspruchs­vollen Fo­tozeitschrift “Nosotros” veröf­fentlicht und tragen ihm auf­grund seiner Erfahrungen in der “Ar­beiter-Illustrierten-Zei­tung” ei­nen relativ gut dotierten Ange­stelltenvertrag ein. Später wird er freier Mitarbeiter dieser Zeit­schrift, ebenso wie bei “Hoy”, “Siem­pre”, “Mañana”, “Foto-Film Cinemagazin” und “Voz”. Die beiden namhaften mexikani­schen Fotografen Héc­tor García und Nacho López be­zeichnen Wal­ter Reuter als den­jenigen, der in Mexiko den mo­dernen Bild­journalismus einge­führt hat.
Reuters Thema sind die so­zialen und kulturellen Aspekte verschiedener Landstriche, das Leben der Indios, der Verfall ih­rer bedrohten Kulturen. Seine Position ist sozialkritisch. Er mischt sich jedoch nicht in die politischen Angelegenheiten je­nes Landes ein, dem er dankbar für die Gewährung des Gast­rechts ist.
Entscheidend für Reuters Ar­beit in Mexiko ist sein gutes Verhältnis zur indianischen Be­völkerung. Er lebt wochen- und monatelang mit ihnen, hilft, wenn es nottut und wo er kann, nimmt ihnen die Scheu vor der Kamera: “Ich habe stets ver­sucht, die Würde der Indios zu achten.” Arbeitet er in eigenem Auftrag, bewegt ihn darüber hin­aus besonders seine alte Leiden­schaft, der Tanz. Er portraitiert damals viele der bekannten me­xikanischen Tänzer und Choreo­graphen.
Bereits 1946 hatte Reuter schon für Wochenschaubeiträge zur Filmkamera gegriffen. Staat­liche Kommissionen verlangten damals ab und zu Kurzfilme über Lebensbedingungen an be­stimmten Orten, um Infrastruk­turmaßnahmen durchzusetzen. Aber Anfang der 50er Jahre be­ginnt seine eigentliche Laufbahn als Dokumentarfilmer und Ka­meramann bei Spielfilmen. In staatlichem Auftrag oder mit freien Produzenten entstehen Hi­storia de un río über Sitten und Gebräuche von Indígenas am Flußufer, Tierra de chicle über das Leben der Kautschuk-Ar­beiter in den Wäldern von Chia­pas, sowie die Spielfilme Raíces über Konflikte zwi­schen Indí­ge­nas und weißer Oberschicht und El brazo fuerte über die Vor­macht­stellung der Groß­grund­be­sitzer in Mexiko.
In den 50er und 60er Jahren filmt Reuter auch für europäi­sche Institutionen, macht für das “Museé de l’Homme” in Paris einen Film über das Leben der La­candonInnen, für die BBC ei­ne Dokumentation über die Tän­ze der Voladores von Pa­pantla im Bundesstaat Veracruz. Für den WDR verfilmt er “Die Baum­wollpflücker” von B. Tra­ven. Kleinere Arbeiten entstehen für holländische, englische und me­xikanische Gesellschaften.
Wie früher in seinen Reporta­gen für die “Arbeiter-Illustrier­ten-Zeitung” stellt Reuter in sei­nen Filmen gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte dar. Bei der Frage nach seiner ästhe­tischen Schulung für Kameraein­stellung und -führung verweist er wieder auf die Avantgardekunst der 20er Jahre. In den Jahren 1963/64 lehrt er Komposition am Centro Universita­rio de Estu­dios Cinematográficos der Universität UNAM.
Trotz seiner erfolgreichen Tä­tigkeit als Filmer ist Reuter kei­neswegs wirtschaftlich abgesi­chert. Immer wieder gibt es Ein­brüche, muß er zum Beispiel Wer­befilme machen: “Ich bin kein Geschäftemacher, ich habe nie viel Geld gehabt.” Anfang der 60er Jahre gelingt endlich ein großer Auftrag. Reuter doku­mentiert für die Comisión Fe­deral de Elec­tricidad den Bau von Staudämmen, Lichtleitun­gen, E-Werken in mehreren Ge­genden Mexikos und die soziale Situa­tion der dort lebenden indiani­schen Bevölkerung. Zu­nächst er­neut auftragslos durch das Aus­wechseln der Be­leg­schaft beim Präsidentenwech­sel 1970, über­trägt man ihm An­fang der 70er Jahre die Fotodo­ku­men­tation, wie sich das Fi­scherdorf Mel­chor Ocampo durch die Er­rich­tung ei­nes Stahlwerks zur Groß­stadt Lázaro Cárdenas ent­wickelt: “Das Pro­jekt Sicartsa hat mich tief be­eindruckt. In ei­ner Region, wo nichts vorhanden war, entstanden plötzlich Schu­len, Krankenhäu­ser, Straßen, Was­serleitungen und Ar­beits­plätze.”
Seit Ende der 70er Jahre übernimmt Reuter keine Auf­tragsarbeiten mehr, wendet sich wieder eigenen Produktionen zu. 1987 inszeniert er mit einer Tanztruppe Sequenzen aus “La casa de Bernarda Alba”, um sie auf­zunehmen. Immer wieder un­ter­nimmt er Autofahrten in die 800 Kilometer entfernten Berge von Oaxaca. Er hat sich vorge­nom­men, das Le­ben der dort woh­nenden Triques umfassend zu dokumentieren, was ihn wohl noch Jahre in An­spruch nehmen wird.
Heute ist Walter Reuter 89 Jahre alt und lebt in dem Land, das ihm seit Jahrzehnten zur Heimat geworden ist. Eine Rückkehr in das eine oder in das andere Deutschland hat er nie wieder in Betracht gezogen.

