Nach dem großen Schwindel

In seiner nur sechs Monate dauernden Amtszeit hatte der Präsident Abdalá Bucaram – “el loco” – des populistischen Partido Roldosista Ecuatoriano PRE alle Rekorde gebrochen: Keiner vor ihm hatte derart dreist in die eigene Tasche gewirtschaftet und seinen Clan in die Schlüsselpositionen des Landes gehievt. Keiner hatte so selbstherrlich regiert und dabei über den kurzen Publikumserfolg hinaus so wenig an längerfristigen Konzepten eingebracht. Keiner hatte so unverhohlen die Presse- und Meinungsfreiheit in Frage gestellt und so inkohärente, aber entgegen allen Wahlversprechen drastische wirtschaftliche Maßnahmen durchgesetzt.
Und so reichte ein halbes Jahr, um auch die Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen, die in Bucaram in der Stichwahl Anfang Juli 1996 im Gegensatz zu dem Kandidaten des konservativen Partido Social Cristiano PSC, Jaime Nebot, das kleinere Übel gesehen hatten. Sie hatten damals seinen Wahlsieg mit 54 Prozent der Stimmen möglich gemacht – trotz der ihm von den Medien bescheinigten Irrationalität und “Verhaltensauffälligkeit”. “O nos salvamos o nos hundimos”: Entweder wir retten uns, oder wir gehen unter. Alles oder nichts.

Nichts als Ablabla

Aber Bucaram ließ seine Versprechen platzen wie Seifenblasen: von einer Milderung der neoliberalen Anpassung keine Spur, paternalistische und inszenierte Almosen statt struktureller Hilfe, Großaufträge gingen außer Landes, keinerlei Investitionssicherheit, und das versprochene Ministerio Étnico kränkelte ebenfalls vor sich hin. Als Inbegriff des Neureichen von der Küste, der sich gegen die alteingesessenen Eliten aufbäumt und seinen Platz beansprucht, konnte er mit seinem discurso vulgar und seinem machistischem Gehabe eine Zeit lang von seiner Planlosigkeit ablenken. Mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein schaffte es Bucaram, gegen ihn gerichtete Kritik und Attakken in Stärken umzudeuten, sein selbstgebasteltes Image als loco machte ihn geradezu immun: nicht-endenwollende kitsch-triefende Auftritte als Sänger, Fußballspieler oder “Freund der Armen”, mit denen er um die Gunst der breiten Massen warb. Die staunende ecuadorianische Mittel- und Oberschicht sah darin den letzten Rest an nationaler Würde dahinschwinden. Abdalá, róbate el país, ¡pero no cantes! steht in großen Lettern auf einer Häuserwand in der Neustadt von Quito: Plündere ruhig das Land, aber sing bitte nicht!
Präsident Abdalá Bucaram wurde am 5. Februar wegen “geistiger Unfähigkeit” seines Amtes enthoben. Erst unmittelbar vor seinem politischen Ende dämmerte es ihm, daß seine Show zu Ende war, daß er die Massen nicht länger hinter sich, sondern gegen sich hatte, daß Gewerkschaften nicht mit kleinen Häppchen zufriedenzustellen sind und die Indígena-Bewegung nicht mit schnöden Versprechungen. Bucaram hatte sich selbst in einem atemberaubenden Schwindel in die absolute politische Isolation manövriert, “einsamer als die Charaktere von García Márquez” und unfähig, die Tatsachen um sich herum richtig zu deuten. Bereits seit Anfang Januar wurde im Kongreß eigentlich nur noch darüber diskutiert, wie man Abdalá am besten loswerden könnte. Daß ausgerechnet Parlamentspräsident Fabian Alarcón, der nur mittels eines Paktes mit Abdalá in den Kongreß und in sein Amt gelangt war, dessen Amtsenthebung vorantrieb und schließlich zum Interimspräsidenten ernannt wurde, lindert die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens nicht gerade. Dennoch wurde die Entscheidung des Kongresses im Nachhinein bestätigt: Am 25. Mai befürworteten in einer Volksabstimmung rund 76 Prozent der Bevölkerung die Amtsenthebung Bucarams. Für die Ernennung Alarcóns als Übergangspräsidenten stimmten aber gleichzeitig nur 68 Prozent.

