Monolog der Macht

Nach langem Hin und Her, nach kleinen Fortschritten und großen Enttäuschungen in den Verhandlungen hat die Hoff­nungslosigkeit einen neuen Hö­hepunkt erreicht. Seit Ende Au­gust 1996 hat die EZLN wegen anhaltender Feindseligkeiten und Wortbrüche der Regierung Ze­dillo den Verhandlungsprozeß unterbrochen, doch die Krise der letzten Wochen macht die ohne­hin schwierige Situation noch komplizierter.
Ihren Ausgang nahm die ak­tuelle Verhandlungskrise bereits am 29. November letzten Jahres, als die parlamentarische Ver­mittlungsgruppe COCOPA ihre endgültige Ausarbeitung der Ab­kommen von San Andrés über “Rechte und Kultur der indige­nen Völker” mit dem Hinweis an den Präsidenten Ernesto Zedillo weiterleitete, sie würde nur Zu­stimmung oder Ablehnung ak­zeptieren, aber keinerlei weitere Modifikation.

Nachträglicher Rückzieher des “besoffenen” Ministers

Das Abkommen war im Februar 1996 zwischen EZLN und Regierung vereinbart worden und beflügelte die Hoff­nung auf substantielle Reformen und eine friedliche Lösung des bewaffneten Konfliktes in Chia­pas. Und zunächst sah es auch tatsächlich so aus, als würde die Regierung Wort halten.
In Abwesenheit Präsident Ze­dillos, der auf Staatsvisite in Ländern Südostasiens weilte, versicherte Innenminister Emilio Chauyffet, der Entwurf sei für die Regierung akzeptabel, nur könne er ihn vor der Rückkehr des Präsidenten nicht offiziell unterzeichnen. Doch nach der Rückkehr des Staatsoberhauptes und nachdem dieser sich eine Frist “zur Durchsicht und Klä­rung” ausgebeten hatte, kam die brüske Absage. Chauyffet er­klärte – symptomatisch für die Regierungselite Mexikos – er habe den Entwurf nur deshalb positiv bewertet, weil er sich vorher mit einem alkoholischen Getränk, Chinchon, betrunken hätte. In den folgenden Wochen setzten Zedillo und die Hardliner in seiner Regierung sich mit ei­ner Juristenriege um Ignacio Burgoa Orihuela, dem Vorsit­zenden des Verbandes mexikani­scher Juristen, zusammen, um mit spitzfindigen, scheinbar un­wichtigen Bemerkungen am Ori­ginaltext der COCOPA dessen In­halte auszuhöhlen und damit die Verhandlungsergebnisse von San Andrés zu entstellen.
Freilich lehnten die Zapatistas Zedillos Gegenvorschlag Mitte Januar nach wenigen Tagen Be­denkzeit ab und erteilten der “arroganten kreolischen Haltung, die in der mexikanischen Macht­elite noch immer weiterlebt und der rassistischen Überzeugung anhängt, daß Indios sich nicht selbst regieren können” (so der Historiker und EZLN-Berater Antonio García de León in ei­nem Kommentar) eine glatte Ab­fuhr. Da nützte es der Regierung auch nichts, an den traditionell starken Nationalismus der mexi­kanischen Bevölkerung zu ap­pellieren, indem sie behauptete, die Anerkennung indigener Au­tonomie “führe zur Balkani­sie­rung und Kleinstaate­rei” in Me­xiko und stelle somit eine Gefahr für die Souveränität des Landes dar.
Ein Vorwurf, der vor dem Hintergrund der jüngst ans Licht gekommenen Skandale um die Verbindungen des Militärs zur Drogenmafia und die grotesken Verwicklungen höchster Funk­tionäre in Korruptions- und Mordfälle besonders absurd er­scheint. So absurd, daß sich die Öffentlichkeit nicht überzeugen lassen wollte und internationale Beobachter nachdrücklich die Einhaltung des Abkommens von San Andrés forderten. In Anbe­tracht der Tatsache, daß dieses weitgehend dem Abkommen Nr.69 über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisa­tion ILO, einer UN-Sonderorga­nisation, entspricht, ist Letzteres sicher nicht die “Einmischung in innere Angelegenheiten”, die die mexikanische Regierung darin sehen wollte. Schließlich wurde das ILO-Abkommen 1989 auch von Mexiko unterzeichnet.

Ablenkungsmanöver in der Presse

Als Zedillo und die um ihn gescharte Machtclique innerhalb der seit beinahe 70 Jahren regie­renden Partei der Institutionali­sierten Revolution PRI sich be­wußt wurde, daß sie die intel­lektuelle Auseinandersetzung zu diesem Thema mangels Argu­menten nur verlieren konnten, verlegte sich die intrigenerprobte Machtmaschine darauf, aus dem Hinterhalt zu operieren: Wäh­rend in den folgenden Wochen ganz Mexiko über den Justiz­skandal um den Staatsanwalt Lo­zano Gracía, seinen Gehilfen, den Strafverfolger Chapa Beza­nilla und die Seherin “La Paca” staunen durfte und mal wieder ein bißchen in der Ermittlungs­suppe um den Mord am PRI-Prä­sidentschaftskandidaten Colosio herumgerührt wurde (siehe LN 273), gingen die Warnungen der COCOPA-Mitglieder in der Tages­presse unter. Immer wieder ver­suchten diese, darauf auf­merk­sam zu machen, daß es sowohl eine “Kampagne zur Dis­kreditie­rung der COCOPA” ge­be, als auch ganz direkten “Druck auf deren Mitglieder”, wie der PRD-Abge­ordnete Heberto Castillo – eben­falls Mitglied der Vermittlungs­kom­mission – sich ausdrückte. In einer Erklärung der Cocopa ist nach der Kampagne der letzten Wochen nun keine Rede mehr davon, daß das Abkommen von San Andrés unantastbar sei. Die parlamen­tarischen Ver­mittler sind unter dem präsidentialen Druck eingeknickt und räumen ein, daß durchaus über “bessere Formulierungen” nachgedacht werden könne und mahnen die “Dialogbereitschaft” beider Kon­fliktparteien an. Im Klartext: Auch die COCOPA verteidigt das bereits geschlossene Abkom­men nicht mehr, wie sie ursprünglich beteuert hatte. Damit ist die EZLN wieder auf sich alleine gestellt.

Aushöhlung des Abkommens

Die Erklärung der COCOPA läuft letztlich darauf hinaus, daß sie sich mindestens mit einer Neubearbeitung des Ver­trags­ent­wurfes, wenn nicht sogar mit Neuverhandlungen des ei­gentlich längst unterzeichneten Abkom­mens abfindet. Und dabei brin­gen ihre Mitglieder nicht einmal den Mut auf, mit dem Finger auf diejenige zu zeigen, die von Anfang an den Dialog und später die Verhandlungser­gebnisse zum Scheitern bringen wollte: Die Regierung. Stattdes­sen müssen sich die Zapatistas nun anhören, ihre Dialogbereit­schaft sei “verbesserungsbedürf­tig”. Zynischer geht es nicht.
Präsident Zedillo und die als “Dinosaurier” bezeichneten Bos­se der diversen einflußrei­chen Cliquen in der PRI dürften dagegen frohlocken. Innenminis­ter Chauyffet kann fortfahren bei der Militarisierung weiter Teile vor allem Süd-Mexikos und der Polizeistruktur der Hauptstadt. Verhaftungen Oppo­sitioneller, “Verschwindenlassen” und poli­tischer Mord gehören mittler­weile zur Tagesordnung in Guer­rero, Oaxaca und Tabasco. Auch der “Krieg niedriger Intensität” in Chiapas geht weiter.
Kaum jemand außerhalb der zapatistischen Solidaritätskomi­tees und einer Handvoll Intel­lek­tueller hat bisher die Trag­weite dessen erfaßt, was das Ein­knicken der COCOPA vor dem Präsidenten wirklich bedeutet: Wieder einmal setzt sich die Exekutive über die Legislative hinweg. Die Rechtlosigkeit in der mexikanischen Gesellschaft wird exemplarisch deutlich. Wie soll ein Dialogprozeß funktionie­ren, wenn bereits beschlossene Ergebnisse wieder zur Disposi­tion gestellt werden? Wieder einmal zeigt sich der mexikani­sche Präsidentialismus als die “perfekte Diktatur”, als die der peruanische Schriftsteller Vargas Llosa das mexikanische System bereits vor vielen Jahren be­zeichnete. Und damit erfährt nicht nur in Chiapas, sondern in ganz Mexiko vorerst eine Hoff­nung auf Veränderung eine glatte Ohrfeige, die das Land gerade jetzt in der schwersten Wirt­schafts- und Sozialkrise seiner Geschichte so dringend bräuchte: Die Hoffnung auf eine grundle­gende Demokratisierung der Ge­sellschaft.

Bis auf die Socken ausgezogen

Wieviel schulden Sie Ihren Gläubigern?

Mehr als drei Millionen Pe­sos, also rund 390.000 US-Dollar.

Wie kam es dazu?

Mein Vater und ich besaßen bis vor kurzem einen Lebens­mit­telgroßhandel auf dem Cen­tral de Abastos, dem zentralen Markt von Mexico-Stadt, und außerdem Län­dereien in diversen Bun­des­staaten. 1988 nahmen wir einen Kre­dit in Höhe von 200.000 Pe­sos auf, damals etwa 80.000 US-Dol­lar. Wir wollten das Geld primär in den Guave-An­bau stecken. Aber das Wetter machte uns ei­nen Strich durch die Rechnung: Über­schwem­mungen und Hagel ließen von der Ernte nichts übrig. Un­sere Lagerhallen blie­ben leer.

Sie haben einen Kredit über 200.000 Pesos aufgenommen, müs­sen aber 3.000.000 zurück­zahlen. Die Banken fordern von Ih­nen jetzt also mehr als den zehn­fachen Ausgangsbetrag?

Ja, das sind unglaubliche Zins­sätze. Monatlich haben wir neue Schuldscheine zur Tilgung un­terschreiben müssen. Inzwi­schen wurde unser Grundbesitz ver­kauft, außerdem mehrere La­ger, sechs Autos und zwei LKWs. Die Anwälte der Banken wol­len keine Kompromisse; sie setzen auf Drohbriefe und Tele­fon­terror: “Wir ziehen dich bis auf die Socken aus!”, ist der üb­liche Spruch. In­zwischen haben die Gläubiger sogar unser Ge­schäft auf dem Zentralmarkt ver­scher­belt und sind dabei, meine El­tern auf die Straße zu setzen.

Aber diese Praktiken sind doch eigentlich un­gesetzlich …

Deshalb haben sich die ver­schul­deten Land- und Forstwirte schon 1992 zusammengetan. Damals wurde uns langsam klar, daß die Ban­ken systema­tisch Darlehen zu illegalen Konditionen ver­mit­telt haben. So entstand die Selbst­hilfeorganisation “El Bar­zón”. Später schlossen sich uns an­dere Berufs­gruppen, wie Klein­unternehmer und Händler, an.

Einige Ihrer Mitglieder waren früher sogar ein­mal Groß­grund­besitzer …

Die meisten von uns kommen aus der ehemali­gen Mittel­schicht, die den Wohlstand der sieb­ziger Jahre selbstherrlich ge­nos­sen hat. Über die Pro­bleme der mexikanischen Minderhei­ten, wie der indianischen Völker, ha­ben wir uns damals nie Ge­dan­ken gemacht. Viele Großbau­ern ha­ben ihre Ländereien inzwi­schen verloren, oder lassen sie brach­liegen, weil sie ihren Ge­richtsverfahren hin­terherrennen müs­sen. Zum Problem des Sub­sistenz-Anbaus der Indígenas ist jetzt also noch der Niedergang der industriellen Landwirt­schafts­betriebe hinzugekommen.

Wieviele Mitglieder hat “El Barón” mittler­weile?

Mehr als eine Million. Insge­samt gibt es rund acht Millionen Me­xikaner, denen die Kredite über den Kopf gewachsen sind. Je­der Schuldner muß im Durch­schnitt vier weitere Familienmit­glie­der durchfüttern. Das bedeu­tet, daß ein Drit­tel der Bevölke­rung von dieser Problematik be­troffen ist. Nach offiziellen An­gaben geht es um einen Gesamt­be­trag von 240 Milliarden Pesos, etwa 30 Milliarden US-Dollar. Nur der zehnte Teil davon wurde aber wirklich einmal verliehen.

Die Schuldenkrise der Land­wirtschaft begann schon in den späten achtziger Jahren unter dem “Mo­derni­sierungs­pro­gramm” des damaligen Prä­si­den­ten Carlos Salinas. Hat das Frei­han­dels­ab­kom­men mit den USA und Kanada 1994 die Si­tu­ation wei­ter verschärft?

Ganz sicher! Die gnadenlose Ein­fuhr von Bil­lig-Getreide, Fleisch und Früchten hat der hie­sigen Landwirtschaft enorm ge­scha­det. Auch der In­dustrie­sek­tor kann mit den nordameri­ka­ni­schen Produkten nicht mithalten. Die Regierung ver­suchte mitt­ler­weile zwischen “El Barzón” und den Gläubigern zu vermit­teln…. Der Schulden­kri­se ist aber nicht mehr mit staatlichen Kredit-Um­struk­tu­rierungspro­grammen bei­zu­kommen. Die Produk­tion muß drin­gend reakti­viert werden, un­sere Wirt­schaft neuen Schwung be­kommen. Wir brauchen mehr Bil­dungs- und Sozialausga­ben.

Wer soll das bezahlen?

Die Regierung des Präsiden­ten Ernesto Zedillo hat 25 Milli­arden US-Dollar aus diversen inter­na­tionalen Fonds erhalten, als die Entwertungs­krise im Dezem­ber 1994 akut war. Der Betrag wur­de aber ausschließlich den “armen”, kri­sen­ge­schüt­telten Ban­ken zugeführt. Weder der In­dus­trie- noch der Landwirt­schafts­sektor haben da­von etwas ge­sehen. Wirtschaftsminister Guil­ler­mo Ortíz hätte es damals nicht deutlicher sa­gen können: “Un­sere Priorität ist der Finanz­sek­tor.”

Im Kabinett von Zedillo sitzen Gra­duierte aus hoch­karätigen amer­ikanischen Universitäten. Wa­rum fällt denen seit Jahren nichts neues zum The­ma Armut ein?

Es liegt wirklich nicht am man­gelnden know how. Diese Leu­te stehen hundertprozentig hin­ter einem Wirtschaftsmodell, das sich dem “Federal Reserve Sys­tem”, der Weltbank und dem In­ternationalen Währungsfonds ver­pflichtet hat.

Aber selbst Michel Camdes­sus, der Direktor des Fonds, war befremdet darüber, wie pas­siv die Me­xi­kaner das vorge­schrie­bene Anpassungspro­gramm 1995 hingenommen ha­ben.

Das stimmt schon: Wir Mexi­ka­ner lassen manchmal zu lange auf uns einhauen. “El Bar­zón” ist in dieser Hinsicht ein Hoff­nungs­schimmer des Wider­stands.

Apropos Prügel: Wie wurdest Du bei der Fest­nah­me am 15. Ja­nuar behandelt?

Die Fahrt im Aufzug bis zum zehn­ten Stock des Polizeipräsi­diums werde ich nie vergessen: Schlä­ge und Tritte regneten ge­ra­de­zu auf mich ein. Ab­gesehen von diesem Zwischenfall, wurde ich kor­rekt behandelt.

Was wird Dir vorgeworfen?

Freiheitsberaubung, Mi­glied­schaft in einer ille­galen Ver­ei­ni­gung und Widerstand ge­gen die Staats­gewalt – damit könnte ich läs­sig zwischen 15 und 40 Jahre sitzen. Nur: Diese An­kla­ge­punk­te lassen sich leicht widerlegen. Film­material ei­nes anwesenden Re­por­ters beweist, daß wir zwar ge­gen die Über­gabe eines ver­pfän­deten Gebäu­des Widerstand ge­leistet haben, aber dadurch nie­mand in seinem Freiheitsrecht ein­geschränkt wurde. Daß “El Bar­zón” eine subversive Orga­ni­sation sein soll, kann nur ein Scherz sein: als eingetragene Ver­einigung wurden wir von of­fizieller Seite mehrfach em­pfan­gen. Und das De­likt des Wi­der­stands gegen die Staatsgewalt durch Hausbe­setzung steht in kei­nem Verhält­nis zur brutalen Fest­nahme mit einer Son­der­ein­heit und Haft im Hoch­si­cher­heits­trakt.

Letztes Jahr hast Du Dich auf dem Zócalo, dem zentralen Platz Mexiko-Stadts, öffentlich kreu­zigen lassen; kurz vor Dei­ner Festnahme standst Du noch nackt vor den Kameras. Ist die Öf­fentlichkeit ohne Skandal gar nicht mehr aufzu­rütteln?

Tja, das sind neue Ausdrucks­for­men der Unzu­friedenheit. In Mex­iko gehören zum Repertoire ei­nes guten Demonstranten in­zwischen, sich die Lippen zu­sam­men zu nähen, öffentlicher Ader­laß, FKK und natürlich Hun­gerstreiks. Diese spektakulä­ren Aktionen beinhalten anderer­seits ganz bescheidene Forde­run­gen. Oft geht es nur um ir­gend­welche Verordnungen, die nicht ein­gehalten werden.

Die Zapatistas haben im Ja­nuar 1994 zu den Waffen ge­grif­fen und sich dabei auf die Ver­fassung berufen. Wenn die Ge­setze nicht respek­tiert wer­den, hilft dann nur noch Ge­walt?

Wir haben wirklich zu lange ta­tenlos zugese­hen, wie unsere Magna Charta systematisch un­ter­graben wird. Gegen diese Ver­kehrung des Rechts­staates, die Ba­kschisch-Kultur müssen wir mit le­galen Mitteln angehen. Wenn die Reprä­sentanten des Rechts­staates die eigenen Grund­sätze mißach­ten, so ist al­lerdings auch ziviler Wi­derstand durch­aus berechtigt. Die aus der Re­vo­lu­tion von 1917 entstandene Ver­fassung gesteht der Bevölke­rung dieses Recht übrigens aus­drücklich zu.

Ist es in Mexiko inzwischen riskanter gewor­den, seine Mei­nung zu äußern?

Das politische Klima ist rau­her geworden. Im kommenden Som­mer werden sich die Chilan­gos, so nennt man hier die Ein­woh­ner von Mexiko-Stadt, erst­mals direkt für einen der Kandi­da­ten für das Bürgermeisteramt ent­scheiden können. Früher hätte die Regierung so kurz vor einer his­torischen Wahl eher Kom­pro­mißbereitschaft ge­zeigt. In­zwi­schen setzt sie auf Repres­sion.

Volkstribun und “Stimme Gottes”

Für seine Gegner war er ein Verführer und Demagoge, für viele seiner Anhänger eine fast christusähnliche Lichtgestalt. Nicht wenige in der Masse der Trauernden, so der bolivianische Journalist Rafael Archondo in der Tageszeitung La Razón, hof­ften auf seine Wiederaufer­stehung. Mit Carlos Palenque ist ein Politiker gestorben, der einen neuen Stil in die bolivianische Politik eingeführt hat, ein geni­aler Kommunikator, der in kur­zer Zeit mit den Stimmen der städtischen Aymara seine Partei CONDEPA (Gewissen des Va­terlandes) zur führenden politi­schen Kraft in La Paz gemacht hat. Gleichzeitig blieb er immer den traditionellen Mechanismen der bolivianischen Politik ver­haftet, ein Caudillo, der alle Macht auf seine Person konzen­trierte.
Grundlage seiner Popula­rität war seine Arbeit als Radio- und Fernsehmoderator, die Kunst der Selbstinszenierung be­herrschte er perfekt. Jetzt stellt sich die Frage nach der Zukunft seiner politischen Erbschaft, der Wahl­kampf für die Parlaments­wahl am 1. Juni hat eine uner­wartete Wendung genommen.
Mit dem Showgeschäft kam Palenque schon früh in Berüh­rung. Als Mitglied der Musik­gruppe “Los Caminantes” sammelte er 1968 seine ersten Medienerfahrungen in der Ra­diosendung “La Hora del Folk­lore” (Die Stunde der Folklore) in Buenos Aires, einer Mittags­sendung für die in Argentinien lebenden Bolivianer. Ende 1968, nach der Rückkehr nach La Paz, folgte eine ähnliche Sendung bei Radio Chuquisaca. 1973 wagte Palenque den Schritt ins Fernse­hen. In der “Hipper Show” im staatlichen Kanal 7 begann er zum ersten Mal, Betroffene selbst von ihren Sorgen und Pro­blemen berichten zu lassen und daraufhin Solidaritätsaktionen zu starten.

