Jenseits von Chiapas…?

Während diesseits und jenseits des “gran charco” mit einer gewissen Eupho­rie über die Möglichkeit der Bildung eines me­xikoweiten zapatistisch-cardenistischen Bünd­nisses namens Mo­vimiento de Libe­ra­ción Nacional (MLN) angeregt debat­tiert wurde, beraten UnterhändlerInnen zwi­schen Weißem Haus, Wall Street und Los Pinos (dem Amtssitz des Präsidenten Zedillo) ebenfalls zeitgleich die letzten Be­dingungen und Details. Dabei ging es nicht nur um den milliardenschweren transnationalen Dollarkredit für Mexiko, sondern auch um den Frontalangriff auf das EZLN und die mit ihm “sym­pa­thi­sie­ren­de” Zivilgesell­schaft.
Im Nachhinein gesehen liegt die Be­deu­tung des Hamburger Treffens dennoch da­rin, zum einen ein Resümee der politi­schen und wirtschaftlichen Situation Me­xi­kos zu ziehen, ein Jahr nach dem “Wie­der­eintritt der Gesichtslosen, der ewig Toten in die Geschichte”, dem öf­fent­lichen Erscheinen des EZLN. Und zum an­de­ren bot das Wochenende die Gele­gen­heit, das eigene Enga­gement und die ei­ge­ne Solidarität mit einer neuartigen, zumin­dest ungewöhnlichen und vielfach mittels “Marcos-Folklore” schon wieder refunktionalisierten Bewegung zu reflek­tieren. Dem Europa-Vertreter der CND, Alejandro de la Paz, gelang es im Verlauf des Treffens, die beiden Diskussions­stränge – das schlichte Bedürfnis zu be­greifen, “qué chingaos está pasando en México”, und den Wunsch nach einer ei­ge­nen Standortbe­stimmung gegenüber dem “Phä­nomen EZLN” – aufeinander zu be­ziehen. Denn wie Alejandro aus eigener Erfahrung zeigte, steht die von den zen­tral­amerikanischen Guerri­lla­bewegungen der siebziger und achtziger Jahre stark ge­prägte bundesdeut­sche Soliszene ähnlich wie die mexikanische Zivilgesellschaft zu­nächst perplex vor einer bewaffneten Cam­pe­sino-Bewegung, die weder Avant­garde-Ansprüche hat noch bereit ist, einen heroi­schen Stellvertreterkrieg für ganz Mexiko zu führen. Stattdes­sen zwingt sie die vielfältigsten Bewegungen, Organisa­tionen, Parteien und Grüppchen dazu, ihre Einzelforderungen, Alternativen und Uto­pien in ein gemeinsames, aber plurales “neues Projekt der Nation” einzubringen.
Wie soll die Unterstützung einer Bewe­gung aussehen, die versucht, sich jeglicher Form von Globalisierung zu entziehen? Was heißt “internationale Solidarität” im Kontext von Regional­autonomie, von An­erkennung kommunaler Souveränität? Auf dem Hamburger Treffen gab es nur zag­hafte Andeutungen möglicher Antworten: Auf die Globalisierung und Transnationa­lisierung von Machtstrukturen soll mit dem Aufbau eines transnationalen Austau­sches vergangener und gegenwärtig prak­tizierter Erfah­rungen, mit Strategien des Widerstands, der “Demokratisierung von unten”, des Er-Lebens von Autonomie reagiert werden. Jenseits des Scheiterns oder Erfolgs der CND beginnt Alejandro zufolge ein derartiger, spannungsreicher und auch wider­sprüchlicher Austausch im Rahmen der verschiedensten lokalen, re­gionalen und mexikoweiten Treffen. Der Austausch von Mit­gliederInnen der Frau­enbewegung, der Slum- und Stadtteili­nitiativen, der LehrerInnen- und Student­Innenbewegungen so­wie nicht zuletzt der Campesino- und Indígena-Organisationen ist nun eingeleitet worden. Das Engage­ment bundesdeutscher Gruppen sollte sei­ner Ansicht nach diese Art der Zu­sam­men­ar­beit aufgreifen durch unter­schied­lichste Lernformen der Stif­tung von Partner­schaften zwischen Gemeinden, Schu­len, Orga­nisationen etc. sowie durch das wechselseitige Schaffen von Gegenöf­fentlichkeiten bereichern. Dies würde es den verschie­denen sozialen Bewegungen ge­statten, mittels Blick über den sprich­wörtlichen Tellerrand die eigene Isolation zu überwinden und ihren spezifischen Kampf in einen allgemeineren Kontext zu stellen.
Ein konkretes Ergebnis des Hamburger Mexiko-Treffens ist der Aufbau eines di­rekten Kontakts zwischen den bundes­deut­schen Gruppen und der CND sowie der oppositionellen, von Amado Aven­daño koordinierten chiapanekischen “Über­gangs­regierung im Widerstand”. Über dieses neue Netz sollen unterschied­liche Aktionen in verschiedenen Städten or­ganisiert werden, bei denen vor allem eine engere Zusam­menarbeit mit den hier (noch existierenden) sozialen Bewegun­gen gesucht wird. Begünstigt wird diese Zusammenarbeit durch die Heterogenität der in Hamburg anwesenden Gruppen: Zu routinierten “Profis” der internationalisti­schen Szene und Gruppen, die aus kir­chenbewegten oder akademischen Kon­tex­ten stammen und oft zu eher theo­re­tischem Debattieren neigen, treten eher stadt­teilbezogene und aus der ei­genen konkreten Lebenswelt heraus enga­gierte Gruppen. Für diese sind Kon­zep­te wie Autonomie nicht bloßer Diskus­sions­stoff, sondern vielmehr Alltags­praxis. Ob sich aus einem derart hete­rogenen Spek­trum von Gruppen neue und ef­fek­tive Ak­tions­formen ent­wickeln las­sen, muß jetzt der Kampf gegen die von den Gläubi­gerbanken “transnatio­nali­sier­te” militä­rische Repression der mexika­ni­schen Demo­kratiebewegung zeigen.

Hörbarer Aufstand

Guatemala geriet 1986 in die Schlag­zeilen. Nach langer Militärherrschaft wurde der Christdemokrat Vinicio Cerezo in formal freien Wahlen zum Präsidenten gewählt. Die bundesdeutsche Regierung meinte, dieses Ereignis ausgerechnet durch Lieferung von Polizeifahrzeugen und -ausrüstung unterstützen zu müssen – zur Stärkung demokratischer Rechtsstaat­lichkeit.
Rufen wir uns die Ereignisse noch ein­mal in Erinnerung: Als die Militärs von 1978-1983 in Guatemala eine “Politik der verbrannten Erde” praktizierten, mußte die BRD wie viele andere Geberländer ihre finanzielle Unterstützung herunterschrau­ben, wobei bemerkenswert ist, daß sie auch unter einer SPD/FDP-Regierung nie ganz eingestellt wurde. Der “Nationale Plan für Sicherheit und Entwicklung”, der 1982 vom Generalstab der guatemalteki­schen Armee vorgelegt wurde, hatte eine gewisse Änderung der politischen Mittel zur Folge: Die Herrschaft von Militär und Großgrundbesitzern sollte nun durch ge­zielte militärische Schläge gegen die Guerrilla und durch eine breite Anti-Guerrilla-Kampagne gesichert werden, wozu ganze Dörfer zwangsweise “umerzogen” und in sogenannten Zivilpa­trouillen zu Handlangern des Militärs gemacht wurden. In diesen Plan paßte es auch, scheindemokratische Institutionen einzurichten, um gegenüber den interna­tionalen Geldgebern glaubwürdiger zu er­scheinen.
Die Leichtgläubigkeit der Bundesregie­rung jedoch war erschreckend. Das offi­zielle Konzept sah vor, die vom Präsi­denten kontrollierte Nationalpolizei als Gegengewicht zum Militär zu stärken – “zu einer wirksamen Verbrechensbekämp­fung im Interesse der Bevölkerung und zur Verbesserung der Menschenrechts­lage”, wie der Ministerialdirigent im BMZ Schweiger am 22.September 1986 schrieb. Einen Monat später hingegen war im Spiegel zu lesen, daß seit Cerezos Amtsbeginn (14. Januar 1986) bis August 551 Menschen ermordet und 198 ver­schleppt worden seien und nach Schät­zungen von Menschenrechtsorganisatio­nen ein Drittel davon “auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte gehen und politisch motiviert sind.”
Dennoch übergab der deutsche Bot­schafter in Guatemala am 11. Februar 1987 120 Fahrzeuge und über 140 elek­tronische Geräte an die Nationalpolizei.
Die Hoffnungen, die in den gewählten Präsidenten gesetzt wurden, waren ver­geblich: Die Morde und schweren Menschenrechtsverletzungen ließen nicht nach, und es war offensichtlich, daß staat­liche Stellen in Guatemala einen Teil der Verbrechen zu verantworten hatten, Nach­forschungen über die Täter verhinderten und die 1985 vom Militär ausgesprochene Selbst­amnestie nicht antasteten. Im Jahre 1988 verschärfte sich die Lage, als sich Cerezo nach dem gescheiterten Militär­putsch im Mai dazu gezwungen sah, die Nationalpolizei dem Militär einzugliedern. Daß die Polizei im Sinne rechtsstaatlicher Demokratie handeln würde, war späte­stens von da an nicht mehr denkbar.
Noch im Jahre 1989 wurde ein Antrag der Grünen im Bundestag bei Enthaltung der SPD(!) abgelehnt, die Polizeihilfe ein­zustellen. Aber erst als die USA ihre Zahlungen beendete, nachdem bei einem Massaker am 2.12.1990 13 Indígenas er­mordet worden waren, zahlte auch die BRD die letzte Million nicht mehr aus.
Selbstverständlich ist die deutsche Poli­zeihilfe für Guatemala nicht das zentrale Thema des Buches. Worum geht es?
Nachdem der Rowohlt-Verlag ein für Juni 1994 angekündigtes Buch zur Lage in Guatemala (bisher immer noch) nicht her­ausgebracht hat, bietet Sterrs Buch einen tiefgründigen Einblick in die jüngste Ge­schichte des Landes und behebt damit den Mangel an einer aktuellen deutschsprachi­gen Darstellung. Es kommt Sterr vor al­lem auf die politische Geschichte an. Aber neben den sauber recherchierten, in ver­ständlicher Sprache dargebotenen Fakten und Zusammenhängen ist es ein Buch, das bewegt. Der Autor hat auf seinen Reisen selbst das Land kennenlernen können, und es bestätigt sich die alte Erfahrung: Von soundso vielen Toten und Verletzten zu hören, ist schrecklich, aber doch abstrakt, also unvorstellbar. In seinen Ausmaßen wird das Leiden ahnbarer -begreifbar wohl kaum-, wenn es um den Einzelnen und die Einzelne geht. So fügt Sterr in seinen hi­storischen Bericht zwei Reportagen ein. Hat man sie gelesen, dann bekommt auch der übrige Text ein anderes Gesicht.
Darüber hinaus ist es ihm gelungen, mit wichtigen Personen Guatemalas Inter­views zu führen. Das Buch beginnt mit ei­nem Gespräch mit Rigoberta Menchú. Später sind Interviews mit den coman­dantes der drei Untergruppierungen der Guerrilla URNG eingefügt, die für mich ganz besonders aufschlußreich wa­ren, da es sich nicht um die üblichen Sta­tements handelt, sondern die Befragten, unter ihnen der Sohn des guatemalteki­schen Schriftstellers Miguel Angel Astu­rias, über ihre Herkunft und ihr Selbstver­ständnis sprechen. Bereits 1990 führte Sterr ein Interview mit dem Ex-Diktator Ríos Montt – dem im Januar 1995 frisch gewählten Parlamentspräsidenten – ; ein Blick aus anderer Perspektive also, der sehr zu denken gibt. Trotz allem Persönli­chen verfällt Albert Sterr nicht dem Kult der Betroffenheit, sondern vermag es, fundierte Informationen und Statistiken mit dem alltäglichen Besonderen zu ver­binden.
Das Buch schließt mit einer detaillier­ten Darstellung der Friedensverhandlun­gen, die bisher noch nicht abgeschlossen sind. So sind allem die sich heute mit Guatemala beschäftigen, breite Kenntnisse an die Hand gegeben, die über das Basis­wissen weit hinausgehen.
In seinem Vorwort schreibt Sterr: “(Diese Arbeit)…wendet sich nicht in er­ster Linie an ‘Guatemala-Fachleute’, son­dern richtet sich auch an diejenigen, die zum Beispiel das Land besuchen und sich vorher einen Überblick darüber verschaf­fen wollen, welche gesellschaftliche Re­alität die Maya-Ruinen und die indiani­schen Märkte umgibt.”
Wie schön wäre es, würden sich Touri­stInnen so vorbereiten.
Valentin Schönherr
Albert Sterr: Guatemala. Lautloser Aufstand im Land der Maya, Neuer ISP Verlag, Köln 1994, 290 S., 36,- DM.