Fürs Fotoalbum mit weißer Weste

Alarcón ist seit jeher das Fähnlein im Winde, stets auf Allianzen zum eigenen Vorteil bedacht. Nun selbst im höchsten Amt, scheut er klare Entscheidungen und ist als Interimspräsident abhängig vom Kongreß beziehungsweise vom den Kongreß dominierenden PSC. Innenpolitisch ist sehr wenig passiert seit dem Rausschmiß Bucarams. Alarcón hält sich bedeckt und setzt auf Schadensbegrenzung, so weit das Erbe Bucarams dies erlaubt. Viele Bestimmungen der Regierung Bucaram wurden ausser Kraft gesetzt, wie zum Beispiel der drastische Wegfall von Subventionen zum Beginn des Jahres, in anderen Fällen wurde bei bereits unterzeichneten Verträgen nachverhandelt.
Zwar wurde eine Antikorruptionskommission ins Leben gerufen, und immerhin schloß der Kongreß siebzehn Abgeordnete wegen dringenden Korruptionsverdachts aus den eigenen Reihen aus. Aber es ist nicht schwer, Korruption mit Bucaram gleichzusetzen und selbst die Hände in Unschuld zu waschen. Auch bei seinem ersten Staatsbesuch in Paraguay zu Gesprächen über einen möglichen Beitritt Ecuadors in den Mercosur und das Protokoll von Rio de Janeiro war Alarcón ganz der Saubermann: eifrig bemüht, seinen rechtmäßigen Status zu unterstreichen und das Image Ecuadors zu kitten. Und was machen da schon die eine oder andere Anklage wegen Mißbrauchs öffentlicher Gelder im eigenen Lande…

Asamblea Light

Auch auf die zentrale Forderung der Massendemonstrationen vom 5. Februar war Alarcón vordergründig eingegangen: Die Einberufung eines Organs zur Überarbeitung der Verfassung war beschlossene Sache und durch die Volksabstimmung Ende Mai für dieses Jahr bestätigt. Doch dann ging die Diskussion um den Namen des Organs los: Asamblea Constituyente oder Asamblea Nacional? Dahinter verbirgt sich der Status der juristischen Kompetenz gegenüber Kongreß und Interimspräsidenten, und letztendlich wurde mit der Namensgebung Asamblea Nacional aus der Asamblea Constituyente eine Asamblea Light. In Ecuador ist es unter Velasco Ibarra bereits einmal dazu gekommen, daß eine verfassungsgebende Versammlung kurzerhand das Parlament aufgelöst hat, und da gingen die Abgeordneten doch lieber auf Nummer sicher.
Aber das war erst der Anfang. Während die sozialen Bewegungen auf eine schnelle Durchführung drängten, schienen die etablierten Parteien überhaupt keine Eile zu haben: lieber warten bis nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr, um den schönen Wahlkampf nicht zu beeinträchtigen, und wer weiß, vielleicht ist die Zusammensetzung dann ja auch eine ganz andere… Entgegen der durch die Volksabstimmung bestätigten Fristen wurde im Kongreß ein Termin für Ende nächsten Jahres festgesetzt.

Entscheidungshilfen für Alarcón

An dieser Stelle war nun Alarcón gefragt, der gegen die Vorlage des Kongresses Veto einlegen und den mehrheitlich festgelegten Ablauf der Dinge hätte durchsetzen können. Mit einem landesweiten Streik am 11. und 12. August tat die CONAIE, die nationale Konföderation der Indígenas, ihren Unmut über die Verschleppungstaktiken kund und versuchte so, Alarcón, welcher sich hinter dem Meinungsbild im Kongreß versteckte, zu einem Veto zu zwingen. Letztendlich bedurfte es jedoch eines radikalen Sinneswandels von Jaime Nebot. Der Kopf des konservativen PSC setzte sich – auch zum Erstaunen seiner eigenen Parteikollegen – auf einmal vehement für die sofortige Durchführung der Nationalversammlung ein, um so Alarcón zu einer eindeutigen Stellungnahme, “dem Veto”, zu bewegen.
Nach einem weiteren vorläufigen Termin ist die Asamblea Nacional – derzeit – auf den 20. Dezember angesetzt, mit einer strikten Befristung auf drei Monate. Sie verfügt über weite Befugnisse zur Verfassungsreform, und die von ihr beschlossenen Änderungen werden direkt – ohne weitere Einflußmöglichkeiten seitens des Interimspräsidenten oder des Kongresses – übernommen. Die Mitglieder der Versammlung werden Mitte November gewählt, und da sie auch über die Zukunft des Kongresses und das präsidiale System befinden kann, hat der erbitterte Kampf um diese Ämter nun begonnen. Die Versammlung soll sich aus 70 Vertretern der Provinzen und 20 nationalen Vertretern zusammensetzen. Die von dem neomarxistischen Movimiento Popular Democrático MDP vorgeschlagene gemischte Personen- und Listenwahl soll die im Kongreß vorherrschenden Parteistrukturen aufbrechen und die Vertretung von Minderheiten gewährleisten. Als Wahlmodus innerhalb der Asamblea wurde die sogenannte autoregulación beschlossen, was bedeutet, daß das Organ selbst entscheidet, in welchen Fällen es mit einer einfachen oder mit einer zwei Drittelmehrheit beschlußfähig ist. Im schlimmsten Fall also langwierige Abstimm-Marathons über den Modus einer Abstimmung.