Vom Musiker zum Fernsehstar

1980 gründete Carlos Palen­que seine erste eigene Radiosta­tion: Radio Metropolitana. Zwar hatte er nicht viel Kapital, aber er stieß mit seinen Sendungen in eine Marktlücke. Kein Radio­sender richtete sich so direkt an die städtischen Aymara, an die BewohnerInnen der ärmeren Viertel von La Paz. Die “Tribuna libre del Pueblo” – die “Offene Bühne des Volkes” – schallte um die Mittagszeit in den Markt­vierteln aus allen Radios. Die Hörerinnen und Hörer hatten einen Ort, an dem sie ihre Sor­gen loswerden konnten, und im Zentrum stand, väterlich und um die Sorgen der Menschen be­müht, der “compadre” Carlos Palenque.
Die Bezeichnung “compadre” zeigt deutlich, wie geschickt Pa­lenque andine Symbolik in seiner Radioarbeit aufnahm. Der “compadrazgo” in den Anden ist ein System fiktiver Verwandt­schaften. Macht man jemanden zum compadre oder zur co­madre, besteht eine gegenseitige Verpflichtung, ähnlich, als ob es eine direkte Verwandtschaft gebe.
Palenque machte sich selbst erfolgreich zum idealtypischen compadre und deckte damit gleichzeitig die Schwachstelle der etablierten Radiostationen auf, die sich durchweg am spa­nischsprachigen, kulturell mesti­zisch geprägten Stadtpublikum orientierten.

Der Politiker Palenque

Das Erfolgsrezept übertrug Palenque auf seinen eigenen Fernsehkanal: Canal 4, gegrün­det 1985. Damit war der Me­dienkonzern RTP komplett: Si­stema Radio y Televisión Popu­lar war in La Paz ein Machtfak­tor, sein unumstrittener Chef: Carlos Palenque Avilés.
Den ersten Ausflug in die Po­litik hatte Palenque schon 1980 unternommen. Er kandidierte bei den Parlamentswahlen für die alte Revolutionspartei MNR. Auf die Wahl folgte der Putsch von García Meza, der allen parteipo­litischen Ambitionen ein vorläu­figes Ende bereitete. Während viele demokratische Politiker verfolgt und einige ermordet wurden, durfte Radio Metropo­litana weiter senden, einzige Be­dingung: Die offiziellen Nach­richten mußten vom staatlichen Ra­dio Illimani übernommen werden. Palenque war flexibel genug.
Gründung und Erfolg von CONDEPA sind ohne die Me­dienmacht von RTP nicht erklär­bar. Zum Schlüsselmoment wurde ein direkter staatlicher Angriff auf RTP im Jahr 1988. Die seit 1985 amtierende, demo­kratisch gewählte MNR-Regie­rung unter Víctor Paz Estenssoro nahm ein telefonisches Interview mit dem damaligen Drogenzar Roberto Suárez zum Anlaß, die Medien des compadre zu schlie­ßen. Das Ergebnis: Die Aymara in La Paz gingen auf die Straße, um “ihren” compadre zu vertei­digen. Versuche, Palenque zu verhaften, scheiterten daran, daß Menschenmengen sich vor ihr Idol stellten. Als im August 1988 RTP wieder auf Sendung gehen durfte, sprach Padre David Mal­donado, ein Palenque verbun­dener Priester, davon, in diesem Fall sei “die Stimme Palenques Gottes Stimme”. Palenque selbst nahm solche Worte nie direkt in den Mund, aber er widersprach auch nicht. Die Selbstinszenie­rung als quasi-religiöse Füh­rungsfigur war längst gelungen.

Starke Regionalpartei im Stammland der Aymaras

Sorgfältig organisiert wurde bei den Massendemonstrationen zum ersten Mal der Ruf “Palenque Presidente” laut, und schon am 21. September 1988 folgte die Gründung von CON­DEPA in einer symbolgeladenen Zeremonie in Tiahuanaco, der präkolumbianischen Ruinenstadt auf dem Altiplano in der Nähe von La Paz.
CONDEPA ist seitdem eine feste Größe in der bolivianischen Politik. In La Paz wurde die Partei schnell zur stärksten Kraft, schließlich stellen die Aymara die eindeutige Mehrheit der Be­völkerung. Die Konzentration auf La Paz macht allerdings auch die entscheidende Schwäche von CONDEPA als Partei auf natio­naler Ebene deutlich. Palenque setzte immer so stark auf den kulturellen Kontext der Aymara, daß die Quechuas der Täler und erst recht die Mestizen und Indi­genas des östlichen Tieflandes wenig damit anfangen konnten. RTP war ohnehin außerhalb von La Paz nicht zu empfangen, erst in den letzten Jahren betrieb Pa­lenque die Ausdehnung des Sen­debereiches. So konnte CON­DEPA trotz eindeutiger Wahl­siege in La Paz auf nationaler Ebene nicht über Wahlergeb­nisse von rund 14 Prozent hin­auskommen.
Ideologisch hat CONDEPA nichts indigenistischen oder in­dianistischen Programmen zu tun. “Endogene Entwicklung” propagieren die Intellektuellen der Partei – übrigens samt und sonders, genauso wie Palenque selbst, keine Indígenas, sondern spanischsprechende Mestizen. Das Politikverständnis von CONDEPA hat nichts mit Basis­demokratie auf lokaler Ebene, mit Emanzipation des indigenen Boliviens zu tun. Es ging immer darum, die Massen um den Füh­rer Palenque zu scharen. Seine Führung stand innerhalb von CONDEPA nie zur Disposition. Von der Struktur der Partei bis zum Auftreten in seinen Medien bewies Palenque immer eins: Seine Rolle war die des autoritä­ren, aber wohlwollenden Über­vaters, der über seine “Kinder” die schützende Hand hält. Er war der Erlöser aus der Misere, der es nicht nötig hatte, sich demo­kratisch bestätigen zu lassen. CONDEPA ist, so gesehen, eine durch und durch traditionelle bolivianische Partei, zentrali­stisch organisiert und völlig aus­gerichtet auf die Führungsfigur und dazu noch ausgestattet mit einer gehörigen Portion Oppor­tunismus.
Ein Beispiel dafür nennt Mi­guel Urioste, inzwischen Prä­sidentschaftskandidat der sozial­demokratisch ausgerichteten MBL (Bewegung Freies Boli­vien) und Koalitionspartner des MNR in der gegenwärtigen Re­gierung. 1993 brauchten MNR und MBL noch einen Koaliti­onspartner, zur Auswahl standen CONDEPA und die UCS des in­zwischen verstorbenen Brauerei­besitzers Max Fernández. UCS sei nur deswegen vorgezogen worden, so Urioste, weil sie we­niger Posten forderte. Wäre CONDEPA Regierungspartei geworden, wären die Reformen der letzten Jahre in RTP mit Si­cherheit wohlwollender kom­men­tiert worden. Aber CON­DEPA verblieb in der Op­position – und RTP machte Front gegen den “Ausverkauf des Va­terlandes”.

Hat CONDEPA eine Zukunft?

Es ist schwer vorstellbar, daß eine Partei, die so stark auf ihren Gründer und Chef ausgerichtet war, dessen Tod unbeschadet übersteht. Es wird für CON­DEPA darauf ankommen, Palen­que zum Mythos zu verklären. Für die bevorstehende Parla­mentswahl ist die Frage, ob der Trauereffekt noch bis zum Juni anhält, und CONDEPA ein au­ßer­gewöhnliches Wahlergebnis be­schert. Die Zukunft CONDE­PAs als Partei wird sich erst später entscheiden.
Neue Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidatin ist, nachdem Palenques Ehefrau Mónica sich vor wenigen Mo­naten unter dramatischen Um­ständen von ihrem Mann ge­trennt hat, Remedios Loza, für das RTP-Publikum bekannt als “comadre Remedios”.
Die Nachfolgerin: Remedios Loza
Sie war schon in den 70er Jahren Mitar­beiterin von Palen­que in Radio und Fern­sehen. Remedios Loza ist im Ge­gen­satz zu anderen CONDEPA-Spi­tzen­politikern tatsächlich eine Ay­mara und war 1989 die erste weib­liche Abge­ordnete, die in der Aymara-typi­schen Kleidung im Parlament auftrat. Remedios Loza ist be­kannt, sie kann, geübt durch lange Fernseherfahrung, sehr gut reden, und sie hat Erfah­rung mit dem politischen Be­trieb. Für die CONDEPA-Kli­entel kommt dazu, daß sie in al­len Krisen immer hundertpro­zentig loyal auf der Seite des compadre stand, besonders wäh­rend des Trennungsdramas der Eheleute Palenque.
Aber Remedios Loza muß es erst schaffen, die ihr bislang fest zugewiesene Rolle in der zwei­ten Reihe abzuschütteln. Sie war immer die Frau hinter dem compadre, jetzt muß sie sich als po­tentielle Landesmutter präsentie­ren. Und sie wird mit dem Pro­blem kämpfen müssen, als Ay­mara nur schwer zur Integra­tionsfigur für ein Wachstum CONDEPAS in anderen Regio­nen Boliviens werden zu können.
Auf einen Faktor aber, der den Zugang zur Macht erleich­tern wird, kann sich Remedios Loza verlassen: CONDEPA wird nach der Wahl im Juni als mög­licher Koalitionspartner mit im Spiel sein, für welche der alten Parteien auch immer. Denn für jede Partei muß die Aussicht at­traktiv sein, die Medienmacht von RTP im eigenen Lager zu wissen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß nicht Mónica Palenque die Kontrolle über RTP an sich reißt, der Kampf um das materielle Erbe ist noch nicht entschieden. Anders dagegen die Auseinandersetzung um das po­litische Erbe. Das Begräbnis Pa­lenques, so Rafael Archondo, hat gleichzeitig die politische Gruft für die Ambitionen von Mónica Palenque fest verschlossen, nicht selten war im Trauerzug “Mörderin Mónica” zu hören. Der compadre ist weder Präsi­dent noch Minister geworden, hier aber hat er einen letzten Sieg errungen.

Präsidentenpoker

Am 5. Februar gingen über zwei Millionen EcuadorianerInnen auf die Straße, um gegen das von Präsident Abdalá Bucaram durchgeboxte Reformpaket und seine Person selbst zu demonstrieren. Ihre Botschaft war eindeutig: “¡Que se vaya! Weg mit Bucaram!” Die harten wirtschaftlichen Anpassungsstrategien der Regierung Bucaram waren zweifelsohne ein Grund für diese Forderung. Aber vor allem die zunehmende Unglaubwürdigkeit des Präsidenten durch Korruptionsvorwürfe, Vetternwirtschaft und Mißbrauch öffentlicher Gelder sowie die immer neuen Peinlichkeiten Bucarams, der mit seinem Image als el loco – der Verrückte – spielt, hatten bereits Anfang des Jahres zu landesweiten Protestdemonstrationen geführt, die im Generalstreik am 5. Februar gipfelten. Der Streik, an dem mehr als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung Ecuadors teilnahm, wurde von den Gewerkschaften, StudentInnen, LehrerInnen, indigenen Gruppierungen und anderen sozialen Bewegungen getragen, aber auch von der katholischen Kirche und dem privaten Sektor befürwortet.

Amtsenthebung wegen “geistiger Unfähigkeit”

In einer Sondersitzung beriet das Parlament das weitere Vorgehen. Bereits seit einigen Wochen standen seitens der Opposition Forderungen nach der Amtsenthebung Bucarams im Raum, und nun mußte eine schnelle Lösung zur Stabilisierung der innenpolitischen Situation auf den Tisch. Politische Amtsenthebungsverfahren sind in Ecuador durchaus verbreitet, sie sind jedoch langwierig und bedürfen der Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten. Eine Abkürzung des Verfahrens nach Artikel 100 der Verfassung, der eine Amtsenthebung bei “physischer oder mentaler Unfähigkeit” mit einer einfachen Mehrheit vorsieht, schien da ein probates Mittel. Mit 44 Stimmen bei 34 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen wurde Bucaram am 6. Februar seines Amtes enthoben. Parlamentspräsident Fabián Alarcón wurde im gleichen Zug mit einfacher Mehrheit zum Interimspräsidenten bestimmt.

Drei Möchte-gern-Präsidenten über Nacht

Daß sie die Stimme des Volkes nicht vernommen hätten, kann den Abgeordneten der Opposition wohl kaum vorgeworfen werden, dennoch ist ihr Vorgehen juristisch sehr umstritten und die Uneigennützigkeit fraglich. Die Entscheidung des Parlamentes fiel in eine verfassungsrechtliche Grauzone und verhalf Ecuador über Nacht zu drei Möchte-gern-Präsidenten. Am 8. Februar 1997 meldete neben dem Ex-Präsidenten Bucaram, der seine Amtsenthebung nicht anerkennt und sich zeternd im Präsidentensitz verbarrikadierte, sowie dem frischgewählten Fabián Alarcón, nun auch Vizepräsidentin Rosalía Arteaga ihren Anspruch auf das höchste Amt an.
Das Militär bleibt neutral
Unerwartet vermochten vermittelnde Impulse seitens des Militärs die Situation zu entschärfen. Mit der Erklärung des Ausnahmezustands am Tag nach der Amtsenthebung durch den Verteidigungsminister Bayas im Namen Bucarams, war dem Militär Tür und Tor geöffnet, die Situation nach ihrem Gutdünken zu beenden. Der “Rat der Admiräle” betonte jedoch, das Militär werde neutral bleiben: Es sei Aufgabe des Parlaments, einen rechtmäßigen Nachfolger zu ermitteln. Bucaram wurde zwar militärischer Geleitschutz gewährt, aber gleichzeitig signalisiert, man sehe ihn nicht mehr als Präsidenten an. Zwischen Arteaga und Alarcón wurde unter Vermittlung des Militärobersten General Paco Moncayo ein Kompromiß vereinbart, der Arteaga als Vizepräsidentin zur rechtmäßigen Nachfolgerin Bucarams auf strikt begrenzte Zeit machte. Und zwar solange, bis das Parlament die verfassungsrechtlichen Unklarheiten beseitigt und einen Interimspräsidenten per Wahl bestimmt hat.

Arteagas Tage im Amt sind gezählt

Allem Anschein nach hatte Arteaga jedoch nicht damit gerechnet, so schnell die gerade eingenommene Position zu verlieren. Am Montag, den 10. Februar, hielt sie eine Antrittsrede und begann mit der Ernennung von Kabinettsmitgliedern. Sie protestierte heftig gegen das Vorgehen der Abgeordneten hinsichtlich der Amtsnachfolge und forderte eine Volksabstimmung, signalisierte aber letztendlich, das sie sich der “Diktatur des Kongresses” beugen werde. Nach nur zwei Tagen Arteagas im Amt wurde per Resolution mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Weg frei für eine zweite Wahl im Parlament, in der Fabián Alarcón nunmehr verfassungskonform mit 57 von 82 Stimmen zum Interimspräsidenten bestimmt wurde. Die Partei Bucarams, die PRE, nahm nicht an der Abstimmung teil.
Die Verfassung sieht vor, daß ein neugewählter Präsident sein Amt am 10. August, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, antritt. Dieser Termin und die Einhaltung bestimmter Fristen für Wahlankündigung, Wahlkampf, Vorwahl und Stichwahl determinierten das Datum für 1998, da in diesem Jahr die Fristen bereits verstrichen sind.

Unpopulärer Populist

Wie aber konnte es dazu kommen, daß der erst im Juli vergangenen Jahres gewählte Populist Abdalá Bucaram seinen Rückhalt in der Bevölkerung dermaßen verspielt hat? Nach der Stichwahl am 7. Juli 1996, in der sich Bucaram eindeutig gegen seinen Kontrahenten, den Konservativen Jaime Saadi Nebot, behaupten konnte, verkündete er souverän den “Sieg der Armen”. Seine theatralischen Auftritte, wirren Äußerungen zu wirtschaftlichen Zielen, sein unberechenbares Temperament und die wüsten Beschimpfungen politischer Gegner klassifizierten das neue Staatsoberhaupt als einen nicht zu unterschätzenden Unsicherheitsfaktor, der sich in nervösen Kursschwankungen an der Börse und angespannter Marktlage manifestierte. Er werde “die Oligarchie und die Korruption bekämpfen” und “für die Armen regieren”, so das Leitmotiv seiner Wahlveranstaltungen, zu denen der 45jährige Anwalt aus der Küstenstadt Guayaquil auch gerne mal im Batman-Kostüm aufkreuzte.

Bucaram als das “kleinere Übel”

Nach Schätzungen des Ökonomen Jaime Zeas würde es fast zwei Drittel des Haushaltsbudgets ausmachen, wolle Bucaram seine blumigen Wahlversprechen – unter anderem Lohnerhöhungen, Straßenbau, erweiterte Sozialversicherung, Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Häuserbau – einlösen. Zwar ist Bucaram für seine Irrationalität bekannt und seine schwammigen Regierungsperspektiven wenig ernstzunehmen, dennoch gelang es ihm, sich nach dem Ausscheiden der beiden Hochlandkandidaten Freddy Ehlers des neugegründeten links-indigenistischen Movimiento Nuevo País-Pachakutik und Rodrígo Paz der Zentrums-Partei Democrácia Popular gegenüber dem Rechtsaußen Jaime Nebot als das “kleinere Übel” zu profilieren und vor allem WählerInnenstimmen der ärmeren Bevölkerung zu mobilisieren. Nebot galt eher als Kandidat der Geschäftsleute und oberen Schicht. Die Furcht vor einem autoritären, menschenrechtsverachtenden Regime und der harte neoliberale Kurs, mit dem Nebot ins Feld zog, hatten zu einer breiten Stop Nebot!-Koalition unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen geführt.

Kehrtwende nach dem Wahlsieg

Kaum hatte er die Wahlen gewonnen, versicherte Bucaram eifrig, den eingeschlagenen neoliberalen Kurs seines Amtsvorgängers Sixto Durán-Balléns fortzuführen, das Land für ausländische Investitionen zu öffnen und die Auslandsschulden zu verringern. Die Privatisierung von Staatsbetrieben werde fortgesetzt und öffentliche Ausgaben radikal eingeschränkt. Seinem Beraterteam für Wirtschaftsfragen gehörten drei Banker an, was Seriösität per se vermitteln sollte, genau wie Bucarams Zugeständnis, ein Ministerium für Indígenas einzurichten, einen multikulturellen Anstrich suggerierte. Wie die meisten seiner Wahlversprechen entpuppten sich auch diese als reine Augenwischerei und bewirkten einen starken Popularitätsabfall wenige Wochen nach der Wahl. Der private Sektor, um dessen Kooperation das neue Staatsoberhaupt sich redlich bemühte, drängte auf Fakten statt Beteuerungen. Bucaram hatte sich kurz nach seinem Amtsantritt mit einer Runde illustrer Wirtschaftsgrößen anderer lateinamerikanischer Staaten umgeben, dessen prominentester Vertreter der inzwischen in seiner Heimat in Ungnade gefallene argentinische Ex-Wirtschaftsminister und Architekt des Konvertibilitätsprogramms Domingo Cavallo war.

