Während diesseits und jenseits des “gran charco” mit einer gewissen Euphorie über die Möglichkeit der Bildung eines mexikoweiten zapatistisch-cardenistischen Bündnisses namens Movimiento de Liberación Nacional (MLN) angeregt debattiert wurde, beraten UnterhändlerInnen zwischen Weißem Haus, Wall Street und Los Pinos (dem Amtssitz des Präsidenten Zedillo) ebenfalls zeitgleich die letzten Bedingungen und Details. Dabei ging es nicht nur um den milliardenschweren transnationalen Dollarkredit für Mexiko, sondern auch um den Frontalangriff auf das EZLN und die mit ihm “sympathisierende” Zivilgesellschaft.
Im Nachhinein gesehen liegt die Bedeutung des Hamburger Treffens dennoch darin, zum einen ein Resümee der politischen und wirtschaftlichen Situation Mexikos zu ziehen, ein Jahr nach dem “Wiedereintritt der Gesichtslosen, der ewig Toten in die Geschichte”, dem öffentlichen Erscheinen des EZLN. Und zum anderen bot das Wochenende die Gelegenheit, das eigene Engagement und die eigene Solidarität mit einer neuartigen, zumindest ungewöhnlichen und vielfach mittels “Marcos-Folklore” schon wieder refunktionalisierten Bewegung zu reflektieren. Dem Europa-Vertreter der CND, Alejandro de la Paz, gelang es im Verlauf des Treffens, die beiden Diskussionsstränge – das schlichte Bedürfnis zu begreifen, “qué chingaos está pasando en México”, und den Wunsch nach einer eigenen Standortbestimmung gegenüber dem “Phänomen EZLN” – aufeinander zu beziehen. Denn wie Alejandro aus eigener Erfahrung zeigte, steht die von den zentralamerikanischen Guerrillabewegungen der siebziger und achtziger Jahre stark geprägte bundesdeutsche Soliszene ähnlich wie die mexikanische Zivilgesellschaft zunächst perplex vor einer bewaffneten Campesino-Bewegung, die weder Avantgarde-Ansprüche hat noch bereit ist, einen heroischen Stellvertreterkrieg für ganz Mexiko zu führen. Stattdessen zwingt sie die vielfältigsten Bewegungen, Organisationen, Parteien und Grüppchen dazu, ihre Einzelforderungen, Alternativen und Utopien in ein gemeinsames, aber plurales “neues Projekt der Nation” einzubringen.
Wie soll die Unterstützung einer Bewegung aussehen, die versucht, sich jeglicher Form von Globalisierung zu entziehen? Was heißt “internationale Solidarität” im Kontext von Regionalautonomie, von Anerkennung kommunaler Souveränität? Auf dem Hamburger Treffen gab es nur zaghafte Andeutungen möglicher Antworten: Auf die Globalisierung und Transnationalisierung von Machtstrukturen soll mit dem Aufbau eines transnationalen Austausches vergangener und gegenwärtig praktizierter Erfahrungen, mit Strategien des Widerstands, der “Demokratisierung von unten”, des Er-Lebens von Autonomie reagiert werden. Jenseits des Scheiterns oder Erfolgs der CND beginnt Alejandro zufolge ein derartiger, spannungsreicher und auch widersprüchlicher Austausch im Rahmen der verschiedensten lokalen, regionalen und mexikoweiten Treffen. Der Austausch von MitgliederInnen der Frauenbewegung, der Slum- und Stadtteilinitiativen, der LehrerInnen- und StudentInnenbewegungen sowie nicht zuletzt der Campesino- und Indígena-Organisationen ist nun eingeleitet worden. Das Engagement bundesdeutscher Gruppen sollte seiner Ansicht nach diese Art der Zusammenarbeit aufgreifen durch unterschiedlichste Lernformen der Stiftung von Partnerschaften zwischen Gemeinden, Schulen, Organisationen etc. sowie durch das wechselseitige Schaffen von Gegenöffentlichkeiten bereichern. Dies würde es den verschiedenen sozialen Bewegungen gestatten, mittels Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand die eigene Isolation zu überwinden und ihren spezifischen Kampf in einen allgemeineren Kontext zu stellen.
Ein konkretes Ergebnis des Hamburger Mexiko-Treffens ist der Aufbau eines direkten Kontakts zwischen den bundesdeutschen Gruppen und der CND sowie der oppositionellen, von Amado Avendaño koordinierten chiapanekischen “Übergangsregierung im Widerstand”. Über dieses neue Netz sollen unterschiedliche Aktionen in verschiedenen Städten organisiert werden, bei denen vor allem eine engere Zusammenarbeit mit den hier (noch existierenden) sozialen Bewegungen gesucht wird. Begünstigt wird diese Zusammenarbeit durch die Heterogenität der in Hamburg anwesenden Gruppen: Zu routinierten “Profis” der internationalistischen Szene und Gruppen, die aus kirchenbewegten oder akademischen Kontexten stammen und oft zu eher theoretischem Debattieren neigen, treten eher stadtteilbezogene und aus der eigenen konkreten Lebenswelt heraus engagierte Gruppen. Für diese sind Konzepte wie Autonomie nicht bloßer Diskussionsstoff, sondern vielmehr Alltagspraxis. Ob sich aus einem derart heterogenen Spektrum von Gruppen neue und effektive Aktionsformen entwickeln lassen, muß jetzt der Kampf gegen die von den Gläubigerbanken “transnationalisierte” militärische Repression der mexikanischen Demokratiebewegung zeigen.
Hörbarer Aufstand
Guatemala geriet 1986 in die Schlagzeilen. Nach langer Militärherrschaft wurde der Christdemokrat Vinicio Cerezo in formal freien Wahlen zum Präsidenten gewählt. Die bundesdeutsche Regierung meinte, dieses Ereignis ausgerechnet durch Lieferung von Polizeifahrzeugen und -ausrüstung unterstützen zu müssen – zur Stärkung demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
Rufen wir uns die Ereignisse noch einmal in Erinnerung: Als die Militärs von 1978-1983 in Guatemala eine “Politik der verbrannten Erde” praktizierten, mußte die BRD wie viele andere Geberländer ihre finanzielle Unterstützung herunterschrauben, wobei bemerkenswert ist, daß sie auch unter einer SPD/FDP-Regierung nie ganz eingestellt wurde. Der “Nationale Plan für Sicherheit und Entwicklung”, der 1982 vom Generalstab der guatemaltekischen Armee vorgelegt wurde, hatte eine gewisse Änderung der politischen Mittel zur Folge: Die Herrschaft von Militär und Großgrundbesitzern sollte nun durch gezielte militärische Schläge gegen die Guerrilla und durch eine breite Anti-Guerrilla-Kampagne gesichert werden, wozu ganze Dörfer zwangsweise “umerzogen” und in sogenannten Zivilpatrouillen zu Handlangern des Militärs gemacht wurden. In diesen Plan paßte es auch, scheindemokratische Institutionen einzurichten, um gegenüber den internationalen Geldgebern glaubwürdiger zu erscheinen.
Die Leichtgläubigkeit der Bundesregierung jedoch war erschreckend. Das offizielle Konzept sah vor, die vom Präsidenten kontrollierte Nationalpolizei als Gegengewicht zum Militär zu stärken – “zu einer wirksamen Verbrechensbekämpfung im Interesse der Bevölkerung und zur Verbesserung der Menschenrechtslage”, wie der Ministerialdirigent im BMZ Schweiger am 22.September 1986 schrieb. Einen Monat später hingegen war im Spiegel zu lesen, daß seit Cerezos Amtsbeginn (14. Januar 1986) bis August 551 Menschen ermordet und 198 verschleppt worden seien und nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen ein Drittel davon “auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte gehen und politisch motiviert sind.”
Dennoch übergab der deutsche Botschafter in Guatemala am 11. Februar 1987 120 Fahrzeuge und über 140 elektronische Geräte an die Nationalpolizei.
Die Hoffnungen, die in den gewählten Präsidenten gesetzt wurden, waren vergeblich: Die Morde und schweren Menschenrechtsverletzungen ließen nicht nach, und es war offensichtlich, daß staatliche Stellen in Guatemala einen Teil der Verbrechen zu verantworten hatten, Nachforschungen über die Täter verhinderten und die 1985 vom Militär ausgesprochene Selbstamnestie nicht antasteten. Im Jahre 1988 verschärfte sich die Lage, als sich Cerezo nach dem gescheiterten Militärputsch im Mai dazu gezwungen sah, die Nationalpolizei dem Militär einzugliedern. Daß die Polizei im Sinne rechtsstaatlicher Demokratie handeln würde, war spätestens von da an nicht mehr denkbar.
Noch im Jahre 1989 wurde ein Antrag der Grünen im Bundestag bei Enthaltung der SPD(!) abgelehnt, die Polizeihilfe einzustellen. Aber erst als die USA ihre Zahlungen beendete, nachdem bei einem Massaker am 2.12.1990 13 Indígenas ermordet worden waren, zahlte auch die BRD die letzte Million nicht mehr aus.
Selbstverständlich ist die deutsche Polizeihilfe für Guatemala nicht das zentrale Thema des Buches. Worum geht es?
Nachdem der Rowohlt-Verlag ein für Juni 1994 angekündigtes Buch zur Lage in Guatemala (bisher immer noch) nicht herausgebracht hat, bietet Sterrs Buch einen tiefgründigen Einblick in die jüngste Geschichte des Landes und behebt damit den Mangel an einer aktuellen deutschsprachigen Darstellung. Es kommt Sterr vor allem auf die politische Geschichte an. Aber neben den sauber recherchierten, in verständlicher Sprache dargebotenen Fakten und Zusammenhängen ist es ein Buch, das bewegt. Der Autor hat auf seinen Reisen selbst das Land kennenlernen können, und es bestätigt sich die alte Erfahrung: Von soundso vielen Toten und Verletzten zu hören, ist schrecklich, aber doch abstrakt, also unvorstellbar. In seinen Ausmaßen wird das Leiden ahnbarer -begreifbar wohl kaum-, wenn es um den Einzelnen und die Einzelne geht. So fügt Sterr in seinen historischen Bericht zwei Reportagen ein. Hat man sie gelesen, dann bekommt auch der übrige Text ein anderes Gesicht.
Darüber hinaus ist es ihm gelungen, mit wichtigen Personen Guatemalas Interviews zu führen. Das Buch beginnt mit einem Gespräch mit Rigoberta Menchú. Später sind Interviews mit den comandantes der drei Untergruppierungen der Guerrilla URNG eingefügt, die für mich ganz besonders aufschlußreich waren, da es sich nicht um die üblichen Statements handelt, sondern die Befragten, unter ihnen der Sohn des guatemaltekischen Schriftstellers Miguel Angel Asturias, über ihre Herkunft und ihr Selbstverständnis sprechen. Bereits 1990 führte Sterr ein Interview mit dem Ex-Diktator Ríos Montt – dem im Januar 1995 frisch gewählten Parlamentspräsidenten – ; ein Blick aus anderer Perspektive also, der sehr zu denken gibt. Trotz allem Persönlichen verfällt Albert Sterr nicht dem Kult der Betroffenheit, sondern vermag es, fundierte Informationen und Statistiken mit dem alltäglichen Besonderen zu verbinden.
Das Buch schließt mit einer detaillierten Darstellung der Friedensverhandlungen, die bisher noch nicht abgeschlossen sind. So sind allem die sich heute mit Guatemala beschäftigen, breite Kenntnisse an die Hand gegeben, die über das Basiswissen weit hinausgehen.