Was denn, Inhalte?

Dann ist ja jetzt alles in Ordnung: Die Versammlung hat einen Namen, ein Datum und einen Wahlmodus, die notwendige Gesetzesänderung zur Wahl der Abgeordneten ist auch schon fast auf dem Weg, aber halt – was war noch gleich mit den Inhalten? Fast drei Monate hat sich die Diskussion um technische Angelegenheiten hingezogen, und wenn die Erarbeitung von inhaltlich – programmatischen Vorlagen auch nur annähernd so vor sich hinkriecht, sind die drei Monate der Asamblea um, bevor es zur ersten Abstimmung gekommen ist. Lange Zeit hatte nur die Indígena-Organisation CONAIE ein regelmäßiges Forum, in denen mögliche Tagesordnungspunkte der Nationalversammlung und Stellungnahmen diskutiert werden. Außerdem hat die CONAIE im Rahmen der Koordinierung sozialer Bewegungen zusammen mit den Gewerkschaften für Oktober ein eigenes Vorbereitungsgremium angekündigt. Auch die anderen Parteien fangen jetzt langsam an, schon mal Schlagworte zu verbreiten. Die Vorstellungen reichen von leichten Korrekturen bis zu einer radikalen Überarbeitung der Verfassung, zum Beispiel im Hinblick auf das Präsidialsystem. Die öffentliche Debatte um die Agenda der Asamblea aber ist im Gerangel um die technischen Daten vollkommen zu kurz gekommen.
Dabei steht die Verfassungsreform seit langem auf der Tagesordnung und ist besonders im Präsidentschaftswahlkampf vergangenen Jahres durch den von Indígenas und Gewerkschaften unterstützten Kandidaten Freddy Ehlers zu einem zentralen Thema geworden. Ehlers’ Hauptforderungen waren zum einen die Anerkennung Ecuadors als plurinationaler Staat und zum anderen die sogenannte “Unberührbarkeit” der als strategisch erachteten Sektoren wie Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität. Die Debatte um den plurinationalen Staat, die 1990 während des ersten landesweiten Indígena-Streiks noch mit separatistischen Tendenzen und der Auflösung des ecuadorianischen Nationalstaates in einen Topf geworfen wurde, hat in den vergangenen Jahren breiten Rückhalt – auch in Teilen der nicht-indigenen Bevölkerung – bekommen. Eine Änderung der Verfassung in diesem Sinne würde für Ecuador einen riesigen Schritt in Richtung Anerkennung von Minderheiten und politische Partizipation bedeuten. Eine starke Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen sowie der Privatisierungsprozeß und im besonderen die Sozialversicherung werden wahrscheinlich weitere Hauptthemen der Asamblea Nacional sein.