“Die Waffen stehen nicht zur Diskussion”

Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir war­nen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Ze­dillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir se­hen auch, daß er zur gleichen Zeit die Li­nie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaff­neten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und sei­nen tatsächlichen Ursachen nicht entge­gentrat, sondern stattdessen die Zeit ver­streichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen ge­haßten Gouverneuren stand. Auf der ande­ren Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mo­bilisierung herbeiführen und die Stim­mung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Inter­esse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisie­rung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drän­gen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Ge­schichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was pas­siert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlas­sen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Di­stanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schief­geht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entneh­men, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Ja­nuar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politi­sche Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie wa­ren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und tru­gen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müs­sen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waf­fen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu ma­chen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zu­rückkehren. Wir können die Kämpfer­Innen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesse­lung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhal­ten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillu­sionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die glei­chen sozialen Klassenstrukturen, der glei­che Rassismus, die gleiche Regierungs­struktur und die gleichen radikalen Dis­kurse neben reaktionären Praktiken. Des­halb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebro­chen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur za­patistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewe­gung. Die sozialen Strukturen im mexika­nischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Mo­dernisierung Mexikos müßten zwei Sekto­ren geopfert werden: Entweder die indi­gene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hin­sicht ein Hindernis für jedwede Refor­mentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen be­gleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammen­ge­faßt, Freiheit, Demokratie und Gerech­tig­keit für alle MexikanerInnen. Das for­der­ten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs ver­ändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlan­gen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regie­rung der PRI noch koexistieren und ver­handeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rech­nungen, die auf vielen Ebenen zu kassie­ren sind. In Chiapas schafft sie die Ver­bindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik er­halten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnun­gen auf allen Ebenen, die es in der Regie­rung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwin­gen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejer­cito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Ak­tion zu machen. Wenn wir dies so bewer­tet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht ein­mal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Ab­surdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dia­log.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhal­tensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß je­mand anderes kommt. Dann reden wir.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens

Wir rufen alle sozialen und politischen Kräfte des Landes, alle aufrichtigen MexikanerInnen, alle die, die für die Demokratisie­rung des nationalen Lebens kämp­fen, zur Gründung einer BEWEGUNG FÜR DIE NATIONALE BEFREI­UNG auf, die die Nationale Demo­kratische Konvention und alle Kräfte einschließt, die unab­hängig von reli­giöser Überzeugung, Abstammung oder politi­scher Ideologie gegen das System der Staatspartei sind. Diese Bewegung für die Nationale Befreiung wird mit allen Mitteln und auf allen Ebenen für die Einsetzung einer Über­gangsregie­rung, für eine neue Verfas­sunsversammlung, für eine neue Verfas­sung und für die Zerstörung des Systems der Staats­partei kämpfen. Wir rufen die Nationale Demokratische Konven­tion und den Bürger Cuauthémoc Cárdenas Solórzano dazu auf, sich an die Spitze dieser Bewegung für die Nationale Befreiung zu stellen, die ein breites Oppositionsbündnis sein soll.
Wir rufen die ArbeiterInnen der Republik, die ArbeiterInnen auf dem Land und in der Stadt, die Colonos, die Lehrer­Innen und StudentenInnen Mexikos, die mexikanischen Frauen, die Jugendlichen des ganzen Landes, die KünstlerInnen und die aufrichtigen Intellektuellen, die konse­quenten Gläubigen, die Basismitglieder der verschiedenen politischen Organi­sationen dazu auf, in ihrem Bereich und mit den Kampfformen, die sie für möglich und für notwendig halten, für das Ende der Staatspartei zu kämpfen und sich der Nationalen Demokrati­schen Konvention anzuschließen, wenn sie keiner Partei ange­hören, der Bewegung für die Nationale Befreiung, wenn sie in einer der politischen Oppositionskräfte aktiv sind.
Im Geist der III. Erklärung des Lacandon-Urwaldes verkünden wir:
Erstens: Der Bundesregierung wird die Wache über das Vater­land entzogen. Die mexikanische Flagge, das oberste Gesetz der Nation, die mexikanische Hymne und das Nationalwappen werden ab jetzt in der Obhut der Widerstandskräfte sein, bis die Le­galität, die Legitimität und die Sou­veränität im gesamten natio­nalen Terri­torium wiederhergestellt sind.
Zweitens: Die ursprüngliche Politische Ver­fas­sung der Verei­nigten Mexi­kanischen Staaten in ihrer Fassung vom 5. Februar 1917 wird für gültig erklärt. Ihr werden die Revolutionären Ge­setze von 1993 und die Autonomiestatuten für die Indígena-Re­gionen beigefügt. Sie gilt, bis eine neue Verfassungsversamm­lung zu­sammentritt und eine neue Carta Magna verabschiedet.
Drittens: Wir rufen zum Kampf für die Aner­kennung der “Übergangsregierung zur Demokratie” auf, in die sich die ver­schiedenen Gemeinden, sozialen und poli­tischen Organisationen selber einbringen. So wird der in der Verfassung von 1917 vereinbarte Bundespakt aufrecht erhalten. Die Gemeinden und Organisationen schließen sich unabhängig von der religiösen Überzeugung, der sozialen Klasse, der politischefolgung sowie auf­grund von Krieg und Bürgerkrieg müs­sen das Recht auf Asyl begründen. Flucht auf­grund von Armut, welche die in der All­ge­mei­nen Erklärung zu den Menschen­rech­ten festgeschriebenen Mindeststan­dards ei­nes menschenwürdigen Lebens ver­letzt, muß als Asyl­grund anerkannt werden.

4. Deserteure und Kriegsdienstver­wei­gerer aus Kriegs- oder Bürger­kriegs­gebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.

5. Die Länder Europas werden auf­ge­for­dert, Flüchtlinge und Asylsu­chende vom Visumzwang z das Wahlgesetz reformieren, damit künftig saubere Wahlen, Glaub­würdigkeit, die Anerkennung aller nationalen, re­gionalen und lokalen politischen Kräfte gesichert sind. Die Über­gangsregierung soll zu neuen all­gemeinen Wahlen in der Föderation aufrufen.
3. Sie wird eine Verfassungs­versammlung für die Schaffung ei­ner neuen Verfassung einberufen.
4. Sie muß die Besonderheiten der Indígena-Gruppen, ihr Recht auf Autonomie und ihre Staatsbürgerschaft anerkennen.
5. Das nationale Wirtschaftsprogramm muß grundlegend verän­dert werden. Lüge und Verschleierung müssen beseitigt wer­den. Die ArbeiterInnen und BäuerInnen, die die Hauptprodu­zentInnen des Reich­tums sind, den sich jedoch andere aneig­nen, müssen künftig begünstigt werden.
Mexiko, Januar 1995.”