Cavallo-Plan für Ecuador

Trotz der prominenten Berater ließ das angekündigte Wirtschaftskonzept der Regierung Bucaram auf sich warten. Der Termin wurde mehrfach verschoben, so daß es zu einer nervösen Anspannung, Spekulationen und scharfer Kritik seitens der Opposition kam. Die uneinheitlichen Aussagen der Regierung zum neuen Wirtschaftsplan trugen nicht gerade zur Vertrauensbildung bei potentiellen Investoren bei: während Finanzminister Pablo Concha Mitte Oktober von harten aber notwendigen Anpassungsmaßnahmen sprach, entwarf Bucaram die Vision eines Currency Boards nach argentinischem Vorbild, das die bei 25 Prozent liegende Inflation mit einem Schlag beenden und auch alle anderen Probleme aus der Welt schaffen würde. Zum ersten Juli sollten drei Nullen weggestrichen und der Sucre in einem Verhältnis von 4:1 an den US-Dollar gekoppelt werden.
Der ehemalige Zentralbankchef Eduardo Valencia bezeichnete Bucarams Pläne als absurd, für Ecuador seien andere Instrumente von Nöten als für Argentinien. Eine neue Währung würde nur die heimische Industrie zerstören und zunehmende Arbeitslosigkeit bewirken. Der Herausgeber der Tageszeitung HOY, Ben Ortiz, kommentierte, ein Konvertibilitätsprogramm setze absolute Disziplin und politische Ethik voraus, und die Regierung Bucaram verfüge weder über das eine noch das andere. Mehrfach mußte der Finanzminister die Versprechen seines Präsidenten im nachhinein revidieren: die Subventionierung von Kochgas werde abgeschafft, auch wenn Bucaram das Gegenteil verkünde. Auf Zigarretten und Alkohol sollten Steuererhöhungen von bis zu 300 Prozent entfallen. Weitere Erhöhungen von grundlegenden Ausgaben wie Transport und Telefon waren geplant, um das staatliche Haushaltsdefizit von vier Prozent auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken. Neben Privatisierung und Finanzmarktliberalisierung gehört auch die “Flexibilisierung” des Arbeitsmarktes zu den Pfeilern des Plans.
Im Dezember kam es nach scharfer Kritik an den wirtschaftlichen Plänen der Regierung zu einem Sozialpakt von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften, die Lohnerhöhungen von zehn Prozent im öffentlichen Sektor durchsetzen konnten. Angesichts der brutalen Preiserhöhungen durch den Wegfall von Subventionen wirkt die zehnprozentige Lohnerhöhung jedoch lächerlich.
Zum ersten Januar traten weitreichende Preiserhöhungen in Kraft: 550 Prozent für Elektrizität und 270 Prozent für Kochgas, die Ende Dezember nach drei abgelehnten noch drastischeren Vorlagen vom Kongreß verabschiedet worden waren.

Korruption und Vetternwirtschaft

Parallel zu immer neuen preislichen Belastungen der Bevölkerung erhärtete sich der Korruptionsverdacht gegen das Staatsoberhaupt, der sich allem Anschein nach noch skrupelloser aus den staatlichen Töpfen bediente als seine Vorgänger. Bucarams Sohn Jacobo wurde der Beteiligung an Zollbetrug größeren Ausmaßes verdächtigt. Abdalá Bucaram hatte mit einer seiner ersten Amtshandlungen das Zollverfahren dem Militär unterstellt, um die dort vermutete Korruption “in den Griff zu bekommen”.
Seinem Kabinett gehörten sein Bruder Adolfo Bucaram und sein Schwager Pablo Concha als Finanzminister an, der bereits in früheren Regierungen im Finanzressort tätig war. Auch andere Verwandte und enge Freunde Bucarams wurden mit wichtigen Positionen bedacht, von denen Energieminister Alfredo Adum besonders umstritten war. Zumindest schien er der einzige, der dem Präsidenten im Punkte unflätige Beschimpfungen das Wasser reichen konnte. Bucarams Schwester Elsa, die seit einiger Zeit in Panamá lebt, um den Korruptionsvorwürfen aus der Zeit als Bürgermeisterin von Guayaquil zu entgehen, wurde von Bucaram rehabilitiert. In der Bevölkerung machte sich zunehmend der Eindruck breit, Preiserhöhungen fänden nur statt, um die Extravaganzen der Bucaram-Sippe zu finanzieren.
Am 8. Januar und an den folgenden Tagen kam es zu zunächst friedlich verlaufenden Demonstrationen, schließlich aber zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen StudentInnen und der Polizei, die zahlreiche Leute festnahm. Seit Mitte Januar streikten landesweit die LehrerInnen und StudentInnen, die Gewerkschaften verkündeten den Generalstreik für Anfang Februar. Längst hatte die scharfe Kritik am autoritären und unverantwortlichen Regierungstil Bucarams an soviel Eigendynamik gewonnen, daß dessen versöhnlicher Tonfall Ende Januar unbeachtet blieb: Die monatlichen Erhöhungen der Benzinpreise sollten eingestellt werden und Abhilfe für die besonders von der Erhöhung der Kochgaspreise betroffenen armen Familien in Form von speziellen Rabattmarken geschaffen werden. Bucaram kündete Kabinettsumbildungen für Februar an, erklärte aber, in jedem Fall an seiner Währungsreform festzuhalten.

Besuch bei Fujimori

Im April sollte in einer Volksabstimmung über die Währungsreform befunden werden. Ein mögliches “Nein” kam dabei für ihn nicht in Betracht, so daß die Tageszeitungen spekulierten, er werde notfalls der Entscheidung à la Fujimori nachhelfen.
Der ganz und gar autoritäre Regierungsstil Bucarams hatte von Anfang an deutlich gemacht, daß er von Kompromissen überhaupt nichts halte, sondern seine Entscheidungen durchsetzen werde. In anderen Bereichen wiederum wurde seine Dialogbereitschaft heftig kritisiert, so seine Offenheit gegenüber dem peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori, den Abdalá Bucaram als erstes ecuadorianisches Staatsoberhaupt in Lima besuchte. Seine Verhandlungsbereitschaft gegenüber dem starken Nachbarn Peru, mit dem Ecuador einen lange schwelenden Grenzkonflikt hat, war vielen suspekt und das Gespenst des Vaterlandsverrats trieb wieder sein Unwesen. Während Bucaram und Fujimori in Lima Einigkeit demonstrierten und Bucaram tröstende Worte für seinen “amigo Alberto” anläßlich der MRTA-Geiselnahme in der japanischen Botschaft fand, drohte der Unmut auf den Straßen Quitos, Guayaquils und Cuencas endgültig überzukochen. Am 31. Januar signalisierte die Vereinigung ehemaliger Angehöriger der Streitkräfte ihre Unterstützung der öffentlichen Proteste, indem sie die Regierung aufforderte, die Maßnahmen zu korrigieren und der sich verbreitenden Unsicherheit zu begegnen.

Bucaram plant sein Come-back

Nachdem er seines Amtes durch das Parlament enthoben worden war, verbarrikadierte Abdalá Bucaram sich unter Protest in seiner Residenz. Als er am darauffolgenden Samstag Quito verließ und in seine Heimatstadt Guayaquil flog, wurde dies als Zeichen einer eingestandenen Niederlage gewertet. Doch Bucaram denkt nicht daran, seinen Anspruch aufzugeben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Panamá, weilte Bucaram in Buenos Aires und ließ sich von Carlos Menem den Rücken stärken. Er sieht sich als Opfer eines Komplotts und will die Verschwörung gegen ihn beweisen.

Schmale Basis für Politik

Nach Ansicht des Journalisten Carlos Arcos Cabrera hat die Regierung Bucaram den Verfall des politischen Systems zwar beschleunigt, die Zerrüttung der demokratischen Substanz dauert jedoch schon länger an. Die Fähigkeit des politischen Systems, einen Legitimierungsanspruch aufrechtzuerhalten und glaubwürdig zu vertreten, hat in den vergangenen Jahren rapide abgenommen. Die überwältigende Manifestation des Unmuts weiter Teile der Bevölkerung am 5. Februar galt zwar besonders Bucaram, aber auch der verfilzten Polit-Oligarchie Ecuadors insgesamt. Alles in allem bleibt das dumpfe Gefühl, das der “Rechtmäßigkeit” verschiedener Entscheidungen gehörig auf die Sprünge geholfen wurde, unabhängig von der Person Bucarams, der vollkommen unglaubwürdig ist.

Bucaram ist weg, die Probleme bleiben

Auch wenn Bucaram vorerst von der Bildfläche verschwunden ist und Ecuador erleichtert aufatmet: der wirtschaftliche Spielraum bleibt trotz allem extrem begrenzt, und Korruption und Mißbrauch staatlicher Gelder hat Abdalá Bucaram nicht für sich allein gepachtet. Alarcón ist als gewiefter Taktiker bekannt, konnte sich aber möglicherweise auch deshalb als Kompromißfigur profilieren, weil seine Partei politisch so unbedeutend ist, daß die großen Parteien ihre Interessen für die kommende Wahl durch ihn in keiner Weise gefährdet sehen. Nur die gemeinsame Ablehnung der Person Bucaram hat die ansonsten zersplitterte Opposition andere Streitigkeiten vergessen lassen. Auch wenn dieses Bündnis Alarcón ins Präsidentenamt verhalf, ist es eine sehr schmale Basis für zukünftiges politisches Manövrieren.

KASTEN:
Abdalá Bucaram – Batman auf CD

Abdalá Bucaram ist alles andere als ein Unbekannter im ecuadorianischen Polit-Business. Der 45jährige Mango-Millionär aus der Küstenmetropole Guayaquil wettert sich seit Jahren durch die Ämter und beschenkt die Armen in spektakulären Aktionen. Der ehemalige Sportler, heute aber behäbige Abdalá ist Mitbegründer der Partido Roldosista Ecuatoriano (PRE), einer populistischen Partei, die an den Regierungsstil des 1980 bei einem Flugzeugabsturz getöteten populistischen Präsidenten Jaime Roldos, Bucarams Schwager, anknüpft. In den 80er Jahren verbrachte der unberechenbare Hitzkopf mehrere Jahre in Panamá, da ihm Korruption und Mißbrauch öffentlicher Gelder in seiner Funktion als Bürgermeister von Guayaquil vorgeworfen wurde. 1988 kehrte er nach Ecuador zurück und wurde vom Präsidenten León Febres-Cordero nicht nur rehabilitiert, sondern auch für die Präsidentschaftswahlen zugelassen. Vermutlich geschah dies, um dem Kandidaten Rodrigo Borja der linken Izquierda Democrática bei den unmittelbar bevorstehenden Wahlen das Wasser abzugraben. In seiner dritten Kandidatur 1996 gewann Abdalá Bucaram am 7. Juli die Stichwahl gegen den PSC-Kandidaten Jaime Nebot und wurde am 10. August in das Amt eingeführt. Außer der Kehrtwende hinsichtlich des wirtschaftlichen Kurses, war seine Amtszeit von Anfang an durch unkohärente populistische Aktionen gekennzeichnet, seinem exzentrischen Charakter entsprechend. Ab Mitte September wurde billige Milch mit dem Portrait des Präsidenten unter dem Namen Abdalact in den armen Vierteln angeboten. In einem spektakulären Fernsehauftritt ließ er sich sein Bärtchen abrasieren und versteigerte es für über 740.000 US-Dollar zugunsten kranker und bedürftiger Kinder. Immer wieder verschenkte er bündelweise Geld an die Armen und widmete ihnen seine CD Un Loco que ama, die Bucaram zusammen mit der urugayischen Band Los Iracundos aufnahm. Seine Vorliebe, politische Kontrahenten zu beschimpfen, und auch von den Medien keinerlei Kritik zu dulden, führte zu Spannungen mit der Tageszeitung HOY und einem Radiosender, der seine Schimpftiraden nicht länger ausstrahlen wollte.

Rosalía Arteaga – Präsidentin für 48 Stunden

Rosalía Arteaga bildete zusammen mit Abdalá Bucaram ein Team für die Präsidentschaftswahlen und wurde so zur ersten Vizepräsidentin Ecuadors. Doch schon bald mußte sie feststellen, daß die Aufgabenverteilung Bucarams für sie nur Unwesentliches vorsah, und er nicht daran dachte, sich an die ausgemachte Ressortaufteilung zu halten. Die Rechtsanwältin und engagierte Christin aus Cuenca, die Abdalá Bucaram als Zugpferd für Wählerstimmen aus dem Hochland einsetzte, war Erziehungsministerin der Regierung Sixto Durán-Ballén. Es kam zu mehreren heftigen Auseinandersetzungen Arteagas mit Bucaram und dem Energieminister Adum, gegen die sie ihre Meinung durchzusetzen versuchte. Sie kritisierte Bucarams Entscheidungen und Vorhaben mehr als einmal, blieb aber dennoch im Amt. Alarcón und andere Abgeordnete verdächtigte sie der Verschwörung und der Vorbereitung eines Staatsstreiches. Nach Bucarams Amtsenthebung am 6. Februar sah sie zu Recht ihre Sternstunde gekommen, die jedoch trotz Rückendeckung des Militärs nur von kurzer Dauer sein sollte. Voller Bitterkeit verkündete sie: “Ich wurde nicht gewählt, weil ich eine Frau bin”. Ihre rechtlichen Bedenken und ihr scharfer Protest sind bei genauem Hinsehen nicht unbegründet. Als Hauptargument gegen Arteaga wird aber ihr Bündnis mit Abdalá ins Feld geführt, denn damit erlösche ihr “moralischer” Anspruch auf das höchste Amt im Staat. Für das Amt der Vizepräsidentin unter Alarcón steht Rosalía Arteaga dennoch zur Verfügung.

Fabián Alarcón: Der geschickte Taktiker ist auf seinem Karrierehöhepunkt angelangt

Der vom ecuadorianischen Nationalkongreß am 5. Februar 1997 als Nachfolger von Bucaram und als Interims-Präsident bis August 1998 bestätigte Fabián Alarcón Rivera (50) ist in der politischen Klasse Ecuadors kein unbeschriebenes Blatt. Als Sohn des konservativen Diplomaten Ruperto Alarcón beginnen seine ersten politischen Schritte sehr früh. Seine erste erfolgreiche Wahl bestreitet er 1984 für die Demokratische Partei (PD), als er für die Provinz Pichincha zum Präfekten nominiert wird. In den 70er Jahren ist er aktives Mitglied in der Patriotischen Volkspartei (Partido Patriótico Popular). In den 80er Jahren gewinnt er das Bürgermeisteramt in Quito, das er allerdings 1988 an den Christdemokraten Rodrigo Paz wieder verliert. 1990 tritt er zum ersten Mal als Abgeordneter in den Nationalkongreß ein, und obwohl er einem kleinen Minderheitsblock angehört, gelingt es ihm, zum Parlamentspräsidenten gewählt zu werden. 1992 tritt er erneut, dieses Mal als Mitglied der Radikalen Alfaristen-Front (Frente Radical de los Alfaristas) zur Bürgermeisterwahl von Quito an, muß sich aber gegen Jamil Mahuad (Democracia Popular), heute noch amtierender Bürgermeister, geschlagen geben. Obwohl seine politische Karriere oft von Erfolg gekrönt ist, wird Alarcón nachgesagt, daß die einzige Konstante dabei “das Fähnchen im Wind” sei. Er habe Parteien und Fronten so oft gewechselt wie andere ihre Hemden und sei “der beste Wendehals der Politik”, so wie seine Partei (FRA) als “Wendepartei” betitelt wird. 1996 gelingt ihm ein erneuter Coup im Nationalkongreß: Obwohl nur mit zwei weiteren Abgeordneten in einem Block vertreten, verhilft ihm eine Allianz mit Abdalá Bucaram erneut zur Wahl zum Parlamentspräsidenten. Ironie des Schicksals, daß Alarcón eben diese Position am 5. Februar 1997 in die Lage versetzt, einem Mißtrauensvotum im Kongreß gegen seinen ehemals Verbündeten stattzugeben und ihn in eigener Person als Staatspräsident zu ersetzen?
Mit allgemeiner Skepsis werden seine ersten Amtshandlungen betrachtet: Die neue Regierung Alarcón hat Entlassungsdekrete durch die Administration Bucaram rückgängig gemacht und die Schaffung einer Finanzkomission zur Kontrolle der eigenen Regierung angekündigt. Die ersten offiziellen Besuche Alarcóns gelten den Bürgermeistern von Quito, Cuenca und Guayaquil. Alles Schritte, um Vertrauen in die eigene Politik zu schaffen, die das Begehren des Volkes respektieren und mehr, die sozialen Gruppen des Landes einigende Partizipation schaffen will? Die Bildung eines Kabinetts über viele politische Fronten hinweg gestaltet sich schon von Beginn an schwierig, da die großen Parteien wie ID, PSC und Pachakutik ihre Regierungsmitarbeit schon ausgeschlossen haben.
Die zahlreichen hupenden und fahnenschwenkenden Autokolonnen, die in der Nacht vom 5. Februar die Straßen Quitos und anderer Städte füllten, feierten ausgelassen die Absetzung Bucarams und den Sieg des Volkes in der Straße, nicht aber die Wahl Alarcóns zum Präsidentennachfolger. In diesem Sinne gilt der an eine Straßenmauer geschriebene Satz: “Paß auf Alarcón, das Volk bleibt auch nach dem 5. Februar wachsam.”
Andrea Kuhlmann

Globale Kungelei am Biobío

Der Biobío-Fluß, etwa 500 Kilometer südlich von Santiago gelegen, soll durch sechs Staudämme zu einem der wichtigsten Stromlieferanten des Landes werden (vgl. LN 235). Auftraggeber der Wasserkraftwerke ist ENDESA, eine 1989 privatisierte Elektrizitätsfirma, die quasi monopolistisch die gesamte chilenische Stromerzeugung und -verteilung kontrolliert. Ihr gelang es 1991, sowohl die Genehmigung für “Central Pangue”, den ersten Staudamm, als auch die Finanzierung durch die Weltbank und europäische Geldgeber zu regeln. Von den insgesamt etwa 470 Millionen US-Dollar Baukosten übernimmt die Weltbank-Tochter IFC (International Finance Corporation) 70 Millionen. Schweden und Norwegen sind mit 28 beziehungsweise 14 Millionen dabei, zehn europäische Banken mit weiteren 100 Millionen. AEG liefert technische Ausrüstung im Wert von 7,72 Millionen. Für 6,56 Millionen davon gibt die Bundesregierung eine Hermes-Bürgschaft; das bedeutet, daß im Falle der Zahlungsunfähigkeit von ENDESA der Betrag aus dem Bundessäckel bezahlt wird.
Ohne juristische Tricks ging das Genehmigungsverfahren nicht ab. Üblicherweise sind bei Finanzierungen durch die IFC Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) erforderlich, und zwar immer dann, wenn es sich um Großprojekte handelt. ENDESA gab jedoch “Central Pangue” 1991 noch als Einzelprojekt aus und konnte so die hinderliche UVP umgehen. Zu diesem Zeitpunkt lagen allerdings die Pläne für fünf weitere Staudämme am Biobío schon in den Schubladen. Ein klarer Rechtsbruch, um den es jetzt bei den Aktivitäten der StaudammgegnerInnen vor allem geht.

Kungelei bei den UVPs

Die Umweltverträglichkeitsprüfungen sind keine bloße Formsache: werden einem Projekt zu scherwiegende Umweltfolgen bescheinigt, kann daran das ganze Unternehmen scheitern. Die für den zweiten Staudamm “Ralco” nunmehr durchzuführende UVP ist zur Zeit in der Diskussion. Eine erste UVP fiel negativ aus und das Projekt schien zu scheitern. Jetzt wird allerdings eine neue UVP erstellt und zu Recht befürchten die StaudammkritikerInnen, daß diese durch die Kungelei zwischen den ausschlaggebenden wirtschaftlichen und politischen Kreisen positiv für ENDESA ausfallen wird.
675 Personen, davon 445 Indígenas, die den Pehuenche angehören, sind durch Umsiedelungen direkt vom Staudammprojekt “Ralco” betroffen. Etwa 80 Prozent der BewohnerInnen haben ein Entschädigungsangebot von ENDESA bereits akzeptiert und entschieden, ihr Land zu verlassen. Da die Region zu den ärmsten des Landes gehört, werden die Entschädigungszusagen ein wesentliches Argument für diese Entscheidung gewesen sein. Aber von ENDESA soll auch schon behauptet worden sein, daß der Bau des zweiten Staudammes bereits beschlossen sei, was nicht der Wahrheit entspricht. Nach dem umstrittenen und nach vielen Widerständen durchgesetzten Bau des ersten Staudammes “Pangue” sieht es nun so aus, als ob Umweltschutzgesetze und Indígena-Rechte gegen den Großkonzern nicht durchzusetzen wären. Nur noch ein Fünftel der BewohnerInnen, Tendenz fallend, ist sich sicher, daß sie ihre Rechte durchsetzen und unter allen Umständen auf ihrem Land bleiben wollen. Sie werden dabei von verschiedenen NGO’s unterstützt, vor allem vom Grupo de la acción por el Biobío (GABB), der seit 1991 gegen das Großprojekt arbeitet.