Dieselben Kulissen

Nach Meinung des Soziologen Hernán Ibarra vom Centro Andino de Acción Popular CAAP wird sich in der Asamblea die Zersplitterung der politischen Parteien widerspiegeln, die auch den Kongreß immer wieder manövrierunfähig macht. (Ecuador verfügt über siebzehn Parteien bei rund fünf Millionen WählerInnen.) Damit bleibt das grundsätzliche Problem bestehen: Wie kann durch die Veränderung der Konstitution eine Veränderung der Politik erreicht werden? Zwar können größere Spielräume für Staatsbürgerrechte festgeschrieben werden, ohne politische Bereitschaft sind diese jedoch nutzlos.
Es scheint, als ob das politische System Ecuadors zu verhakt und starr ist, um sich selbst zu reformieren. Die landesweite Indígenabewegung – seit den Wahlen 1996 mit der aus ihr hervorgegangenen Partei Pachakutik-Nuevo País erstmals im Parlament vertreten – bleibt die dynamische Ausnahme im Polit-Establishment. Ihre Errungenschaften in den letzten Jahren sind zweifellos wichtige Impulse auch für andere Gruppierungen, selbst wenn es im Hinblick auf Pachakutik starke Meinungsverschiedenheiten gibt.
Die Zivilgesellschaft hat sich im Februar als mächtiger Akteur gezeigt, der nicht länger bereit ist, Clownereien auf seine Kosten durchgehen zu lassen. Mit dem Rausschmiß Bucarams ist der Showmaster außer Landes, bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Kulissen jedoch als dieselben. Armut weiter Teile der Bevölkerung, Korruption in unvorstellbaren Ausmaßen und Politiker, die in ihrem alltäglichen Klein-Klein untereinander jegliche Beschäftigung mit zukunftsweisenden Projekten für das Land aus den Augen verloren haben – diese Gründe, die Abdalás Wahlsieg als Akt der Verzweiflung möglich gemacht haben, sind nach wie vor präsent. Abdalá hat Korruption, populistisches Gehabe und die “Unregierbarkeit” des Landes auf die Spitze getrieben, erfunden hat er sie jedoch nicht.
Die großen Hoffnungen auf bahnbrechende Veränderungen und ein “Neues Land” nach der Verfassungsreform sind durch den langatmigen und schwerfälligen Prozeß der Umsetzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Schon jetzt werden die ersten Unkenrufe laut: der Post-Asamblea-Frust kommt bestimmt. Also vom Post-Bucaramato in die Post-Asamblea-Analyse? Wann endlich kommt der Wechsel in vorwärtsgerichtete Visionen, wann der Spielraum für die im Land vorhandenen Gesellschaftsentwürfe?

Vielfältige Bündnisse

Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.

Erste Feministinnen

Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.

Die Themenpalette erweitert sich

Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.

“Proletarierinnen aller Länder…”

Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.

Errungenschaften der ersten Feministinnen

Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.

Institutionalisierung des Feminismus

Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.

Vielfältige Feminismen und Bewegungen

In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.

aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional

Frauenhaut

LN: Glaubst du, daß du eine sogenannte Dritte Welt Biographie hast?

Ja, eine totale Dritt-Welt-Biographie: Die Armut, die Unterdrückung als Frau, die Probleme, Arbeit zu finden, die gewerkschaftlichen Fragen. Ganz besonders hat mich die Frauenthematik geprägt: der Kampf um unsere Rechte. Sie schlagen uns, sie zwingen uns zu unwürdigen Arbeiten. Aber wir Frauen haben auch Rechte, dafür müssen wir kämpfen.

Was waren die wichtigsten Situationen in deinem Leben?

Für mich war es sehr wichtig zu erkennen, das ich eine Frau bin, eine Frau mit Kraft und mit Zielen.

Kannst du zwei, drei für dich wichtige Situationen in deinem Leben nennen?

Da ist zunächst der Augenblick, als ich zur Gewerkschaftsbewegung stieß.
Und dann die Erfahrung der Diskriminierung als Frau in dieser Bewegung. Das war besonders krass, als der Genosse nach meiner Wahl zur Gewerkschaftsvorsitzenden sagte: “Wir können uns doch nicht von einer Frau führen lassen – und schon gar nicht, wenn sie schwarz ist”. Ich erinnerte mich in dem Moment an meinen Großvater, dem ich sehr nahe war. Er sagte immer, wir müßten vereint sein und er sprach damit die Probleme der Ethnien an. Ihm war die Würde der Menschen sehr wichtig.

Gibt es immer noch eine ethnische Diskriminierung in Peru? Der Präsident Fujimori ist ja japanischer Abstammung.