Die Seifenblase ist geplatzt

Salinas de Gortari, der erst im Dezem­ber das Prä­sidentenamt an Zedillo ab­gegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem frü­heren Zeitpunkt hätte ab­werten sollen. Seine Re­gierung habe jedoch im Vor­feld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgrün­den nicht von ihrer Wechselkurs­politik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezem­ber immer noch ihre öko­nomi­sche Er­folgsbilanz, die sich eben­falls auf Stabilität gründete: Geringe In­fla­tion, die allerdings nur wegen eines immer größer werden­den Kapitalbilanz­defizites möglich war, machte die Staatspartei, im Be­wußtsein der Wähler, zum einzigen Ga­ranten der Stabilität und sicherte ihr bei den Prä­sident­schaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN wer­fen dem Ex-Präsidenten Salinas in­zwi­schen persönliche Be­reiche­rung vor. Doch die USA, de­ren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbe­schränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne ent­sprechende Peso­abwertungen lobte, för­dern die Kandida­tur Salinas zum Vorsit­zenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welt­handelsorganisation) wei­terhin. Sa­linas zeige her­vorragende Führungs­quali­täten, erklärte US-Handels­minister Ron Brown. Der ve­nezo­lan­ische Wirtschafts­wis­sen­schaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei be­kannt ge­wesen, daß der We­chselkurs des Peso kor­rigiert werden mußte. Die Re­gierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomi­schen Daten gut nach au­ßen habe darstellen können. Diese Seifen­blase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wie­der einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schock­programm Zedillos wird na­türlich vom In­ternationalen Wäh­rungsfond (IWF) unter­stützt, in der Be­völkerung dürfte der Rückhalt aller­dings nicht groß sein. Im Notstands­programm sind in­nerhalb der nächsten zwei Jahre le­diglich Lohnsteige­rungen von sieben Pro­zent vorgesehen. Die Unter­nehmen konn­ten nur zu dem Ver­sprechen gebracht werden, die Preise nicht “un­gerechtfertigt” zu erhö­hen. Dieses “Ab­kom­men für die Einheit”, das Anfang Januar von der Re­gierung mit dem Gewerk­schaftsdach­verband und den Unternehmen aus­gehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vor­gesehen, die Staats­aus­gaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu ver­hin­dern.
Doch inzwischen meldete die Gewerk­schaft der Elek­trizitätsarbeiter den An­spruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Ange­stellten der staatlichen Presseagentur Notimex ver­langen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Natio­nale Kammer der Weiter­ver­arbei­tenden Industrie (Canacintra), die 85 Pro­zent aller industriel­len Ar­beitsplätze in Mexi­ko reprä­sentiert, for­derte ein sechs­monatiges Schuldenmo­ra­torium und die Stundung von Steuerrückständen. Außer­dem forderte der Ver­band Hilfe für Un­ternehmen, die vor der Ab­wertung Kre­dite bei ausländischen Ban­ken auf­genommen hatten. Alle Importprodukte sind we­sent­lich teurer ge­worden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölge­sellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungs­vertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu pri­vatisieren, wächst. Immerhin war die mexi­kanische Regie­rung erst­mals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu ver­wenden. Denn die Kapital­flucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeb­lich bis zu zehn Milli­arden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko ge­worben werden. Zwar sind diese Summen überwie­gend im nicht­produktiven Bereich ein­gesetzt worden, denn Spekulation ver­spricht höhere Gewinne, doch die Siche­rung ausländischer Ka­pitalanlagen in Me­xiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikani­schen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vor­züge des Standortes Mexiko. Enri­que Vilatela, Präsident der Banco Na­cional de Co­mercio Ex­terior und Leiter der vom mexikanischen Fi­nanz­mi­nis­terium nach Europa entsandten Dele­ga­tion, ver­kündete in Frankfurt, daß über kon­krete Finanz­arrange­ments nicht ge­sprochen worden sei. Doch mit der Deut­schen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, be­teiligten sich zwei deutsche Großban­ken an einem Stüt­zungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über des­sen Moda­li­tä­ten nichts be­kannt wurde und der Teil ei­nes 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind ins­gesamt 30 inter­na­tionale Geldinsti­tute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kre­dit­bürg­schaften von bis zu 40 Mil­liarden Dollar bereitstellen, um Mexi­kos kurz­fristige Zahlungs­verpflichtungen auf einen längeren Zeitraum um­schulden zu können.
Durch diese offene Un­ter­stützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Pro­zent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dol­lar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Auto­produktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexi­ka­nische Inlands­nachfrage zusammen­ge­brochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Ar­beitsrechte Halb­fertigpro­dukte aus den USA zusam­mengefügt und wieder in die USA re-im­portiert. Jede Lohn­senkung erhöht die Pro­fite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexi­kani­schen Krise auf ganz La­teinamerika ist wäh­renddes­sen un­über­sehbar. Mexiko als eines der größ­ten und ent­wickeltsten Länder des Sub­kontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbun­den ist, symboli­sierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf die­se Weise den ge­samten Kontinent sta­bili­sieren wollen, be­ginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neuge­schaffene Wäh­rung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird ab­gewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Bör­senkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent ge­fallen. Ähnliches gilt für den Nach­barstaat Ar­gentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinneh­men. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Aus­wei­tung des Freihandelsab­kommens NAFTA auf den ge­samten Kontinent auf Schwie­rigkeiten stoßen. Der extrem un­gleich verteilte Reichtum in Lateiname­rika erscheint zwar in den Han­delsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabi­lität der Wirtschaftsent­wicklung gefährden.

Kasten:

Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.

Ya basta!

Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unter­drückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand mar­kier­te zugleich den Beginn der “ersten Revo­lution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeinde­landes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das To­des­urteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses To­desurteil wollen die Indígenas nicht hin­nehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr ge­duldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbst­ver­sorgung mit Grundnahrungsmitteln, weg­genommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das wider­spricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indiani­schen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum ge­rechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Natio­nalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Be­we­gungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Han­deln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdek­ken. Sie sind nicht mehr anonyme Zu­schauer, sondern werden so mutige Ak­teure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist auf­gebrochen in die­sem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Ver­gessen des Vaterlandes gegen­über seinen ursprünglichen Be­wohn­ern, auch das ri­gide Schema einer Linken, die darin ver­haftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der Zapati­stInnen-Aufstand auch die “erste Revolu­tion des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die so­weit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-mi­litärisches Avantegardekonzept und blie­ben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wach­sen, sondern in eine Explosion mün­den, die ein festgefügtes, hartes, gewalti­ges, monströses Land bis in seine Grund­festen erschütterte – Mexiko. Sie ver­mochte dies, weil sie entgegen aller Re­geln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Den­ken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskol­lektiv aus mehreren Lateinamerika-Solida­ritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu er­stellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Inter­views, Reportagen, Analysen und ei­nem Fotoessay. Ebenso werden Wider­sprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der me­xi­kanische Journalist Hermann Bel­linghausen als “Paradoxon” charakteri­siert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Ana­lysen der mexikanischen Realität, die Anek­doten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volks­organisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde ge­lebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen ster­ben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Bri­se, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Ge­schichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”

Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

“Wir fordern einen neuen Raum für Partizipation”