In seinem Vorwort schreibt Sterr: “(Diese Arbeit)…wendet sich nicht in erster Linie an ‘Guatemala-Fachleute’, sondern richtet sich auch an diejenigen, die zum Beispiel das Land besuchen und sich vorher einen Überblick darüber verschaffen wollen, welche gesellschaftliche Realität die Maya-Ruinen und die indianischen Märkte umgibt.”
Wie schön wäre es, würden sich TouristInnen so vorbereiten.
Valentin Schönherr
Albert Sterr: Guatemala. Lautloser Aufstand im Land der Maya, Neuer ISP Verlag, Köln 1994, 290 S., 36,- DM.
“Die Waffen stehen nicht zur Diskussion”
Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir warnen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Zedillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir sehen auch, daß er zur gleichen Zeit die Linie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaffneten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und seinen tatsächlichen Ursachen nicht entgegentrat, sondern stattdessen die Zeit verstreichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen gehaßten Gouverneuren stand. Auf der anderen Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mobilisierung herbeiführen und die Stimmung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Interesse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisierung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drängen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Geschichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was passiert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlassen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Distanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schiefgeht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entnehmen, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Januar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politische Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie waren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und trugen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müssen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waffen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu machen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zurückkehren. Wir können die KämpferInnen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesselung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhalten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillusionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die gleichen sozialen Klassenstrukturen, der gleiche Rassismus, die gleiche Regierungsstruktur und die gleichen radikalen Diskurse neben reaktionären Praktiken. Deshalb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebrochen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur zapatistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewegung. Die sozialen Strukturen im mexikanischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Modernisierung Mexikos müßten zwei Sektoren geopfert werden: Entweder die indigene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hinsicht ein Hindernis für jedwede Reformentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen begleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammengefaßt, Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit für alle MexikanerInnen. Das forderten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs verändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlangen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regierung der PRI noch koexistieren und verhandeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rechnungen, die auf vielen Ebenen zu kassieren sind. In Chiapas schafft sie die Verbindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik erhalten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnungen auf allen Ebenen, die es in der Regierung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwingen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejercito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Aktion zu machen. Wenn wir dies so bewertet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht einmal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Absurdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dialog.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhaltensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß jemand anderes kommt. Dann reden wir.
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens
Wir rufen alle sozialen und politischen Kräfte des Landes, alle aufrichtigen MexikanerInnen, alle die, die für die Demokratisierung des nationalen Lebens kämpfen, zur Gründung einer BEWEGUNG FÜR DIE NATIONALE BEFREIUNG auf, die die Nationale Demokratische Konvention und alle Kräfte einschließt, die unabhängig von religiöser Überzeugung, Abstammung oder politischer Ideologie gegen das System der Staatspartei sind. Diese Bewegung für die Nationale Befreiung wird mit allen Mitteln und auf allen Ebenen für die Einsetzung einer Übergangsregierung, für eine neue Verfassunsversammlung, für eine neue Verfassung und für die Zerstörung des Systems der Staatspartei kämpfen. Wir rufen die Nationale Demokratische Konvention und den Bürger Cuauthémoc Cárdenas Solórzano dazu auf, sich an die Spitze dieser Bewegung für die Nationale Befreiung zu stellen, die ein breites Oppositionsbündnis sein soll.
Wir rufen die ArbeiterInnen der Republik, die ArbeiterInnen auf dem Land und in der Stadt, die Colonos, die LehrerInnen und StudentenInnen Mexikos, die mexikanischen Frauen, die Jugendlichen des ganzen Landes, die KünstlerInnen und die aufrichtigen Intellektuellen, die konsequenten Gläubigen, die Basismitglieder der verschiedenen politischen Organisationen dazu auf, in ihrem Bereich und mit den Kampfformen, die sie für möglich und für notwendig halten, für das Ende der Staatspartei zu kämpfen und sich der Nationalen Demokratischen Konvention anzuschließen, wenn sie keiner Partei angehören, der Bewegung für die Nationale Befreiung, wenn sie in einer der politischen Oppositionskräfte aktiv sind.
Im Geist der III. Erklärung des Lacandon-Urwaldes verkünden wir:
Erstens: Der Bundesregierung wird die Wache über das Vaterland entzogen. Die mexikanische Flagge, das oberste Gesetz der Nation, die mexikanische Hymne und das Nationalwappen werden ab jetzt in der Obhut der Widerstandskräfte sein, bis die Legalität, die Legitimität und die Souveränität im gesamten nationalen Territorium wiederhergestellt sind.
Zweitens: Die ursprüngliche Politische Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten in ihrer Fassung vom 5. Februar 1917 wird für gültig erklärt. Ihr werden die Revolutionären Gesetze von 1993 und die Autonomiestatuten für die Indígena-Regionen beigefügt. Sie gilt, bis eine neue Verfassungsversammlung zusammentritt und eine neue Carta Magna verabschiedet.
Drittens: Wir rufen zum Kampf für die Anerkennung der “Übergangsregierung zur Demokratie” auf, in die sich die verschiedenen Gemeinden, sozialen und politischen Organisationen selber einbringen. So wird der in der Verfassung von 1917 vereinbarte Bundespakt aufrecht erhalten. Die Gemeinden und Organisationen schließen sich unabhängig von der religiösen Überzeugung, der sozialen Klasse, der politischefolgung sowie aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg müssen das Recht auf Asyl begründen. Flucht aufgrund von Armut, welche die in der Allgemeinen Erklärung zu den Menschenrechten festgeschriebenen Mindeststandards eines menschenwürdigen Lebens verletzt, muß als Asylgrund anerkannt werden.
4. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.
5. Die Länder Europas werden aufgefordert, Flüchtlinge und Asylsuchende vom Visumzwang z das Wahlgesetz reformieren, damit künftig saubere Wahlen, Glaubwürdigkeit, die Anerkennung aller nationalen, regionalen und lokalen politischen Kräfte gesichert sind. Die Übergangsregierung soll zu neuen allgemeinen Wahlen in der Föderation aufrufen.
3. Sie wird eine Verfassungsversammlung für die Schaffung einer neuen Verfassung einberufen.
4. Sie muß die Besonderheiten der Indígena-Gruppen, ihr Recht auf Autonomie und ihre Staatsbürgerschaft anerkennen.
5. Das nationale Wirtschaftsprogramm muß grundlegend verändert werden. Lüge und Verschleierung müssen beseitigt werden. Die ArbeiterInnen und BäuerInnen, die die HauptproduzentInnen des Reichtums sind, den sich jedoch andere aneignen, müssen künftig begünstigt werden.
Mexiko, Januar 1995.”
Die Seifenblase ist geplatzt
Salinas de Gortari, der erst im Dezember das Präsidentenamt an Zedillo abgegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte abwerten sollen. Seine Regierung habe jedoch im Vorfeld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgründen nicht von ihrer Wechselkurspolitik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezember immer noch ihre ökonomische Erfolgsbilanz, die sich ebenfalls auf Stabilität gründete: Geringe Inflation, die allerdings nur wegen eines immer größer werdenden Kapitalbilanzdefizites möglich war, machte die Staatspartei, im Bewußtsein der Wähler, zum einzigen Garanten der Stabilität und sicherte ihr bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN werfen dem Ex-Präsidenten Salinas inzwischen persönliche Bereicherung vor. Doch die USA, deren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbeschränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne entsprechende Pesoabwertungen lobte, fördern die Kandidatur Salinas zum Vorsitzenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welthandelsorganisation) weiterhin. Salinas zeige hervorragende Führungsqualitäten, erklärte US-Handelsminister Ron Brown. Der venezolanische Wirtschaftswissenschaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei bekannt gewesen, daß der Wechselkurs des Peso korrigiert werden mußte. Die Regierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomischen Daten gut nach außen habe darstellen können. Diese Seifenblase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wieder einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schockprogramm Zedillos wird natürlich vom Internationalen Währungsfond (IWF) unterstützt, in der Bevölkerung dürfte der Rückhalt allerdings nicht groß sein. Im Notstandsprogramm sind innerhalb der nächsten zwei Jahre lediglich Lohnsteigerungen von sieben Prozent vorgesehen. Die Unternehmen konnten nur zu dem Versprechen gebracht werden, die Preise nicht “ungerechtfertigt” zu erhöhen. Dieses “Abkommen für die Einheit”, das Anfang Januar von der Regierung mit dem Gewerkschaftsdachverband und den Unternehmen ausgehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vorgesehen, die Staatsausgaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu verhindern.
Doch inzwischen meldete die Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter den Anspruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Angestellten der staatlichen Presseagentur Notimex verlangen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Nationale Kammer der Weiterverarbeitenden Industrie (Canacintra), die 85 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze in Mexiko repräsentiert, forderte ein sechsmonatiges Schuldenmoratorium und die Stundung von Steuerrückständen. Außerdem forderte der Verband Hilfe für Unternehmen, die vor der Abwertung Kredite bei ausländischen Banken aufgenommen hatten. Alle Importprodukte sind wesentlich teurer geworden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölgesellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungsvertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu privatisieren, wächst. Immerhin war die mexikanische Regierung erstmals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu verwenden. Denn die Kapitalflucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeblich bis zu zehn Milliarden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko geworben werden. Zwar sind diese Summen überwiegend im nichtproduktiven Bereich eingesetzt worden, denn Spekulation verspricht höhere Gewinne, doch die Sicherung ausländischer Kapitalanlagen in Mexiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikanischen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vorzüge des Standortes Mexiko. Enrique Vilatela, Präsident der Banco Nacional de Comercio Exterior und Leiter der vom mexikanischen Finanzministerium nach Europa entsandten Delegation, verkündete in Frankfurt, daß über konkrete Finanzarrangements nicht gesprochen worden sei. Doch mit der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, beteiligten sich zwei deutsche Großbanken an einem Stützungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über dessen Modalitäten nichts bekannt wurde und der Teil eines 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind insgesamt 30 internationale Geldinstitute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kreditbürgschaften von bis zu 40 Milliarden Dollar bereitstellen, um Mexikos kurzfristige Zahlungsverpflichtungen auf einen längeren Zeitraum umschulden zu können.
Durch diese offene Unterstützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Prozent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dollar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Autoproduktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexikanische Inlandsnachfrage zusammengebrochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Arbeitsrechte Halbfertigprodukte aus den USA zusammengefügt und wieder in die USA re-importiert. Jede Lohnsenkung erhöht die Profite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexikanischen Krise auf ganz Lateinamerika ist währenddessen unübersehbar. Mexiko als eines der größten und entwickeltsten Länder des Subkontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbunden ist, symbolisierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf diese Weise den gesamten Kontinent stabilisieren wollen, beginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neugeschaffene Währung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird abgewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Börsenkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent gefallen. Ähnliches gilt für den Nachbarstaat Argentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinnehmen. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Ausweitung des Freihandelsabkommens NAFTA auf den gesamten Kontinent auf Schwierigkeiten stoßen. Der extrem ungleich verteilte Reichtum in Lateinamerika erscheint zwar in den Handelsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabilität der Wirtschaftsentwicklung gefährden.
Kasten:
Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.
Ya basta!
Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unterdrückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand markierte zugleich den Beginn der “ersten Revolution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeindelandes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das Todesurteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses Todesurteil wollen die Indígenas nicht hinnehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr geduldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln, weggenommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das widerspricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indianischen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum gerechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Nationalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Bewegungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Handeln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdekken. Sie sind nicht mehr anonyme Zuschauer, sondern werden so mutige Akteure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist aufgebrochen in diesem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Vergessen des Vaterlandes gegenüber seinen ursprünglichen Bewohnern, auch das rigide Schema einer Linken, die darin verhaftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der ZapatistInnen-Aufstand auch die “erste Revolution des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die soweit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-militärisches Avantegardekonzept und blieben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wachsen, sondern in eine Explosion münden, die ein festgefügtes, hartes, gewaltiges, monströses Land bis in seine Grundfesten erschütterte – Mexiko. Sie vermochte dies, weil sie entgegen aller Regeln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Denken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskollektiv aus mehreren Lateinamerika-Solidaritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu erstellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Interviews, Reportagen, Analysen und einem Fotoessay. Ebenso werden Widersprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der mexikanische Journalist Hermann Bellinghausen als “Paradoxon” charakterisiert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Analysen der mexikanischen Realität, die Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volksorganisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde gelebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen sterben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Brise, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Geschichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”
Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM
Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker
Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Verpflichtungen für die Vereinten Nationen vereinbart: eine Dekade für Indigene Völker zu starten und ein voraussichtlich permanentes Forum einzurichten. Parallel dazu veranstaltete das österreichische Lateinamerika-Institut ein Symposium zu der Frage nach den Rechten indigener Völker, um einen Dialog zwischen WissenschaftlerInnen, indigenen VertreterInnen und ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten zu ermöglichen. In 14 Beiträgen dieses Buches werden die Ergebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Auseinandersetzung um die Rechte der indigenen Völker auf. “Tierra”: Forderung nach Land. Tierra, wird uns im Vorwort erklärt, sei die “Lebensgrundlage eines jeden indianischen Volkes”, und entsprechend sei die Forderung nach einer legalen Basis für territoriale Ansprüche und politische Autonomie eng mit der Ökologie und den indigenen Land- und Nutzungsrechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” einsetzte, gibt es formelle und regelmäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die indigenen Völker beeinträchtigen, zu beobachten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Umsetzung dieser Standards auf internationaler Ebene vorangeht, zeigt die Tatsache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völker, erst im Februar 1995, zwei Jahre nach seiner Verabschiedung, von der Menschenrechtskommission der UN angenommen wird. Ob diese Deklaration auf die verschiedenen Regierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völker wird in den Beiträgen der ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten dargestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Bodenschätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zeigen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre traditionellen Strukturen und ihre Identität aufrechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der wenigen Regionen des Amazonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschiedene indianische Völker nahezu die einzigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Gebiets zusammenleben und ihre kulturelle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vorbild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völker als speziell begründeter Anspruch innerhalb der Menschenrechte zu betrachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen werden die konzeptuellen Problemfelder, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kollektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völker auf der ganzen Welt. Als Gegengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neuen Transformationsprozesse in diesem Kontinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik organisiert sich die Zivilgesellschaft in Volksorganisationen, um die Armut zu bekämpfen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nenner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Gruppen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Berichte der Experten über die indigenen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu erfahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertretern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Umwelt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Naturkonzept ist Gegenstand der Menschenrechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien übertragene und heute international gültige. Eine Alternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hindernisse zu einer nachhaltigen Entwicklung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indigenen Völker, die im Dezember 1994 begonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu verbessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschichtigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.
Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-
“Wir fordern einen neuen Raum für Partizipation”
LN: Was ist deine Aufgabe bei CONPAZ?
Gerardo González Figueroa: Ich bin Mitglied der Koordinierungskommission und Repräsentant der Vermittlungskommission von CONPAZ. Die Organisation CONPAZ nimmt an der Koordination der Demokratischen Versammlung des Bundesstaates Chiapas teil. Im Moment befindet sich CONPAZ in einem Arbeitsprozeß mit zwei Ausrichtungen: Einerseits die alltägliche Arbeit der Unterstützung der Gemeinden, vor allem in der Konfliktzone. Hier unterstützen wir Gesundheits-, Produktions- und Ausbildungsprojekte. Außerdem kümmern wir uns um die Einhaltung der Menschenrechte und ganz besonders um die Ernährung der Menschen dort. Andererseits nimmt ein Teil von uns an den unabhängigen Aktivitäten der Demokratischen Versammlung teil, die sich heute in einem Prozeß des Widerstandes befindet.
Cárdenas sagte nach den Wahlen, der Weg über Wahlen sei nicht länger gangbar. Bedeutet das, daß das mexikanische System nicht reformiert werden kann?
Hier ist festzuhalten, daß Cárdenas die PRD repräsentiert, die zu den politischen Kräften zählt, die sich in Mexiko artikulieren. Die hegemoniale Macht ist die Staatspartei PRI. Andere Kräfte, die sich heute neben der EZLN im Land Gehör verschaffen, sind die verschiedenen sozialen Bewegungen, die einen Teil der mexikanischen Bevölkerung repäsentieren, der die Strategie, über Wahlen eine Wende zu erreichen, mit Mißtrauen beobachtet, allerdings ohne der Strategie des bewaffneten Kampfes anzuhängen. Zusätzlich existieren – vor allem seit dem 1. Januar – kleinere Kräfte, die auf der politischen Bühne des nationalen Lebens kein Gewicht haben, die die Option des bewaffneten Kampfes vorschlagen. In diesem letztgenannten Sektor gibt es zwei Strömungen: Eine, die der EZLN nahesteht und das militärische Kommando von Subcomandante Marcos akzeptiert und generell die politisch-militärische Führung der ZapatistInnen anerkennt. In diesem Sinne können wir von einer EZLN auf nationaler Ebene sprechen. Aber es meldet sich auch eine andere Kraft zu Wort, die die Position vertritt, die Bewegung, inklusive der EZLN, sei reformistisch, habe schon gegeben, was sie geben könne und als nächsten Schritt sei es notwendig, den von ihnen so bezeichneten langanhaltenden Volkskrieg zu beginnen. Glücklicherweise hat diese Strömung keinen signifikanten Einfluß.
Vor einer Woche wurde das Treffen der CND beendet. Dort wurde gefordert, Ernesto Zedillo solle das Präsidentenamt nicht antreten. Wie soll das erreicht werden?
Zedillo wurde bereits vom mexikanischen Kongreß und von der Abgeordnetenkammer, die den Wahlausschluß bestimmt, ernannt. In diesem Sinne ist es praktisch unmöglich, Zedillo loszuwerden.
Wegen der Charakteristik der Wahl denken wir aber, daß es auch nicht möglich ist zu sagen, Cárdenas oder Cevallos von der PAN hätten gewonnen. In Mexiko finden keine demokratischen Wahlen statt. Deshalb will die CND ein Kampfprogramm, und das bedeutet: Erstens ist die Staatspartei das größte Hindernis auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen. Zweitens denken wir, daß ein friedlicher Übergang zur Demokratie notwendig ist. Das bedeutet, daß eine neue Verfassung ausgerufen werden muß, die es unter anderem ermöglicht, demokratische Repräsentanten, Gouverneure und natürlich auch den Präsidenten zu wählen. In diesem weitgesteckten Feld ruft die CND zur nationalen Mobilisierung ab dem 20. November auf, die, wenn die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden können, bis hin zur Ausrufung eines nationalen Generalstreiks führen sollen. Wenn Zedillo das Präsidentenamt übernimmt, soll er sich darüber klar sein, daß ein großer sozialer Sektor der MexikanerInnen gegen die Bedingungen ist, unter denen Wahlen gestattet werden.
Aber außerdem will Eduardo Robledo Rincòn am 8. Dezember in Chiapas den Gouverneursposten übernehmen. Das ist ganz eindeutig Betrug, er wurde nach nur drei Stunden in Beratung vom Kongreß von Chiapas bestätigt. Dort in Chiapas werden wir ein Wahltribunal des Volkes von Chiapas organisieren, wo die Beweise des Wahlbetrugs öffentlich gemacht werden. Das chiapanekische Volk wird den von der Mehrheit gewählten Amado Avendaño zum Gouverneur ernennen.
In diesem Sinn definiert die CND ein Aktionsprogramm für die politische Forderung nach Demokratie nach diesem Wahlprozeß, nimmt wieder den Weg der Mobilisierung auf, der nach dem 21. August ins Stocken kam.
Im Gegensatz zu 1988 gab es nach dem 21. August kaum Proteste. War die mexikanische Bevölkerung nicht auf den Wahlbetrug vorbereitet?
Es muß bedacht werden, daß von der PRI das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs ab dem 22. August an die Wand gemalt wurde. Dies hat bewirkt, daß wichtige Sektoren der mexikanischen Gesellschaft nicht so abstimmten, wie wir uns es gewünscht hätten. Im Gegensatz zu 1988, als die Bewegung zu den Wahlen hin immer stärker wurde, fehlte diesmal in diesem Moment die politische Führung. Außerdem war vor den Wahlen der Eindruck entstanden, diesmal würde es sauberere Wahlen geben, in denen der WählerInnenwille respektiert würde. Dies führte zur Demobilisierung der Bewegung. Die Sektoren, die sich seit dem 1. Januar, dem Aufstand der EZLN, organisiert hatten, verstrickten sich zu diesem Zeitpunkt in eine Diskussion, über die Richtung der Mobilisierung. In Wirklichkeit wurde dadurch die Demobilisierung des mexikanischen Volkes erreicht. Heute denke ich, wir hätten am 21. August auf die Straße gehen müssen, um die Bewegung, die sich heute in der neuen Organisation der CND ausdrückt, stark zu machen.
Gibt es Strukturen zwischen der Bevölkerung in den Städten und auf dem Land?
Das Problem dieses letzten Sexeniums (6-jährige Amtszeit des Präsidenten Salinas, Anm. d. Red.) war, daß wir in einem imaginären Mexiko lebten. Mexiko erschien wegen seiner geographischen Lage, seiner ökonomischen und politischen Strukturen am 1. Januar so, als würde es direkt in einen Prozeß des Wohlstands eintreten. Wir alle glaubten das. Aber in Wirklichkeit verändert sich Mexiko zu einem Land, in dem eine unglaubliche Konzentration des Reichtums stattfindet. 30 Familien konzentrieren einen beeindrukkenden Reichtum auf sich, während die große Mehrheit in beleidigender Armut lebt. Vor allem die Indígenas leiden. Die Armut wächst rapide, genauso die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Unterbeschäftigten. Praktisch gibt es zwei Mexikos: Einmal das im Norden, entwickelt, das man mit “Erstweltländern” vergleichen kann. Aber wir haben einen Süden, der nicht nur Chiapas ist, sondern verschiedene Bundesstaaten, in denen eine enorme Armut herrscht, die sogar noch anwächst. Unter Salinas de Gortari wurde Chiapas der ärmste Bundesstaat der Republik. Vollkommen im Widerspruch zu dem ökonomischen Potential, das Chiapas besitzt. In Mexiko leben mehr als 20 Millionen Menschen in extremer Armut. Groe Investitionen sind notwendig, um diesen Menschen eine bessere Schulbildung zu geben, eine bessere Infrastruktur etc.
Aber das ist doch genau das, was die PRI seit dem Waffenstillstand in Chiapas macht. Damit will sie ihre politische Macht erhalten, die Amado Avendaño für die PRD beansprucht.
Avendaño ist kein Mitglied der PRD, muß aber wegen des Wahlgesetzes für eine Partei kandidieren. Wir unterstützen nicht die PRD, damit sie an die Macht kommt. Wir sind von keiner Partei, als NGO sind wir Teil der Zivilgesellschaft. Wir fordern einen neuen politischen Raum der Partizipation, der auch außerhalb der Logik des Parteiensystems bestehen kann. Heute wissen wir, daß in dieser Welt ein hegemoniales Entwicklungsmodell besteht, das der Hegemonie des Marktes. Aber dieses Modell ist ziemlich unmenschlich. Wir müssen deshalb versuchen, ein anderes Entwicklungsmodell zu kreiieren, das erlaubt, aus einer anderen Perspektive die großen nationalen Probleme zu lösen. Man braucht Investitionen und Arbeitsplätze, man braucht eine andere Logik in unserer Beziehung zur Natur, man braucht neue Formen bei der Ausbildung von Indígenas und der interkulturellen Beziehungen. Wir brauchen auch eine neue Territorialität und vor allem eine neue politische Kultur.