Anfangs haben vielleicht einige Leute geglaubt, es würde sich etwas ändern, weil der Präsident selbst keiner dominanten ethnischen Gruppe angehört. Aber es ist ja letztlich so: Wer sich anpasst – egal welcher Hautfarbe -, der unterstützt schließlich auch die Politik der herrschenden Kaste. Und auf der anderen Seite sagt die Hautfarbe eines Präsidenten nichts über seine Interessen. Das ist ja auch eine Frage der Klassenzugehörigkeit, bzw. welche Klasse durch das politische System unterstützt wird. Mir war das aufgrund meines politischen Werdegangs recht schnell klar, deshalb habe ich Fujimori auch nicht gewählt.
Die Diskriminierung, gerade von Schwarzen, ist in Peru immer noch stark. Es gibt viele berühmte Namen von Weißen, die Indios und Schwarzen kennt dagegen niemand. Zu den Schwarzen sagt man, sie hätten nur Verstand bis 12 Uhr mittags. Und von den Indios heißt es, sie seien grobschlächtig.
Wir haben mal in der Partei unsere Namen analysiert und herausgefunden, daß die Arbeiterinnen und Arbeiter alle typische Namen schwarzer oder indigener Herkunft hatten. Sie hießen Cotito, Zegarra usw. und waren schon von daher als Angehörige einer ethnischen Minderheit erkennbar. Heute sind an den Universitäten Mitglieder aller im Land vertretenen ethnischen Gruppen zu finden. Schwarze, Weiße, Indígenas – Farbige sagt man heutzutage. Die Privatisierung der Erziehung unter Fujimori wird aber wieder dazu führen, daß die Schwarzen und Indígenas von der Bildung ausgeschlossen werden. Wir können es uns nicht leisten, die Universität zu bezahlen. Es bleibt für viele nicht einmal das Geld, um die Kinder auf die weiterführende Schule zu schicken. Fujimori will offensichtlich eine Gesellschaft schaffen, in der einige Schwarze zu einer Ausbildung kommen und der Rest wieder zum “billigen Neger” wird.

Was sind deine persönlichen Erfahrungen, du gehörst ja einer anderen Generation an als die jungen Menschen, die nicht zur Universität können.

Ich mußte schon in der Schule leiden. Jedesmal, wenn jemand was ausgefressen hatte, fragte die Lehrerin: Wer war das? und die anderen anworteten: Die Schwarze. Und das war ich. Die Strafen für mich waren immer besonders hart. Die Lehrerin machte da auch genaue Unterschiede zwischen den Strafen für die Cholos (Indigenas) und für mich als Schwarze. Zu den Cholos sagte sie: “Stell dich an die Wand!” und ich mußte mich mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke stellen. Durch diese Behandlung wurde ich sehr ängstlich und manchmal lebensmüde. Ich weinte in dieser Zeit sehr viel, bis ich meine Gefühle mehr und mehr in den Griff bekam.

Glaubst du, daß sich die Situation heute geändert hat?

Hinsichtlich der Strafen, die heute verhängt werden, glaube ich schon. Aber mit meiner Tochter habe ich auch noch so meine Erfahrungen gemacht. Sie ist relativ hell, weil sie auch indigen ist. Als sie zur höheren Schule ging, kam sie eines Tages und sagte, daß ihr der Kopf wehtu. Ich fragte, “warum?” und sie sagte, weil sie mich hier gezogen haben und zeigte auf den Haaransatz über dem Ohr. Ich sah, daß sie dort ziemlich verletzt war. Da fragte ich sie, was los sei. Und sie antwortete: “Mami, mich schlägt die Lehrerin immer an den Kopf”. Da bin ich am nächsten Tag gleich zur Schule um mit der Leherin zu sprechen Die sagte dann spitz: “Ja, was wollen sie”. Ich meinte: “Senora, entschuldigen Sie, aber sie verletzen meine Tochter. “Ja, sagte sie, aber sie ist immer so ungehorsam und quatscht im Unterricht.” Da habe ich zu ihr gesagt: “Deshalb brauchen sie sie aber nicht zu schlagen, sie können ihr das doch auch sagen.” Da entgegnete sie mir frech: “Sehen Sie, wenn Ihnen meine Art nicht gefällt, ist das ihr Problem, mir gefällt es jedenfalls nicht, eine Schwarze zu unterrichten.”

War die Lehrerin eine Weiße?

Nein, sie war Chola. Mir fällt diese Situation ein, weil sie zeigt, daß es auch heute noch diese Diskriminierung gibt, denn das war erst vor einigen Jahren, und ich denke, es ging nicht nur meiner Tochter so.
Man sieht daran, daß dieses Selbstverständnis immer noch da ist. Diese Lehrerin sagte auch, daß die Schwarzen Krankheiten übertrügen. Sie hatte das Selbstbild, daß sie besser sei als die Schwarzen.

Hier wird viel über den Neoliberalismus diskutiert. Was bedeutet das konkret in Peru seit Fujimori?