LN: Was ist deine Aufgabe bei CONPAZ?
Gerardo González Figueroa: Ich bin Mit­glied der Koordinierungskommission und Repräsentant der Vermittlungskommis­sion von CONPAZ. Die Organisation CONPAZ nimmt an der Koordination der Demokratischen Versammlung des Bun­desstaates Chiapas teil. Im Moment befin­det sich CONPAZ in einem Arbeitsprozeß mit zwei Ausrichtungen: Einerseits die alltägliche Arbeit der Unterstützung der Gemeinden, vor allem in der Konflikt­zone. Hier unterstützen wir Gesundheits-, Produktions- und Ausbildungsprojekte. Außerdem kümmern wir uns um die Ein­haltung der Menschenrechte und ganz be­sonders um die Ernährung der Menschen dort. Andererseits nimmt ein Teil von uns an den unabhängigen Aktivitäten der De­mokratischen Versammlung teil, die sich heute in einem Prozeß des Widerstandes befindet.
Cárdenas sagte nach den Wahlen, der Weg über Wahlen sei nicht länger gang­bar. Bedeutet das, daß das mexikanische System nicht reformiert werden kann?
Hier ist festzuhalten, daß Cárdenas die PRD repräsentiert, die zu den politischen Kräften zählt, die sich in Mexiko artiku­lieren. Die hegemoniale Macht ist die Staatspartei PRI. Andere Kräfte, die sich heute neben der EZLN im Land Gehör ver­schaffen, sind die verschiedenen sozialen Bewegungen, die einen Teil der mexikani­schen Bevölkerung repäsentie­ren, der die Strategie, über Wahlen eine Wende zu er­reichen, mit Mißtrauen beob­achtet, aller­dings ohne der Strategie des bewaffneten Kampfes anzuhängen. Zu­sätzlich existie­ren – vor allem seit dem 1. Januar – kleinere Kräfte, die auf der politi­schen Bühne des nationalen Lebens kein Gewicht haben, die die Option des be­waffneten Kampfes vorschlagen. In diesem letztgenannten Sektor gibt es zwei Strömungen: Eine, die der EZLN nahe­steht und das militärische Kommando von Subcomandante Marcos akzeptiert und generell die politisch-mili­tärische Führung der ZapatistInnen aner­kennt. In diesem Sinne können wir von einer EZLN auf nationaler Ebene spre­chen. Aber es meldet sich auch eine an­dere Kraft zu Wort, die die Position ver­tritt, die Bewegung, inklu­sive der EZLN, sei reformistisch, habe schon gegeben, was sie geben könne und als nächsten Schritt sei es notwendig, den von ihnen so bezeichneten langanhalten­den Volkskrieg zu beginnen. Glückli­cherweise hat diese Strömung keinen signifikanten Einfluß.
Vor einer Woche wurde das Treffen der CND beendet. Dort wurde gefordert, Er­nesto Zedillo solle das Präsidentenamt nicht antreten. Wie soll das erreicht werden?
Zedillo wurde bereits vom mexikanischen Kongreß und von der Abgeordnetenkam­mer, die den Wahlausschluß bestimmt, er­nannt. In diesem Sinne ist es praktisch unmöglich, Zedillo loszuwerden.
Wegen der Charakteristik der Wahl den­ken wir aber, daß es auch nicht möglich ist zu sagen, Cárdenas oder Cevallos von der PAN hätten gewonnen. In Mexiko finden keine demokratischen Wahlen statt. Deshalb will die CND ein Kampfpro­gramm, und das bedeutet: Erstens ist die Staatspartei das größte Hindernis auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen. Zweitens denken wir, daß ein friedlicher Übergang zur Demokratie notwendig ist. Das bedeutet, daß eine neue Verfassung ausgerufen werden muß, die es unter an­derem ermöglicht, demokratische Reprä­sentanten, Gouverneure und natürlich auch den Präsidenten zu wählen. In die­sem weitgesteckten Feld ruft die CND zur nationalen Mobilisierung ab dem 20. No­vember auf, die, wenn die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden können, bis hin zur Ausrufung eines nationalen Generalstreiks führen sollen. Wenn Ze­dillo das Präsidentenamt übernimmt, soll er sich darüber klar sein, daß ein großer sozialer Sektor der MexikanerInnen gegen die Bedingungen ist, unter denen Wahlen gestattet werden.
Aber außerdem will Eduardo Robledo Rincòn am 8. Dezember in Chiapas den Gouverneursposten übernehmen. Das ist ganz eindeutig Betrug, er wurde nach nur drei Stunden in Beratung vom Kongreß von Chiapas bestätigt. Dort in Chiapas werden wir ein Wahltribunal des Volkes von Chiapas organisieren, wo die Beweise des Wahlbetrugs öffentlich gemacht wer­den. Das chiapanekische Volk wird den von der Mehrheit gewählten Amado Aven­daño zum Gouverneur ernennen.
In diesem Sinn definiert die CND ein Ak­tionsprogramm für die politische Forde­rung nach Demokratie nach diesem Wahl­prozeß, nimmt wieder den Weg der Mo­bilisierung auf, der nach dem 21. August ins Stocken kam.
Im Gegensatz zu 1988 gab es nach dem 21. August kaum Proteste. War die mexi­kanische Bevölkerung nicht auf den Wahlbetrug vorbereitet?
Es muß bedacht werden, daß von der PRI das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs ab dem 22. August an die Wand gemalt wurde. Dies hat bewirkt, daß wichtige Sektoren der mexikanischen Gesellschaft nicht so abstimmten, wie wir uns es ge­wünscht hätten. Im Gegensatz zu 1988, als die Bewegung zu den Wahlen hin immer stärker wurde, fehlte diesmal in diesem Moment die politische Führung. Außer­dem war vor den Wahlen der Eindruck entstanden, diesmal würde es sauberere Wahlen geben, in denen der WählerIn­nenwille respektiert würde. Dies führte zur Demobilisierung der Bewegung. Die Sektoren, die sich seit dem 1. Januar, dem Aufstand der EZLN, organisiert hatten, verstrickten sich zu diesem Zeitpunkt in eine Diskussion, über die Richtung der Mobilisierung. In Wirklichkeit wurde da­durch die Demobilisierung des mexikani­schen Volkes erreicht. Heute denke ich, wir hätten am 21. August auf die Straße gehen müssen, um die Bewegung, die sich heute in der neuen Organisation der CND ausdrückt, stark zu machen.
Gibt es Strukturen zwischen der Bevölke­rung in den Städten und auf dem Land?
Das Problem dieses letzten Sexeniums (6-jährige Amtszeit des Präsidenten Salinas, Anm. d. Red.) war, daß wir in einem ima­ginären Mexiko lebten. Mexiko er­schien wegen seiner geographischen Lage, seiner ökonomischen und politischen Strukturen am 1. Januar so, als würde es direkt in einen Prozeß des Wohlstands eintreten. Wir alle glaubten das. Aber in Wirklich­keit verändert sich Mexiko zu ei­nem Land, in dem eine unglaubliche Kon­zentration des Reichtums stattfindet. 30 Familien konzentrieren einen beeindruk­kenden Reichtum auf sich, während die große Mehrheit in beleidigender Armut lebt. Vor allem die Indígenas leiden. Die Armut wächst rapide, genauso die Ar­beitslosigkeit und die Zahl der Unterbe­schäftigten. Praktisch gibt es zwei Me­xikos: Einmal das im Norden, entwickelt, das man mit “Erstweltländern” verglei­chen kann. Aber wir haben einen Süden, der nicht nur Chiapas ist, sondern ver­schiedene Bundesstaaten, in denen eine enorme Armut herrscht, die sogar noch anwächst. Unter Salinas de Gortari wurde Chiapas der ärmste Bundesstaat der Re­publik. Vollkommen im Widerspruch zu dem ökonomischen Potential, das Chiapas besitzt. In Mexiko leben mehr als 20 Mil­lionen Menschen in extremer Armut. Groe Investitionen sind notwendig, um diesen Menschen eine bessere Schulbil­dung zu geben, eine bessere Infrastruktur etc.
Aber das ist doch genau das, was die PRI seit dem Waffenstillstand in Chiapas macht. Damit will sie ihre politische Macht erhalten, die Amado Avendaño für die PRD beansprucht.
Avendaño ist kein Mitglied der PRD, muß aber wegen des Wahlgesetzes für eine Partei kandidieren. Wir unterstützen nicht die PRD, damit sie an die Macht kommt. Wir sind von keiner Partei, als NGO sind wir Teil der Zivilgesellschaft. Wir fordern einen neuen politischen Raum der Partizi­pation, der auch außerhalb der Logik des Parteiensystems bestehen kann. Heute wissen wir, daß in dieser Welt ein hege­moniales Entwicklungsmodell besteht, das der Hegemonie des Marktes. Aber dieses Modell ist ziemlich unmenschlich. Wir müssen deshalb versuchen, ein anderes Entwicklungsmodell zu kreiieren, das er­laubt, aus einer anderen Perspektive die großen nationalen Probleme zu lösen. Man braucht Investitionen und Ar­beitsplätze, man braucht eine andere Lo­gik in unserer Beziehung zur Natur, man braucht neue Formen bei der Ausbildung von Indígenas und der interkulturellen Beziehungen. Wir brauchen auch eine neue Territorialität und vor allem eine neue politische Kultur.
Was bedeutet neue Territorialität?
Es muß anerkannt werden, daß Mexiko ein multiethnisches und multikulturelles Land ist. Diese Ethnien entsprechen nicht der Entwicklung, das sich das Land bei den Municipios (Verwaltungseinheit von Gemeinden) gegeben hat. Wir haben Re­gionen der Tzoltiles – Flüsse, Berge, Wäl­der – und sie haben Kapazität bewiesen, mit ihren eigenen Ressourcen umzugehen. Das provoziert Autonomieprozesse wie in Chiapas, welches das beste Beispiel für den autonomen Kampf der Völker der Tzotiles, Tojolabales etc. ist. Das bedeutet einen Bruch mit dem rückständigen Me­xiko, aber ich hoffe nicht, daß dieser Bruch zur Assimilation mit der mestizi­schen, westlich geprägten Kultur führt. Wir wollen zumindest ein menschlicheres Entwicklungsmodell vorschlagen können, das anderen Werten und damit den Inter­essen der mexikanischen Bevölkerung entspricht.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Bewegung in möglichst allen Bundes­staaten präsent sein. Die Staatspartei setzt aber alles daran, den Konflikt zu re­gionalisieren, und auf Chiapas zu begren­zen.
Auch wenn sich der Konflikt bei den In­dígenas, und besonders in Chiapas aus­drückt, ist es weder ein Problem der Indí­genas noch von Chiapas. Armut, Unge­rechtigkeit und Ungleichheit betrifft die ArbeiterInnen in der Stadt genauso wie Indígenas und Campesinos auf dem Land in ganz Mexiko. Das Problem der Demo­kratie und das des Regimes der Staatspar­tei ist ein nationales. Hier stimmen wir mit der EZLN überein. Das, was in Chia­pas passiert, kann genauso in Oaxaca, San Luis Potosí oder anderen Bundesstaaten geschehen, in denen große Armut herrscht. Wir wünschen uns, daß der Kampf für den Übergang zur Demokratie friedlich ist. Das setzt voraus, daß die Staatspartei die vorhandenen Probleme anerkennt. Der letzte Bericht von Salinas de Gortari zur Lage der Nation malt uns ein Mexiko, in dem selbst die EuropäerIn­nen gerne leben würden: Viel Demokratie, eine starke Wirtschaft und eine noch grö­ßere Sta­bilität.
Ist die Bewegung auch in der Arbeiter­schaft präsent?
Sie ist am Wachsen. In der CND ist der Arbeitersektor durch Gewerkschaften vertreten, der Convención Nacional de Trabajadores. Weiterhin gibt es den Na­tionalen Indígena- und Campesinokon­vent, bald wird es den Nationalen Stu­dentenkonvent geben. Die Frauen haben sich schon beim ersten Treffen zusam­mengeschlossen. Auch die “untere Mittel­schicht” in Chiapas fordert inzwischen ihr Recht auf politische Partizipation und ist im CND präsent. Das bedeutet, daß die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft in der CND zusammengeschlossen wer­den, damit dieses Land auf friedlichem Weg transformiert werden kann.
Immer mehr Menschen organisieren sich ohne Partei. Wir werden stärker. In der Zone von Las Margeritas an der gua­temaltekischen Grenze, wo Tojolabales leben, und an der Nordgrenze von Chia­pas, zu Tabasco hin, wo Tzotiles leben, wur­den schon autonome Regionen ausgeru­fen.
Wie stehen die Großgrundbesitzer in Chiapas zu einer Verhandlungslösung? Sind sie weiter dabei, ihre “Guardias blancas” (Privatarmeen, die z.T. mit Hilfe des mexikanischen Bundesheeres ausgebildet werden, Anm. d. Red.) aufzu­rüsten?
Wir stehen vor einer schwierigen oder ei­ner einfachen Lösung. Die einfache Vari­ante wäre, wenn alle Sektoren, die es in Chiapas gibt, an Verhandlungen zur Lö­sung der Konflikte teilnehmen würden. Das wäre gerecht. Aber viele wollen nicht und sagen, die PRI solle das Problem mit Gewalt “lösen”. Die “Guardias blancas” bestehen seit vielen Jahren. Die einzige Kraft, die wir haben, ist die der Mobilisie­rung. Wenn wir auf diese Art und Weise etwas erreichen, dann nicht nur für die In­dígenas, sondern für das gesamte Volk von Chiapas. Und was in Chiapas gesche­hen wird, wird sich in ganz Mexiko wi­derspiegeln. Chiapas ist das, was wir “Spiegel der Nation” nennen.

Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

Editorial Ausgabe 247 – Januar 1995

“Tierra y libertad! Viva Zapata” Der Schlachtruf, mit dem die zapatistische EZLN vor einem Jahr aus dem lacandoni­schen Urwald trat, mutete anachronistisch an – war er doch eine Referenz an die me­xikanische Revolution vor rund achtzig Jahren.
Schnell schon wurde jedoch deutlich, daß die Forderung nach Land und Freiheit in Chiapas – aber auch in anderen Bundes­staaten – höchst aktuell ist. Zu viele der Forderungen von damals sind lediglich in der Rhetorik der Regierungspartei ver­wirklicht worden.
Der “Kampf um die Würde”, den die za­patistische Guerilla am 1. Januar 1994 aufgenommen hatte, blieb militärisch auf den vernachlässigten Bundesstaat im Süden beschränkt. Politisch erschütterte er jedoch das ganze Land. Die EZLN wurde zur Hoffnungsträgerin für grund­legende Veränderungen in ganz Mexiko, der Aufstand der Indígenas sollte den Anfang vom Ende der über sechzig Jahre währenden PRI-Herrschaft markieren.
Doch der Machtwechsel fand nicht statt. Und nach den Präsidentschaftswahlen vom August, die der blasse Technokrat Zedillo für sich entschied, zeigt sich die Opposition zerstritten und orientierungs­los wie zuvor. Auch der Aufschwung der in diesem Jahr so oft beschworenen Zivil­gesellschaft hat vorübergehend ein Ende gefunden.
Doch auch die PRI ist geschwächt aus den Ereignissen der letzten zwölf Monate hervorgegangen. Kaum jemand nimmt ihr noch die Versprechungen vom Eintritt in die “Erste Welt” ab, welche die Mit­gliedschaft in NAFTA und OECD signali­sieren sollten. Und die innerparteilichen Auseinandersetzungen gehen so weit, daß die Morde an führenden PRI-Politikern – wie Colosio und Ruiz Massieu – mögliches Ergebnis interner Machtkämpfe sind.
Nach einem Jahr konzentriert sich das politische Interesse wieder auf Chiapas. Seit dem 8. Dezember gibt es mit dem Vertreter des offiziellen Mexiko, Eduardo Robledo, und dem Repräsentanten der autonomen Gemeinden, Amado Avedaño, gleich zwei Gouverneure. In dieser Situa­tion wird wohl keiner der beiden regieren können. Und die Ereignisse der letzten Wochen deuten eher auf eine Verhärtung der Lage denn auf weitere Verhandlungen hin. Auch wenn es am Tag der doppelten Amtsübernahme in Chiapas weitgehend ruhig blieb, mittelfristig ist mit einem Wiederaufflammen der Kämpfe zu rech­nen. Die EZLN ist sich des Dilemmas, in dem sie steckt, wohl bewußt. Nimmt sie den militärischen Kampf erneut auf, wird sie einen Teil der Sympathie, die sie noch immer in ganz Mexiko genießt, verlieren. Akzeptiert sie die Hinhaltetaktik der PRI auf ewig, wird sie zu einer marginalen Gruppe in den unzugänglichen Urwäldern von Chiapas, die niemad mehr ernst nimmt.