“Wenn Mexiko frei sein wird…”

Ejército Zapatista de Liberación Nacional, México, 17.03.1995
An die Männer und Frauen, die in verschie­denen Sprachen und Wegen an eine menschlichere Zukunft glauben und dafür kämpfen, sie heute zu erreichen:
… Und hinter den Kampfpanzern der Regierung kam die Prostitution, der Schnaps, der Raub, die Drogen, die Zerstörung, der Tod, die Korruption, die Krankheit, die Armut, und es kamen Leute der Regierung und sagten, daß die Legalität wieder­hergestellt sei auf chiapanekischem Boden, und sie kamen mit kugelsicheren Westen und Panzern, und sie waren einige Minuten da und wurden nicht müde, noch mehr Reden zu halten vor den Häh­nen, Hühnern und Schweinen und Hunden und Kühen und Pferden und einer verlorengegangenen Katze. Und so machte es die Regierung, und ihr wißt es ja am besten, weil es viele JournalistInnen gesehen und publiziert haben, und das ist jetzt die Legalität, die unser Land regiert. Und so war der Krieg für “Legalität” und “Nationale Souveräni­tät”, den die Regierung gegen die chiapanekischen Indígenas führt. Auch gegen die anderen Mexika­nerInnen führt die Regierung Krieg, nicht mit Panzern und Flugzeugen, sondern mit einem öko­nomischen Programm, das sie genauso umbringen wird, nur viel langsamer …
Und jetzt erinnere ich mich, daß ich das alles am 17. März aufschreibe, dem Tag von San Patri­cio, der in diesem Mexiko im vergangenen Jahr­hundert kämpfte, gegen das Imperium der Stars and Stripes; es war eine Gruppe von Sol­daten ver­schiedener Nationalitäten, die auf seiten der Me­xikanerInnen kämpfte und die sich Batail­lon San Patricio nannte; und deshalb sag­ten die compañe­ros “Hör mal, es wäre gut, wenn du den Brüdern und Schwestern der anderen Län­der schreiben und ihnen danken würdest, weil sie den Krieg aufge­halten haben” … Und so schreibe ich ihnen im Namen aller compañeros und com­pañeras, weil wir klar gesehen haben, daß es, wie im Bataillon San Patricio, Fremde gibt, die Mexiko mehr lie­ben als einige, die heute in der Regierung und morgen im Gefängnis sitzen, oder im physischen Exil, denn mit dem Herzen sind sie schon längst draußen … Und wir wissen, daß es Demonstratio­nen und Treffen und Briefe und Ge­dichte und Lieder und Filme und andere Sachen gab, damit es keinen Krieg in Chiapas gibt, dem Teil Mexikos, in dem wir leben und sterben. … Und so haben wir gesehen, daß es gute Menschen in vielen Teilen der Welt gibt und daß diese Men­schen näher an Mexiko leben als die in Los Pinos, dem Regie­rungssitz dieses Landes.
Unser Gesetz ließ Bücher, Medikamente, La­chen, Süßigkeiten und Spielzeuge blühen. Ihr Ge­setz, das der Mächtigen, kam ohne irgendein Ar­gument, außer dem der Gewalt, und zerstörte Bi­bliotheken, Kliniken und Krankenhäuser, brachte Traurigkeit und Verbitterung über unsere Leute. Und wir glauben, daß eine Legalität, die das Be­wußtsein, die Gesundheit und Freude zerstört, eine sehr kleine Legalität für so große Männer und Frauen ist, und daß unser Gesetz unendlich besser ist als das Gesetz dieser Herren, die mit ausländi­scher Affinität sagen, daß sie uns re­gieren.
Und wir wollen Euch allen danken. Und wenn wir eine Blume hätten, würden wir sie schenken, und weil wir nicht ausreichend Blumen für jeden und jede haben, reicht eine aus, die unter alle ver­teilt wird, und alle bewahren ein Stückchen auf, und wenn sie alt sind, werden sie den Kindern und Jugendlichen ihres Landes berichten: “Am Ende des 20. Jahrhunderts habe ich für Mexiko ge­kämpft, und seitdem war ich mit ihnen zusammen, und ich weiß nur, daß sie das wollten, was alle menschlichen Wesen wollen, die nicht vergessen haben, daß sie menschliche Wesen sind, und was Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit bedeuten, und ich kannte nicht ihre Gesichter, aber ihre Her­zen, und sie waren unseren gleich.” Und, wenn Mexiko frei sein wird (nicht glücklich oder per­fekt, einfach nur frei, den eigenen Weg zu wählen und Fehler zu machen), dann auch ein kleines Stückchen von Euch, das, was auf der Höhe der Brust ist und auf Grund der politischen Verwick­lungen ein bißchen nach links gerutscht ist; Me­xiko, diese sechs Buchstaben wollen Würde aus­drücken, und daher wird die Blume für alle sein oder gar nicht …
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens.
Subcomandante Insurgente Marcos