Fujimoris Amtsantritt war 1990. Er begann sofort, unter dem Stichwort Globalisierung die Zölle zu senken. Das führte zur Schließung von vielen Unternehmen in Peru, weil die der Konkurrenz durch die Billigimporte aus anderen Ländern nicht standhalten konnten. Außerdem hat Fujimori eine Deregulierung des Arbeitsmarktes betrieben, und es kam zu Lohnsenkungen. Zudem hat er Unternehmensschließungen erleichtert. Von dieser Politik waren Zehntausende Menschen in Peru betroffen. Hier ergibt sich wieder eine Verbindung zu meinem persönlichen Leben: Auch wir 130 Beschäftigten bei Schering-Peru wurden entlassen, das Werk wurde geschlossen. Wir standen alle innerhalb von einer Woche auf der Straße. Die Schering-Geschäftsführung hat zu uns gesagt: Entweder ihr geht freiwillig, oder ihr fliegt raus. Die Hauptversammlung der Aktionärinnen und Aktionäre hat von Berlin ausbeschlossen, das Werk zu schließen. Wenn ihr freiwillig geht, bekommt ihr das doppelte der gesetzlichen Abfindung. Wenn nicht, legen wir die gesetzliche Abfindung bei einer staatlichen Bank an.

Welche Formen und Auswirkungen nimmt die neoliberale Politik noch an?

Die wichtigste Auswirkung ist glaube ich, daß die Solidarität untereinander in der Gesellschaft vollends zerstört wurde. Schon vor einigen Jahren wurde beispielsweise das öffentliche Rentensystem zerstört. Es wurde private Pensionsfonds gegründet, so daß jeder für seine eigene Rente ansparen muß. Hat er nicht so viel gespart, hat er hinterher eben Pech. Ähnliche Privatisierungspläne gibt es auch für das Gesundheitssystem. Weitere neoliberale Maßnahmen in Peru waren: Die Privatisierung der Wasser- und Elektrizitätsversorgung und die Senkung des Mindestlohns. Dieser liegt jetzt etwa bei einem Zehntel des vom statistischen Amtes errechneten Gehalts zur Deckung des Lebensunterhalts.
Um auf meine persönlichen Erfahrungen zurückzukommen: Viele von uns Frauen mußten als Straßenhändlerinnen arbeiten und haben ihr selbstgekochtes Essen verkauft. Bis der Bürgermeister von Lima eine Aktion startete, bei der durch einen Spezialtrupp die Frauen krankenhausreif geschlagen wurden. Wir wurden an den Haaren weggezogen, die Töpfe mit dem Essen hat man uns abgenommen. Das alles fand unter dem Motto “Lima soll sauber werden” statt. Außerdem sollte der Eindruck erweckt werden, daß die Wirtschaftspolitik funktioniert und es keine Armut auf der Straße gäbe.
Jetzt ist Lima so sauber und leer wie der Magen der meisten Menschen dort, und die Tuberkulose greift wieder um sich.

Wie geht die Bevölkerung mit dieser Situation um?

Um mein eigenes Überleben nach dem Rauswurf bei Schering zu organisieren, habe ich bei mir im Haus einen Laden eröffnet. Ich war aber nicht die einzige, in meiner Straße, die auf diese Idee kam. Es gibt mindestens vier andere Läden direkt neben mir. Wir scherzen schon manchmal, wir könnten auch direkt zur Tauschwirtschaft übergehen. Zu mir kommen die Frauen sowieso und fragen: Frau Zamudio, können sie mir nicht etwas Reis leihen oder Nudeln oder Zucker. Und ich weiß genau, wenn ich ihnen das nicht gebe, haben ihre Kinder nichts zu essen. Das Problem ist aber, daß die Frauen anschreiben lassen, aber nie Geld haben, die Schulden zu bezahlen. Als ich nach Deutschland gefahren bin, war der Laden fast leer.

Was unternimmt die Gewerkschaftsbewegung, zu der du ja gehörst, gegen diese Verarmung der Bevölkerung und gegen die Zersplitterung der Zivilgesellschaft?

Ich habe schon erwähnt, daß Schering geschlossen wurde, weswegen ich auch keine Gewerkschaftsführerin mehr bin. Ich finde es wichtig, daß die peruanische Linke sich ohne viele Etiketten rekonstituieren kann. Die Parteien haben mit ihrem falschen Verständnis von Parteidisziplin viel Schaden angerichtet. Besonders der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes CGTP hat sich gebärdet wie der Papst und wollte keinen Deut seiner Macht abgeben. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die peruanische Linke schwer getroffen, obwohl wir es schon haben kommen sehen. Es ist schließlich wichtig in Würde und Demokratie zu leben und nicht so wie in der Sowjetunion. Eine gesellschaftliche Veränderung für Peru kann man nirgends abkupfern. Das geht vielleicht langsam, aber wir sind auf dem Weg.