Was bedeutet neue Territorialität?
Es muß anerkannt werden, daß Mexiko ein multiethnisches und multikulturelles Land ist. Diese Ethnien entsprechen nicht der Entwicklung, das sich das Land bei den Municipios (Verwaltungseinheit von Gemeinden) gegeben hat. Wir haben Regionen der Tzoltiles – Flüsse, Berge, Wälder – und sie haben Kapazität bewiesen, mit ihren eigenen Ressourcen umzugehen. Das provoziert Autonomieprozesse wie in Chiapas, welches das beste Beispiel für den autonomen Kampf der Völker der Tzotiles, Tojolabales etc. ist. Das bedeutet einen Bruch mit dem rückständigen Mexiko, aber ich hoffe nicht, daß dieser Bruch zur Assimilation mit der mestizischen, westlich geprägten Kultur führt. Wir wollen zumindest ein menschlicheres Entwicklungsmodell vorschlagen können, das anderen Werten und damit den Interessen der mexikanischen Bevölkerung entspricht.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Bewegung in möglichst allen Bundesstaaten präsent sein. Die Staatspartei setzt aber alles daran, den Konflikt zu regionalisieren, und auf Chiapas zu begrenzen.
Auch wenn sich der Konflikt bei den Indígenas, und besonders in Chiapas ausdrückt, ist es weder ein Problem der Indígenas noch von Chiapas. Armut, Ungerechtigkeit und Ungleichheit betrifft die ArbeiterInnen in der Stadt genauso wie Indígenas und Campesinos auf dem Land in ganz Mexiko. Das Problem der Demokratie und das des Regimes der Staatspartei ist ein nationales. Hier stimmen wir mit der EZLN überein. Das, was in Chiapas passiert, kann genauso in Oaxaca, San Luis Potosí oder anderen Bundesstaaten geschehen, in denen große Armut herrscht. Wir wünschen uns, daß der Kampf für den Übergang zur Demokratie friedlich ist. Das setzt voraus, daß die Staatspartei die vorhandenen Probleme anerkennt. Der letzte Bericht von Salinas de Gortari zur Lage der Nation malt uns ein Mexiko, in dem selbst die EuropäerInnen gerne leben würden: Viel Demokratie, eine starke Wirtschaft und eine noch größere Stabilität.
Ist die Bewegung auch in der Arbeiterschaft präsent?
Sie ist am Wachsen. In der CND ist der Arbeitersektor durch Gewerkschaften vertreten, der Convención Nacional de Trabajadores. Weiterhin gibt es den Nationalen Indígena- und Campesinokonvent, bald wird es den Nationalen Studentenkonvent geben. Die Frauen haben sich schon beim ersten Treffen zusammengeschlossen. Auch die “untere Mittelschicht” in Chiapas fordert inzwischen ihr Recht auf politische Partizipation und ist im CND präsent. Das bedeutet, daß die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft in der CND zusammengeschlossen werden, damit dieses Land auf friedlichem Weg transformiert werden kann.
Immer mehr Menschen organisieren sich ohne Partei. Wir werden stärker. In der Zone von Las Margeritas an der guatemaltekischen Grenze, wo Tojolabales leben, und an der Nordgrenze von Chiapas, zu Tabasco hin, wo Tzotiles leben, wurden schon autonome Regionen ausgerufen.
Wie stehen die Großgrundbesitzer in Chiapas zu einer Verhandlungslösung? Sind sie weiter dabei, ihre “Guardias blancas” (Privatarmeen, die z.T. mit Hilfe des mexikanischen Bundesheeres ausgebildet werden, Anm. d. Red.) aufzurüsten?
Wir stehen vor einer schwierigen oder einer einfachen Lösung. Die einfache Variante wäre, wenn alle Sektoren, die es in Chiapas gibt, an Verhandlungen zur Lösung der Konflikte teilnehmen würden. Das wäre gerecht. Aber viele wollen nicht und sagen, die PRI solle das Problem mit Gewalt “lösen”. Die “Guardias blancas” bestehen seit vielen Jahren. Die einzige Kraft, die wir haben, ist die der Mobilisierung. Wenn wir auf diese Art und Weise etwas erreichen, dann nicht nur für die Indígenas, sondern für das gesamte Volk von Chiapas. Und was in Chiapas geschehen wird, wird sich in ganz Mexiko widerspiegeln. Chiapas ist das, was wir “Spiegel der Nation” nennen.
Was bleibt von den Intellektuellen?
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürzlich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet bereits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zukunft “die Menschen blind handeln werden.” Wallerstein ist gewiß nicht der Einzige, der meint, die Gegenwart sei verwirrend und die Zukunft unvorhersehbar. In Lateinamerika tragen Jugendliche aus Randgruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsicherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirklichung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Dominikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoischen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industrialisierung Anfang dieses Jahrhunderts ablehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewegungen in den letzten Jahren. Die utopische Zukunftsvision ist jedoch verschwunden. Wenn es überhaupt eine Vorstellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozialdemokratischen Form der “Utopía Desarmada” des mexikanischen Politikwissenschaftlers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer literarisch gebildeten Intelligenz aufrechterhalten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kritisches Bewußtsein der Gesellschaft agierten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, sondern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apostel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Gottes”. Dieses Ansehen muß im Zusammenhang von Gesellschaften mit einer geringen Lesefähigkeit verstanden werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Hauptakteure auf der öffentlichen Bühne hervor, sondern auch – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Veränderung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch politischer Bedeutung für die lateinamerikanische Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemisphäre mitgestaltet. In den späten sechziger Jahren wurde die Definition von revolutionärem Schreiben immer enger gefaßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Padilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unterstützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der Sandinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zentralamerika spiegeln auch die traumatischen Nachwirkungen repressiver Militärregierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologische Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentlichen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Videos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika verspürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrängung wird von der wachsenden Privatisierung der Kultur noch verschärft. Zunehmend werden kulturelle Institutionen wie Galerien, Musikunternehmen und Fernsehkanäle von Privatunternehmern geführt. Sogar die nationalen Universitäten, traditionell Zentren politischer Aktivitäten, konkurrieren heute mit unzähligen privaten Universitäten, die in der Mehrzahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernsehmagnat Emilio Azcárraga, der Telenovelas in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der führenden Akteure der Kunstwelt geworden.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird sogar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor allem die des Fernsehens. Der argentinische Kulturkritiker Nestor García Canclini bezeichnet die Neuordnung des kulturellen Terrains als “Rekonversion”. Im Zeitalter von High-tech erfährt Kultur einen Bedeutungswandel. Ein hohes Niveau an Lesefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fernsehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität geworden.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich erschienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volkskunst beklagte, hört sich in diesem Zusammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesuskinder, die von den Gemeinden eingekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sandalen und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogenisierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie behaupten, daß Fernsehen, Massenmarketing und neue Technologien die Kultur demokratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybridkreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinamerikanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argument, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu erreichen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfinden. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aussehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschichten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der modernen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forderungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informationen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für lateinamerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimperialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technologien und Moden benutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, sondern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäischen und indigenen Einflüssen. Die etablierte Kultur hat sich später Tango, Bolero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvierteln haben, als die Verkörperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schönste Tango der Welt” des Argentiniers Manuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander verbindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Beispiel für den kulturellen Wandel. Trotzdem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindustrie ist, wurde Rock zur Vorhut des Widerstandes gegen strenge Moral und Familienhierarchien. Die südamerikanischen Militärregierungen machten die Rockmusik zum Mittel einer Widerstandsbewegung, indem sie Musikmagazine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rockmusik den Autoritarismus der älteren Generation, aber auch die idealistische Nostalgie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvinen/Falkland-Kriegs organisierte die Militärregierung ein Rockkonzert der Nationalen Solidarität, um so um die Unterstützung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um seinen neoliberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginalisierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesellschaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußballspiel oder dem Besuch des Papstes verglichen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hinzuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Lebenshaltungskosten), “Si saliera petróleo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich regnet es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Kontinents handeln. Bezeichnenderweise kandidierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Vargas Llosa für die Präsidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Guarachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Brasilianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerechtigkeit aufnehmen und – im Falle von Veloso – das Verhältnis zwischen Konsumkultur und “Authentizität” untersuchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruckten Wortes ist das Fernsehen, dessen Einfluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum verwunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinigten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache bewußt, daß die durchschnittliche Telenovela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Kolumbien 10 bis 15 Million Menschen erreichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich attraktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über dieselben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasilianische Produzenten übernehmen häufig Romane für das Fernsehen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wiederentdeckt worden, wobei ein Typ von Telenovelas produziert wird, der die US-Produkte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Ausdruck der Modernität und der Bildung eines nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger globaler Kultur geworden. Wie der argentinische Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideutige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frühere Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen verknüpft gewesen. Es war in einigen Ländern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literarische Intelligenz in Bezug auf seine pädagogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmenden Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzulehnen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexikanischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfähigkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plauderton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlungenen “Herbst des Patriarchen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunternehmen wie Joaquín Mortiz und Sudamericana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zumindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denkbaren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu vertreten, die früher schon von der Staatsbürgerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homosexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichtsschreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwischen oben und unten, Fiktion und Realität verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppositionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakomben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Freiheit ihn oft als Freiheitlich-Konservativen erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Konsumgesellschaft zu widerstehen – verholfen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Entschlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autonomie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und Allgemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Opposition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei revolutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschreiber.
Was für heutige Schriftsteller problematisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Vereinnahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schreibens in Trend oder Stil. “Magischer Realismus” war einst ein Wegweiser für lateinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exotik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kritiker die politischen und ethischen Funktionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kritiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteilsvermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezogen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populismus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion reduziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Fehlens anderer Unterscheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumentiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstlerischen Produkte, die mit der Kulturindustrie verbunden sind, und verdrängt so die hierarchische Autorität der Fachleute traditioneller Prägung. Hierarchien stürzen ist eine Sache, aber kritisches Urteilsvermögen zurückzuweisen, ist Sarlos Meinung nach eben schlimmer, weil der Verzicht, über Werte zu diskutieren, zur passiven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forderung nach Wiederaufwertung des Ästhetischen gerade im Zusammenhang mit Redemokratisierung und angesichts wachsender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Verteidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kritische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trotzen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rückkehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditionelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es befreit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzeitig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allgemein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schriftsteller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wiederum die Ära der internationale Bennetton-Epoche und den E-mail-Universalismus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie erscheinen mag: In der Epoche globaler Informationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität geworden.
Editorial Ausgabe 247 – Januar 1995
“Tierra y libertad! Viva Zapata” Der Schlachtruf, mit dem die zapatistische EZLN vor einem Jahr aus dem lacandonischen Urwald trat, mutete anachronistisch an – war er doch eine Referenz an die mexikanische Revolution vor rund achtzig Jahren.
Schnell schon wurde jedoch deutlich, daß die Forderung nach Land und Freiheit in Chiapas – aber auch in anderen Bundesstaaten – höchst aktuell ist. Zu viele der Forderungen von damals sind lediglich in der Rhetorik der Regierungspartei verwirklicht worden.