Bau trotz enormer Umweltschäden

Aber nicht nur die Pehuenche sind vom Staudammbau betroffen, sondern eben auch für die Umwelt sind gravierende Folgeschäden zu erwarten. Einige Pflanzenarten sind in dem Gebiet, das überflutet werden soll, einzigartig. Die von ENDESA versprochene Ökostation, in der alle vorkommenden Pflanzenarten dokumentiert und bewahrt werden sollen, ist kein Ersatz für die ursprüngliche Vielfalt. Aber die Folgeschäden reichen über das unmittelbare Staugebiet hinaus. Die angestauten Wassermassen werden den Fluß in ein vorwiegend stehendes Gewässer verwandeln. Der Sauerstoffgehalt nimmt dadurch ab, Sedimente und Minerale werden von den Staumauern zurückgehalten. Der Biobío mündet in den Golf von Arauco, der als Fischereigebiet für Chile von enormer Bedeutung ist. Der Nährstoffgehalt des Golfes wird durch den verminderten Eintrag des Biobío stark reduziert werden.
Ende 1995 wurde von den Pehuenche und NGO’s eine Klage beim Beschwerdebüro (Inspection Panel) der Weltbank gegen die IFC eingereicht, weil die bankinternen Vorschriften beim “Pangue”-Staudamm nicht eingehalten worden sind. Die Klage wurde zunächst mit der Begründung zurückgewiesen, daß das Inspection Panel für die IFC nicht zuständig sei, und erst bei weiterem Insistieren durch den GABB versprach Weltbank-Chef James D. Wolfensohn im Sommer 1996, sich persönlich für den Fall einzusetzen. Wolfensohn beauftragte Dr. Jay Hair als unabhängigen Berater, untersuchen zu lassen, ob Umsiedelungs- oder Umweltschutzvorschriften verletzt worden sind. Das Ergebnis ist entscheidend für die Planung und den Bau weiterer Stauelemente. Es wird jedoch noch geheimgehalten.
Bisher ist demnach auch nicht klar, welche Konsequenzen aus dem Gutachten gezogen werden. Daß Kredite für “Pangue” durch Umgehung von Vorschriften bewilligt wurden, zeichnet sich bereits ab, auch wenn der volle Wortlaut noch nicht bekannt ist. Fakt ist hingegen, daß am Biobío gebaut wird und Tatsachen geschaffen werden, deren Ungesetzlichkeit im nachhinein lediglich festgestellt werden kann. Die Schäden werden davon nicht kleiner.
Studien (siehe Anm.) belegen, daß es zur Stromgewinnung aus den Wasserkraftwerken Alternativen gibt: Zum einen könnte Gas aus Argentinien importiert werden, zum anderen ließe sich durch Effizienzsteigerung langfristig achtmal so viel Energie einsparen, wie ein Staudamm in der Größe von “Ralco” produzieren würde.

Anmerkung: Die erwähnten Studien stammen vom “Consejo de Defensa de los Recursos Naturales” (NRDC, ansässig in den USA), dem “Programa de Investigaciones en Energía de la Universidad de Chile” (PRIEN) und dem “Instituto Internacional para Conservación de Energía” (IIEC).

Die Einheit von Boden und Wasser

Die Skepsis bei Honorio Ayavire sitzt tief. Bis vor kurzem war er der Vertreter der Atacameños innerhalb der Comisión Especial de Pueblos Indígenas (CEPI). “Früher,” so Honorio, “entstanden unsere Dörfer, dort wo es Wasser gab, sie wurden an den Berghängen oder an Ausläufern des Río Loa gegründet. Viele Bauten sind Beispiel dafür, wie es die Atacameños schafften Ingenieursarbeiten zu vollbringen, kilometerlange Kanäle zu legen, die das Wasser von der Kordillere bis in die Täler gelangen ließen und von dort auf die Felder. Unser ganzer sozialer Umgang in den Dörfern wurde durch das Wasser bestimmt: Da waren und sind die Puricamanis, die Wasserhoheiten, die die kulturelle Tradition rund um das Wasser aufrechterhalten. Sie erneuern mit jedem Ritual aufs neue die innige Verbindung unserer Menschen mit der Pacha Mama, der Mutter Erde. Doch heute dreht uns die Mine mitsamt der Mithilfe der Regierung das Wasser einfach ab. Zurück bleiben wir, die Älteren, allein, auf dem immer mehr austrocknenden Land.”
Seit fast zwei Jahren herrscht in der I. bis IV. Verwaltungsregion Chiles akuter Wassermangel. Dies ist ein geographischer Raum, der in seiner Ausdehnung von Nord nach Süd rund 2000 km lang ist. Die letzten beiden Winter blieb der erhoffte Regen aus, die Sommer wurden immer heißer. Die vielen halbstaatlichen Minen in der Atacamawüste nehmen darauf bei der Wassernutzung immer weniger Rücksicht, so daß ganze Dörfer in den Sommermonaten Dezember bis März ohne fließende Wasserversorgung sind. Selbst die größeren Küsten- und Industriestädte bilden da keine Ausnahme, wie das Beispiel der Stadt Iquique zeigt. Hier galt bereits in den Monaten Dezember 1995 bis März 1996 täglich knapp 18 Stunden Wasserstopp. Nur in den Abendstunden war der Zugriff auf fließendes Wasser gegeben. Den Rest der Zeit konnte sich nur der glücklich schätzen, wer über eine gefüllte Zisterne oder Unmengen Pfandflaschen voller Wasser verfügte. Und diesen Sommer ist die Bilanz nicht besser. Die Folgen sind fatal: Brände an den aus dem Salpeterboom stammenden Holzhäusern konnten nicht rechtzeitig gelöscht werden, Menschen, die aufgrund der Hitzewelle und des Wassermangels zusammenbrachen, gaben den Einwohnern der Stadt eine düstere Vision von den Ausmaßen der, im wahrsten Sinne des Wortes, Verwüstung.
Im Landesinneren, der auf 2000 bis 4000 Meter ansteigenden Gegend der Puna, ist die Bilanz noch trauriger. Ganze Landstriche liegen brach, sind ausgetrocknet und verlassen. Dort, wo einst Subsistenzlandwirtschaft auf den fruchtbaren salpeterhaltigen Böden betrieben wurde, zeugen nur noch die zurückgelassenen Gerätschaften von der ehemaligen menschlichen Präsenz. In den von der Jugend verlassenen Ortschaften nennen die übriggebliebenen Älteren alle denselben Grund für die Abwanderung: “No hay agua, pué! – Es gibt halt kein Wasser!”
Was mit dem noch vorhandenen Wasser passiert, wissen die Einwohner der Dörfer nur zu genau: Abgesehen von den halbstaatlichen Minengesellschaften, zapft auch die staatliche Minengesellschaft CODELCO, neben den recht fragwürdig zugesprochenen Wasserquellen, andere Quellen an. Die meist indigenen Besitzer dieser Quellen können, den selbst für Juristen nur schwer verstehbaren Weg zur Erlangung einer Wasserkonzession, kaum nachvollziehen. So zieht das Ganze nach der Einschreibung in das örtliche Register der Wasserdirektion, einen mehrmonatigen Prozeß von Kartierung, Wider,- bzw. Einspruchsphase nach sich. All das spielt sich im über 1000 km entfernten Santiago de Chile ab, dort, und nicht im hohen Norden vor Ort, wird über die Vergabe der lebenswichtigen Wasserkonzessionen entschieden.

Ein kleines Dorf macht Geschichte

Mußten die Minengesellschaften in der Vergangenheit weder Staat noch sonst wen fürchten, könnte sich das in Zukunft schlagartig ändern. Indigene Organisationen wie die Colla Marka aus Iquique, der größtenteils Aymaras aus Iquique und dem Landesinneren angehören, gehen mittlerweile dazu über Rechtsanwälte die Klage gegen den illegalen Wasserzugriff durch die Minengesellschaften führen zu lassen. Erste Erfolge sind spürbar. Die Oasensiedlung ChiuChiu, eine halbe Autostunde nordöstlich des Kupfermolochs Chuquicamata gelegen, gewann eine dieser Klagen und erhält seit Februar 1996 mehr Wasser. Dieses dient jetzt dem Anbau von Karotten, Rote Beete und Mangold und gibt dem Handel mit der nahegelegenen Bergarbeiterstadt Calama enormen Auftrieb. Dem Dorf gelang es auch, durch die intensive Arbeit der Nachbarschaftsverwaltung, als lokale Wassergemeinschaft weitere Wasserkonzessionen zu erhalten. Die Bewässerungszyklen der einzelnen Felder können seither wieder regelmäßig durchgeführt werden. Ein Beispiel, das Geschichte machen kann: Die erste Siedlung, die eine Klage gegen den übermächtig scheinenden Minengiganten CODELCO gewann, in einem Land, in dem die neoliberalen Strukturen auch nach 6 Jahren Post-Pinochet die aktuelle Wirtschaftspolitik bestimmen.
Bestandteil dieser Politik ist der Código de Aguas (Wassergesetzgebung), der 1981 unter der Militärregierung von Augusto Pinochet entstand. Sie trennt erstens Wasser- von Bodenbesitz als legale und kulturelle Einheit. Zweitens ermöglicht sie den privaten Erwerb von Wasserrechten und drittens erschwert sie den Erwerb von gemeinschaftlichen Wasserrechten, sprich die Bildung von legal gestützten Wassergemeinschaften, wenn sie sie nicht gar unmöglich macht.
12 Jahre später allerdings, 1993, verkündet die 5-Parteienregierung der damaligen Übergangsphase das Ley Indígena. Sie gab damit die Richtung einer sozialethnisch gerecht verlaufenden Integration vor. Zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte, seit der Unabhängigkeit von 1818 sprach die Ley Indígena allen indigenen Gruppen ein legales Recht zu, ihre eigene Kultur, innerhalb der Eckpfeiler der Demokratie, zu entfalten.
Die Artikel 20-22 des Ley Indigena schreiben die Gründung eines nationalen Fonds für indigenes Land und Wasser, den Erwerb, Schutz und Ausbau der Wasserquellen, insbesondere der nördlichen Ethnien vor. Somit wird implizit die im Código de Aguas festgelegte Trennung zwischen Land und Wasser aufgehoben.
Während die einen nun also versuchen, mehr Wasserrechte anhand der im Ley Indígena formulierten schrittweisen Sicherung und Ausweitung ethnischer Land- und Bodenrechte zu erlangen, besteht für die anderen mit dem nationalpolitisch als vorrangig eingestuften Minenbergbaus, die Möglichkeit private Wasserrechte Schritt für Schritt einfach aufzukaufen.

Wer hat Recht?

Die Anwendung des Ley Indígena wird von der staatlich unabhängigen indigenen Organisation des Rats aller Ländereien (Consejo de todas las tierras), gemeinsam mit der staatlichen Indianerkommission CEPI sowie den NROs vor Ort vertreten. Sie berufen sich hierbei vor allem auf die Beschlüsse der International Labour Organisation (ILO) die seit dem Jahr 1993, dem UN-Jahr der indigenen Gemeinschaften, und auf die Diskussionen der Rio-Konferenz von 1992, den Schutz und weiteren Erwerb indigener Ländereien aktiv zu unterstützen.
Demgegenüber steht die nationale Bergbaugesellschaft CODELCO, Hand in Hand mit der Regierung des Christdemokraten Eduardo Frei. Diese stellen die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den Vordergrund. Wie es der Zufall so will, liegen in einem Großraum des Landesinneren des Norte Grande lukrative Kupfer-, Bauxit- und Lithiumvorkommen. Und gerade in den reichen Kupfervorkommen um den Atacamasalzsee wird kurzfristig auf immer mehr unterirdische Wasservorkommen zurückgegriffen, um langfristig ein nationales und auf erschöpfbaren Ressourcen basierendes “Entwicklungsmodell” zu präsentieren. Die Kupferexporte stellen immer noch fast 40 Prozent der chilenischen Exporterzeugnisse dar.
Noch bilden die privatrechtlichen Auslegungen des Código de Aguas die dominantere Regelung beim Streit um das Wasser. Die Auslegungen der Ley Indígena bedeuten in ihrer jetzigen Form eher “Ausnahmeregelungen”, wie es Honorio Ayavire betont und lassen “keinen eindeutigen Willen von Seiten des Staates erkennen, die Wasserfrage zu Gunsten der indigenen Gemeinschaften zu ändern.”
Auf längere Sicht jedoch wird sich zeigen müssen, inwieweit die indigenen Gruppen des Norte Grande, gemeinsam mit anderen Gruppen des Landes (die südlich des Biobío siedelnden Mapuchegruppen haben ähnliche Probleme bei der Vergabe von Waldkonzessionen) zu einer gemeinsamen ethnoökologisch motivierten Kraft zusammenschmelzen werden. Zentrale Anliegen beider Gruppen sind die dringende Regionalisierung der Ressourcenfragen und die Durchsetzung von langfristig angesetzten Planungen einer nachhaltigen und sozialethnisch gerechten Form der Entwicklung.

Ein Präsident unter Zugzwang

Was ist passiert? Ein Kom­mando einer Guerillaorganisa­tion, deren Untergang von Präsi­dent Fujimori längst als Erfolg verbucht worden ist, landet den perfekten Coup: Der japanische Kaiser hat Geburtstag, die di­plomatische und politische High Society Limas findet sich zum Empfang des japanischen Bot­schafters in dessen Villa ein. Keine Telenovela hätte es phan­tasievoller ausmalen können: In Frack und Abendkleid, mit dem Sektglas in der Hand sehen sich die hohen Gäste auf einmal kaum zwanzig schwer bewaff­neten Guerilleros und Guerilleras gegenüber. Sogar Mutter, Bruder und Schwester des Präsidenten sind anfangs unter den Geiseln, bis das MRTA-Kommando als erste Maßnahme alle Frauen und Alten aus der Residenz entläßt.
Eine solche Aktion beinhaltet ein anderes Maß an Peinlichkeit für den peruanischen Präsidenten als jeder Bombenanschlag auf eine staatliche Institution. Fuji­mori, dessen größter Pluspunkt in der Öffentlichkeit immer der Sieg über den Terrorismus war, wird vorgeführt. Ausgerechnet die Residenz des Botschafters aus demjenigen Land wird zum Ziel, das für die politischen Pläne des bekanntermaßen selbst japanischstämmigen Präsidenten strategische Bedeutung als Ka­pitalgeber hat. Gleich mehrere, für die MRTA ideale Faktoren kommen da zusammen: Die Gei­seln sind teilweise international und/oder prominent, Medienin­teresse ist also garantiert; die Geiseln sind so hochrangig, daß tatsächlich eine Hemmschwelle für eine gewaltsame Stürmung bestehen muß und vor allem: Das Gelände ist exterritorial, Fujimori darf ohne Zustimmung Japans gar nicht stürmen lassen.

Und es gibt sie doch

Peinlich ist für Fujimori dazu, wer der Gegner ist. Die MRTA spielte in der Antiterrorpolitik Fujimoris immer eine unterge­ordnete Rolle. Der Hauptfeind war Sendero Luminoso, der “Leuchtende Pfad”. Die Ausein­andersetzung mit Sendero kul­minierte 1993 in einer großen In­szenierung: Sendero-“Präsident” Abimael Guzmán schrieb aus dem Gefängnis seine berühmten Briefe an Fujimori, in denen er das Ende des bewaffneten Kampfes anbot. Fujimori schloß de facto ein Abkommen mit ihm, von Präsident zu Präsident. Als dagegen MRTA-Chef Víctor Polay nach seinem Ausbruch wieder verhaftet wurde, präsen­tierte Fujimori dieses zwar selbstverständlich als großen Er­folg, nie aber erreichten Polay und die MRTA, von Fujimori als starker Gegner so anerkannt zu werden, wie das mit Guzmán und Sendero Luminoso geschah. Fujimori und Guzmán kämpften in der gleichen Gewichtsklasse, die erfolgreiche Botschaftsbeset­zung der MRTA aber läßt Fuji­mori wie einen Schwergewichts­boxer erscheinen, dem ein wen­diges Leichtgewicht gerade eine schallende Ohrfeige verpaßt hat.
Für einen Präsidenten wie Fujimori, der sich in der öffentli­chen Meinung ganz auf das Image vom starken Präsidenten stützt, muß ein Vorfall wie die­ser ein Desaster sein. Umso wichtiger für Fujimori, ob er we­nigstens beim Ausgang der Gei­selnahme das Gesicht wahren kann. Er hat letztlich die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder verärgert er wichtige internationale Partner, oder er zeigt innenpolitisch fatale Schwäche.
Es darf angenommen werden, daß Fujimori, hätte er die Ent­scheidung selbst in der Hand, wohl eine Stürmung versucht hätte. Entebbe und Mogadishu stünden Pate. Eigene oder aus­ländische Spezialeinheiten kön­n­ten dies zweifellos schaffen, nicht aber ohne Tote unter den Geiseln. Vor allem aber sperrt sich offensichtlich Japan gegen diese Option. Gegen den erklär­ten japanischen Willen das Ge­lände der Residenz zu stürmen, hieße, internationale Regeln zu verletzen und Japan auf eine Art und Weise zu brüskieren, die zu­künftige Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik wohl unmög­lich machen würde. Kein Wun­der, daß Fujimori angesichts der ökonomischen Bedeutung Japans bisher auf diese Option verzich­tet.
Wenn keine gewaltsame “Lö­sung” angesteuert werden soll, bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder spielt der Präsident auf Zeit und versucht, die Besetzer zu zermürben, oder es werden Verhandlungen tatsächlich mit der Absicht geführt, zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Op­tionen schließen sich nicht aus, im Moment fünf Wochen nach der Besetzung, scheinen jeden­falls von Seiten der Regierung beide Elemente im Spiel zu sein. Die Frage ist nur, wo die Priori­täten des Präsidenten liegen. Bisher ließ er nur andeuten, daß freies Geleit für die Geiselneh­mer und deren Abreise in ein Exilland eine Option sein könn­ten. Für das MRTA-Kommando ist das eine sicherlich inakzep­table Position, ihnen geht es schließlich um das Schicksal der inhaftierten MRTA-Mitkämpf­er­In­nen.
Dazu stellt sich die Frage, welche Folgen es hätte, würden zumindest einige der MRTA-Ge­fangenen freigelassen und mit den Geiselnehmern ins Exil ge­flogen. Abgesehen vom prinzi­piellen Problem, keine Nachah­mungen provozieren zu wollen, wäre das politische Risiko aus der Sicht der peruanischen Re­gierung überraschend gering. Mit großer Wahrscheinlichkeit wür­den die Freigelassenen im Exil­land bleiben und vielleicht ein­mal später, nach dem Ende der Ära Fujimori, die Gelegenheit nutzen, eine legale politische Kraft in Peru aufzubauen. Denn vieles spricht dafür, daß die Gei­selnehmer sich der Tatsache be­wußt sind, daß eine bewaffnete politische Option wie die MRTA in der peruanischen Gesellschaft keinen Rückhalt und gegenwär­tig auch keine Zukunftsaussich­ten hat.
Das MRTA-Kommando will mit der Geiselnahme wohl wirk­lich “nur” die Inhaftierten oder wenigstens einige von ihnen freipressen. Die Forderungen der Geiselnehmer sind nur an dem einzigen Punkt der Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen kon­kret. Alles, was an politischen Forderungen von der Presse ver­breitet wurde, ist von unverbind­licher Allgemeinheit. Nicht ein­mal der Sturz der Regierung bzw. des Präsidenten taucht auf der Liste auf.
Diese Beschränkung läßt sich historisch erklären. Die MRTA hat seit ihrer Gründung die Er­fahrung machen müssen, daß sie in Peru zu einer politischen Nebenrolle verurteilt ist. Die ideologisch durchtrainierte ultra-maoistische Konkurrenz von Sendero Luminoso sorgte mit ih­rem kompromißlosen Kampf da­für, daß sich die MRTA nicht nur gegenüber der Verfolgung durch staatliche Behörden, son­dern auch im revolutionären Spektrum verteidigen mußte. In ihrer besten Zeit verfügte die MRTA über nennenswerten Ein­fluß in einigen Regionen im Osten Perus am Übergang der Anden zum amazonischen Regenwald, besonders im nordöstlichen De­partement San Martín. Dazu kam eine gewisse Basis in der Haupt­stadt Lima. Dabei blieben sie allerdings immer eine Minder­heit, obwohl sie doch für sich in Anspruch nahmen, Interessen “des Volkes” zu vertreten.
Sendero Luminoso hatte es einfacher, mit fehlender Unter­stützung der Massen umzugehen. Durch ideologische Radikalität ließ es sich gut von der Realität abstrahieren. Die Senderisten glaubten sich im Besitz der ein­zig seligmachenden historischen Wahrheit. Wenn nicht die Mehr­heit des Volkes mit ihnen kämpfte, war das kein Problem der Ideologie, sondern eines der richtigen Erziehung – oder besser gesagt: Indoktrinierung – der Massen, die durch Gewalt zu ih­rem “Glück” gezwungen werden sollten.