Du sprichst von Parteidisziplin. Findest du es falsch, die Gewerkschaftsbewegung zu politisieren?

Gegen Politisierung habe ich nichts. Jeder Mensch ist ein politisches Wesen. Aber wenn die parteipolitischen Flügelkämpfe in die Gewerkschaften getragen werden, ist das schlecht.

Seitdem du nicht mehr gewerkschaftlich organisiert Politik machst, bist du in der Stadtteilarbeit aktiv. Erscheint dir das besser oder wichtiger?

Die Stadtteilarbeit unterscheidet sich stark von der Gewerkschaftsarbeit. Wir müssen hier ständig dazulernen. Ein Beispiel: Zu Zeiten der Regierung Belláunde ist uns versprochen worden, daß es in unserem Stadtteil Straßen, Bürgersteige, Parks und Gärten geben wird. Das war eine leere Versprechung. Jetzt will der derzeitige Bürgermeister, daß wir dafür zahlen, daß Straßen angelegt werden. Ich habe dazu auf einer Versammlung gesagt, daß ich das nicht einsehe. Wenn die Fujimori-Regierung die Auslandsschulden bezahlt, dann muß sie sich auch an die Verpflichtungen gegenüber der eigenen Bevölkerung erinnern, an die inländische Schuld.
Der Dachverband der Straßenhändlerinnen und Straßenhändler hat seinen Sitz in Lima. Die Vorsitzende ist Corinna Larios, eine sehr engagierte Frau. Ich selbst kooperiere viel mit dieser Organisation, halte Vorträge. Dieser Dachverband ist selbst ein Teil der Gewerkschaftsbewegung und versucht, diese zu stärken. Insofern würde ich das nicht gegeneinanderstellen.

Du hast anfangs gesagt, daß es wichtig für dich war, zu erkennen, daß du eine Frau mit klaren Zielen bist. Würdest du dich als Feministin bezeichnen?

In Peru gibt es in der Frauenbewegung zwei Pole. Die einen nennen sich selbst Feministinnen und arbeiten in NGOs, die vom Ausland subventioniert werden. Diese Frauen haben die Möglichkeit, oft ins Ausland zu reisen. Von ihnen habe ich schon viel gelernt. Die anderen sind die Frauen in den Volksbewegungen und Gewerkschaften. Das Problem für mich ist, daß ich von den Feministinnen auch schon zu hören bekommen habe, daß ich vielleicht Vorsitzende in meinem Stadtteil-Frauenkomitee sei, aber keine Feministin. Sie haben da eine enge Definition. Der Alltag der Frauen aber, die sexuelle Belästigung durch Vorgesetzte zum Beispiel, gehörte für diese Feministinnen nicht zu ihrer Arbeit. Es interessiert sie gar nicht. Trotzdem haben die Frauen aus den feministischen Frauenzentren immer wieder versucht, für die Frauen aus den Stadtteilen zu sprechen.
Unsere Frauenarbeit in der Stadtteilbewegung dagegen sieht so aus, daß wir uns gegen die Mißhandlung von Frauen einsetzen, diese bei uns zuhause verstecken und uns mit den Männern streiten, die ihre Frauen suchen. Unser Ziel ist es, ein Frauenhaus aufzubauen. Da sollten dann auch eine Psychologin und eine Anwältin arbeiten. Denn mit der rechtlichen Unterstützung sind solche Mißhandlungen durchaus strafrechtlich verfolgbar.

Frauenhaut, Neues ISP Verlag, Atlantik Verlag, 142 S., DM 25,- (ca. 13 Euro).