Ein Jahr nach Chiapas

Der Amtsantritt des neugewählten Präsi­denten Ernesto Zedillo am 1. Dezember 1994 war so unspektakulär wie selten in der Geschichte Mexikos. Er sollte ein Bild von Normalität zeichnen und den Ein­druck erwecken, Mexiko sei zur Tages­ordnung zurückgekehrt und der Konflikt in Chiapas sei auf ein beiläufiges und lös­bares Problem reduziert worden. Zu dem Aufstand nahm Zedillo in seiner An­trittsrede nur ganz am Rande und la­konisch Stellung: Auf dem Verhand­lungswege solle eine friedliche Lösung gefunden werden. Interessant war nur, daß Zedillo nicht bekanntgab, wer die Frie­densverhandlungen mit der EZLN-Gue­rilla für die Regierung leiten wird. Denn der Nachfolger von Manuel Camacho Solis, Jorge Madrazo, hatte kurz vor dem 1.Dezember sein Amt niedergelegt. Was hat nichts zu sagen hat, weil es in Mexiko ein ungeschriebenes Gesetz gibt, nach dem alle in höheren Regierungspositionen sitzenden Politiker vor dem Amtsantritt eines neuen Präsidenten ihr Amt kündigen müssen.
Vor den Präsidentschaftswahlen am 21. August hatte es noch Hoffnungen auf eine tiefgreifende Veränderung der politischen Verhältnisse in Chiapas und dem restli­chen Mexiko gegeben. Sie wurden durch den erneuten Sieg der PRI (49 Prozent der Stimmen) und das schlechte Abschneiden der linken Opposition PRD (16 Prozent) zunichte gemacht. Das Wahlergebnis und die Ermordungen des ursprünglichen Präsidentschaftskandidaten der PRI, Colo­sio, sowie des PRI-Generalsekretärs Massieu, die mehrfachen Mordanschläge auf Zedillo und die Zunahme der Repres­sion gegen Oppositionelle schürten die Angst vor einem unkontrollierten Hoch­schaukeln von Gewalt zur Lö­sung von Konflikten im ganzen Land. Auch in linken, intellektuellen und oppositionellen Kreisen mehrt sich die Kritik an Marcos und der EZLN und es wird offen gefragt, inwieweit der Aufstand, beziehungsweise die Aufständischen, in Chiapas nicht mitverantwortlich sind für die Zunahme der Gewalt.
Eine Doppelmacht im Staat?
Bei dem Versuch, ein Jahr nach dem Auf­stand in Chiapas Bilanz zu ziehen, er­scheint das Bild von der Normalität, das die neue PRI-Regierung beim Amtsantritt abgeben wollte, trügerisch. Denn der Auf­stand erscheint als das tiefgreifendste und einschneidendste Ereignis der letzten Regierungszeit und überschattet alle öko­nomischen und politischen Moderni­sierungsprojekte von Ex-Präsident Carlos Salinas de Gortari zum Anschluß Mexikos an die “Erste Welt” (Freihandelszone mit den USA und Kanada, neoliberale Wirtschaftsreformen, Verfassungs- und Wahlrechtsänderungen). In ihrer bis zum 1.1.1994 unbekannten Verbindung von traditionellen indigenen Strukturen und postsozialistischem Diskurs fällt die Be­wegung in Chiapas aus allen gängigen politischen Rastern. Die Verhandlungen zwischen Staat und EZLN, und das Fort­bestehen der EZLN als “kriegführender Partei” in einem lokal begrenzten und kleinen Gebiet des nationalen Territori­ums hat indirekt zu einer Tolerierung ei­ner zweiten Macht im Staat geführt, was jeden Nationalstaat mit seinem Ge­waltmonopol und seinem ausschließlichen Machtanspruch in den Grundfesten er­schüttern muß.
Konflikte auf allen Ebenen
Die sozialen Konflikte und bewaffneten Auseinandersetzungen in Chiapas haben das politische System ins Wanken ge­bracht und der Gesellschaft und Politik einen Spiegel vorgehalten. Durch den Konflikt wurde deutlich, daß der soge­nannte soziale Liberalismus von Salinas, der die Institutionalisierte Revolution ab­lösen sollte, die Mehrheit der Mexikane­rInnen ausschloß.
Seit dem Aufstand haben sich innerhalb der PRI die Konflikte zwischen den “PRInosauriern” und den Technokraten verschärft und zu einer bedrohenden Ge­waltzunahme in den innerparteilichen Auseinandersetzungen geführt. Doch nicht nur in der PRI, sondern auch innerhalb der Linken – den sozialen Bewegungen und der PRD – hat Chiapas zu neuen Polarisierungen geführt. Auf der einen Seite hat die soziale Frage eine neue Aufwertung erfahren, auf der anderen Seite sind auch Differenzen über die Mittel des Kampfes für soziale Gerechtigkeit entstanden. Während die einen sich radikalisieren und den bewaffneten Kampf als das einzig noch bleibende Mittel propagieren, sind andere durch die Zunahme von Gewalt eingeschüchtert und warten ab. Von der Euphorie der über sechstausend Delegier­ten der CND (des Demokratischen Natio­nalkonvents), die sich Anfang August in der Selva Lacandona in Aguascalientes trafen und dem massiven öffentlichen In­teresse ist nicht viel übriggeblieben. Das zeigt sich auch in den heftigen Positions­kämpfen in den Versammlungen der CND. In der PRD, die mit ihrem Prä­sidentschaftskandidaten Cárdenas vor den Wahlen Hoffnungsträgerin für ein baldi­ges Ende der PRI-Regierung war, sieht es nicht besser aus. Bis zu den Wahlen waren die Konflikte zwischen den unterschiedli­chen Fraktionen innerhalb der Partei weit­gehend unter Kontrolle. Seit der Wahlniederlage und den offensichtlichen Wahlbetrügereien ist bei vielen PRD-Mit­gliedern das Vertrauen in die Urnen er­schüttert. Die Kompromisse, die die PRD während der Wahl eingegangen war, er­scheinen im Nachhinein als unnütz, und das Setzen auf Wahlen für eine Demokra­tisierung von Staat und Gesellschaft ist in­frage gestellt. Diese Polarisierungen in­nerhalb der PRD gefährden nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch die Existenz der PRD als immerhin drittgrößter Partei des Landes.
Wer ist für das Klima von Gewalt ver­antwortlich?
Schließlich hat der bewaffnete Aufstand der EZLN im Zusammenhang mit den Attentaten auf Colosio und Massieu in­zwischen auch das linke Lager der Intel­lektuellen gespalten. Auch wenn sie sich von Gewalt als Mittel der Politik distan­zierten, hatten sie doch geschlossen hinter den Aufständischen gestanden. Heute mehren sich die Stimmen, die den be­waffneten Aufstand für das Klima von Gewalt, das sich im Land ausbreitet veranwortlich machen.. Chiapas hat die mexikanische Gesellschaft verändert, ohne daß sich in Chiapas selbst etwas grundlegend geändert hätte. Weiterhin ist keine friedliche Lösung des Konfliktes absehbar.

Kasten:

Tägliche Auseinandersetzung in Chiapas
Am 20. November 1994 gab es Demonstrationen, Kundgebungen, Straßenblockaden und Besetzungen von Bürgermeisterämtern in neun Regionen des Bundesstaates als Protest gegen den Wahlbetrug und die Einsetzung des PRI-Gouverneurs Eduardo Robledo Rincón. 20.000 Menschen waren an diesen Aktionen beteiligt. Dabei wurden sieben Personen verletzt, vier davon schwer durch Gummigeschosse. Zehn Personen verschwanden.
Sowohl in Comitán als auch in San Cristóbal, wo der Hauptplatz von DemonstrantIn­nen besetzt wurde, gab es Provokateure. Sie bewarfen die Polizisten mit Steinen, wo­raufhin diese Tränengas und später auch Schußwaffen einsetzten und dabei von den Steinewerfern unterstützt wurden.
Eine Gruppe von Geschäftsleuten aus San Cristobal, die sich als “coletos auténticos” bezeichnen und sich über extremen Rassismus gegenüber den Indígenas definieren, begann eine Hetzjagd auf DemonstrationsteilnehmerInnen durch das Zentrum der Stadt: DemonstratInnen wurden überwältigt und anschließend der Polizei übergeben.
Der Rat der Indígena-RepräsentantInnen der Region “Altos”, CRIACH, protestierte gegen das Vorgehen der Polizei im Vorort “La Hormiga” von San Cristobal. Auch dort war massiv Tränengas eingesetzt und ein fünfjähriges Mädchen schwer verletzt worden. Dem Polizeichef wurde vorgeworfen, seine Einheiten zunächst nicht gegen die Provokateure eingesetzt zu haben. Mit diesem Vorgehen habe er die Hetzjagd der “coletos auténticos” provoziert.
Am 8. Dezember, dem Tag des Amtsantritts von Robledo, demonstrierten 10.000 Campesinos auf dem Hauptplatz der Bundeshauptstadt Tuxtla Gutierrez. Die offizielle Zeremonie, an der auch der neue Präsident Ernesto Zedillo teilnahm, mußte deshalb in einem anderen Gebäude als dem Regierungspalast stattfinden.
Der Hauptplatz war von schwer bewaffneter Polizei und Militär umstellt. Die Campesinos ließen sich nicht provozieren und es kam nicht zu den befürchteten Zu­sammenstößen.
Die Campesinos begleiteten Amado Avendaño – den Gegenkandidaten der Zivilgesell­schaft, der als Parteiloser auf der PRD-Liste angetreten war – nach San Cristóbal. Dort bildete dieser mit Unterstützung der EZLN eine Gegenregierung. Avendaño wurde aufgefordert, für die “befreiten Zonen”, zu denen weder das mexikanische Militär noch PRI-Funktionäre Zugang haben, Programme für eine zukünftige Politik zu ent­wickeln.
Die Situation wurde allgemein als “sehr angespannt, aber noch ruhig” bezeichnet. Viele Indígenas verließen ihre Dörfer aus Angst vor Angriffen durch das Militär.