Guerilla ohne Zukunft?

Die MRTA dagegen, orien­tiert an den revolutionären Er­fahrungen in Kuba und Mittel­amerika, war aus ihrem Ver­ständnis von Volksbewegung und Revolution darauf angewie­sen, die Massen wirklich zu ge­winnen. Damit scheiterte die MRTA auf der ganzen Linie. Peru in den 80er und 90er Jahren war und ist nicht ein Staat in Familienbesitz wie das somozi­stische Nicaragua. Dort wurde die Revolution möglich, weil von Bauern bis Bürgertum in fast allen Sektoren der Gesellschaft Konsens herrschte, daß Somoza weg muß. In Peru konnte die MRTA sogar auf der politischen Linken nur eine kleine Minder­heit für sich einnehmen, ganz zu schweigen von anderen gesell­schaftlichen Kräften. Als die MRTA Mitte der 80er Jahre auf der Bildfläche erschien, war die linke politische Welt in Peru dicht bevölkert von Parteien, Ba­sisgruppen, selbstorganisierten Strukturen, die gar nicht daran dachten, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Genauer gesagt, die MRTA entstand aus diesem Spektrum als Ausdruck einer Minderheit, die nicht an die Handlungsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie glaubte und eine bewaffnete Op­tion dagegen setzen wollte. Wäh­renddessen befand sich die Ver­einigte Linke, “Izquierda Unida” auf dem Höhepunkt ihres Ein­flusses und sammelte einen großen Teil des linken Spek­trums in ihrem Umfeld. Vorherr­schend war in dieser Zeit der Kampf um Mehrheiten bei Wahlen, die Suche nach Eini­gung der Linken in einem Wahl­bündnis, en vogue war Selbstor­ganisation auf lokaler Ebene – nicht aber bewaffneter Kampf.
Das Wahlbündnis Izquierda Unida sollte nach 1985 schnell seinen Einfluß verlieren. Nach 1990 ereilte es das Schicksal al­ler traditionellen politischen Parteien: der Absturz in die Be­deutungslosigkeit gegenüber dem übermächtigen Präsidenten Fujimori. Für die MRTA brachte dies allerdings keinen politischen Raumgewinn mit sich. Im Ge­genteil: Je schneller sich die Gewaltspirale im Lande zwi­schen Militär und Polizei, Sen­dero Luminoso und der MRTA drehte, umso mehr wuchs in großen Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach Frieden und – angesichts des Vormarsches der Senderisten – auch die Bereit­schaft, die Regierung beim “Kampf gegen die Subversion” zu unterstützen.
Präsident Fujimori hätte sich des Problems MRTA also schon lange elegant entledigen können, entweder über Gespräche mit den Inhaftierten in Richtung auf Amnestie und Wiedereingliede­rung ins politische Leben – das mittelamerikanische Modell – oder durch eine frühzeitige Exil­regelung für die MRTA-Spitzen. Fujimori hat es nicht für nötig gehalten. Rache an den “Terror­isten” war ihm wichtiger als der politische Ausgleich, nun hat er die Quittung bekommen. Es bleibt nur zu hoffen, daß Fu­jimori bei der letztlichen Ent­scheidung über das weitere Vor­gehen in der Geiselkrise seine persönlichen politischen Interes­sen und Eitelkeiten zurückstellt und pragmatisch handelt. Oder sollte er doch darauf hoffen, nach langer Zermürbung die Be­setzer entweder zur Aufgabe zu bewegen oder mit minimalen Verlusten die Botschaft stürmen lassen zu können? Ein hochris­kantes Spiel. So, wie es zu Re­daktionsschluß dieser Ausgabe aus­sieht, könnte nur ein Ver­hand­lungskompromiß zwischen Re­gierung und Geiselnehmern für ein unblutiges Ende der Be­set­zung sorgen.

KASTEN

Die MRTA – wer ist das und was will sie?

Eine sozialistische Gesellschaft, die unabhän­gig von ausländischem Kapital ist, das will die Mo­vi­miento Revolucionario Tupac Amaru (Re­vo­lu­tionäre Bewegung Tupac Amaru, MRTA). 1984 von Victor Polay Campos mitge­gründet, ide­ologisch in der Tradition von Kuba und Mit­tel­amerika stehend, kämpft die MRTA seit über ei­nem Jahrzehnt gewaltsam gegen den pe­ru­a­ni­schen Staat. Ihr Kampf soll in eine “…kontinentale Re­volution münden, die als Teil der Weltrevolu­tion…” verstanden wird.
Mit ihrem Namen beruft sich die Bewegung auf den mestizischen Inka-Nachkommen Tupac Ama­ru II, eigentlich José Gabriel Condorcanqui (*1743, +1781), einer der wichtigsten Führer der Indígena-Aufstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hundets.
Die Mitglieder der MRTA stammen aus der marxistischen Linken aus Abspaltungen verschie­dener Parteien. Hinsichtlich der militärischen Strategie geht die MRTA davon aus, daß “der Krieg von den Massen gemacht wird, … der revo­lu­tionäre Krieg und der Aufstand verflechten sich zu einem einzigen Prozeß”. Deswegen will die MRTA die Selbstverteidigung des Volkes und die Entstehung von bewaffneten Milizen vorantrei­ben. Die Massen sollen über die Unterstützung der Ge­werkschaften und durch Gründungen von Nach­barschaftsinitiativen erreicht werden.
Die “Blütezeit” der MRTA war gegen Ende der 80er Jahre, vor allem allem im Nordosten Pe­rus: Im November und Dezember 1988 wurden ver­schiedene Dörfer, hauptsächlich im Departe­ment San Martín, eingenommen. Zur Strategie der MRTA gehört es, daß auf gewaltsame Aktio­nen, wie die Einnahme von Dörfern, friedliche Kund­gebungen folgen, in denen die Bevölkerung über Vorgehen und Absichten der Rebellen in­formiert wird.
Die MRTA operierte sowohl auf dem Land wie in der Stadt. So wurde in Lima am 22. No­vember 1988 die Präfektur von Lima mit Rake­tenwerfern attackiert, Luxusrestaurants wurden bombardiert, nachdem kurz zuvor, zusammen mit streikenden Gewerkschaftern, ein Anschlag auf das Büro der Nationalen Minengesellschaft statt­gefunden hatte.
Das Jahr 1989 begann schlecht für die MRTA-Revolutionäre. Am 3.Februar wurde ihr Anführer Victor Polay Campos festgenommen, und zwei Monate später geriet eine Gruppe der MRTA in einen Hinterhalt des Militärs. Es gab 45 Tote auf Seiten der Rebellen. Kurz darauf fiel Ex-Verteidi­gungsminister General Albujar auf offe­ner Straße einem MRTA-Anschlag zum Opfer, außerdem ent­führte die MRTA wirtschaftlich oder politisch hochstehende Persönlichkeiten. Diese Aktionen wurden von Anschlägen auf US-ame­rikanische Erdölfirmen begleitet.
Das durch gelungenen Entführungen zur Ver­fü­gung stehende Geld diente zur Ausrüstung der Gue­rilla, ebenso fanden aber auch immer wieder Ver­teilungen von Lebensmitteln in den Armen­vier­tel Limas statt.
Am 9. Juli 1990 floh Victor Polay Campos zu­sam­men mit anderen Häftlingen durch einen 300 m langen, von außen gegrabenen Tunnel aus dem Hoch­sicherheitsgefängnis von Lima; einer der spek­takulärsten Erfolge der MRTA in den 90er Jah­ren.
Während des Wahlkampfes um die Präsident­schaft 1990 verübte die MRTA unter anderem einen Anschlag auf Mario Vargas Llosa und seine Familie, den diese jedoch unbeschadet überstan­den.
Nachdem Fujimori die Wahlen von 1990 ge­wonnen hatte, verlangte die MRTA auf ihrem 3. Treffen des Zentralkomitees die Vereinigung al­ler progressiven Kräfte gegen eine Regierung, die “… nur die Interessen der großen Monopole und die des Imperialismus” vertritt. Sendero Lumi­noso hingegen bezeichnete die MRTA als kon­ter­re­volu­tionär, als zuwenig radikal, so wie alle Or­ga­nisa­tionen, die sich nicht Sendero unter­ordnen woll­ten.
Fujimori löste 1992 das Parlament auf, in dem die Opposition die Mehrheit hatte, setzte die Ver­fassung außer Kraft und räumte dem Militär mehr Freiraum ein. Unter dieser Anti-Terror-Politik nahmen die Anschläge seitens der MRTA 1993 bis 1995 stark ab, zudem wurde 1992 der Anfüh­rer der MRTA Victor Polay Campos wieder fest­ge­nom­men.
Polay Campos wurde zu lebenslanger Haft ver­urteilt. Nestor Cerpa Cartolini, der letzte noch in Freiheit befindliche Führer der MRTA, über­nimmt das Kommando. Er ist gegenwärtig der Anführer der Rebellen, die die Residenz des ja­panischen Botschafters besetzt halten.
Kathleen Newill

Präsident Zedillo provoziert Krieg

Ein kurzer Blick auf den Verlauf der noch immer – fast – ergebnislosen Gespräche von San Cristóbal, San Andrés Lar­ráinzar und La Realidad zwi­schen Regierung und Guerilla rechtfertigt den Pessimismus, in den EZLN-Sprecher Marcos in einem Kommuniqué Mitte letz­ten Jahres verfiel: “Dreißig Mo­nate später, 912 Tage später und wir kommen nicht weiter. Wie lange werden die Zapatistas wei­termachen? Bis wohin? Wann wer­den wir müde werden, Frie­densinitativen für Demokra­tie, Freiheit und Justiz zu ent­werfen? Wann werden wir auf­hören, der Regierung Magen­schmerzen zu ver­ursachen? Wann werden wir aufhören, Za­patistas zu sein?”
Seit drei Jahren laufen die Dialoge. Und wann immer es aussah, als kämen die Delegatio­nen endlich einen Schritt weiter, ge­fährdeten Provokationen der Bun­desarmee, die Arroganz und Ver­logenheit der Regierung oder schwerwiegende nationale Er­eig­nisse alles. Die Dialoge stan­den still oder wurden unterbro­chen und es mußte wieder von vorne begonnen werden. Ob es nun die Ermordung des PRI-Prä­si­dent­schafts­kandidaten Luis Do­naldo Colosio (März 1994) war, den die EZLN als verhand­lungsbereit und friedenswillig bezeichnet hatte, oder die Mi­litäroffensive und die Haftbe­fehle (Februar 1995), die der neu­gewählte Präsident Ernesto Ze­dillo ver­anlaßte, nachdem er noch wenige Tage zuvor öffent­lich für eine friedliche Lösung des Konfliktes plädiert hatte. Im­mer wieder war es die Regie­rung, die log, aus­wich und die Ver­handlungen tor­pe­dierte. Und im­mer wieder muß­te sich die EZLN neue Stra­tegien einfallen las­sen, um die Zi­vil­gesell­schaft ein weiteres mal auf die Straßen und die Ver­handlungen erneut auf den Weg zu bringen.

Teilerfolge ohne bindenden Charakter

Und erstaunlicherweise ge­lang dies den zapatistas doch, trotz der fortschreitenden Mili­tarisierung von Chiapas und den um­liegen­den Bundesstaaten, den In­filtrie­rungs-, und Einschüch­te­rungs­versuchen durch regie­rungs­treue Kaziken, Weiße Gar­den und die Bundesarmee. Mit ih­ren bislang vier Deklarationen und Initiati­ven wie, der Grün­dung des Na­tionalen Demokra­ti­schen Kon­vents CND in Aguas­ca­lientes (August 1994), der Na­tionalen Umfrage (August 1995), der nachfolgenden Bildung der FZLN oder den kontinentalen und interkontinentalen Treffen für eine menschliche Gesell­schaft und gegen den Neolibera­lismus, konnte nach kritischen Mo­menten immer wieder verlo­re­nes politisches Terrain zurück­erobert werden.
Mit der im Februar 1996 durch die Delegationen der Re­gierung und der EZLN erfolgten Un­terzeichnung der Vereinba­rung über Indigene Rechte und Kul­tur schien ein erster Schritt hin­sichtlich einer politischen Lö­sung des Konfliktes getan. Für die EZLN bedeutete das Ab­kom­men einen Teilerfolg, da der er­arbeitete Kompromiß die hoch­ge­steckten Erwartungen der er-sten Monate nicht erfüllte. Die Vereinbarungen über Indigene Rech­te und Kultur und die Modi­fizierungen der Artikel 4 (über den multiethnischen Charakter der mexikanischen Nation) und 115, auf die sich die Regierung Zedillo einließ, blieben nicht nur weit hinter den ursprünglichen For­derungen der EZLN zurück, sie waren außerdem lediglich ei­ner von mehreren zur Diskussion ste­henden Punkten, die die Ver­handlungen insgesamt vorsahen. Und sie hatten überdies – auch wenn die ursprüngliche Verein­ba­rung ihre unveränderte Einfü­gung in die mexikanische Ver­fas­sung beinhaltete – in ihrer er­sten Formulierung keinerlei bin­den­den Charakter.
Um diesen zu erlangen, war zunächst eine detaillierte For­mulierung der einzelnen Inhalte durch EZLN und Cocopa, einer aus Parlamentariern der Parteien PRI, PAN und PRD zusammen­ge­setzten Vermittlergruppe, not­wendig, die dann Präsident und Ab­geordnetenkammer zur Ab­seg­nung vorgelegt werden sollte.
Zwar wurden direkte Gesprä­che mit der PRI-Delegation nach zahl­reichen Torpedierungsversu­chen der Regierung von den Za­pa­tistInnen als unsinnig ein­ge­schätzt und abgebro­chen, Ver­hand­lung­en zwischen EZLN und Cocopa fan­den je­doch weiterhin statt. Schließlich lag im De­zem­ber 1996 der von Cocopa und EZLN gleicherma­ßen akzeptierte Ent­wurf endlich vor.

Hardliner und Desillusionierte

Damit hatte Präsident Zedillo nicht gerechnet. Um Zeit zu ge­winnen, bat sich das mexikani­sche Staatsoberhaupt eine Frist von zwei Wochen aus, um den In­halt des Dokumentes “analy­sie­ren” zu können. Diese ließ er verstreichen und um wei­tere 14 Ta­ge verlängern. Am 11. Januar 1997 übergab Zedillo der EZLN sei­ne Antwort. Kaum et­was er­in­nerte noch an den von der EZLN und Cocopa erarbeiteten Text. Mit juristi­schen Spitz­fin­dig­kei­ten war der Entwurf ausgehöhlt und sinnent­stellt worden. Die we­sentlichsten der im Vorjahr ge­troffenen Ver­einbarungen wa­ren gestrichen. Damit rief Ze­dil­lo nicht nur den Zorn der Za­pa­tistInnen – Sub­co­man­dante Mar­cos sprach von Ver­höhnung – her­vor, sondern auch der Ver­mitt­lergruppe. Schließ­lich hatte die Cocopa von vorn­herein unmißverständlich klar­gestellt, daß es nur Zustimmung oder Ab­leh­nung geben könne, je­doch kei­ner­lei Änderungen des Kom­pro­miß­pa­pieres. Juan Guer­ra, Mit­glied der Cocopa, bringt es auf den Punkt: “Die Re­gie­rung hat das Abkom­men im Fe­bruar 1996 unter­zeichnet, um es nicht zu erfüllen. Sie unter­schrieben es, um sich über die EZLN lustig zu ma­chen.”
Angesichts der Sinnlosigkeit wei­te­rer Gespräche und der zu­neh­menden Militarisierung und Re­pres­sion in Chiapas droht wie­der einmal das Ausbrechen be­waff­ne­ter Kämpfe. Doch ist die La­ge nun ernster denn je. Ei­ner­seits setzen die Hardliner in­ner­halb der PRI ihre Strategie, po­li­ti­sche Lösungen zu sabotieren, er­folg­reich fort. Andererseits droht bei einem Scheitern – und nichts deutet auf eine andere Per­spek­tive hin – des um eine fried­li­che Veränderung be­müh­ten Ver­handlungsweges der EZLN ein weiteres Abfallen ihr­er Basis au­ßerhalb von Chiapas. Daß die Ein­satzbereitschaft der Zi­vil­ge­sellschaft arg ge­schmol­zen ist, wurde am dritten Jah­res­tag des Aufstandes mehr als deut­lich. Im Ge­gensatz zum Vor­jahr brach kei­ne Karawane von Mexiko-Stadt auf, um mit Hilfs­lie­fe­rungen und massiver Prä­senz in den indigenen Ge­mein­den Soli­darität zu demon­strieren. Die zapatistas blieben unter sich. Und auch in der 23 Mil­lio­nen-Metropole selbst traf sich nur ein Häuflein von etwa 200 Per­sonen auf dem Zócalo, um ih­re Ver­bundenheit mit den Auf­stän­di­schen auszudrücken.
Die Stunde derjenigen, die we­der Frieden noch eine Beteili­gung der Zivilgesellschaft bei der Umgestaltung Mexikos an­stre­ben, scheint angebrochen. Zum einen spielen die Militärs in­nerhalb des Machtgefüges eine im­mer stärker werdende Rolle, ge­duldet und gestützt von Präsi­dent Zedillo und der US-Admi­nistration. Und: Die im Juni 1996 erstmals in Erscheinung ge­tretene Revolutionäre Volks­ar­mee EPR, die durch Attentate und Überfälle bisher über 40 Sol­daten und Polizisten erschos­sen hat und jeden Dialog mit der Regierung ablehnt, gewinnt an Einfluß unter Teilen der desillu­sionierten und unter der Repres­sion leidenden Bevölkerung, vor al­lem auf dem Lande. Ihr YA BASTA – ES REICHT impliziert ei­nen sofortigen Stopp der Men­schen­rechtsverletzungen, die, wie derzeit in Teilen Guerreros und Oaxacas, an Grausamkeit kaum zu überbieten sind, egal auf welche Weise. Das Auf­tau­chen dreier weiterer Guerilla-Grup­pen in­nerhalb der letzten zwei Monate im mexikanischen Nor­den und der Südprovinz Guer­rero weist hin auf eine ge­walt­tätige Ent­wick­lung, die al­lein die korrupte Herr­schaftselite und ihre Hintermän­ner im Pen­ta­gon zu verantworten haben.

Krieg um die Umwelt?