Patriotische Parolen als Allheilmittel?

“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergange­nen Jahr durch Korruptionsaffären in sei­ner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der so­zialen Konsequenzen seiner Modernisie­rungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wie­der in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs ei­ner harten Strukturanpassung, die im ver­gangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Pro­zent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungs­re­ser­ven. Sie wurden aber ange­sichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig ge­wür­digt. Neben der für 1995 ange­setz­ten Privatisierung der EMETEL, dem Be­reich der Telekommu­nikation, sorgten be­son­ders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petro­e­cua­dor für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Ange­stellten ein Zwangsbeitrag ein und finan­zierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Insti­tution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisie­rung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstra­tionen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kund­zutun, gibt es doch sonst kaum Instru­mente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten ver­schiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verab­schiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrskno­tenpunkte des Landes und legten den ge­samten Verkehr lahm. Die Regierung ver­tritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend ver­laufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindäm­mung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Mei­nungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein kön­nen: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsände­rungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines er­stellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeiste­rung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektri­zität, dem Energiesektor und der Tele­kommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Ver­änderung bestehender Gewerkschafts­strukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Ver­besserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzent­wurf, der Religionsunterricht als Pflicht­fach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grund­sätzliche Diskussion über das Bildungssy­stem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verur­teilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufrieden­heit mit bestehenden Bildungseinrichtun­gen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstun­den “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu aus­gebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und einge­stellt werden müßten, um diesem An­spruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert re­ligiöse Gruppierungen neben dem Katho­lizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universi­täten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultä­ten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öf­fentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhö­hung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schritt­weise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der ge­staffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich un­mittelbar auf die allgemeinen Lebenshal­tungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januar­woche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßen­schlach­ten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Wo­che umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechen­schaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Un­tersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr viel­fach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit ge­gen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar an­kündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril an­zugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private In­vestoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrek­kensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esme­raldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nörd­lich von Quito – im Gebiet des heftig dis­kutierten neuen Flughafens – am 13. Ja­nuar von einem mittleren Erdbeben heim­gesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Kata­strophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsi­denten – insbesondere die Pläne zur Ver­staatlichung der Ölgesellschaft Petroecua­dor – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Ab­schnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kon­trollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsitua­tion zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Mono­pol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Re­alität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Ge­rüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Trup­penbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offi­zielle Version berichtete von einer vier­köpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatoriani­schem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehen­den Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Vertei­digungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatoriani­schen Präsidenten Sixto Durán Ballén di­rekt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischen­fall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuato­ri­anisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein trau­matischer Augenblick für das ecuatoriani­sche Nationalbewußtsein. In Geschichts­büchern unter der Bezeichnung “Das ter­ritoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Fru­stration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit un­gültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weite­ren Scheibchen vom ecuatorianischen Ge­biet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöf­fentlichkeit insgesamt, die das 1942 unter­zeichnete Protokoll als rechtskräftig aner­kennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors unter­einander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichts­schreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlo­renen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festge­legte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrit­tenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung ver­wehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdek­kung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuato­rianische Geschichtsschreibung einen zu­sätzlichen Anspruch auf den Amazonas­zugang ab: “Den Titel des ersten Entdek­kers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß die­ses Thema jedoch nichts an seiner Aktua­lität verloren hat, war bereits vor Aus­bruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signali­sierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema an­zugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kon­troverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließ­lich ganz vom Tisch war. Besonders sei­tens des Militärs und allen voran bei Ver­teidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecua­dors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Ver­fassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Drauf­gänger. Das von der Opposition gezeich­nete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mit­be­kommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestä­tigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so bri­santen Thema des Grenz­konflikts in der Öffentlichkeit als Ver­lierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlen­ken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zu­spruch an­de­rer Staaten zu bekom­men scheint genauso un­wahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außer­dem hätte es wahrhaf­tig bessere Zeit­punkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg aus­gelaugten Nach­barn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizule­gen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsbe­rechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des un­schuldigen Opfers innenpolitischer Span­nungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenz­strei­tigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fah­nen wurden geschwenkt, Bilder von Mäd­chen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegen­stimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfri­stig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilia­nischen Hauptstadt Brasilia unterzeichne­ten beiderseitigen Friedenserklärung schie­nen die konkreten Auseinanderset­zungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Be­schuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstill­standserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasi­lien, Chile und die USA, unter deren Mit­wirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwir­ken sollte. Die Organisation Amerikani­scher Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation er­zeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.