Der “Kampf um die Würde”, den die zapatistische Guerilla am 1. Januar 1994 aufgenommen hatte, blieb militärisch auf den vernachlässigten Bundesstaat im Süden beschränkt. Politisch erschütterte er jedoch das ganze Land. Die EZLN wurde zur Hoffnungsträgerin für grundlegende Veränderungen in ganz Mexiko, der Aufstand der Indígenas sollte den Anfang vom Ende der über sechzig Jahre währenden PRI-Herrschaft markieren.
Doch der Machtwechsel fand nicht statt. Und nach den Präsidentschaftswahlen vom August, die der blasse Technokrat Zedillo für sich entschied, zeigt sich die Opposition zerstritten und orientierungslos wie zuvor. Auch der Aufschwung der in diesem Jahr so oft beschworenen Zivilgesellschaft hat vorübergehend ein Ende gefunden.
Doch auch die PRI ist geschwächt aus den Ereignissen der letzten zwölf Monate hervorgegangen. Kaum jemand nimmt ihr noch die Versprechungen vom Eintritt in die “Erste Welt” ab, welche die Mitgliedschaft in NAFTA und OECD signalisieren sollten. Und die innerparteilichen Auseinandersetzungen gehen so weit, daß die Morde an führenden PRI-Politikern – wie Colosio und Ruiz Massieu – mögliches Ergebnis interner Machtkämpfe sind.
Nach einem Jahr konzentriert sich das politische Interesse wieder auf Chiapas. Seit dem 8. Dezember gibt es mit dem Vertreter des offiziellen Mexiko, Eduardo Robledo, und dem Repräsentanten der autonomen Gemeinden, Amado Avedaño, gleich zwei Gouverneure. In dieser Situation wird wohl keiner der beiden regieren können. Und die Ereignisse der letzten Wochen deuten eher auf eine Verhärtung der Lage denn auf weitere Verhandlungen hin. Auch wenn es am Tag der doppelten Amtsübernahme in Chiapas weitgehend ruhig blieb, mittelfristig ist mit einem Wiederaufflammen der Kämpfe zu rechnen. Die EZLN ist sich des Dilemmas, in dem sie steckt, wohl bewußt. Nimmt sie den militärischen Kampf erneut auf, wird sie einen Teil der Sympathie, die sie noch immer in ganz Mexiko genießt, verlieren. Akzeptiert sie die Hinhaltetaktik der PRI auf ewig, wird sie zu einer marginalen Gruppe in den unzugänglichen Urwäldern von Chiapas, die niemad mehr ernst nimmt.
Ein Jahr nach Chiapas
Der Amtsantritt des neugewählten Präsidenten Ernesto Zedillo am 1. Dezember 1994 war so unspektakulär wie selten in der Geschichte Mexikos. Er sollte ein Bild von Normalität zeichnen und den Eindruck erwecken, Mexiko sei zur Tagesordnung zurückgekehrt und der Konflikt in Chiapas sei auf ein beiläufiges und lösbares Problem reduziert worden. Zu dem Aufstand nahm Zedillo in seiner Antrittsrede nur ganz am Rande und lakonisch Stellung: Auf dem Verhandlungswege solle eine friedliche Lösung gefunden werden. Interessant war nur, daß Zedillo nicht bekanntgab, wer die Friedensverhandlungen mit der EZLN-Guerilla für die Regierung leiten wird. Denn der Nachfolger von Manuel Camacho Solis, Jorge Madrazo, hatte kurz vor dem 1.Dezember sein Amt niedergelegt. Was hat nichts zu sagen hat, weil es in Mexiko ein ungeschriebenes Gesetz gibt, nach dem alle in höheren Regierungspositionen sitzenden Politiker vor dem Amtsantritt eines neuen Präsidenten ihr Amt kündigen müssen.
Vor den Präsidentschaftswahlen am 21. August hatte es noch Hoffnungen auf eine tiefgreifende Veränderung der politischen Verhältnisse in Chiapas und dem restlichen Mexiko gegeben. Sie wurden durch den erneuten Sieg der PRI (49 Prozent der Stimmen) und das schlechte Abschneiden der linken Opposition PRD (16 Prozent) zunichte gemacht. Das Wahlergebnis und die Ermordungen des ursprünglichen Präsidentschaftskandidaten der PRI, Colosio, sowie des PRI-Generalsekretärs Massieu, die mehrfachen Mordanschläge auf Zedillo und die Zunahme der Repression gegen Oppositionelle schürten die Angst vor einem unkontrollierten Hochschaukeln von Gewalt zur Lösung von Konflikten im ganzen Land. Auch in linken, intellektuellen und oppositionellen Kreisen mehrt sich die Kritik an Marcos und der EZLN und es wird offen gefragt, inwieweit der Aufstand, beziehungsweise die Aufständischen, in Chiapas nicht mitverantwortlich sind für die Zunahme der Gewalt.
Eine Doppelmacht im Staat?
Bei dem Versuch, ein Jahr nach dem Aufstand in Chiapas Bilanz zu ziehen, erscheint das Bild von der Normalität, das die neue PRI-Regierung beim Amtsantritt abgeben wollte, trügerisch. Denn der Aufstand erscheint als das tiefgreifendste und einschneidendste Ereignis der letzten Regierungszeit und überschattet alle ökonomischen und politischen Modernisierungsprojekte von Ex-Präsident Carlos Salinas de Gortari zum Anschluß Mexikos an die “Erste Welt” (Freihandelszone mit den USA und Kanada, neoliberale Wirtschaftsreformen, Verfassungs- und Wahlrechtsänderungen). In ihrer bis zum 1.1.1994 unbekannten Verbindung von traditionellen indigenen Strukturen und postsozialistischem Diskurs fällt die Bewegung in Chiapas aus allen gängigen politischen Rastern. Die Verhandlungen zwischen Staat und EZLN, und das Fortbestehen der EZLN als “kriegführender Partei” in einem lokal begrenzten und kleinen Gebiet des nationalen Territoriums hat indirekt zu einer Tolerierung einer zweiten Macht im Staat geführt, was jeden Nationalstaat mit seinem Gewaltmonopol und seinem ausschließlichen Machtanspruch in den Grundfesten erschüttern muß.
Konflikte auf allen Ebenen
Die sozialen Konflikte und bewaffneten Auseinandersetzungen in Chiapas haben das politische System ins Wanken gebracht und der Gesellschaft und Politik einen Spiegel vorgehalten. Durch den Konflikt wurde deutlich, daß der sogenannte soziale Liberalismus von Salinas, der die Institutionalisierte Revolution ablösen sollte, die Mehrheit der MexikanerInnen ausschloß.
Seit dem Aufstand haben sich innerhalb der PRI die Konflikte zwischen den “PRInosauriern” und den Technokraten verschärft und zu einer bedrohenden Gewaltzunahme in den innerparteilichen Auseinandersetzungen geführt. Doch nicht nur in der PRI, sondern auch innerhalb der Linken – den sozialen Bewegungen und der PRD – hat Chiapas zu neuen Polarisierungen geführt. Auf der einen Seite hat die soziale Frage eine neue Aufwertung erfahren, auf der anderen Seite sind auch Differenzen über die Mittel des Kampfes für soziale Gerechtigkeit entstanden. Während die einen sich radikalisieren und den bewaffneten Kampf als das einzig noch bleibende Mittel propagieren, sind andere durch die Zunahme von Gewalt eingeschüchtert und warten ab. Von der Euphorie der über sechstausend Delegierten der CND (des Demokratischen Nationalkonvents), die sich Anfang August in der Selva Lacandona in Aguascalientes trafen und dem massiven öffentlichen Interesse ist nicht viel übriggeblieben. Das zeigt sich auch in den heftigen Positionskämpfen in den Versammlungen der CND. In der PRD, die mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Cárdenas vor den Wahlen Hoffnungsträgerin für ein baldiges Ende der PRI-Regierung war, sieht es nicht besser aus. Bis zu den Wahlen waren die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Partei weitgehend unter Kontrolle. Seit der Wahlniederlage und den offensichtlichen Wahlbetrügereien ist bei vielen PRD-Mitgliedern das Vertrauen in die Urnen erschüttert. Die Kompromisse, die die PRD während der Wahl eingegangen war, erscheinen im Nachhinein als unnütz, und das Setzen auf Wahlen für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ist infrage gestellt. Diese Polarisierungen innerhalb der PRD gefährden nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch die Existenz der PRD als immerhin drittgrößter Partei des Landes.
Wer ist für das Klima von Gewalt verantwortlich?
Schließlich hat der bewaffnete Aufstand der EZLN im Zusammenhang mit den Attentaten auf Colosio und Massieu inzwischen auch das linke Lager der Intellektuellen gespalten. Auch wenn sie sich von Gewalt als Mittel der Politik distanzierten, hatten sie doch geschlossen hinter den Aufständischen gestanden. Heute mehren sich die Stimmen, die den bewaffneten Aufstand für das Klima von Gewalt, das sich im Land ausbreitet veranwortlich machen.. Chiapas hat die mexikanische Gesellschaft verändert, ohne daß sich in Chiapas selbst etwas grundlegend geändert hätte. Weiterhin ist keine friedliche Lösung des Konfliktes absehbar.
Kasten:
Tägliche Auseinandersetzung in Chiapas
Am 20. November 1994 gab es Demonstrationen, Kundgebungen, Straßenblockaden und Besetzungen von Bürgermeisterämtern in neun Regionen des Bundesstaates als Protest gegen den Wahlbetrug und die Einsetzung des PRI-Gouverneurs Eduardo Robledo Rincón. 20.000 Menschen waren an diesen Aktionen beteiligt. Dabei wurden sieben Personen verletzt, vier davon schwer durch Gummigeschosse. Zehn Personen verschwanden.
Sowohl in Comitán als auch in San Cristóbal, wo der Hauptplatz von DemonstrantInnen besetzt wurde, gab es Provokateure. Sie bewarfen die Polizisten mit Steinen, woraufhin diese Tränengas und später auch Schußwaffen einsetzten und dabei von den Steinewerfern unterstützt wurden.
Eine Gruppe von Geschäftsleuten aus San Cristobal, die sich als “coletos auténticos” bezeichnen und sich über extremen Rassismus gegenüber den Indígenas definieren, begann eine Hetzjagd auf DemonstrationsteilnehmerInnen durch das Zentrum der Stadt: DemonstratInnen wurden überwältigt und anschließend der Polizei übergeben.
Der Rat der Indígena-RepräsentantInnen der Region “Altos”, CRIACH, protestierte gegen das Vorgehen der Polizei im Vorort “La Hormiga” von San Cristobal. Auch dort war massiv Tränengas eingesetzt und ein fünfjähriges Mädchen schwer verletzt worden. Dem Polizeichef wurde vorgeworfen, seine Einheiten zunächst nicht gegen die Provokateure eingesetzt zu haben. Mit diesem Vorgehen habe er die Hetzjagd der “coletos auténticos” provoziert.
Am 8. Dezember, dem Tag des Amtsantritts von Robledo, demonstrierten 10.000 Campesinos auf dem Hauptplatz der Bundeshauptstadt Tuxtla Gutierrez. Die offizielle Zeremonie, an der auch der neue Präsident Ernesto Zedillo teilnahm, mußte deshalb in einem anderen Gebäude als dem Regierungspalast stattfinden.
Der Hauptplatz war von schwer bewaffneter Polizei und Militär umstellt. Die Campesinos ließen sich nicht provozieren und es kam nicht zu den befürchteten Zusammenstößen.