In der Einleitung des Buches wird der spektakuläre Titel gerechtfertigt: “Wenige würden leugnen, daß Lateinamerika und die Karibik Zeugen eines Umweltkrieges geworden sind, der dramatischer, verbreiteter und sicherlich traumatischer als jeder militärische Konflikt ist.” Wirklich? Tatsächlich wird das Buch weder dem Titel noch dieser Feststellung der Einleitung gerecht. Damit ist schon die zentrale Schwierigkeit, die ich mit dem Buch habe, angedeutet: In dem Reader finden sich eine Vielzahl von Beiträgen zu den unterschiedlichsten Themen, die sich aber nicht mehr zu einer zentralen These verdichten lassen. Das Buch bestätigt meine Abneigung gegen Sammelbände und Bücher, die gleich einen ganzen Kontinent behandeln. Solche Unterfangen können eigentlich nur gelingen, wenn sie paradigmatisch einige zentrale Fallbeispiele analysieren, um so zu diskutierbaren Schlußfolgerungen zu kommen. Ansonsten ist ein Sammelband so sinnvoll und öde wie etwa das Zusammenbinden von LN-Artikeln unter zwei Buchdeckeln.

Ein zu breiter Überblick

Vielleicht ist das ungerecht. Will man es positiv sehen, so ließe sich anführen, daß der Sammelband eine Vielzahl von Themen angeht und damit die Wahrnehmung von Umweltkonflikten in Lateinamerika, die oft doch sehr auf die Tropenwaldzerstörung fixiert ist, erweitert. Zwar stellt auch “Green Guerrillas” Regenwald und indigene Völker in den Mittelpunkt, aber ein Kapitel widmet sich den Kosten der Modernisierung, ein anderes den Umweltkonflikten in Städten. Der Kauf des Buches wird mit Artikeln belohnt über Ökotourismus in den ecuadorianischen Küstenregenwäldern, über Puerto Ricos Energiepolitik, über Fischer in Honduras und Pionierfrauen in Mexiko, um nur einige Beispiele zu nennen.
Kaum überraschend, daß bei dieser Vielfalt von Themen die Qualität der einzelnen Beiträge extrem schwankend ist. Die Amazonasproblematik zum Beispiel ist mit zwei exzellenten Artikeln vertreten. Stephen Nugent rückt auf knappen acht Seiten einige häufige Wahrnehmungsverkürzungen zurecht. Er plädiert dafür, die Forschungen von Uhl und Mattos zur Kenntnis zu nehmen, die zeigen, daß in einigen Regionen Amazoniens Landwirtschaft und Viehzucht keineswegs in die sofortige ökologische Katastrophe führen. “Die Debatte geht nicht mehr darüber, ob Vieh zu Amazonien paßt. Viehzucht ist gekommen, um zu bleiben.” Diese ist eine These, die in das Zentrum einer wichtigen Diskussion führt, denn längst sind Rinder nicht nur auf den großen fazendas anzutreffen.
Der zweite, ausgezeichnete Artikel zum Thema Amazonien stammt von Anthony Hall und behandelt die Geschichte der Kautschukzapfer, insbesondere nach dem Tod von Chico Mendes. Hall gelingt es trotz der Kürze, einen kleinen Überblick über Erfolge und Schwierigkeiten dieser bedeutenden ökosozialen Bewegung zu geben. Bemerkenswert ist, daß Hall weder den üblichen Heiligenschein verbreitet, noch in das andere Extrem der Denunziation verfällt, sondern Schwierigkeiten der Bewegung, insbesondere beim Versuch, ökonomische Perspektiven zu entwickeln, markiert. Ärgerlich ist lediglich der Titel “Ist Chico Mendes umsonst gestorben?” Soll der Mord, den ein verkommener Großgrundbesitzer begangen hat, tatsächlich historischen Sinn bekommen? Das Lebenswerk Chico Mendes’ mag Früchte tragen, sein Tod bleibt grausam und gemein.
Nach dieser hoffnungsvollen Lektüre dann gleich die Ernüchterung.

Niveau einer Lokalzeitung

Der dritte Beitrag über Amazonien ist so schwach, daß es schon ärgerlich wird. Catherine Matheson kündigt einen Beitrag über “Fruit farming in the Brazilian Amazon” an, der sich als Erlebnisbericht über den Besuch einer Kooperative in Marabá entpuppt. Da ich die dort entwikkelte Arbeit aus eigener Anschaung und Begleitung über mehrere Jahre kenne, kann ich nur bestätigen, daß der Artikel von Ungenauigkeiten und Fehlern nur so wimmelt und alle schlechten Merkmale einer schnellen journalistischen Schreibe trägt. Der Autorin gelingt es nicht, eine einzelne Erfahrung zu analysieren, um daraus diskutierbare Schlußfolgerungen zu ziehen.
Dieses Manko teilt sie leider mit einer Reihe anderer Artikel, die konkrete Fälle oder Projekte behandeln, zum Beispiel über Pionierfrauen oder Ökotourismus in Ecuador. Es ist wohl die Vielzahl relativ belangloser Artikel, die in jeder Sonntagsausgabe einer Lokalzeitung ihren Platz hätten, die den Sammelband diffus und disparat erscheinen lassen.
Schade für die zahlreichen guten Artikel, die in dem Sammelsurium unterzugehen drohen. Tatsächlich finden sich in dem Band eine Reihe von lesenswerten Beiträgen, etwa über Haiti (Charles Arthur) oder Kuba (Peter Rosset). Diesen Artikel gelingt die Balance zwischen konkreter Beschreibung und dem Aufgreifen von Aspekten, die über den Einzelfall hinaus wichtig sind.

Stadtplanungsguerilla

Enttäuschend ist auch das Kapitel über Städte. Die durchaus annehmbare Einleitung versucht zu recht, Gegenakzente zu den allzu leichtfertig vorgetragenen Katastrophenszenarien über Stadtentwicklung in Amazonien zu setzen. Leider findet sich dann kein Beitrag mehr, der die Frage der Entwicklung der Megastädte aufgreift. Die Fallstudien, mit Ausnahme des Artikels über Santo Domingo, bleiben dann wieder zu sehr auf den Einzelfall beschränkt. Brasilien ist mal wieder mit dem unvermeidlichen Curitiba vertreten und einem Artikel, der nur das wiedergibt, was alle, die sich für Lateinamerika interessieren, an verschiedensten Orten (auch in den LN) nachlesen könnten. Curitiba ist sicherlich ein interessantes Beispiel für eine effektive und innovative Stadtplanung – aber Green Guerrilla?

Green Guerrillas. Environmental Conflicts and Initiatives in Latin America and the Caribbean, hg. v. Helen Collinson, London 1996, 250 S., 29,80 DM (ca. 15 Euro).

“Wir sind auf alles vorbereitet”

Als ich am Morgen des 24. Dezember 1996 von San Cristóbal aus aufbrach, um drei Wochen in einem “Campamento por la Paz” zu ver­bringen, hatte ich keinerlei Grund zur An­nahme, daß etwas Außer­ge­wöhnliches vorfallen könnte. Der Dialog zwi­schen Regierung und EZLN war zwar bereits seit Mo­naten abgebrochen, doch die Lage war ruhig.
Auch bei meiner Ankunft im Dorf, einer Gemeinde nahe La Garrucha, schien sich dieser Eindruck zu be­stätigen. Die Leu­te kannten mich bereits von vor­herigen Auf­ent­halten und freuten sich, daß je­mand die Hütte auf dem Dorfplatz, die aufgrund feh­lender Be­sucherInnen mehrere Wo­chen leerge­standen hatte, mit Leben füllte. Wie jeder Neuan­kömmling wurde auch ich als erstes nach Neuig­keiten vom Frie­densprozeß be­fragt, denn Zeit­schriften und Zeitungen ge­langen nur selten in die entlegenen Gemeinden. Ich hatte mir eine La Jornada (linke Tageszeitung aus Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) mitge­bracht, de­ren Erschei­nungsdatum zwar schon ei­nige Zeit zu­rücklag, in der jedoch der Brief vom EZLN-Sprecher Mar­cos an Präsident Ernesto Zedillo in voller Länge abgedruckt war. In diesem Brief for­derte der Sup, mittler­weile zum Range eines comandante avanciert, den mexikanischen Regierungschef auf, die indigene Bevölkerung in Chia­pas nicht mehr länger warten zu lassen, einen Schritt in Rich­tung eines dauerhaften Frie­dens zu tun und end­lich auf die von der EZLN aufgestellten Mindestfor­der­ung­en zur Wie­der­auf­nahme des Dia­logs ein­zugehen. Außer­dem be­tonte er die Dringlichkeit und Not­wen­digkeit, daß die aus­ge­arbeitete Gesetzesi­nitiative zum Schutz der Indigenen Rechte und Kul­tur vom Staatsober­haupt un­ter­schrieben wer­den muß. Eine Woche zu­vor hatte der Präsident die endgültige Fassung dieses Abkommens kurz vor ihrer Un­terzeichnung abgelehnt, sich eine Frist von zehn Tagen aus­erbeten und an deren Ende erklärt, daß der nach zähen Verhandlungen von beiden De­legationen un­terzeichnete Kom­promiß noch ein­mal von Grund auf über­ar­beitet werden müsse.

Frustration nach 3 Jahren Krieg

Der dritte Jahrestag des Aufstands wurde in vielen Orten der Selva Lacandona festlich be­gangen. Über tausend Menschen kamen aus allen Siedlungen der Um­gebung zusammen, um drei Tage und Nächte lang zu feiern und zu den Klän­gen einer in Ocosingo an­geheuerten ma­ri­achi-Ka­pelle zu tanzen.
Überraschenderweise waren die indígenas fast unter sich. Nur wenige Menschen aus anderen Tei­len Mexikos oder Inter­na­tionalistInnen waren an­wesend. Die sonst immer ein­ge­troffene Karawane “Todo para Todos” aus Mexiko-Stadt war diesmal nicht nach Chiapas aufgebrochen und auch BeobachterInnen aus anderen Na­tionen der Welt wa­ren zu Hause geblieben.
Einer der Höhepunkte des Festes war sicherlich die Ansprache des Sup in den ersten Minuten des neuen Jahres. Die Band stoppte und ein tiefbeweg­ter Repräsentant der Ge­meinde hielt ein Transi­storradio ans Mikrofon, damit alle Ver­sam­melten live das von at­mosphäri­schem Prasseln un­ter­malte Kommuniqué des Ge­heimen Re­volutionären In­di­genen Komitees – Ge­neralkom­man­dantur der EZLN ver­nehmen konnten.
Die Worte des EZLN-Spre­chers drückten Besorg­nis und An­spannung aus: Nach drei Jah­ren Krieg in Chiapas stünden die Dinge schlecht, die Re­gierung hätte 12 Tage Zeit, um ein Ent­gegenkommen zu sig­na­lisieren und bis dahin hieße es Ab­warten. Am Ende der Nach­richt waren al­le Ver­sam­mel­ten totenstill. Nach einer Minute rief einer mit sich über­schlagender Stim­me in die Menge: “Drei Jahre haben wir jetzt ausgehalten und was haben wir erreicht ?” “Nichts!” ant­wor­teten hunderte indí­genas aus dem Dunkel der Nacht.

Die Regierung zeigt ihre Krallen

Das Jahr 1997 hatte schlecht begonnen. Die Stimmung in den Ort­schaften verschlechterte sich von Tag zu Tag. Je näher der 11. Januar rückte, ohne daß ir­gend­ein Entgegenkommen von der Re­gierungsseite erkennbar wur­de, desto mehr verdü­sterten sich die Mienen in den Ge­sichtern. “Wenn bis zum Zwölf­ten keine Ant­wort kommt, wird es wieder Krieg geben,” erzählten mir sowohl ältere als auch jün­gere Männer. Und: “Wir haben drei Jahre Zeit ge­habt, uns im ganzen Land auszubreiten. In Oaxaca, in México, in Veracruz. Überall gibt es jetzt zapa­tistas. Wir sind auf alles vorbereitet.”

Vorboten der Aggression

Auch die Regierungs­truppen schienen sich auf etwas vorzubereiten. Tag für Tag nahm die Anzahl von Auf­klä­rungsflügen über den Schluch­ten und Tälern zu. Fast alle 20 Minuten erfüllte das Brummen von großen Hub­schraubern den Himmel, die in mehreren hundert Metern Höhe die Dörfer über­flogen. Am dritten Januar kam es dann zu einem dramatischen Zwischenfall: Nur wenige hun­dert Meter vom Frie­denscamp entfernt stürzte ein Helikopter der mexika­nischen Luftwaffe ab und zerschellte am Boden. Alle BewohnerInnen im Dorf schie­nen ihren Atem anzu­halten, bis zwei Tage spä­ter, nachdem die Leichen der Soldaten geborgen worden waren, ein Abschuß durch die Guerilla von of­fizieller Seite ausgeschlos­sen wurde.
Am 11. Januar fand die Ein­schüch­terungs­kam­pagne der Bun­des­armee ihren vorläufigen Hö­hepunkt: Gegen Mittag don­nerte ein Hubschrauber im Tief­flug über die Stroh- und Well­blech­dächer der Holzhäuser hin­weg. Eine klare Verlet­zung einer der in San An­drés getroffenen Vereinba­rungen, die der me­xikani­schen Armee Tiefflüge und Stops in den Gemeinden un­tersagen. Einige Stunden spä­ter wurde das Dorf von einer ängstlichen Aufregung ergriffen. Unzählige indí­genas liefen auf dem Dorf­platz zusammen, re­de­ten laut und wild gesti­kulierend durcheinander und deute­ten auf den Himmel: Es war kein Mo­to­rengeräusch zu hö­ren und doch war da ein Dü­senflugzeug zu er­ken­nen, das in einigen hundert Me­tern Höhe das Tal überflog. Von einer Frau erfuhr ich den Grund für die Aufregung. Das da oben war eines jener Flug­zeuge, die so­wohl in den ersten Ja­nuartagen 1994 Dörfer und Men­schen bombardiert hatten, als auch Vor­boten der Regie­rungs­of­fensive vom Februar 1995 gewesen waren: Pila­tus C-7, mit Bordkanonen und Luft-Bo­den­ra­keten bestückte Auf­klä­rungs­flug­zeuge aus der Schweiz.

Nichts wirklich Neues auf 107.1

Der 11. Januar war ein Samstag. An diesem Tag um sieben Uhr abends ist es Zeit in der Selva La­candona, das Radio ein­zuschalten, denn das ist die einzige Stunde in der Wo­che, in der auf UKW 107.1 “Radio Insurgentes”, der revolutionäre Sender der EZLN, zu empfangen ist. Zwischen Revolutionslie­dern aus allen Ecken und Zeiten Lateinamerikas mel­det sich ab und zu eine ru­hige In­dí­genastimme, sagt die Zeit an oder grüßt die zuhörenden Zi­vilistInnen und Milizen. An jenem Abend jedoch kündigte die Stimme schon nach dem ersten Lied eine Botschaft der EZLN-Kom­mandantur an. Dio­nicio, einer der Kir­chenältesten, saß bei mir am Tisch und spielte voller Enthusiasmus “Schnipp-Schnapp” mit einem Kind, wäh­rend sich die Gemeinde draußen all­mählich zum Gottesdienst ver­sammelte. Sobald klar wurde, was da über den Äther kommen sollte, strömten mehr und mehr Menschen in meine Hütte, um der lange er­warteten Nachricht zu lau­schen. Mit starken Worten wies Marcos die Vorschläge der Regierung zurück und be­zeich­nete sie als Ver­spottung der zapatistischen Forderungen. Das Verhal­ten der Regierung sei eine Provokation zum Krieg. Den indígenas, die in den ersten Januartagen des Jahres 1994 im Kampf um Land und Freiheit ihr Le­ben gelassen hatten und all jenen Dorfgemeinden, die den Kampf der EZLN un­terstützten, sei es geschul­det, den Kampf um die Erfüllung der Forderungen fortzuführen und sich nicht mit einem faulen Kompro­miß zu­frie­denzugeben.

Ein mißverstandenes Erdbeben

Nach Ende der Übertra­gung war es erst einmal eine Minute lang still, dann kamen die ersten Re­aktio­nen. Niemand schien über­rascht. “Was soll’s”, war der Tenor, “dann gibt es halt Krieg. Was haben wir zu verlieren.” All­gemeines Achselzucken ge­folgt von einer gedämpften Dis­kus­sion, die in ein erleichtertes Lachen mündete. Schon wurden wieder die ersten Witze gemacht. Dann rich­tete sich die Auf­merksam­keit auf mich: “Hast du etwa Angst, Nico? Du hast doch Angst, oder?”
Zwar hatte Marcos der Regierung einen Tag Zeit ge­geben, dennoch herrschte unter den Dorf­bewohnerInnen an je­nem Abend Nervosität. Wenige Stun­den nach dem Kommuniqué kam in den Nachrichten eine Meldung über Stromaus­fälle in der Hauptstadt und in den west­lichen Teilen des Lan­des. Die Anwesen­den zogen sofort den Schluß, daß eine Kampagne der EZLN bereits begonnen ha­be. Da die Vorstellung, ein Großteil der mexikani­schen Be­völkerung sei auf ihrer Seite, bei den Dorf­bewohnerInnen sehr ver­breitet ist, paßte die Idee von den sie unterstützenden Massen, die be­reits mit der Lahmlegung des Elek­tri­zitätsnetzes begonnen hät­ten, genau ins Bild. Doch schon bald erfuhren wir von einem anderen Sender, daß es sich bei den Stromausfällen um die Fol­gen eines Erdbebens ge­handelt hatte.
Am nächsten Morgen ver­lie­ßen 30 bewaf­fne­te jun­ge Männer das Dorf, um die Auf­stän­dischen in den Ber­gen zu ver­stär­ken. Auch wenn der Frie­den vor­läu­fig ge­wahrt bleibt, so ist die Lage noch längst nicht ent­schärft. Es steht in den Sternen, wann die Milizionäre in die Dör­fer zurück­kehren und bis dahin ist davon auszugeh­en, daß sich die Zahl der kampfbereiten Gue­ril­leros in den Ber­gen von Chiapas im Ver­gleich zu den Wo­chen davor ver­viel­facht.

CRONICA X – Die Eroberung Mexikos

Der Versuch, ein derart komplexes Ereignis wie den Untergang des Aztekenreiches im 16. Jahrhundert auf der Bühne darzustellen, ist gewagt. Daß er sich jedoch lohnen kann, bewies das Ensemble Ziguri Ego Zoo im Theater am Halleschen Ufer in Berlin. “Die Geschichte nicht zu erläutern, sondern sie zu beschwören”, unter diesem Motto steht das auf Antonin Artauds Exposé basierende Stück, das uns mit auf die Spurensuche nimmt:

Hörst Du?
Sie glauben an eine neue Welt
wissen weder was
noch wohin sie fliehen.
Hörst Du?
Sie kommen
und begraben
deine Sonnen.

Den düsteren Vorahnungen der Vertrauten Moctezumas II. folgt die Landung des Spaniers Hernán Cortés im Aztekenreich. 1519: Das Schaudern des Herrschers von Tenochtitlán, die Annäherung Malinches und Cortés’, die von Macht, Gier und Vernichtung geprägten Visionen des spanischen Eroberers:

Du mußt die Welt politisch denken
den Rhythmus vergöttlichen
Du mußt alle Farben hassen
selbst Rot löst einen auf
wenn man es zu lange ansieht.

Die Gesandten Kaiser Karls V., Cortés und Alvarado, ergreifen die Schwerter. 1520: Moctezuma II stirbt, Machtkämpfe unter den Spaniern entbrennen. Widerstand der Indígenas. Cortés zieht sich aus Tenochtitlán zurück:

Die jähen Krämpfe der Schlacht
der Schaum der Köpfe verfolgter Spanier
die zermalmt werden wie
Blut auf den grünenden Mauern.

Mit Kreuz und Schwert wird Mexiko unterworfen. 1521: Cortés ist am Ziel seiner Träume, Meere von Blut durchwatend erobert er Tenochtitlán:

Im Namen des Vaters
der dem Papst
der dem Kaiser
der mir
dieses Land schenkte.