…und wieder herrscht Krieg

4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Kon­vent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wur­de der Beschluß gefaßt, die Or­ganisa­ti­onsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Be­freiungsbe­wegung” zu bilden, die einer po­litischen Opposi­tionsbewegung gleich­kommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Über­gangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals be­kräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waf­fenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinen­gewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschie­denen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcom­mandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa er­klärte später, sie sei unter Drohungen ge­zwungen worden, ein vorgefertigtes Ge­ständnis zu unter­schreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedil­los, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Seba­stian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs ge­gen die Za­patisten; in einem Kom­munique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogan­gebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee mar­schieren in die von Za­patisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Mili­tärfahrzeuge und Luft­einheiten. Ungefähr zwölf Orte wer­den durch Pan­zereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzu­gängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Per­sonen teil. Unter der Pa­role: “Wir sind alle Mar­cos”, for­derten sie ein sofortiges Ende des Krie­ges, die Freilassung aller bisherigen Gefange­nen und eine friedliche Lösung des chia­panekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein ge­töteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regie­rungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Mo­relia und Las Guarrachas von vier Kampfhub­schrau­bern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das In­nenministerium bekannt, daß alle wichti­gen Po­sitionen in Chiapas wie­dererobert seien. Mili­tärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommu­nalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung sei­ner Person durch die Regierung. Er be­hauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indí­genas auf der Flucht: Nationale Men­schenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterun­gen, Vergewaltigungen und Erschießun­gen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Ein­reise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gou­verneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistel­lung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indí­gena-Organisationen, daß es keine weite­ren Offensiven gegen die za­patistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Pa­trouillen gegen Gewalt­taten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Er­klärung, in der der me­xikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Men­schen­rechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien will­kür­lich verhaftet und ge­foltert worden, ei­nige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundge­bung in einer Woche findet diesmal vor dem National­palast in Mexiko-Stadt statt. Wieder neh­men mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rück­zug der Bun­desarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befin­den sich immer mehr Menschen aus chia­panekischen Dörfern auf der Flucht (siehe aus­führlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zu­rückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grund­vor­aussetzung für den Dialog.

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