Die Campesinos begleiteten Amado Avendaño – den Gegenkandidaten der Zivilgesellschaft, der als Parteiloser auf der PRD-Liste angetreten war – nach San Cristóbal. Dort bildete dieser mit Unterstützung der EZLN eine Gegenregierung. Avendaño wurde aufgefordert, für die “befreiten Zonen”, zu denen weder das mexikanische Militär noch PRI-Funktionäre Zugang haben, Programme für eine zukünftige Politik zu entwickeln.
Die Situation wurde allgemein als “sehr angespannt, aber noch ruhig” bezeichnet. Viele Indígenas verließen ihre Dörfer aus Angst vor Angriffen durch das Militär.
Die Revolution von Cardoso
Ich habe für Lula gestimmt, deshalb muß ich mich in diesem ersten Punkt sehr deutlich ausdrücken. Fernando Enrique Cardoso hat aufgrund seiner poltischen Verdienste gewonnen, nicht durch die Hilfe anderer. Die Figuren aus der Regierung, die ihm helfen wollten, haben ihm nur das Spiel erschwert. In Anbetracht der schlechten Erinnerungen, die sich mit Namen wie Ricupero und Stepanenko verbinden, hat Fernando Enrique Cardoso reagiert wie der chilenische Politiker, der in einer ähnlichen Situation seinen Verbündeten zurief, sie sollten ihm nicht helfen. Vielleicht hätte er das noch lauter rufen sollen, um sein Bild und das des Landes aufzubessern.
Wachstum und Armut
Fernando Enrique ist ein zu geistreicher Intellektueller, als daß sich seine Ideen in einem einzigen Satz zusammenfassen ließen. Wenn er sagt, Brasilien sei kein unterentwickeltes sondern ein ungerechtes Land, dann meint er damit, daß Brasilien noch ungerechter als unterentwickelt ist. Sicher weiß er, daß der Sertâo von Pariba oder Bahía unterentwickelt ist; was er ausdrücken möchte, ist, daß das wirtschaftliche Wachstum von Sao Paolo ungerecht ist. Die Statistiken sagen, die brasilianische Wirtschaft sei im vergangenen Jahr um fünf Prozent gewachsen, das Beschäftigungsniveau aber gleich geblieben. Ist das etwa kein Beispiel für ungerechtes Wirtschaftswachstum?
“Sao Paolo – Wachstum und Armut” ist der Titel eines Buches aus den siebziger Jahren, das wiederaufgelegt werden müßte. Erstens ist es eine exzellente soziologische Studie, und zweitens ist einer der Autoren Fernando Enrique Cardoso. Die Idee, die dem Buch zugrundeliegt, ist folgende: Die Wirtschaft Sao Paolos wächst, und mit ihr wächst die Armut.
Auf den Hügeln von Rio sieht man die Favelas schon länger, dicht bei den Hochhäusern der Mittelklasse. Brasilien wächst wie kaum ein anderes Land der modernen Welt, und an der Seite des Reichtums wächst die Armut.
Auch ein anderes Zitat von Fernando Henrique wird immer wieder angeführt: “Vergeßt das, was ich geschrieben habe.” Wenn er das jemals gesagt haben sollte, so glaube ich nicht, daß er das so meinte, wie es jetzt interpretiert wird. Warum sollte er seine intellektuellen Fähigkeiten leugnen, wenn das seine größte Stärke ist? Alle, die wie ich, in seiner Wahlkampagne für den Senat 1978 mitgearbeitet haben, wissen, daß seine politische Rolle damals die des Intellektuellen als Führungsfigur der Intellektuellen im Widerstand war. Das ist überhaupt die Bestimmung eines Intellektuellen: Andere Intellektuelle anzuführen. Als solcher konnte er sich nur auf seine Bücher und seinen Ruf stützen. Ein großer Teil der brasilianischen Intellektuellen sind zur PT übergegangen und andere – nicht so wenige, wie geglaubt wird – sind bei der PMDB (Partei der demokratischen Bewegung Brasilien: War die große, während der Militärdiktatur einzig zugelassene Oppositionspartei. Anm. der Red.) geblieben. Aber wie anders, als durch die Leitfigur Fernando Henrique, ließe sich erklären, daß so viele zur PSDB (Sozialdemokratische Partei – spätere Abspaltung von der PMDB) gewechselt sind?
Ich verstehe den Sinn dieses Satzes, der einen Skandal auslöste, nur so: “Versucht nicht, die Diskussion konkreter Fragen von heute kompliziert zu machen durch das, was ich in den siebziger oder achtziger Jahren geschrieben habe.” Intellektuelle, die ein Minimum an praktischer politischer Erfahrung haben, wissen, was das bedeutet. Wenn wir uns bereits schwer damit tun, heute ein konkretes Problem zu verstehen, so ist es doch noch schwieriger, auch die früheren Schriften der heutigen Protagonisten zu verstehen. Wenn ich, immer dann, wenn ich handeln muß, zu meinen damaligen Arbeiten zurückkehren würde, dann wäre mir sogar meine bescheidene politische Aktivität unmöglich. In Anbetracht eines konkreten Problems sagt kein Intellektueller, man möge seine Schriften vergessen. Aber Diskussionen über Texte stören die Analyse eines realen Problems.
Bürgerliche Erziehung
Die ersten Bücher von Fernando Henrique entstanden unter dem Einfluß Florestan Fernandes, einige in Zusammenarbeit mit Octavio Ianni. Sie handeln von ethnischen Problemen im Süden Brasiliens. Niemand muß erst lange abstrakte Diskussionen führen, um zu erkennen, daß diese Texte eine demokratische Gesellschaft fordern und ein Land, in dem niemand sich wegen seiner Hautfarbe erniedrigen muß. “Kapitalismus und Sklaverei”, die bemerkenswerte Doktorarbeit Fernando Henriques, ist eine Neuinterpretation der Wurzeln des brasilianischen Kapitalismus. In seiner brillianten Habilitationsschrift “Industrieunternehmer und wirtschaftliche Entwicklung in Brasilien” zeigt er, daß Unternehmer häufig staatliche Subventionen erhielten, ohne daraus Verantwortlichkeiten abzuleiten. Hat sich das bis heute geändert?
In dem Buch “Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika”, das er gemeinsam mit Enzo Faletto geschrieben hat, entwickelt er die Idee, daß Brasilien trotz seiner Abhängigkeit wachse. Das war ungewöhnlich in einer Zeit, in der wir glaubten, aufgrund unserer Abhängigkeit zur Stagnation verdammt zu sein. Darauf folgten die siebziger Jahre, die Texte des Kampfes für Demokratie, die in “Autoritarismus und Demokratie” und “Demokratie für den Wechsel” zusammengefaßt sind.
Ich glaube nicht, daß Fernando Henrique vergessen will, was er geschrieben hat, auch wenn er jetzt Präsident ist. Ich glaube auch nicht, daß das notwendig ist. Ich erinnere mich aber nicht nur an seine Texte, sondern auch an verschiedene Situationen – zum Beispiel, als wir gemeinsam Mitte der siebziger Jahre im Auftrag der UNO durch das peruanische Hochland reisten. Wir wollten dort zu Bauerndörfern zwischen dem Titicaca-See und Cuzco Kontakt aufnehmen und die Aktivitäten von Kooperativen unter der Regierung Belaunde Terry untersuchen.
Unsere soziologische Neugierde brachte uns an den Rand einer immer ärmeren Welt, bis wir schließlich in ein Dorf von Indígenas gelangten. Sie feierten die Einweihung ihres Abwassersystems, das mit Hilfe der Regierung und der Armee gebaut worden war. Die Dorfoberen kamen uns schwankend entgegen, um uns zu empfangen. Sie waren betrunken, kein Wunder bei einer solchen Feier, wo die Hauptspeise ein rattenähnliches Nagetier war, dazu gab es eine große Menge dunkelroter Chicha, ein Maisgebräu, das für westlich-christliche Eingeweide gänzlich unbekömmlich ist. Obwohl Fernando Henrique genauso gerührt war wie ich von dieser ulkigen Mischung aus Indígenas und Militärs, sagte er zu mir: “Das ist ziemlich viel für mich, Weffort, ich hatte eine sehr bürgerliche Erziehung.”
Wenn Fernando Henrique die Wahlen wegen des Plan Real gewonnen hat, dann will ich hier daran erinnern, daß dieser Plan bis jetzt das Ergebnis einer komplizierten Mischung aus technischem Know-How, Unterstützung durch die Eliten und die dominierenden Gruppen gewesen ist, sowie einer überraschend großen Sensibilität für jemanden wie Fernando, dem der “Geruch nach Volk” nicht gefällt, wie ebenso vielen anderen brasilianischen Politikern bürgerlicher Herkunft auch.
Aber ich frage mich, was er in seiner Regierung machen kann, mit den Verbündeten, die er hat. Wenn ich auf der Grundlage seiner bisherigen Werke sein Verhalten prognostiziere, dann wird er ein Staatschef sein, welcher der Modernisierung und Demokratisierung der Gesellschaft verpflichtet ist. Er wird sich wünschen, daß die Wirtschaft weiter wächst, allerdings weniger ungerecht. Hier sind wir wieder an dem Punkt, den ich eingangs erwähnte.
Das bedeutet, daß alle, die ihre Opposition auf den Glauben stützen, der Präsident sei ein Konservativer, sich auf dem Holzweg befinden. Das Problem ist, daß der Präsident, wie wichtig er auch sein mag, nicht die ganze Regierung ist. Er wird mit verschiedenen politischen Kräften und deren teilweise sogar gegensätzlichen Ansichten zusammenarbeiten müssen. Es gibt folgende klassische Formen für das Verhalten brasilianischer Eliten in einer solchen Situation. Die erste ist die “Politik der Versöhnung”. Die zweite sagt, daß niemand einem Konservativen ähnlicher ist als ein Liberaler an der Regierung. Die dritte schließlich erklärt: Liberale fordern, Konservative machen die Reformen.
Ein Präsident der Reformen
Das große Problem ist, daß diese Formen vielleicht im heutigen strukturell differenzierten Brasilien nicht wirksam sind. Soweit sich das absehen läßt, wird der Staat nur gemäß pluralistischer Prinzipien funktionieren können. Das bedeutet in der Praxis, daß der Präsident seine Regierung auf ein komplexes System von Verbindungen stützen muß. Jede dieser Verbindungen hat natürlich ihren Preis. Er wird seine Reformen nur mit der Hilfe einer reformbereiten Opposition verwirklichen können, die vielleicht sogar reformistischer ist als er selbst. Diese Reform-Opposition muß durch die PT angeführt werden, oder es wird keine geben.
Was die Opposition angeht, gilt es zu verstehen, daß es hier in diesem Land keinen Platz mehr für monopolistische Regierungen gibt, genausowenig wie es einen Platz für eine sogenannte Systemopposition gibt. In einem bestimmten Moment seiner Kampagne hat Lula Fernando des Plagiats beschuldigt. Merkwürdigerweise hat der “organische Intellektuelle” der Arbeiterklasse zu dieser Art Beschuldigung gegriffen, die doch eigentlich nur unter Intellektuellen Sinn macht. Plagiat oder die Übereinstimmung in Programmpunkten, die entscheidende Frage ist doch: Mit welcher Begründung könnte die PT der neuen Regierung die Unterstützung versagen?
Brasilien, so sagt Fernando, sei eher ungerecht als unterentwickelt, doch jetzt gibt es die Möglichkeit einer Veränderung, oder besser gesagt die Möglichkeit, mit Veränderungen zu beginnen. Und die einfachste Erklärung, die Spitze eines historischen Eisberges ist, daß einerseits die Regierung einen großen Intellektuellen an ihrer Spitze hat und andererseits die Opposition einen großen Arbeiterführer. Und beide werden, jeder auf seine Art, die beiden neuen Parteien PT und PSDB anführen. Von beiden wird erwartet, daß sie in der Lage sind, das zu definieren, was in der Politik die “Tagesordnung” des Kongresses heißt.