Die von Ziguri Ego Zoo präsentierte Inszenierung zieht das Publikum in ihren Bann. Ausdruckstarke Gestik und Mimik, faszinierendes Licht- und Wasserspiel und die fesselnde musikalische Begleitung lassen uns für 70 Minuten in eine Welt abtauchen, deren wahres Gesicht Geheimnis bleibt. Was CRONICA X jedoch zu leisten vermag, ist, unsere vagen Vorstellungen von der Conquista mit fiktiven, ästhetischen Bildern zu bereichern: Ein empfehlenswertes Ereignis.

Wollmützen auf der Bühne

Im Morgengrauen rückte sie an, die gefürchtete Justizpolizei. Mit Knüppeln bewaffnet spran­gen die Männer aus ihren Kom­bis und schlugen wahllos auf die versammelten Indígenas ein, egal ob Männer, Frauen oder Kinder. Die Scheinwerfer der Polizei­hubschrauber tauchten die Stra­ßen der chiapanekischen Stadt Venustiano Carranza in helles Licht. Dann fielen Schüsse auf die rund 500 Menschen, die sich dort eingefunden hatten. Drei Personen starben an diesem 9. November, ein zwei Tage altes Baby wurde zum Halbwaisen. Seit Tagen hielten die Campesi­nos die Straße nach Tuxtla Gutiérrez besetzt. Ihre Forderun­gen waren eher bescheiden: Mehr Geld für den Mais, den sie anbauen und von dessen Verkauf sie leben. Sie hofften auf Ver­handlungen mit der Regierung, auf die Erfüllung ihrer Forderun­gen. Doch die Machtinhaber in Chiapas schlugen hart zurück.
Knapp eine Woche zuvor, in der Nacht zum 4. November, hatten die berühmt-berüchtigten und allgegenwärtigen “Un­be­kann­ten” den Sitz der Co­or­di­na­do­ra Nacional por la Pa­ci­fi­ca­ción (CONPAZ) in San Cristóbal de las Casas überfallen, Unter­la­gen und Lebensmittel entwendet und anschließend die Büros in Brand gesteckt. Sie hinterließen Sprüche wie “Tod den Za­pa­ti­sten!” und “Weg mit den Za­pa­ti­sten! Man will Euch nicht.” Am näch­sten Tag fand sich auf dem An­rufbeantworter eine Mord­dro­hung gegen 26 Mitarbeiter aller Nicht-Regie­rungsorganisationen, die sich in der CONPAZ zu­sam­men­ge­schlossen haben. “Wir wer­den Euch alle umbringen, einen nach dem anderen. Und da, wo es Euch am meisten weh tut: Auch Eure Kinder!” sprach eine fin­stere Stimme vom Tonband. Um die Drohung zu unter­strei­chen, entführten die Täter den Ge­schäftsführer von CONPAZ und seine ganze Familie, schlu­gen ihn vor den Augen seiner Kin­der zusammen und entließen ihre Opfer mit kahlgeschorenem Kopf nach fast dreitägiger Haft.

Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser

Der Zeitpunkt war nicht zu­fällig gewählt. Die Morddrohun­gen und die Entführung fanden just zu einem Zeitpunkt statt, als sich viele Augen nicht nur in Me­xiko wieder einmal auf Chia­pas und auf San Cristóbal rich­te­ten. Für den 4. November war ur­sprünglich die Einrichtung der “Kom­mission zur Verfolgung und Überwachung des Friedens­ab­kommens von San Andrés Larráinzar” geplant. Hinter die­sem komplizierten Namen ver­birgt sich eine aus VertreterInnen der mexikanischen Regierung, der ZapatistInnen sowie der par­lamentarischen (COCOPA) und der kirchlichen (CONAI) Ver­mittlerorganisationen zusam­mengesetzte Instanz zur Ge­währleistung aller in Zukunft vereinbarten Abkommen zwi­schen den KontrahendInnen im Chiapas-Konflikt. Die Einrich­tung einer solchen Kommission gehörte zu den zentralen Forde­rungen des EZLN, um die Si­cherheit ihrer KämpferInnen und der überwiegend indigenen Be­völkerung in den umkämpften Zonen zu verbessern. Dieses “Eingeständnis” konnte die Bun­desregierung offenbar nicht ma­chen, ohne noch einmal ein­drücklich zu zeigen, wer denn eigentlich Herr im Hause Me­xiko ist. Drei Tage lang hielten sie die in San Cristóbal ver­sammelte EZLN-Delegation hin, bevor die Kommission offiziell ihre Arbeit aufnehmen konnte. Die von der Regierung zu stel­lenden Vertrauensleute wurden, obwohl es drei Wochen vorher Zeit gegeben hätte, erst einen oder zwei Tage vor Termin an­gesprochen. Zudem waren die Delegierten zum Teil für die Za­patistInnen unannehmbar, so daß diese ihre Zustimmung versag­ten.
Doch als die Kommission am 7. November endlich offiziell ins Leben gerufen wurde, revan­chierte sich die Guerilla auf ihre Weise. Ihr ursprünglich nicht eingeplanter Fußmarsch vom Ort der gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen – von dem ehe­maligen Kloster El Carmen zum Stadttheater von San Cristóbal – geriet zu einem regelrechten Tri­umphzug für die Comandantes mit ihren charakteristischen, nur Augen und Mund freilassenden Wollmützen. Auch im Saal des renovierten Theaters lagen die Sympathien der meisten Anwe­senden eindeutig bei den Zapatist­Innen. Doch es war nur ein kleiner propagandistischer Sieg in Anbetracht der Verzöge­rungstaktik der Bundesregierung. “Die Regierung will uns nur hin­halten und zum Aufgeben brin­gen,” zeigt sich denn auch Co­mandante Ramón etwas resi­gniert. Im Anschluß erklärt er zwar, das EZLN habe alle Zeit der Welt. Doch so ganz überzeu­gend klingt das nicht.
Nicht wenige politische Be­obachter sind der Auffassung, daß der EZLN-Aufstand letzten Endes nur der Regierungspartei PRI genutzt habe. Das stimmt si­cherlich nicht, diese Aussage muß zumindest auf die opposi­tionelle Partei der Nationalen Allianz (PAN) ausgeweitet wer­den. Die Rechtskonservativen haben erst am 24. November er­neut ihre wachsende Popularität unter Beweis gestellt. Bei den Kommunalwahlen in mehreren Bundesstaaten konnte die PAN in vielen Städten Siege erringen und ließ die linke PRD (Partei der Demokratischen Revolution) deutlich hinter sich. Und überall dort, wo die PAN auf Bundes­staatsebene zum zweiten Mal die Regierung stellt, vor allem in Baja California, ist ein neues Phänomen zu beobachten: Die PRI, aufgrund der heterogenen Struktur mehr ein Regierungsap­parat als eine Partei, zerfällt zu­sehends. Zumindest in der bishe­rigen Form sind ihre Tage ge­zählt. Diese Entwicklung werden wohl auch Wahlmanipulationen und Politikermorde nicht mehr aufhalten können. Dazu immer­hin hat der ZapatistInnenauf­stand wesentlich beigetragen.

“Wir haben der Regierung keinen einzigen Erfolg abringen können”

Wie würdet Ihr die entschei­den­den Gründe für den Auf­stand der ZapatistInnen in Chia­pas be­schreiben?

Comandante Ramón (C.R.): Wir als Zapatisti­sche Befrei­ungs­armee haben immer wieder betont, daß wir den bewaffneten Kampf aufgenommen ha­ben, weil wir die Fruchtlosigkeit ein­ge­sehen ha­ben, mit friedlichen Mit­teln gegen die Regierung zu kämpfen. Denn sie hat uns gar nicht angehört und ist nicht auf un­sere Bedürfnisse und Forde­run­gen eingegangen. Es blieb uns keine andere Mög­lichkeit, als uns zu organisieren und die Waf­fen zu erheben. So haben wir am 1. Januar 1994 den be­waff­ne­ten Kampf aufgenommen. Wir glau­ben, daß uns die Regierung zu­mindest so zuhört.

Gilt das auch heute noch?

C.R.: Zu Beginn des Krieges sah es so aus, als ob die Regie­rung uns endlich zuhören würde. Seit dem Beginn der Friedensge­sprä­che von San An­drés gibt die Re­gierung zwar immer wieder vor, auf unsere Forderungen ein­ge­hen zu wollen, aber wir sehen auch ihre tatsächlichen Beweg­grün­de. Denn ihre Haltung weist nicht darauf hin, daß sie unsere Prob­leme wirklich lösen will. Sie wol­len uns nur hinhalten und zum Aufgeben bringen, das ist die Politik der Regierung.

Damit greifst Du schon auf die nächste Frage vor: Welche Er­folge habt Ihr als Zapatisti­sche Be­freiungsarmee drei Jah­re nach dem Beginn des be­waff­ne­ten Kampfes vorzuwei­sen?

C.R.: Unser Volk hat sich sein Land zurückge­nom­men – das wird jetzt wieder gemeinschaft­lich be­arbeitet. Genauso wie wir es immer gesagt ha­ben, bearbei­ten wir das von uns kontrollierte Land in kollektiver Form. Denn: Wenn wir es aufteilen, reicht es nicht für alle. Wir haben unser ur­sprüngliches Land und etliche Groß­grund­be­sitz­tümer zurück­ge­won­nen. Das sind un­sere Fort­schrit­te, aber die Regierung hat uns immer wieder vertrieben, sie steht letztlich dahinter, daß die guardias blancas organisiert und Cam­pesinos be­waff­net wurden, da­mit wir uns untereinander be­krie­gen. Das spielt sich momen­tan in den Kon­flikt­ge­bieten ab.
Wir haben jedoch der Regie­rung bislang keinen einzigen kon­kreten Erfolg abringen kön­nen. Der entscheidende Fort­schritt unseres Kampfes liegt da­rin, daß wir die Unterstützung gro­ßer Teile der Zivilgesellschaft ge­winnen konnten. Das Haupt­ge­wicht liegt im Moment auf dem po­litischen Kampf. So konnte die Arbeitsgruppe zur Rechts­la­ge und zur Kultur der indigenen Be­völ­kerung ihre Ar­beit auf­neh­men, und es gibt ei­nige Ab­kom­men, aber die Regie­rung hat bis­her nichts eingehal­ten. Nicht ei­nen Punkt.

Die letzten Tage haben deut­lich gemacht, daß die Regierung wei­terhin zeigen will, wer Herr im Hau­se ist. Wie kann das EZLN dieser Politik be­geg­nen?

C.R.: Wir geben unseren Kampf nicht auf, denn das ist der Wil­le des Volkes. Wir machen kei­nen ein­zigen Schritt zurück, wir werden weiterkämp­fen. Die Re­gierung stellt uns Fallen, mit dem Ziel, daß wir den Dialog ab­bre­chen. Den Krieg hat letzten En­des die mexikanische Zivilge­sell­schaft gestoppt, und wir müs­sen ihren Willen respektie­ren. Aber einige Erfolge haben wir in den drei Jah­ren durchaus errun­gen. Als wir den bewaffneten Auf­stand begannen, wußten wir nicht, ob das Volk auf unserer Seite stehen würde. Und jetzt se­hen wir, daß das Volk Gerech­tig­keit fordert. Denn wir führen un­se­ren Kampf für ganz Mexiko, nicht nur für Chiapas. Wenn wir den Frieden erreichen, gilt er nicht nur für Chiapas, sondern für ganz Mexiko.

Habt Ihr damals am 1. Ja­nu­ar 1994 bereits mit einer der­ar­ti­gen Unterstützung gerechnet oder wie habt Ihr die Lage ein­ge­schätzt?

C. R.: Wir sind nicht davon aus­gegangen, daß uns die Bevöl­ke­rung als Armee akzeptieren wür­de. Und wir dachten nicht, daß der Krieg schon nach 6 oder 12 Tagen zu Ende gehen würde. Wir hatten uns zehn Jahre lang vor­bereitet und hatten nicht ein­ge­plant, daß wir uns so schnell zu Gesprächen zu­sammensetzen wür­den.

Der Kampf im EZLN bedeutet zwei­fellos er­hebliche Ein­schrän­kungen in vielerlei Hin­sicht. Worauf müßt Ihr als Za­pa­tistInnen verzichten?

Comandante Leticia (C.L.): Unsere Hauptauf­gabe besteht da­rin, die Kämpferinnen im Za­pa­ti­sti­schen Befreiungsheer zu or­ga­ni­sieren und auf ihre Arbeit vor­zu­bereiten, damit sie gemein­sam mit uns kämpfen können. Schließ­lich sind wir Frauen am stärk­sten benachteiligt und wur­den seit vielen Jahren nie richtig wahr­genommen. Deshalb muß­ten wir kämpfen, um Verände­run­gen und ein wür­diges Leben für die Compañeras zu erreichen. Das Opfer, das wir für die Teil­nah­me am Kampf auf­bringen, ist er­heblich, denn für uns Frauen ist es immer schwieriger, unser Zu­hause und die Familie zu ver­las­sen. Es ist viel Arbeit, die uns oft schwer­fällt, aber was bleibt uns anderes übrig? Wenn wir nicht kämpfen, wird sich unsere Lage nie verän­dern.

Die zapatistischen Kämpfe­rin­nen haben si­cherlich keine Kinder…?

C. L.: Einige schon. Wir ha­ben alle das Recht, selbst zu ent­schei­den, was wir machen wol­len. Hier wird kein Unterschied ge­macht zwischen denen, die Kin­der haben, und denen, die kei­ne ha­ben. Das Entscheidende ist es, zum Kampf bereit zu sein. Kei­ner der zapatistischen Kämp­fe­rinnen wird in Sachen Le­bens­weise etwas verboten.

Wie groß ist der Anteil der Frau­en im EZLN? Gibt es gleich viele Männer und Frauen oder sind die Männer in der Überzahl?

C.L.: Das Verhältnis ist in etwa gleich. Und es werden auch kei­ne Unterschiede zwischen Män­nern und Frauen gemacht. Wir stehen in einem ge­mein­sa­men Kampf, und die Männer sind sich über die wichtige Rolle der Frauen im Klaren. Viele Com­pañeros kämpfen für die Ver­besserung ihrer La­ge und für Frie­den und Demokratie, für Ge­rech­tig­keit und Würde. Das vor allem wollen wir für unsere Com­pañeras erreichen, nicht nur für die indigenistischen Compas, denn wir sind weitaus mehr. In der ganzen Welt gibt es Leute, die den Kampf der ZapatistInnen mit Interesse ver­folgen.

Durch die Berichterstattung aus Mexiko haben wir in letzter Zeit vor allem von der Coman­dan­te Ramona gehört. Welche Rol­le spielt sie innerhalb der za­pa­tistischen Frauen?

C. L.: Sie war die Vertreterin aller Frauen in­ner­halb des EZLN. Wie gesagt, wir sind ein Kol­lektiv, und sie hat uns alle beim Indígena-Kongress in der Haupt­stadt vertreten. Damit alle se­hen konnten, daß wir keine Prob­leme haben, uns als Frauen in der Öffentlichkeit zu präsen­tie­ren und in einen an­de­ren Bun­des­staat zu fahren.

In den Nachbarländern Gua­te­mala und El Sal­vador sind jahre­lange Guerillakriege zu Ende ge­gangen, die vor allem im Fall El Salvadors auch mi­li­tä­risch erfolgreich waren. Dort hat sich die FMLN aber mitt­ler­weile in das politische All­tags-Geschehen und Geschäft in­te­griert und von den Zielen des ein­stigen Kampfes entfernt. Wel­che Über­legungen stellt Ihr an, um einen ähnlichen Aus­gang in Chiapas zu vermeiden?

Comandante Valentín (C.V.): Wir vergleichen uns nicht mit dem Kampf in El Salvador. Un­ser Kampf begründet sich auf die Tra­dition von Emi­liano Zapata. Auch Zapata hat nicht darum ge­kämpft, an die Macht zu kom­men. Seine Hauptfor­derung war die, das Land solle denen gehö­ren, die es bearbeiten. Auch wir wol­len, daß uns das Land zu­rück­gegeben wird: Denn das Land gehört uns. Es gehörte un­se­ren Großvätern, Urgroßvätern, und es ist uns weggenommen wor­den. Die FMLN in El Sal­va­dor ist im Gegensatz zu unseren An­sprüchen ei­ne Partei, die ger­ne die Macht übernehmen wür­de. Wir aber wollen die Macht nicht. Wir wollen, daß es Frei­heit gibt, Demokratie, Ge­rech­tig­keit – alles für alle (“todo para todos”). Dafür kämpfen wir.

Bedeutet das, wenn die soziale Ge­rechtigkeit ein­mal erreicht ist, zieht Ihr Euch zurück und geht nach Hause?

C.V.: Wenn wir das erreichen soll­ten, ziehen wir uns nicht zu­rück, sondern führen die politi­sche Arbeit fort. Auch wenn un­se­re Ziele erreicht sind, hö­ren wir, sofern es uns dann noch gibt, nicht auf zu kämpfen. Das Land muß noch wiederaufgebaut wer­den.

Welche Mindestforderungen müs­sen erfüllt sein, damit Ihr den bewaffneten Kampf zugun­sten des rein politischen auf­gebt? Und sogar die Woll­müt­zen absetzt?

C.V.: Nicht bevor die letzte der von uns gefor­derten Arbeits­grup­pen eingerichtet ist. Wir wol­len sechs verschiedene Ver­hand­lungsgruppen ins Le­ben ru­fen. Aber im Augenblick ist der Dia­log prak­tisch unterbrochen. Denn die Regierung will uns nicht als Gesprächspartner ak­zep­tieren. Wenn die Re­gierung sich weiterhin so arrogant ver­hält, geben wir natürlich auch kei­nen Schritt nach. Wir müssen mo­mentan weiter auf die Waffen set­zen, weil uns kein anderer Weg bleibt.

Comandante, warum schreibst Du alle Fragen auf?

Comandante Ramón: Ich tue das deshalb, weil alles, worüber wir hier sprechen, nicht auf die­sen Augenblick beschränkt blei­ben kann. Wir handeln als Kol­lek­tiv, wir sprechen als Kollek­tiv, und alle Fragen richten sich an uns als Kollektiv. Und so kom­men die Interviewfragen auch unserem Volk zu Ohren. Denn ich kann hier nicht als Ein­zel­person sprechen. Alle wollen wis­sen, was die in­ternationale Ge­meinschaft interessiert, wel­che Fra­gen sie stellen. Oft wer­den uns Dinge versprochen, die nicht eingehalten werden. Oder es wird be­hauptet, die Interviews wer­den veröffentlicht, und nichts da­von geschieht, die Sachen lan­den in den Archiven oder wer weiß wo. Außerdem bin ich sehr ver­geßlich.

Ein anderes Thema: Zumin­dest im Ausland wird das Bild der ZapatistInnen im Wesentli­chen durch den Subcomandante Mar­cos bestimmt. Gleich­zeitig ist der Chiapas-Konflikt aber ein Kampf der Indígenas für For­derungen der Indí­genas. Wie geht Ihr mit diesem schein­ba­ren Wi­der­spruch um?

C.V.: Richtig, die meisten neh­men nur den Sub­comandante Mar­cos wahr. Aber da besteht eine Ver­wirrung, weil Marcos nicht die Führung ist. Marcos ist le­diglich ein Compañero mehr. Mar­cos sind wir alle. Warum sage ich das so? Weil die Füh­rung kollektiv funktioniert, die Füh­rung liegt bei den schon er­wähn­ten Komitees, den Revolu­tio­nä­ren Indígena-Untergrund­komi­tees. Von ihnen hängt ab, was gemacht wird. Marcos kann nicht alleine entscheiden, son­dern die Leitung arbeitet al­les kol­lektiv aus.

Bedeutet das nicht, daß durch die Konzentra­tion der Medien auf Marcos ein etwas verzerrtes Bild vom EZLN erzeugt wird?