Die Revolution von Cardoso

Ich habe für Lula gestimmt, deshalb muß ich mich in diesem ersten Punkt sehr deutlich ausdrücken. Fernando Enrique Cardoso hat aufgrund seiner poltischen Verdienste gewonnen, nicht durch die Hilfe anderer. Die Figuren aus der Regie­rung, die ihm helfen wollten, haben ihm nur das Spiel erschwert. In Anbetracht der schlechten Erinnerungen, die sich mit Namen wie Ricupero und Stepanenko verbinden, hat Fernando Enrique Cardoso reagiert wie der chilenische Politiker, der in einer ähnlichen Situation seinen Ver­bündeten zurief, sie sollten ihm nicht hel­fen. Vielleicht hätte er das noch lauter rufen sollen, um sein Bild und das des Landes aufzubessern.
Wachstum und Armut
Fernando Enrique ist ein zu geistreicher Intellektueller, als daß sich seine Ideen in einem einzigen Satz zusammenfassen ließen. Wenn er sagt, Brasilien sei kein unterentwickeltes sondern ein ungerechtes Land, dann meint er damit, daß Brasilien noch ungerechter als unterentwickelt ist. Sicher weiß er, daß der Sertâo von Pariba oder Bahía unterentwickelt ist; was er ausdrücken möchte, ist, daß das wirt­schaftliche Wachstum von Sao Paolo un­gerecht ist. Die Statistiken sagen, die bra­silianische Wirtschaft sei im vergangenen Jahr um fünf Prozent gewachsen, das Be­schäftigungsniveau aber gleich geblieben. Ist das etwa kein Beispiel für ungerechtes Wirtschaftswachstum?
“Sao Paolo – Wachstum und Armut” ist der Titel eines Buches aus den siebziger Jahren, das wiederaufgelegt werden müßte. Erstens ist es eine exzellente soziologische Studie, und zweitens ist ei­ner der Autoren Fernando Enrique Cardoso. Die Idee, die dem Buch zugrun­deliegt, ist folgende: Die Wirtschaft Sao Paolos wächst, und mit ihr wächst die Armut.
Auf den Hügeln von Rio sieht man die Favelas schon länger, dicht bei den Hoch­häusern der Mittelklasse. Brasilien wächst wie kaum ein anderes Land der modernen Welt, und an der Seite des Reichtums wächst die Armut.
Auch ein anderes Zitat von Fernando Hen­rique wird immer wieder angeführt: “Vergeßt das, was ich geschrieben habe.” Wenn er das jemals gesagt haben sollte, so glaube ich nicht, daß er das so meinte, wie es jetzt interpretiert wird. Warum sollte er seine intellektuellen Fähigkeiten leugnen, wenn das seine größte Stärke ist? Alle, die wie ich, in seiner Wahlkampagne für den Senat 1978 mitgearbeitet haben, wissen, daß seine politische Rolle damals die des Intellektuellen als Führungsfigur der Intellektuellen im Widerstand war. Das ist überhaupt die Bestimmung eines Intel­lektuellen: Andere Intellektuelle anzufüh­ren. Als solcher konnte er sich nur auf seine Bücher und seinen Ruf stützen. Ein großer Teil der brasilianischen Intellektu­ellen sind zur PT übergegangen und an­dere – nicht so wenige, wie geglaubt wird – sind bei der PMDB (Partei der demokra­tischen Bewegung Brasilien: War die große, während der Militärdiktatur einzig zugelassene Oppositionspartei. Anm. der Red.) geblieben. Aber wie anders, als durch die Leitfigur Fernando Henrique, ließe sich erklären, daß so viele zur PSDB (Sozialdemokratische Partei – spätere Ab­spaltung von der PMDB) gewechselt sind?
Ich verstehe den Sinn dieses Satzes, der einen Skandal auslöste, nur so: “Versucht nicht, die Diskussion konkreter Fragen von heute kompliziert zu machen durch das, was ich in den siebziger oder achtzi­ger Jahren geschrieben habe.” Intellektu­elle, die ein Minimum an praktischer politischer Erfahrung haben, wissen, was das bedeutet. Wenn wir uns bereits schwer damit tun, heute ein konkretes Problem zu verstehen, so ist es doch noch schwieriger, auch die früheren Schriften der heutigen Protagonisten zu verstehen. Wenn ich, immer dann, wenn ich handeln muß, zu meinen damaligen Arbeiten zurückkehren würde, dann wäre mir sogar meine be­scheidene politische Aktivität unmöglich. In Anbetracht eines konkreten Problems sagt kein Intellektueller, man möge seine Schriften vergessen. Aber Diskussionen über Texte stören die Analyse eines realen Problems.
Bürgerliche Erziehung
Die ersten Bücher von Fernando Henrique entstanden unter dem Einfluß Florestan Fernandes, einige in Zusammenarbeit mit Octavio Ianni. Sie handeln von ethnischen Problemen im Süden Brasiliens. Niemand muß erst lange abstrakte Diskussionen führen, um zu erkennen, daß diese Texte eine demokratische Gesellschaft fordern und ein Land, in dem niemand sich wegen seiner Hautfarbe erniedrigen muß. “Kapitalismus und Sklaverei”, die bemer­kenswerte Doktorarbeit Fernando Henri­ques, ist eine Neuinterpretation der Wur­zeln des brasilianischen Kapitalismus. In seiner brillianten Habilitationsschrift “Industrieunternehmer und wirtschaftliche Entwicklung in Brasilien” zeigt er, daß Unternehmer häufig staatliche Subventio­nen erhielten, ohne daraus Verantwort­lichkeiten abzuleiten. Hat sich das bis heute geändert?
In dem Buch “Abhängigkeit und Ent­wicklung in Lateinamerika”, das er ge­meinsam mit Enzo Faletto geschrieben hat, entwickelt er die Idee, daß Brasilien trotz seiner Abhängigkeit wachse. Das war ungewöhnlich in einer Zeit, in der wir glaubten, aufgrund unserer Abhängigkeit zur Stagnation verdammt zu sein. Darauf folgten die siebziger Jahre, die Texte des Kampfes für Demokratie, die in “Autoritarismus und Demokratie” und “Demokratie für den Wechsel” zusam­mengefaßt sind.
Ich glaube nicht, daß Fernando Henrique vergessen will, was er geschrieben hat, auch wenn er jetzt Präsident ist. Ich glaube auch nicht, daß das notwendig ist. Ich erinnere mich aber nicht nur an seine Texte, sondern auch an verschiedene Situationen – zum Beispiel, als wir ge­meinsam Mitte der siebziger Jahre im Auftrag der UNO durch das peruanische Hochland reisten. Wir wollten dort zu Bauerndörfern zwischen dem Titicaca-See und Cuzco Kontakt aufnehmen und die Aktivitäten von Kooperativen unter der Regierung Belaunde Terry untersuchen.
Unsere soziologische Neugierde brachte uns an den Rand einer immer ärmeren Welt, bis wir schließlich in ein Dorf von Indígenas gelangten. Sie feierten die Ein­weihung ihres Abwassersystems, das mit Hilfe der Regierung und der Armee gebaut worden war. Die Dorfoberen kamen uns schwankend entgegen, um uns zu empfangen. Sie waren betrunken, kein Wunder bei einer solchen Feier, wo die Hauptspeise ein rattenähnliches Nagetier war, dazu gab es eine große Menge dun­kelroter Chicha, ein Maisgebräu, das für westlich-christliche Eingeweide gänzlich unbekömmlich ist. Obwohl Fernando Henrique genauso gerührt war wie ich von dieser ulkigen Mischung aus Indígenas und Militärs, sagte er zu mir: “Das ist ziemlich viel für mich, Weffort, ich hatte eine sehr bürgerliche Erziehung.”
Wenn Fernando Henrique die Wahlen wegen des Plan Real gewonnen hat, dann will ich hier daran erinnern, daß dieser Plan bis jetzt das Ergebnis einer kompli­zierten Mischung aus technischem Know-How, Unterstützung durch die Eliten und die dominierenden Gruppen gewesen ist, sowie einer überraschend großen Sensibi­lität für jemanden wie Fernando, dem der “Geruch nach Volk” nicht gefällt, wie ebenso vielen anderen brasilianischen Politikern bürgerlicher Herkunft auch.
Aber ich frage mich, was er in seiner Regierung machen kann, mit den Verbün­deten, die er hat. Wenn ich auf der Grundlage seiner bisherigen Werke sein Verhalten prognostiziere, dann wird er ein Staatschef sein, welcher der Modernisie­rung und Demokratisierung der Gesell­schaft verpflichtet ist. Er wird sich wün­schen, daß die Wirtschaft weiter wächst, allerdings weniger ungerecht. Hier sind wir wieder an dem Punkt, den ich ein­gangs erwähnte.
Das bedeutet, daß alle, die ihre Opposition auf den Glauben stützen, der Präsident sei ein Konservativer, sich auf dem Holzweg befinden. Das Problem ist, daß der Präsi­dent, wie wichtig er auch sein mag, nicht die ganze Regierung ist. Er wird mit ver­schiedenen politischen Kräften und deren teilweise sogar gegensätzlichen Ansichten zusammenarbeiten müssen. Es gibt fol­gende klassische Formen für das Verhal­ten brasilianischer Eliten in einer solchen Situation. Die erste ist die “Politik der Versöhnung”. Die zweite sagt, daß nie­mand einem Konservativen ähnlicher ist als ein Liberaler an der Regierung. Die dritte schließlich erklärt: Liberale fordern, Konservative machen die Reformen.
Ein Präsident der Reformen
Das große Problem ist, daß diese Formen vielleicht im heutigen strukturell differen­zierten Brasilien nicht wirksam sind. Soweit sich das absehen läßt, wird der Staat nur gemäß pluralistischer Prinzipien funktionieren können. Das bedeutet in der Praxis, daß der Präsident seine Regierung auf ein komplexes System von Verbin­dungen stützen muß. Jede dieser Verbin­dungen hat natürlich ihren Preis. Er wird seine Reformen nur mit der Hilfe einer reformbereiten Opposition verwirklichen können, die vielleicht sogar reformisti­scher ist als er selbst. Diese Reform-Opposition muß durch die PT angeführt werden, oder es wird keine geben.
Was die Opposition angeht, gilt es zu ver­stehen, daß es hier in diesem Land keinen Platz mehr für monopolistische Regierun­gen gibt, genausowenig wie es einen Platz für eine sogenannte Systemopposition gibt. In einem bestimmten Moment seiner Kampagne hat Lula Fernando des Plagiats beschuldigt. Merkwürdigerweise hat der “organische Intellektuelle” der Arbeiter­klasse zu dieser Art Beschuldigung gegrif­fen, die doch eigentlich nur unter Intel­lektuellen Sinn macht. Plagiat oder die Übereinstimmung in Programmpunkten, die entscheidende Frage ist doch: Mit welcher Begründung könnte die PT der neuen Regierung die Unterstützung ver­sagen?
Brasilien, so sagt Fernando, sei eher unge­recht als unterentwickelt, doch jetzt gibt es die Möglichkeit einer Veränderung, oder besser gesagt die Möglichkeit, mit Veränderungen zu beginnen. Und die ein­fachste Erklärung, die Spitze eines histori­schen Eisberges ist, daß einerseits die Regierung einen großen Intellektuellen an ihrer Spitze hat und andererseits die Opposition einen großen Arbeiterführer. Und beide werden, jeder auf seine Art, die beiden neuen Parteien PT und PSDB anführen. Von beiden wird erwartet, daß sie in der Lage sind, das zu definieren, was in der Politik die “Tagesordnung” des Kongresses heißt.
Wenn diese Politik in die richtige Rich­tung weist, wird sich unser Land hin zu einer Festigung der Demokratie bewegen, hin zu einer weniger ungleichen Gesell­schaft. Wir werden auf eine weiter ent­wickelte, weniger ungerechte Gesellschaft zusteuern. Ist das nicht, was allgemein als Moderne definiert wird? Wenn das der Weg wäre, was ich auch hoffe, dann wer­den die Wahlen von 1994 in unserer Ge­schichte so wie die von 1930 eingehen, nämlich als der Anfang einer zweiten demokratischen Revolution.

Übernommen aus der Brecha vom 14.10.1994, La revolución de Cardoso

Bloßer Nachwahlkampf?