Wenn diese Politik in die richtige Richtung weist, wird sich unser Land hin zu einer Festigung der Demokratie bewegen, hin zu einer weniger ungleichen Gesellschaft. Wir werden auf eine weiter entwickelte, weniger ungerechte Gesellschaft zusteuern. Ist das nicht, was allgemein als Moderne definiert wird? Wenn das der Weg wäre, was ich auch hoffe, dann werden die Wahlen von 1994 in unserer Geschichte so wie die von 1930 eingehen, nämlich als der Anfang einer zweiten demokratischen Revolution.
Übernommen aus der Brecha vom 14.10.1994, La revolución de Cardoso
Bloßer Nachwahlkampf?
Spätestens seit den Wahlen im August dieses Jahres ist dieser “Dorn im Auge” der Salinas-Regierung nicht mehr eine bloße “Insel der Hoffnung” für die demokratische Opposition: Denn während im übrigen Mexiko die Wahlen ein weiteres Mal dubios verliefen und die amtierende Staatspartei PRI die gesamte Opposition erneut mit einer Flut von – in gerichtlichen Einzelverfahren langwierig zu klärenden – “Wahl-Unregelmäßigkeiten” in Schach hält, zeigte die zapatistische Enklave dem gesamten Land, daß Wahlen durchaus transparent und demokratisch organisiert werden können, wenn sie wie hier geschehen von zivilen, vom System der Staatspartei unabhängigen Instanzen durchgeführt werden.
Weiter wählen oder selbst handeln?
Angesichts der einschlägigen Erfahrungen mit den Wahlverläufen haben sich viele Oppositionsgruppen und vor allem die unabhängigen Campesino- und Indígena-Organisationen Mexikos enttäuscht von der reformistischen Alternative abgewandt, mit der besonders die groß-städtischen Intellektuellen um den “Grupo San Angel” für eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen geworben hatten. Deren Vorschlag, die von der (PRI-dominierten) Wahlbehörde diktierten Spielregeln zu akzeptieren und das Wahlergebnis anschließend mit der Staatspartei durch ein gemeinsames, schrittweises “Säubern” einzelner offensichtlicher Wahlfälschungen “auszuhandeln”, wird von den Spitzenpolitikern der Oppositionsparteien PRD und PAN auch nach den Wahlen einmütig vertreten; gleichzeitig beschließen jedoch ihre aus der Kontrolle geratenen Basiskomitees schon in zahlreichen Bundesstaaten, unter den gegebenen Bedingungen nie wieder an Wahlen teilzunehmen.
Die Kluft wird größer: Während der PRD-nahe Politologe Jorge Castañeda, ein Vertreter der San Angel-Gruppe, noch für die Anerkennung des offiziellen Ergebnisses der Präsidentschaftswahlen und für eine parallele “Nachverhandlung” jedes einzel-nen Mandates des gleichzeitig gewählten Nationalparlamentes plädiert, beschließen Vertreter von ca. 300 Campesino- und Indígena-Organisationen am symbolträch-tigen 12. Oktober in San Cristóbal – mit Unterstützung von ca. 20.000 Indígenas aus Chiapas -, einen anderen Weg einzu-schlagen: den Weg der Regionalauto-nomie.
Basta Ya!
Da weder die “saubersten Wahlen der mexikanischen Geschichte” noch monatelange Verhandlungen mit der Regierung eine demokratische Öffnung des PRI-Systems bzw. lokale Freiräume erwirken konnten, beschließen an diesem “Nationalen Tag für Demokratie und würdigen Frieden” die Delegierten aus den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero, Michoacán, Veracruz, Hidalgo und Sonora, das System der Staatspartei aus ihren Regionen zu drängen und Freiräume für selbstbestimmtes politisches Handeln zu schaffen, statt auf Konzessionen von oben zu hoffen. In einigen Bundesstaaten war diese Entscheidung, die Demokratisierung von unten zu betreiben, schon sofort nach den Wahlen gefallen: So sind Ende August alle Regierungsvertreter aus dem Purhépecha-Hochland in Michoacán, einer Hochburg der PRD-Opposition, vertrieben und ihre Büros versiegelt worden, nur noch die paramilitärische Polizei durchkreuzt die Region auf ihrer nächtlichen Suche nach “vom Ausland gesteuerten Guerrillas”.
Doch zur Zeit bildet Chiapas den landesweiten Schwerpunkt des Kampfes gegen das PRI-System, da hier die Wahlfälschung am lückenlosesten dokumentiert werden konnte. Sowohl die EZLN als auch die Nationale Demokratische Konvention (CND) haben den Sturz des angeblichen Siegers der ebenfalls im August abgehaltenen chiapanekischen Gouverneurswahlen, des PRI-Kandidaten Eduardo Robledo, und die Anerkennung seines Gegners, des von einem breiten Bündnis von Organisationen getragenen Oppositionskandidaten Amado Avendaño, zu ihren Hauptforderungen gemacht.
Autonomie für wen?
In der “Erklärung von San Cristóbal” vom 12. Oktober fließt der Kampf um die “Verteidigung des Wählerwillens”, also um die Amtseinsetzung Avendaños, mit dem Kampf um Regionalautonomie zusammen. Indem somit Indígena-Organisationen, städtisch geprägte Oppositionsgruppen und soziale Bewegungen gemeinsame Strategien des zivilen Widerstands entwickeln – von der “Eroberung” PRI-dominierter Rathäuser über die Schließung von Regierungsinstitutionen, die Vertreibung von PRI-Funktionären und Regierungsbeamten bis zum Boykott jeglicher Steuern und Abgaben sowie der Rückzahlung von Krediten -, drückt sich nicht nur das im August auf der 1. Demokratischen Konvention in Aguascalientes geschlossene Bündnis (zwischen Zivilgesellschaft und Indígena-Völkern) aus, sondern darüber hinaus spiegeln diese gemeinsamen Strategien einen neuartigen und erstmals am 1. Januar vom EZLN artikulierten Prozeß der “Verbürgerrechtlichung” der Indígena- und Campesi-nobewegung wider: An die Stelle “exklusiv indianischer” Forderungen tritt in der konkreten Praxis des Kampfes um Autonomie eine alle Bevölkerungsgruppen betreffende Demokratisierung auf der lokalen und regionalen Ebene, also genau dort, wo das System des PRI-Kazikentums am stärksten verwurzelt ist und bis heute am effektivsten funktioniert.
Das Projekt pluriethnischer Regionen
Die “Erklärung von San Cristóbal” und das ihr zugrundeliegende, von 13 Indígena-Organisationen unterzeichnete Dokument vom September 1994, “die Autonomie als neue Beziehung zwischen den Indígena-Völkern und der Nationalgesellschaft” betonen daher, daß die Indígena-Bewegung zwar aus historischen Gründen zum Protagonisten des Kampfes um Regionalautonomie geworden sei, daß es jedoch nicht um das Errichten von Privilegien und von “ethnisch homogenen” Gebieten gehe:
“Die Autonomie, die wir fordern, ist kein neues Ausschlußprojekt und stellt sich auch nicht abseits des Strebens der Mehrheit der Mexikaner nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit. Im Gegenteil, die Autonomie ist der indianische Vorschlag, um zum ersten Mal in der neueren Geschichte in ein demokratisches Leben eintreten zu können; es ist auch der Beitrag der Indígena-Völker zur Errichtung einer demokratischeren, gerechteren und menschlicheren Nationalgesellschaft. In diesem Sinne identifiziert sich unsere Autonomieforderung mit dem Kampf aller nicht-indianischen Mexikaner, die eine neue Gesellschaft erstreben. Unser großes Projekt politischer Autonomie schließt auch niemanden im Inneren der Regionen aus, in den verschiedene Gruppen zu leben. Es sieht in den Regionen, in denen verschiedene soziokulturelle Gruppen oder Völker leben, die Entscheidungsfreiheit derselben vor, um in Einheit und Verschiedenheit, nach den Prinzipien von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt, zusammenzuleben. Es geht also um die Errichtung plurikultureller oder pluriethnischer Regionen”.
Kompetenzen der autonomen Regionen
Ein derartiges Autonomie-Projekt bezweckt die Einführung einer zusätzlichen regionalen Zwischenebene oberhalb des Municipio-Distriktes und unterhalb der Bundesstaatsebene. Die Region betreffen-de Entscheidungen sollen zunächst durch die von den verschiedenen Organisationen plural besetzten Regionalräte und später durch die von Delegierten aller Dorfgemeinden gebildeten Regionalparlamente getroffen werden; die Kompetenzen sollen den pluriethnischen Regionen Mexikos in einem Drei-Stufen-Modell übertragen werden: In einer ersten Phase beschränken sich die Kompetenzen auf eine administrative Dezentralisierung, die vor allem die Selbstverwaltung öffentlicher Haushaltsmittel und die eigenständige Erarbeitung von regionalen Entwicklungs- und Ressourcennutzungsplänen umfaßt. Der zweite Schritt des Indígena-Projektes besteht aus der “Kul-tur-Autonomie”, der souveränen Entscheidung über Sprache, Erziehung, Religion, Kommunikationsmittel usw. In der dritten Autonomiephase soll den Regionen politische Kompetenzen hinsichtlich der territorialen Souveränität und der Entscheidungsmechanismen zur Ernennung ihrer lokalen, regionalen und nationalen Vertreter zugestanden werden. All dies basiert auf der rechtlichen Grundlage der von Mexiko längst unterzeichneten ILO-Konvention 169 über Territorialansprüche indigener Völker.
Erste Schritte zur Regionalautonomie in Chiapas
Den detaillierten Dokumenten folgen seit dem 12. Oktober konkrete Taten: Im Norden des Bundesstaates hat die mehrheitlich von Tzotzil, Chol und Zoque gebildete Campesino-Organisation CIOAC bereits die “Autonome Indígena-Region Nord-Chiapas” mit 11 Municipaldistrikten und einer Bevölkerung von 120.000 Einwohnern ausgerufen. Die Rathäuser von Soyaló, Simojovel und Huitiupan wurden besetzt und deren ,dank Wahlfälschung, amtierende PRI-Bürgermeister wegen “Korruption und Unfähigkeit” abgesetzt. Die Fincas von Ixtapa und Jitotol wurden beschlagnahmt und an landlose Familien übergeben, die gesamte Region wird zur Zeit mit Hinweisschildern versehen, in denen Regierungsbeamte darauf hingewiesen werden, daß “sie ein Eindringen in die autonome Zone selbst verantworten müßten”. Alle Verhandlungen mit Regierungsinstanzen sind abgebrochen worden, bis “eigene, demokratische Institutionen an ihre Stelle” treten. CIOAC-Sprecher Arturo Luna erklärt: “Jetzt beginnen wir langsam, uns die Rathäuser zu nehmen, wir trauen uns, uns selbst zu regieren… Wir merken, wir können regieren und unsere eigenen Pläne erstellen für Regionalentwicklung, Infrastruktur, Erziehung und nach den Erfordernissen unserer Realität”.
Als nächstes erklären die 38 Dörfer des Marqués de Comillas, einer Grenzregion der Selva Lacandona, die nicht vom EZLN kontrolliert wird, ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Municipio-Distrikt Ocosingo, einem von PRI-Kaziken und Viehhändlern beherrschten Ort. Das jetzt “freie Municipio Comillas” wird von einem aus allen Dorfautoritäten und vier regionalen Campesino-Organisationen zu-sammengesetzten Kollektivrat regiert, alle Zufahrtswege sowie die Verbindungsstraßen in die benachbarten Bundesstaaten Yucatán und Campeche sind gesperrt.