C.V.: Nein. Er ist zwar am mei­sten hervorge­treten, und da­rum wird er am ehesten aner­kannt. Aber wenn wir von der Lei­tung sprechen, die wie gesagt bei den Komitees liegt, dann weiß ja keiner, wo die genau sind. Da ist der Unterschied, bei Mar­cos wissen sie, wo er ist, aber von den Untergrundkomi­tees eben nicht. Das ist geheim.
C.R.: Um das etwas zu ergän­zen, was Coman­dante Valentín eben gesagt hat: Zu der Frage, warum der Subcomandante Mar­cos immer auf den Fotos er­scheint, ist zu sagen, daß wir im EZLN keine Unterschiede zwi­schen den verschiedenen Leuten ma­chen. Wer sich bei uns einrei­hen möchte, wird akzeptiert, Frau­en, Männer, Mesti­zen. Haupt­sache, er will sich unserem Kampf an­schließen, egal welches Ge­schlecht, welche Reli­gion er hat. Und so hat der Subcoman­dan­te Marcos durch seine Arbeit und unsere Unterstützung den Po­sten erworben, den er jetzt ein­nimmt. Marcos erscheint un­ter anderem häufiger auf Fotos, weil er die militärische Führung hat. Er hat den Auftrag, die Trup­pen zu befehlen, die Ge­neh­mi­gung, diese Arbeit zu ma­chen, aber auch er unterliegt den Ent­schei­dungen des Untergrund­ko­mi­tees.

Unter welchen Schwierigkei­ten leidet Ihr und leiden alle In­dí­genas in Chiapas derzeit am mei­sten? Was macht der Bevöl­ke­rung hier am mei­sten zu schaffen?

C.R.: Das größte Problem für un­sere Völker sind die Militari­sie­rung, die paramilitärischen Grup­pen, die Aufstandsbekämp­fung, die “weißen Wachen” (guardias blancas), die von der Re­gierung geschaffen wurden, um unsere Völker zu schwä­chen, die Menschenrechtsverletzungen durch die Bundesarmee. Sie be­stim­men im Moment ent­schei­dend unser Leben und das unse­rer zapati­stisch kämpfenden Be­völ­kerung.

Und was schränkt, abgesehen von der Repres­sion, die Ent­wick­lung der Menschen in die­ser Re­gion am meisten ein?

C.R.: Ein großes Problem ist, daß die Campesi­nos wegen der An­wesenheit des Militärs im Mo­ment ihre Felder nicht mehr be­stellen können. Sie erlauben uns praktisch keine Feldarbeit. Das Leben wird dadurch immer schwie­riger, denn aufgrund der Blockade durch die Armee pro­du­zieren wir weniger. Es gibt daher bei unseren Völkern mehr Hun­ger als sonst ohnehin schon.

Jeder im politischen Kampf En­gagierte hat ja nicht Ziele vor Augen, sondern auch Träu­me und Hoffnungen. Was sind Eure Hoffnungen für die Zu­kunft? Von welchem Mexiko träumt Ihr für das Jahr 2000?

C.R.: Das wissen wir noch gar nicht. Träume können wir uns viele vorstellen, darüber, wohin wir in drei Jahren kommen könn­ten. Aber dazu können wir noch nichts sagen, weil wir uns an die Tat­sachen halten müssen. Wenn wir uns etwas vornehmen, kann es sein, daß wir es nie er­reichen. Wir werden weiterma­chen. Denn wir erleben die größten Probleme der indigenen Völker wirklich und faßbar als Krankheiten. Hier gibt es keine Kli­niken, keine Ärz­te, es sterben viele Kinder an Unter­ernährung. Die Regierung führt seit vielen Jahren Krieg gegen uns, aber wir haben es nicht gemerkt. Und darum müs­sen wir weiterma­chen. Für uns steht bei den Ver­handlungen auch nicht das Nie­derlegen der Waf­fen zur Dispo­sition, so­lange die Regierung diese Probleme nicht löst.

Schmutziger Krieg gegen imaginäre Feinde

Der Protest der Hinterbliebe­nen und ihr Verlangen nach Aufklärung, hat jetzt brennende Aktualität durch zwei Publika­tionen erlangt, die erst­mals die syste­matische Praxis der Folter und des Ver­schwindenlassens durch staatliche Organe des Lan­des aufzeigen. Als Folge dieser Sensibilisie­rung der Öffentlich­keit sehen sich nun auch staatli­che Stellen dazu genö­tigt, Unter­suchungen zu den Vorwürfen einzuleiten. Die 1995 erschie­nene Doku­mentation von M. Neira, herausgege­ben von der öku­me­nischen Menschenrechts­kom­mission Ecuadors, berichtet exempla­risch von rund 20 Ein­zelfällen von Personen, für deren Verschwinden in den achziger- und frühen neunziger Jahren mit hoher Wahrschein­lichkeit Funk­tionsträger der Po­lizei und des Mili­tärs verantwortlich sind. Bei der über­wiegenden Zahl der Tat­be­stände liegt kein politischer Hin­tergrund vor. In den wenig­sten Fällen wurde eine Untersu­chung von staatli­cher Seite über­haupt je eingeleitet und in nur zwei Fällen kam es zu einer Ver­urteilung der beteiligten Tä­ter aus den Reihen der “Sicher­heits­kräfte”. Meist konn­ten nicht ein­mal die Leichen der Ver­schwun­de­nen aufgefunden werden. Ge­ra­de durch den ex­emplarischen Cha­rakter der unterschied­lichen Einzelfälle wird ein Bild der vor­herr­schen­den Ge­walt und Will­kür ge­zeichnet.

Foltermord in der Aus­bildung

Auf erschreckende Weise be­stätigt und ergänzt findet sich dieses Bild durch den im August 1996 unter dem Titel El Tes­tigo erschienenen persönlichen Be­richt des Ex-Polizisten Hugo España Torres, in dem die Sys­te­matik staatlicher Terrorprakti­ken deutlich wird. Wie der Sprecher der nichtstaatlichen Versamm­lung für Menschen­rechte (APDH), Alexis Ponce, im Vor­wort bemerkt, läßt sich aus die­sen Aufzeichnungen nur allzu deutlich able­sen, daß wäh­rend der Repressions­phase der späten 80er Jahre die An­wendung von Folter und Mord geradezu als professio­nelle, ausgefeilte Tech­nik von Elitesicher­heitskräften be­trachtet und staat­licherseits ange­ordnet wurde. Vor diesem Hintergund kann sich die Regie­rung kaum mehr un­ter Hinweis auf ver­meintlich indi­viduelles Fehlver­halten in Ein­zelfällen aus der Verantwortung zie­hen. Viel­mehr wird klar, daß es sich um po­li­tisch zu verant­wortende Staats­verbrechen handelt.
Im ersten Teil berichtet España über die Inhalte und Ziele seiner Aus­bildung bei der Po­lizei und seine Tä­tigkeit in ge­hei­men Spezialeinheiten zur Auf­standsbekämpfung. Bereits die Schil­derung der durch stän­dige physische Gewalt gegen die Rekruten gekenn­zeichneten Lehr­zeit verweist auf ein System entwürdi­gender Praktiken und insti­tutionalisierten Machtmiß­brauchs. Aufgezeigt wird die schon gewohnheits­mäßige Ak­zep­tanz der tief verwurzelten Korruption auf allen Ebenen der Diensthierarchie, ebenso wie die ab­solute Verpflichtung zur strikten Ein­haltung von Befehls­ketten im Sinne eines Korpsgei­stes, der zu vielfältigen unge­setzlichen Handlun­gen geradezu auf­ruft.
Nach Aussagen Españas lag die nachfolgende Aus­bildung zum Einsatz in geheimen Poli­zei­einheiten, die er selbst als To­desschwadronen be­zeichnet, in Verant­wortung offizieller Ex­perten aus den USA und Israel. Auf der Grundlage einer ständi­gen ideologi­schen Indoktrinie­rung beinhaltete die Schulung neben Grausamkeiten gegen Tie­re vor allem das Erlernen grau­samster Folter­techniken und de­ren Übungsanwendung an ein­fachen Häftlingen. Als Ab­schluß­prüfung wurde der ak­kurat aus­geführte Folter­mord an einem Ge­fangenen verlangt.

Kopfgelder von höchster Regierungsebene

Die Beschreibungen der Ein­sätze der erlernten Methoden zur “Aufstandsbekämpfung” in der Pro­vinzhauptstadt Cu­enca gegen die kaum einflußreichen Gueril­lagruppen AVC und MPL lassen das Ausmaß der von staatlicher Seite begangenen Grau­samkeiten nur erahnen. Einsatzbe­fehle zum Mord an ganzen Familien ver­meintlicher Subver­siver, gezielte nächtliche Mordein­sätze gegen Ver­dächtige, die der Öffentlich­keit dann als im Kampf gefal­lene Guerilleros präsentiert wurden, und die dauerhaft genutzten ge­heimen Folterlager er­scheinen in der Darstellung nur noch als Routinevorkomm­nisse in der tägli­chen Dienst­pflichterfüllung in der SIC 10, einer “Anti­sub­ver­sionseinheit” der Polizei. Die wohl brisanteste und das Ver­trau­en in die staatlichen Organe am stärksten erschüt­ternde Ent­hüllung liegt in der Aussage Españas, die geheimen Poli­zei­schwa­dronen seien wäh­rend der Prä­sidentschaft Febres Corderos (1984-88) direkt dem Innenmi­nisterium unter­stellt ge­wesen. Von diesem hätten die Spe­zi­al­agen­ten auch ein geson­dertes Kopf­geld für jeden ermor­deten “Sub­versiven” er­halten.
1987 ließ sich España zur Krimi­nalpolizei nach Quito ver­setzen und wurde Anfang 1988 in der Dienststelle zufällig Zeuge der Folter und des Mordes an den min­derjährigen Restrepo-Brü­dern.
Dem folgte die Be­seitigung der Lei­chen und die offi­zielle Vertuschung möglicher Spuren und Beweise. Die Tatsa­che, daß das “Vergehen” der bei­den Ju­gendlichen scheinbar in einer Spritztour im Auto ihres Vaters be­standen hatte oder darin, einen ver­dächtigen Eindruck auf die Polizisten gemacht zu haben, verdeutlicht, wie sehr die Bru­talität der verrohten Sicherheits­organe sich verselbständigt hatte und quasi Amok gegen die Be­völkerung lief. Da die Familie der Ver­schwundenen recht ein­flußreich ist und so der Fall ein er­hebliches öffentli­ches Interesse her­vorrief, brachte sich España auch noch anderthalb Jahre spä­ter mit einigen unvorsich­tigen Bemerkungen über seine Kennt­nisse des tatsäch­lichen Hergangs selbst in Lebens­gefahr. 1991 machte er schließlich eine um­fas­sende Aussage vor der inter­na­tionalen Untersuchungskom­mis­sion zu diesem Fall.

Schlampige Aufarbeitung im Restrepo-Fall

Der zweite Teil seines Buches be­schäftigt sich aus­schließlich mit den Maßnahmen der Unter­su­chungskommission zum Re­stre­po-Fall, mit der mühsa­men Ermittlung und Auf­klärung trotz aller institutionellen Ver­schlei­er­ungsbemühungen und trotz der Mordversuche an España als ein­zi­gem direkten Zeugen.
Im Zuge der Spu­rensuche wurde die Existenz von Massen­grä­bern auf­gedeckt. Weitere Nach­forschungen zu den Ver­brechenshintergründen und Op­fern fanden jedoch offenbar nicht statt.
So bleibt die Auf­arbeitung dieser Übergriffe in vielen Aspekten unbefrie­digend: nach Mög­lichkeit verschlei­ert, daß es sich um Staatsverbrechen han­delt, was durch Vernichtung von Beweis­mitteln und das Beseiti­gen von Zeugen, sowie durch dienstin­terne Re­pression erreicht wird. Auffällig ist vor allem, daß der Schwerpunkt der Unter­su­chun­gen sehr einseitig auf unpo­litische Menschenrechts­ver­let­zungen gelegt wird, wohin­gegen die staatlichen Verbre­chen im Na­men der inneren Sicherheit kaum beleuchtet werden. Doch der Boden für die minde­stens ebenso bru­tale politische Repres­sion wird gleichzeitig weiter­hin vor­bereitet, indem indigene Or­ganisationen, die Land- und Minder­heitenrechte ein­fordern, als kommu­nistisch inspirierte Um­stürzler diffa­miert werden.

Betätigungsfeld für den “Weltpolizisten” USA

Trotz der deutli­chen Konzen­tration auf den offensicht­lich un­politischen Fall der Restrepo-Brüder enthält die schriftliche Zeu­gen­aussage des Ex-Po­lizisten España ei­nige Brisanz. Denn dieser zufolge ver­sammelte der Kom­mandant der Polizei­einheit wenige Tage nach dem Vorfall sämtliche Dienstha­benden, die durch Beteiligung oder Anwe­senheit während des Foltermor­des Kenntnis vom Schick­sal der Opfer hat­ten, um alle zur abso­luten Ver­schwiegenheit über die Vorkommnisse zu verpflichten.
Zudem läßt die von España erwähnte An­wesenheit zweier Agen­ten der US-Drogenbehörde DEA an diesem Treffen vermu­ten, daß zu­mindest in den 80er Jahren eine über die zuvor dar­gestellte Kontinuität der spe­zi­ellen Folter­ausbildung durch US-Personal hin­ausgehende, dau­er­hafte Zusammenar­beit in der sy­ste­matischen Anwendung staats­ter­roristischer Methoden gegen die Bevölkerung ge­geben war, die sich keineswegs auf die sogenannte “Auf­stands­be­kämp­fung” be­schränkte. Nur allzu deutlich wird hier die Men­schen­ver­ach­tung der Sicherheitsdok­trin der USA: in offiziellen US-Ein­heiten wurde ganz offenbar auf keine Mittel und Methoden verzichtet, um schnelle Erfolge in der vor allem in den 80er Jahren weitge­hend aus innen­po­li­tischen Moti­ven dramatisierten Be­kämpfung des Dro­genhandels und lin­ker Gruppierungen in La­tein­amerika prä­sentieren zu können. So er­scheint es geradezu als Hohn, daß seit einigen Jahren offizielle Vertreter von US-Behörden Ein­heiten der Polizei und der Streit­kräfte der la­tein­amerikanischen Länder Un­ter­richt in Sachen Menschen­rechte ge­ben.
Obwohl die in spe­ziellen Fol­ter­tech­niken ausgebildeten Son­dereinheiten der Polizei Ecua­dors 1991 auf Veranlas­sung des da­ma­ligen Präsidenten Borja aufgelöst und die Verantwortli­chen und Mittäter im Restrepo-Fall durch die Strafjustiz verur­teilt wurden, bleibt es fraglich, ob in den Behörden und Regie­rungs­kreisen inzwi­schen tat­säch­lich ein ernsthaftes Auf­klärungs­bedürfnis besteht. Über Rück­trit­te oder Amtsenthebun­gen in den ver­schiedenen militä­rischen Ein­richtungen, wo eben­falls Fol­ter­zentren existierten, ist jedenfalls nichts bekannt gewor­den.

Aufklärung unerwünscht

Die Einrichtung einer weite­ren, in­ternationalen Untersu­chungs­kommissionen zur Auf­klä­rung des Verschwindens von Ein­zelpersonen, de­ren Angehö­rige we­niger gesellschaft­lichen Einfluß gel­tend machen konnten als die Restrepo-Familie, wurde von Präsident Borja zwar ange­kündigt, aber nie realisiert. Die den Demonstra­tionen der Mad­res de la Plaza de Mayo in Ar­gen­ti­nien ähn­lichen Versamm­lungen von Angehörigen der Ver­schwundenen mittwochs auf dem Platz vor dem Präsi­den­ten­pa­last in Quito wurde von Borjas Nach­folger im Amt, Du­rán Ballén, 1993 untersagt, das Ver­samm­lungsverbot mit Poli­zei­ge­walt zeitweise auch durch­gesetzt. Hier offenbart sich die Absicht, staatliche Institutionen und auch hochrangige Personen innerhalb des Staatsapparates zu schützen, die den Terror anord­neten und unter Hinweis auf die “innere Si­cher­heit” rechtfertig­ten. Nach wie vor scheint diese dem Recht der Bevölkerung überge­ordnet, Re­chen­schaft über die staatli­chen Verbrechen gegen die Men­schen- und Bürgerrechte zu er­hal­ten. Ecuador wird wei­terhin als for­male Demokratie betrach­tet, in deren Rahmen der Staat das Gewaltmonopol als Vertreter der öffentlichen Inter­essen und des Ge­meinwohls für sich bean­sprucht.
Lange Zeit hatte es so ausge­sehen, als könnten sich die Be­fürworter eines Schlußstriches durchsetzen, die die Verbrechen möglichst unter den Teppich ge­kehrt lassen und damit ein Sy­stem schützen wollen, in dem die will­kürliche Gewaltanwendung ge­gen die Bevölkerung als not­wendig er­achtet wurde. Schüt­zenhilfe er­hielten diese Kräfte durch die eher ab­wiegelnde Haltung der Präsidenten Borja und Durán Ballén. Angesichts dessen ist es zu­mindest ein hoff­nungsvolles Zeichen, daß infolge der Aussagen Hugo Españas die Regie­rung sich nun zu konkreten Maßnahmen veranlaßt sah, um dem Eindruck ent­gegenzutreten, sie bagatellisiere die Verbrechen und decke die Schuldi­gen. Zu er­höh­tem Handlungsdruck hat sicher­lich auch ein Anfang Sep­tember im Privatsender Ecuavisa ausge­strahlter Fernseh­beitrag unter dem Titel “Nunca más” beigetragen. Hier­nach könnten zwei weitere Massengrä­ber aus­findig ge­macht werden, deren Lage España in jüngsten Aussa­gen bezeichnet hat. Wenn auch Febres Cordero, der frü­here Staatspräsi­dent, die Anschuldi­gungen Españas als Hirngespin­ste abtut und für viele die Glaubwürdigkeit des Ex-Polizi­sten auf­grund seiner Vergangen­heit und eventueller Ungereimt­heiten seiner Aussagen insbe­sondere zur eigenen Person in Zweifel steht, heben andererseits Kom­mentatoren in der ecuato­rianischen Presse hervor, daß die Detailkenntnis in Españas Aus­sagen für dessen Glaubwürdig­keit spricht. Vor dem Hinter­grund einer durch den erwähnten Fernsehbeitrag hellhörig gewor­denen Öffentli­chkeit sind im Septem­ber zwei mit der Aufar­bei­tung der Menschenrechtsver­letzungen be­faßte Kommissionen ins Leben gerufen wor­den. Wäh­rend eine Mehrparteien­kom­mis­sion des Kon­gresses den Vor­würfen Españas nachgeht, soll eine durch Ministerbe­schluß und mit Un­terstützung des Präsi­den­ten Abdalá Bucaram einge­rich­te­te “Kommission für Wahr­heit und Gerechtigkeit” in­nerhalb der näch­sten 12 Monate alle nicht geklärten Fälle grober Men­schen­rechtsverletzungen der letz­ten 17 Jahre – das heißt, seit das Land for­mal demokratisch re­giert wird – un­tersuchen. Po­sitiv hervorzuheben ist, daß die­ses Organ prinzipiell mit der Be­fugnis ausge­stattet ist, Fälle an die Strafjustiz zu übertragen. Es wird interessant sein, weiter zu verfolgen, mit wel­chem Nach­druck diese Untersuchun­gen durch­geführt werden und ob sie tatsächlich jemals strafrechtliche Kon­sequenzen zeitigen. Skepsis in dieser Hinsicht ist ange­bracht, wenn man sich vor Augen hält, wie die Arbeit der Untersu­chungskommission zum Fall der Restrepo-Brüder ganz strikt auf den vermeintli­chen Einzelfall be­grenzt wurde und alle Versu­che zur Offenlegung der Struk­turen, aufgrund derer dieser sich hatte ereignen kön­nen, im Sande ver­liefen. Das Drängen auf lüc­kenlose Klä­rung der Vor­fälle und Offenlegung der Ver­ant­wortlichkeiten ohne Scho­nung der obersten Befehls­geber ist eine zen­trale Forderung von amnesty interna­tional. Wie von der Ecuador-Koordina­tion der Organisa­tion mitgeteilt wurde, ist einer Delegation des BMZ, die Ecuador im No­vember be­reist hatte, die Aufgabe mit auf den Weg gegeben worden, diese An­liegen bei ihren Treffen mit Vertretern der ecuatorianischen Regierung anzu­sprechen.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

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