Spätestens seit den Wahlen im August dieses Jahres ist dieser “Dorn im Auge” der Salinas-Regierung nicht mehr eine bloße “Insel der Hoffnung” für die demo­kratische Opposition: Denn während im übrigen Mexiko die Wahlen ein weiteres Mal dubios verliefen und die amtierende Staatspartei PRI die gesamte Opposition erneut mit einer Flut von – in gerichtlichen Einzelverfahren langwierig zu klärenden – “Wahl-Unregelmäßigkeiten” in Schach hält, zeigte die zapatistische Enklave dem gesamten Land, daß Wahlen durchaus transparent und demokratisch organisiert werden können, wenn sie wie hier ge­schehen von zivilen, vom System der Staatspartei unabhängigen Instanzen durchgeführt werden.
Weiter wählen oder selbst handeln?
Angesichts der einschlägigen Erfahrungen mit den Wahlverläufen haben sich viele Oppositionsgruppen und vor allem die un­abhängigen Campesino- und Indígena-Organisationen Mexikos enttäuscht von der reformistischen Alternative abge­wandt, mit der besonders die groß-städtischen Intellektuellen um den “Grupo San Angel” für eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen geworben hatten. Deren Vorschlag, die von der (PRI-dominierten) Wahlbehörde diktierten Spielregeln zu akzeptieren und das Wahl­ergebnis anschließend mit der Staatspartei durch ein gemeinsames, schrittweises “Säubern” einzelner offensichtlicher Wahlfälschungen “auszuhandeln”, wird von den Spitzenpolitikern der Oppositi­onsparteien PRD und PAN auch nach den Wahlen einmütig vertreten; gleichzeitig beschließen jedoch ihre aus der Kontrolle geratenen Basiskomitees schon in zahl­reichen Bundesstaaten, unter den ge­gebenen Bedingungen nie wieder an Wahlen teilzunehmen.
Die Kluft wird größer: Während der PRD-nahe Politologe Jorge Castañeda, ein Ver­treter der San Angel-Gruppe, noch für die Anerkennung des offiziellen Er­gebnisses der Präsidentschaftswahlen und für eine parallele “Nachverhandlung” jedes einzel-nen Mandates des gleichzeitig gewählten Nationalparlamentes plädiert, beschließen Vertreter von ca. 300 Campesino- und Indígena-Organisationen am symbolträch-tigen 12. Oktober in San Cristóbal – mit Unterstützung von ca. 20.000 Indígenas aus Chiapas -, einen an­deren Weg einzu-schlagen: den Weg der Regionalauto-nomie.
Basta Ya!
Da weder die “saubersten Wahlen der mexikanischen Geschichte” noch mona­telange Verhandlungen mit der Regierung eine demokratische Öffnung des PRI-Systems bzw. lokale Freiräume erwirken konnten, beschließen an diesem “Nationalen Tag für Demokratie und wür­digen Frieden” die Delegierten aus den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero, Michoacán, Veracruz, Hidalgo und Sonora, das System der Staatspartei aus ihren Regionen zu drängen und Freiräume für selbstbestimmtes politisches Handeln zu schaffen, statt auf Konzessionen von oben zu hoffen. In einigen Bundesstaaten war diese Entscheidung, die Demokrati­sierung von unten zu betreiben, schon sofort nach den Wahlen gefallen: So sind Ende August alle Regierungsvertreter aus dem Purhépecha-Hochland in Michoacán, einer Hochburg der PRD-Opposition, ver­trieben und ihre Büros versiegelt worden, nur noch die paramilitärische Polizei durchkreuzt die Region auf ihrer nächtli­chen Suche nach “vom Ausland gesteuerten Guerrillas”.
Doch zur Zeit bildet Chiapas den landes­weiten Schwerpunkt des Kampfes gegen das PRI-System, da hier die Wahlfäl­schung am lückenlosesten dokumentiert werden konnte. Sowohl die EZLN als auch die Nationale Demokratische Kon­vention (CND) haben den Sturz des an­geblichen Siegers der ebenfalls im August abgehaltenen chiapanekischen Gouver­neurswahlen, des PRI-Kandidaten Eduardo Robledo, und die Anerkennung seines Gegners, des von einem breiten Bündnis von Organisationen getragenen Oppositionskandidaten Amado Avendaño, zu ihren Hauptforderungen gemacht.
Autonomie für wen?
In der “Erklärung von San Cristóbal” vom 12. Oktober fließt der Kampf um die “Verteidigung des Wählerwillens”, also um die Amtseinsetzung Avendaños, mit dem Kampf um Regionalautonomie zu­sammen. Indem somit Indígena-Organisa­tionen, städtisch geprägte Oppositions­gruppen und soziale Bewegungen gemein­same Strategien des zivilen Wider­stands entwickeln – von der “Eroberung” PRI-dominierter Rathäuser über die Schließung von Regierungsinstitutionen, die Vertreibung von PRI-Funktionären und Regierungsbeamten bis zum Boykott jeglicher Steuern und Abgaben sowie der Rückzahlung von Krediten -, drückt sich nicht nur das im August auf der 1. Demo­kratischen Konvention in Aguascalientes geschlossene Bündnis (zwischen Zivilge­sellschaft und Indígena-Völkern) aus, sondern darüber hinaus spiegeln diese gemeinsamen Strategien einen neuartigen und erstmals am 1. Januar vom EZLN artikulierten Prozeß der “Verbürger­rechtlichung” der Indígena- und Campesi-nobewegung wider: An die Stelle “exklusiv indianischer” Forderungen tritt in der konkreten Praxis des Kampfes um Autonomie eine alle Bevölkerungs­gruppen betreffende Demo­kratisierung auf der lokalen und regiona­len Ebene, also genau dort, wo das System des PRI-Kazikentums am stärksten ver­wurzelt ist und bis heute am effektivsten funktioniert.
Das Projekt pluriethnischer Regionen
Die “Erklärung von San Cristóbal” und das ihr zugrundeliegende, von 13 Indígena-Organisationen unterzeichnete Dokument vom September 1994, “die Autonomie als neue Beziehung zwischen den Indígena-Völkern und der Nationalge­sellschaft” betonen daher, daß die Indígena-Bewegung zwar aus historischen Gründen zum Protagonisten des Kampfes um Regionalautonomie geworden sei, daß es jedoch nicht um das Errichten von Pri­vilegien und von “ethnisch homogenen” Gebieten gehe:
“Die Autonomie, die wir fordern, ist kein neues Ausschlußprojekt und stellt sich auch nicht abseits des Strebens der Mehr­heit der Mexikaner nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit. Im Gegenteil, die Autonomie ist der indianische Vor­schlag, um zum ersten Mal in der neueren Geschichte in ein demokratisches Leben eintreten zu können; es ist auch der Bei­trag der Indígena-Völker zur Errichtung einer demokratischeren, gerechteren und menschlicheren Nationalgesellschaft. In diesem Sinne identifiziert sich unsere Autonomieforderung mit dem Kampf aller nicht-indianischen Mexikaner, die eine neue Gesellschaft erstreben. Unser großes Projekt politischer Autonomie schließt auch niemanden im Inneren der Regionen aus, in den verschiedene Gruppen zu le­ben. Es sieht in den Regionen, in denen verschiedene soziokulturelle Gruppen oder Völker leben, die Entscheidungsfrei­heit derselben vor, um in Einheit und Ver­schiedenheit, nach den Prinzipien von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt, zusammenzuleben. Es geht also um die Errichtung plurikultureller oder pluriethnischer Regionen”.
Kompetenzen der autonomen Regionen
Ein derartiges Autonomie-Projekt be­zweckt die Einführung einer zusätzlichen regionalen Zwischenebene oberhalb des Municipio-Distriktes und unter­halb der Bundesstaatsebene. Die Region betreffen-de Entscheidungen sollen zu­nächst durch die von den verschiedenen Organisationen plural besetzten Regional­räte und später durch die von Delegierten aller Dorfgemeinden gebildeten Regional­parlamente getroffen werden; die Kom­petenzen sollen den pluriethnischen Re­gionen Mexikos in einem Drei-Stufen-Modell übertragen werden: In einer ersten Phase beschränken sich die Kompetenzen auf eine administrative Dezentralisierung, die vor allem die Selbstverwaltung öffent­licher Haushaltsmittel und die eigen­ständige Erarbeitung von regionalen Entwicklungs- und Ressourcennutzungs­plänen umfaßt. Der zweite Schritt des Indígena-Projektes besteht aus der “Kul-tur-Autonomie”, der souveränen Ent­scheidung über Sprache, Erziehung, Reli­gion, Kommunikationsmittel usw. In der dritten Autonomiephase soll den Regionen politische Kompetenzen hinsichtlich der territorialen Souveränität und der Ent­scheidungsmechanismen zur Ernennung ihrer lokalen, regionalen und nationalen Vertreter zugestanden werden. All dies basiert auf der rechtlichen Grundlage der von Mexiko längst unterzeichneten ILO-Konvention 169 über Territorialansprüche indigener Völker.
Erste Schritte zur Regionalautonomie in Chiapas
Den detaillierten Dokumenten folgen seit dem 12. Oktober konkrete Taten: Im Nor­den des Bundesstaates hat die mehrheit­lich von Tzotzil, Chol und Zoque gebil­dete Campesino-Organisation CIOAC be­reits die “Autonome Indígena-Region Nord-Chiapas” mit 11 Municipaldistrikten und einer Bevölkerung von 120.000 Ein­wohnern ausgerufen. Die Rathäuser von Soyaló, Simojovel und Huitiupan wurden besetzt und deren ,dank Wahlfälschung, amtierende PRI-Bürgermeister wegen “Korruption und Unfähigkeit” abgesetzt. Die Fincas von Ixtapa und Jitotol wurden beschlagnahmt und an landlose Familien übergeben, die gesamte Region wird zur Zeit mit Hinweisschildern versehen, in denen Regierungsbeamte darauf hinge­wiesen werden, daß “sie ein Eindringen in die autonome Zone selbst verantworten müßten”. Alle Verhandlungen mit Regie­rungsinstanzen sind abgebrochen worden, bis “eigene, demokratische Institutionen an ihre Stelle” treten. CIOAC-Sprecher Arturo Luna erklärt: “Jetzt beginnen wir langsam, uns die Rathäuser zu nehmen, wir trauen uns, uns selbst zu regieren… Wir merken, wir können regieren und unsere eigenen Pläne erstellen für Regio­nalentwicklung, Infrastruktur, Erziehung und nach den Erfordernissen unserer Re­alität”.
Als nächstes erklären die 38 Dörfer des Marqués de Comillas, einer Grenzregion der Selva Lacandona, die nicht vom EZLN kontrolliert wird, ihre Unabhängig­keit gegenüber dem Municipio-Distrikt Ocosingo, einem von PRI-Kaziken und Viehhändlern beherrschten Ort. Das jetzt “freie Municipio Comillas” wird von einem aus allen Dorfautoritäten und vier regionalen Campesino-Organisationen zu-sammen­gesetzten Kollektivrat regiert, alle Zufahrtswege sowie die Verbindungs­straßen in die benachbarten Bundesstaaten Yucatán und Campeche sind gesperrt.
Gleichzeitig rufen ca. 15.000 Mitglieder der Kleinbauernkaffee-Organisation OR-CAO am Südrand des vom EZLN kontrollierten Territoriums die “Autonome Region Selva” aus. Neben anderen Regie­rungsinstanzen werden alle Schulen sowie der Sitz der Schulverwaltung geschlossen: “Die zweisprachigen und einsprachigen Lehrer dieser Schulen dürfen nicht weiter­arbeiten, bis sie ein Erziehungsprojekt ausarbeiten, das unseren Bedürfnissen entspricht und das auch politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte einbezieht. Wir, die Dorfgemeinden, wer­fen die Lehrer nicht raus, sondern sie sollen sich unserem Kampf anschließen”, erklärt Juan Vázquez von der ORCAO.
Wie in Chiapas so in Mexiko?
Bis Anfang November, also knapp einen Monat vor der geplanten Machtübergabe an die neuen PRI-Regierungen von Zedillo in Mexiko-Stadt und von Robledo in Chiapas, umfassen die mittlerweile vier autonomen Regionen schon 58 Municipios und mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Bundesstaates Chiapas. Doch “Chiapas darf nicht allein gelassen werden”: Die Nationale Konven­tion der Indígena- und Campesino-Orga­nisationen würdigt Ende Oktober die Autonomiebewegung als wichtigsten Bei­trag der Indígena-Völker zur Demokrati­sierung Mexikos, als einen konkreten Schritt im Übergang “vom zivilen Wider­stand zum zivilen Aufstand”, die Konven­tion ruft daher ihre Mitglieds­organisa-tionen im ganzen Land zur Nachahmung auf.