Gleichzeitig rufen ca. 15.000 Mitglieder der Kleinbauernkaffee-Organisation OR-CAO am Südrand des vom EZLN kontrollierten Territoriums die “Autonome Region Selva” aus. Neben anderen Regierungsinstanzen werden alle Schulen sowie der Sitz der Schulverwaltung geschlossen: “Die zweisprachigen und einsprachigen Lehrer dieser Schulen dürfen nicht weiterarbeiten, bis sie ein Erziehungsprojekt ausarbeiten, das unseren Bedürfnissen entspricht und das auch politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte einbezieht. Wir, die Dorfgemeinden, werfen die Lehrer nicht raus, sondern sie sollen sich unserem Kampf anschließen”, erklärt Juan Vázquez von der ORCAO.
Wie in Chiapas so in Mexiko?
Bis Anfang November, also knapp einen Monat vor der geplanten Machtübergabe an die neuen PRI-Regierungen von Zedillo in Mexiko-Stadt und von Robledo in Chiapas, umfassen die mittlerweile vier autonomen Regionen schon 58 Municipios und mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Bundesstaates Chiapas. Doch “Chiapas darf nicht allein gelassen werden”: Die Nationale Konvention der Indígena- und Campesino-Organisationen würdigt Ende Oktober die Autonomiebewegung als wichtigsten Beitrag der Indígena-Völker zur Demokratisierung Mexikos, als einen konkreten Schritt im Übergang “vom zivilen Widerstand zum zivilen Aufstand”, die Konvention ruft daher ihre Mitgliedsorganisa-tionen im ganzen Land zur Nachahmung auf.
Der zivile Widerstand in Chiapas
1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den bewaffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfälschung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Antwort der Indígena-Völker in verschiedenen Gegenden des Bundesstaates Chiapas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zivilen Ungehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregierung soll ihre verfassungsmäßigen Pflichten erfüllen. Damit vertieft sich der chiapanekische Konflikt, er wird zur nationalen Angelegenheit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehorsam ist bekanntermaßen ein Bündel von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze übertreten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Ungehorsams dessen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und friedlichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapanekischen Bevölkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedlichen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Politik der Zentralregierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundesstaat aufzwingen will. Sie organisieren den wichtigsten zivilen Ungehorsam in der Geschichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unserem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Ausnahmefällen. Daher gewinnt die Entscheidung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wurden blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung aufzuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Präsidentschaftswahlen 1988 hat der damalige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wahlen am 6. Juli von seiner Parteispitze gestoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art versucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wieder dazu, diese Maßnahmen aufzugeben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Politiker vor den diesjährigen Wahlen bekräftigt, sie würden Aktionen zivilen Widerstands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wahlen am 21. August wurde deutlich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentralmacht alle Rechte vorenthalten haben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstverständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Regierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Landbesetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Autonomie tritt jetzt die Forderung, denjenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dachverbandes unabhängiger Bauernorganisationen Coordinadora Estatal de Organizaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Gemeinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauernverbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Partido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäuser von Simojovel, Huitupan und Soyaló besetzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, demokratischer Weise eine Regierung heraus, die während ihrer gesamten sechsjährigen Amtszeit die soziale Realität in unserem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderungen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort besprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im Innern nie zu tun pflegt. Da sich Don Claudio X. zur Zeit nicht auf mexikanischem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu erklären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investitionsprojektes zu lösen. Ähnlich wie verschiedene indianische Verwaltungen in den USA plane die mexikanische Regierung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er erläuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen würden irgendwann auch die Indígenas profitieren, da sie ja Aktien erwerben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Angesichts der Sprachlosigkeit der Reporter bat der Unternehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chiapaneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokratisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Erklärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Menschenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zweischneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nachzukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig saubere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Ausmaßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzusetzen, einen Helfershelfer früherer Regierungen und einen Büttel der Großgrundbesitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden verkündet und gleichzeitig die umfangreichste Kriegsmaschinerie der mexikanischen Geschichte in einem einzigen Bundesstaat zusammengezogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitätsferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unterhändler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen einzigen Zapatista auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beobachtungs-Camps in der Nähe der Militärsperren behauptete Madrazo, einen Beitrag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegenteil hindeutet. Die abtretende Regierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerproteste und des Drucks der Weltöffentlichkeit von ihrer Vernichtungspolitik ablassen, verfolgt jedoch weiterhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu widersetzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazikentum zu konsolidieren, die Sozialausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdölvorkommen – den multinationalen Konzernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlösung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indígena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Autonomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Regierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Optimismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurzsichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositionskandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Interessen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächtigen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapanekischen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen eingesetzten, unabhängigen Wahlprüfungsgerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas werden muß, um den Prozeß des demokratischen Übergangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und einiger PRD-Politiker – keiner Verhandlungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deutliche Schlußfolgerungen ziehen. Der soziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln begonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Deshalb sind wir verpflichtet, ihnen zu antworten. Und ihnen zu antworten bedeutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kollektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Konvention (CND) Mexikos.
Kein Artikel von Gunther Dietz
Seit Juli dieses Jahres untersucht Gunther Dietz im Rahmen eines Dissertationsstipendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung Transformationsprozesse in den Indígena-Gemeinden der Meseta Purhépecha im mexikanischen Bundesstaat Michoacán. Er arbeitet auch für die Indígena-Nachrichtenagentur AIPIN (Agencia Internacional de Prensa India), die auf dem ganzen Kontinent tätig ist und über einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen verfügt. Mit mehreren AIPIN-MitarbeiterInnen begleitete er einen 60 Kilometer langen Protestmarsch der Purhépecha-Indígenas nach Morelia, der Hauptstadt des Bundesstaates Michoacán.
Die Entführung
Nach Abschluß der Indígena-Proteste wurde er am 28. September von drei bewaffneten Männern in Zivil festgenommen, als er am Busbahnhof von Morelia auf die Rückfahrt nach Purhépecha wartete. Dietz wurde in ein zweites Auto verfrachtet, wobei es den Entführern gelang, Rogelio Marcado, Leiter des AIPIN-Regionalbüros von Michoacán, abzuschütteln, und wurde in die rund 500 Kilometer entfernte Hauptstadt (Mexiko, D.F.) gefahren.
Einer der Männer, die ihn verhaftet hatten, gab sich als Mitglied der “Nationalen Sicherheit” (Seguridad Nacional), einer Art Geheimpolizei, aus. Der Hamburger Wissenschaftler erhielt keinerlei Gelegenheit, sich mit seiner Frau oder mit einem Vertreter der Deutschen Botschaft in Verbindung zu setzen.
Die Verhöre
In der Hauptstadt angekommen, wurde Gunther Dietz in die Einwanderungsbehörde (Instituto Nacional de Migración) gebracht, wo ihm zuerst seine Tasche mit persönlichen Papieren und Unterlagen von AIPIN abgenommen wurde. Anschließend begann ein mehrstündiges Verhör durch zehn (!) Männer einer “Grupo Especial”, wobei er permanent gefilmt und seine Aussagen auf Tonband aufgenommen wurden. Obwohl er mehrmals auf den offiziellen Charakter seiner Studien hinwies und auch mehrere Kontakte zu Regierungsstellen angeben konnte, wurde er lediglich über politische Kontakte in Michoacán ausgefragt und seine Arbeit als subversiv dargestellt.
Nach einer kurzen Pause wurde das Verhör weiter intensiviert und mehrere Stunden fortgesetzt. Ihm wurde sogar vorgehalten, daß er mit anderen AusländerInnen an einem “Komplott” in der Meseta Purhépecha beteiligt sei. Dabei wurden ihm unzählige Fotos von AusländerInnen vorgelegt, die angeblich “Indios aufstacheln”. Auf vielen der Fotos waren fünf seiner StudentInnen aus Hamburg zu sehen, mit denen er im Juli im Rahmen einer Exkursion der Universität Hamburg eine empirische Studie in Michoacán durchgeführt hatte. Je länger das Verhör dauerte, um so abstruser wurden die Anschuldigungen: Zwischenzeitlich rückte er sogar zum Organisator einer Indígena-Rebellion auf.
Erst am Abend wurde ihm erlaubt, die Botschaft zu benachrichtigen und seine Frau anzurufen, die daraufhin die “Mexikanische Liga für Menschenrechte” einschaltete, welche sich – allerdings vergeblich – um seine Freilassung bemühte. Auch die Intervention der Friedrich-Ebert-Stiftung und des PEN-International blieb ohne Wirkung.
Statt dessen wurde er um Mitternacht zum dritten Mal verhört. Thema diesmal: Der Aufstand der ZapatistInnen und seine Kontakte zu Volks- und Nichtregierungsorganisationen in Chiapas – dabei war Gunther Dietz noch nie in Chiapas. Erst weit nach Mitternacht und nachdem er die Stimme verloren hatte, wurden die Verhöre beendet. Ohne die Verhörprotokolle ausreichend einsehen zu können, mußte Gunther Dietz diese unterschreiben, bevor er in ein Gefängnis gefahren und bis zum nächsten Morgen in eine Einzelzelle gesperrt wurde. Zum ersten Mal nach eineinhalb Tagen durfte er einige Stunden schlafen.
Die Ausweisung
Am nächsten Tag wurde er zwar von einem Arzt im Gefängnis untersucht, doch weder seine Stimmbänder noch seine Grippe wurden behandelt. Sofort nach dem Arztbesuch wurde er zum internationalen Flughafen gefahren, wo er erneut bis zum Abend eingesperrt wurde. Ein Vertreter der Migrationsbehörde erklärte ihm, daß seine Behörde keinerlei Einfluß auf seinen Fall habe. Die Entscheidung würde von der Geheimpolizei getroffen.
Um acht Uhr abends erfuhr er von einem Lufthansa-Angestellten, daß er ausgewiesen und mit der nächsten Maschine eine halbe Stunde später nach Frankfurt geflogen werden würde. Dort kam er krank und ohne Geld am nächsten Tag an, und fuhr per Anhalter zehn Stunden nach Hamburg.
Erst dort konnte er erneut Kontakt mit seiner Frau aufnehmen, die seit dreißig Stunden keine Nachricht mehr von ihm hatte. Fast unnötig anzumerken, daß er weder seine Tasche mit den Dokumenten zurückerhielt, noch die Papiere, die er unterschreiben mußte. Bis heute hat er den offiziellen Grund seiner Ausweisung nicht erfahren.
Gezielte Repression
Die gesamten Umstände der Verhaftung und Ausweisung von Gunther Dietz weisen darauf hin, daß er Opfer der gezielten Repression der mexikanischen Regierung geworden ist. Nicht zum ersten Mal hat die Regierung ihr unliebsame AusländerInnen des Landes verwiesen. Wer nicht nach Mexiko kommt, um in die neoliberale Wirtschaft zu investieren und Geschäfte zu machen oder alte Azteken- und Maya-Tempel zu besichtigen und die schönen Strände zu genießen, ist verdächtig. Und wer sich für die Lage der Ärmsten der Armen, der Indígenas, interessiert, ist ganz besonders verdächtig. Insbesondere deren Lage hat sich durch NAFTA, den Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada, noch weiter verschlechtert. Doch Chiapas hat gezeigt, daß die Indígenas nicht mehr bereit sind, Unterdrückung und Ausbeutung ohne Gegenwehr weiter zu akzeptieren. Veränderung ist angesagt. Doch statt auf Entwicklung setzt die mexikanische Regierung weiterhin auf Repression. Zeugen, zumal aus dem Ausland, sind da unerwünscht.