Der zivile Widerstand in Chiapas

1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den be­waffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfäl­schung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Ant­wort der Indígena-Völker in verschie­denen Gegenden des Bundesstaates Chia­pas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zi­vilen Un­gehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregie­rung soll ihre verfassungsmäßigen Pflich­ten erfüllen. Da­mit vertieft sich der chia­panekische Kon­flikt, er wird zur nationa­len Angelegen­heit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehor­sam ist bekanntermaßen ein Bün­del von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze über­treten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Unge­horsams des­sen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und fried­lichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapa­nekischen Be­völkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedli­chen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Po­litik der Zentral­regierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundes­staat auf­zwingen will. Sie organi­sieren den wich­tigsten zivilen Ungehor­sam in der Ge­schichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unse­rem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Aus­nahmefällen. Daher gewinnt die Entschei­dung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wur­den blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung auf­zuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Prä­sidentschaftswahlen 1988 hat der dama­lige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wah­len am 6. Juli von seiner Parteispitze ge­stoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art ver­sucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wie­der dazu, diese Maßnahmen aufzu­geben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Poli­tiker vor den diesjäh­rigen Wahlen bekräf­tigt, sie würden Aktionen zivilen Wider­stands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wah­len am 21. August wurde deut­lich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentral­macht alle Rechte vorenthalten ha­ben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstver­ständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Re­gierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Land­besetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Au­tonomie tritt jetzt die Forderung, den­jenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dach­verbandes unabhängiger Bauernorganisa­tionen Coordinadora Estatal de Organi­zaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Ge­meinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauern­verbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Par­tido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäu­ser von Simojovel, Huitupan und Soyaló be­setzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, de­mokratischer Weise eine Regierung her­aus, die während ihrer gesamten sechsjäh­rigen Amtszeit die soziale Realität in un­serem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderun­gen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort be­sprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im In­nern nie zu tun pflegt. Da sich Don Clau­dio X. zur Zeit nicht auf mexikani­schem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu er­klären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investiti­onsprojektes zu lösen. Ähnlich wie ver­schiedene indianische Verwaltun­gen in den USA plane die mexikanische Regie­rung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er er­läuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen wür­den irgendwann auch die Indígenas profitie­ren, da sie ja Aktien er­werben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Ange­sichts der Sprachlo­sigkeit der Reporter bat der Unter­nehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chia­paneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokra­tisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Er­klärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Men­schenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zwei­schneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nach­zukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig sau­bere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Aus­maßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzu­setzen, einen Helfershelfer früherer Regie­rungen und einen Büttel der Großgrund­besitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden ver­kündet und gleich­zeitig die umfangreichste Kriegsmaschi­nerie der mexikanischen Ge­schichte in einem einzi­gen Bundesstaat zusammenge­zogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitäts­ferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unter­händler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen ein­zigen Zapati­sta auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beob­achtungs-Camps in der Nähe der Militär­sperren behauptete Madrazo, einen Bei­trag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegen­teil hindeutet. Die abtretende Re­gierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerpro­teste und des Drucks der Weltöffentlich­keit von ihrer Vernich­tungspolitik ablas­sen, verfolgt jedoch wei­terhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu wider­setzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazi­kentum zu konsolidie­ren, die Sozial­ausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdöl­vorkommen – den multinationalen Kon­zernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlö­sung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indí­gena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Auto­nomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Re­gierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Opti­mismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurz­sichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositions­kandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Inter­essen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächti­gen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapaneki­schen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen einge­setzten, unabhängi­gen Wahlprü­fungs­gerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas wer­den muß, um den Prozeß des demokrati­schen Über­gangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und eini­ger PRD-Politiker – keiner Verhand­lungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deut­liche Schlußfolgerungen ziehen. Der so­ziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln be­gonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Des­halb sind wir verpflichtet, ihnen zu ant­worten. Und ihnen zu antworten be­deutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kol­lektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Kon­vention (CND) Mexikos.

Kein Artikel von Gunther Dietz

Seit Juli dieses Jahres untersucht Gunther Dietz im Rahmen eines Dissertationssti­pendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung Transforma­tionsprozesse in den Indígena-Gemeinden der Meseta Purhépecha im mexikani­schen Bundesstaat Michoacán. Er arbeitet auch für die Indígena-Nachrichten­agentur AIPIN (Agencia In­ternacional de Prensa India), die auf dem ganzen Kontinent tätig ist und über einen Beobachterstatus bei den Vereinten Na­tionen verfügt. Mit mehre­ren AIPIN-Mit­arbeiterInnen begleitete er einen 60 Ki­lometer langen Protestmarsch der Purhé­pecha-Indígenas nach Morelia, der Haupt­stadt des Bundesstaates Michoacán.
Die Entführung
Nach Abschluß der Indígena-Proteste wurde er am 28. September von drei be­waffneten Männern in Zivil festgenom­men, als er am Busbahnhof von Morelia auf die Rückfahrt nach Purhépecha war­tete. Dietz wurde in ein zweites Auto ver­frachtet, wobei es den Entführern gelang, Rogelio Marcado, Leiter des AIPIN-Re­gionalbüros von Michoacán, abzuschüt­teln, und wurde in die rund 500 Kilometer entfernte Hauptstadt (Mexiko, D.F.) ge­fahren.
Einer der Männer, die ihn verhaf­tet hatten, gab sich als Mitglied der “Nationalen Si­cherheit” (Seguridad Nacional), einer Art Geheimpolizei, aus. Der Hamburger Wissen­schaftler erhielt kei­nerlei Gelegen­heit, sich mit seiner Frau oder mit einem Ver­treter der Deutschen Botschaft in Verbin­dung zu setzen.
Die Verhöre
In der Hauptstadt angekommen, wurde Gunther Dietz in die Einwanderungsbe­hörde (Instituto Nacional de Migración) gebracht, wo ihm zuerst seine Tasche mit persönlichen Papieren und Unterlagen von AIPIN abgenommen wurde. Anschließend begann ein mehrstündiges Verhör durch zehn (!) Männer einer “Grupo Especial”, wobei er permanent gefilmt und seine Aussagen auf Tonband aufgenommen wurden. Obwohl er mehrmals auf den of­fiziellen Charakter seiner Studien hinwies und auch mehrere Kontakte zu Regie­rungsstellen angeben konnte, wurde er le­diglich über politische Kontakte in Mi­choacán ausgefragt und seine Arbeit als subversiv dargestellt.
Nach einer kurzen Pause wurde das Ver­hör weiter intensi­viert und mehrere Stun­den fortgesetzt. Ihm wurde sogar vorge­halten, daß er mit anderen AusländerInnen an einem “Komplott” in der Meseta Pur­hépecha beteiligt sei. Dabei wurden ihm unzählige Fotos von AusländerInnen vor­gelegt, die angeblich “Indios aufstacheln”. Auf vielen der Fotos waren fünf seiner StudentInnen aus Hamburg zu sehen, mit denen er im Juli im Rahmen einer Exkur­sion der Uni­versität Hamburg eine empiri­sche Studie in Michoacán durchgeführt hatte. Je län­ger das Verhör dauerte, um so abstruser wurden die Anschuldigungen: Zwischen­zeitlich rückte er sogar zum Or­ganisator einer In­dígena-Rebellion auf.
Erst am Abend wurde ihm erlaubt, die Botschaft zu benachrichtigen und seine Frau anzurufen, die daraufhin die “Mexikanische Liga für Menschenrechte” einschaltete, welche sich – allerdings ver­geblich – um seine Freilassung bemühte. Auch die Intervention der Friedrich-Ebert-Stiftung und des PEN-International blieb ohne Wirkung.
Statt dessen wurde er um Mitternacht zum dritten Mal verhört. Thema diesmal: Der Aufstand der ZapatistInnen und seine Kontakte zu Volks- und Nichtregierungs­organisationen in Chiapas – dabei war Gunther Dietz noch nie in Chiapas. Erst weit nach Mitternacht und nachdem er die Stimme verloren hatte, wurden die Ver­höre been­det. Ohne die Verhörprotokolle ausrei­chend einsehen zu können, mußte Gunther Dietz diese unterschreiben, bevor er in ein Gefängnis gefahren und bis zum nächsten Morgen in eine Einzelzelle ge­sperrt wurde. Zum ersten Mal nach ein­einhalb Tagen durfte er einige Stunden schlafen.
Die Ausweisung
Am nächsten Tag wurde er zwar von ei­nem Arzt im Gefängnis untersucht, doch weder seine Stimmbänder noch seine Grippe wurden behandelt. Sofort nach dem Arztbesuch wurde er zum internatio­nalen Flughafen gefahren, wo er erneut bis zum Abend eingesperrt wurde. Ein Vertreter der Migrationsbehörde erklärte ihm, daß seine Behörde keinerlei Einfluß auf seinen Fall habe. Die Entscheidung würde von der Geheimpolizei getroffen.
Um acht Uhr abends erfuhr er von einem Luft­hansa-Angestellten, daß er ausgewie­sen und mit der nächsten Maschine eine halbe Stunde später nach Frankfurt geflo­gen werden würde. Dort kam er krank und ohne Geld am nächsten Tag an, und fuhr per Anhal­ter zehn Stunden nach Hamburg.
Erst dort konnte er erneut Kontakt mit sei­ner Frau aufnehmen, die seit dreißig Stun­den keine Nachricht mehr von ihm hatte. Fast unnö­tig anzumerken, daß er weder seine Ta­sche mit den Doku­menten zu­rückerhielt, noch die Papiere, die er unter­schreiben mußte. Bis heute hat er den of­fiziellen Grund seiner Ausweisung nicht erfahren.
Gezielte Repression
Die gesamten Umstände der Verhaftung und Ausweisung von Gunther Dietz weisen darauf hin, daß er Opfer der gezielten Re­pression der mexikanischen Regierung geworden ist. Nicht zum ersten Mal hat die Regierung ihr unliebsame Ausländer­Innen des Landes verwiesen. Wer nicht nach Mexiko kommt, um in die neolibe­rale Wirtschaft zu investieren und Ge­schäfte zu machen oder alte Azte­ken- und Maya-Tempel zu besichtigen und die schönen Strände zu genießen, ist verdäch­tig. Und wer sich für die Lage der Ärm­sten der Armen, der Indígenas, inter­essiert, ist ganz besonders verdächtig. Ins­besondere deren Lage hat sich durch NAFTA, den Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada, noch weiter ver­schlechtert. Doch Chiapas hat gezeigt, daß die Indígenas nicht mehr bereit sind, Un­terdrückung und Ausbeutung ohne Ge­genwehr weiter zu akzeptieren. Verände­rung ist angesagt. Doch statt auf Ent­wicklung setzt die mexikanische Regie­rung weiterhin auf Repression. Zeugen, zumal aus dem Ausland, sind da uner­wünscht.

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