Für uns selbst

Es wird immer wieder in Frage gestellt, ob der Feminismus auch ein für Lateinamerika geeignetes Konzept sei. Ebenso wird behauptet, lesbische Liebe sei ein westliches Phänomen. Wie aber läßt sich dann die Existenz feministischer und lesbischer Organisationen erklären?
Erinnerungen an eine exotische Bewegung?
Die Organisation von Frauen in Lateinamerika und der Karibik ist sichtbar, vielschichtig und oft kämpferisch. Mit dem Kampf um das Überleben und Fortkommen ihrer Familien begannen Frauen am politischen Geschehen teilzunehmen. Sie kämpften in Gewerkschaften, Berufsverbänden und politischen Parteien. Dazu kam noch der Kampf der Feministinnen um die Durchsetzung von Frauenrechten. Von Anbeginn, das heißt seit den 70er Jahren schlossen sich Feministinnen den oppositionellen Strömungen an. Sie klagten Militärregimes, aber auch demokratische Regierungen wegen ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung an.
Die feministische Bewegung und ihr Leitmotiv, das Persönliche als politisch zu begreifen und den Alltag zu reflektieren, brachten neue Themen auf (Gewalt gegen Frauen, Sexualität, Reproduktion, Machtverhältnisse in der Familie). Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf andere Bewegungen -so auf die Lesben-und Schwulenbewegung -,wobei in jedem Land das eigene kulturelle, soziale und wirtschaftliche Umfeld eine Rolle spielte.
Seit Ende der 60er Jahre entstanden in einigen Ländern gleichzeitig Bewegungen, die für die Rechte der Lesben und Schwulen eintraten. Diese individuellen und kollektiven Prozesse stießen in der Öffentlichkeit auf Widerstände oder wurden negiert, in vielen Ländern dauert die Diskriminierung im kulturellen Umfeld, ja sogar in der Rechtsprechung noch an.
Auf ihrer langen Suche nach einem unabhängigen politischen Weg veranstalteten feministische Frauen aus Lateinamerika und der Karibik zu Beginn der 80er Jahre ihr erstes regionales Treffen. Thema sollte der Wandel der feministischen Politik und ihre Beziehung zu jenen Bewegungen sein, die ebenfalls für eine Welt ohne Ausgrenzung und Unterdrückung eintreten. Mittlerweile hat es sieben solche Treffen gegeben…..
Obwohl die feministischen Lesben auf vielfältige Weise aktiv in der Frauenbewegung mitgearbeitet hatten, wurde dies nur selten anerkannt. Einerseits gab es in den 80er Jahren noch immer gesellschaftliche sexistische
Unterdrückungsmechanismen,
andererseits hatten einige Feministinnen auch Angst davor, “beschuldigt” zu werden, Feminismus mit Lesbianismus gleichzustellen, oder als Männerhasserinnen zu gelten. Es wurde für Lesben notwendig, eigene Organisationsstrategien zu entwerfen. Das führte zu den Treffen der ” Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik, ‘ die daraufhin in Mexiko (1987), Costa Rica (1990). Puerto Rico (1992) und Argentinien (1995) stattfanden.
Lesben: Mehr als eine exotische Minderheit
Sexualität ist ebenso wie Freundschaft, Glaube und Liebe ein Teil der privaten Sphäre, und niemand hat das Recht, sich hier einzumischen. Frauen haben sich diesbezüglich Freiräume und Rechte erkämpft, die religiösen und konservativen Teilen der Gesellschaft ein Dom im Auge sind. Insbesondere lesbische Liebe wird von dieser Seite her als “unmoralisch, lasterhaft und schädlich für das soziale Leben und die Gesundheit” angeprangert. Tatsächlich hat die Bewegung für eine freie sexuelle Orientierung einen bislang unerforschten Freiraum eröffnet, von dem aus ein zentraler Aspekt der herrschenden Vorstellung über das menschliche Leben hinterfragt werden kann: die Sexualität. Solange die Sexualität nach wie vor Gegenstand autoritärer Unterdrückung und eines verzerrenden und verdammenden Stillschweigens ist, trägt die Möglichkeit, diese Sicht offen zu hinterfragen, zu demokratischeren Beziehungen und einem gesellschaftlichen Klima der gegenseitigen Achtung bei.
Die Lesbenbewegung bedroht somit das vorherrschende Muster der weißen, heterosexuellen, männlichen Dominanz. Daraus entstehen nicht nur gesellschaftliche Konflikte, sondern auch Konflikte in den verschiedenen Organisationen und Basisbewegungen, die sich mit partizipatorischen Konzepten, mit Meinungsvielfalt, mit verschiedenen Optionen und Lebensstilen auseinandersetzen müssen.
Diskriminierung passiert an vielen Orten -trotz verschiedener internationaler Abkommen und Erklärungen, die von der UNO festgelegt wurden. In Ländern wie Chile, Nicaragua, Ecuador und Puerto Rico herrscht eine repressive Politik, die Lesben und Schwulen das Recht auf Versammlungsfreiheit vorenthält. In anderen Ländern ist die Repression durch die Gesellschaft drückender als die gesetzlichen Regelungen. Die katholische Kirche nimmt eine starre Haltung ein. Die traditionelle Familienstruktur, die mangelnde Information und der fehlende Respekt vor anderen Lebensformen -all das sind Hindernisse für die Bewegungsfreiheit von Lesben.
Sag mir, mit wem du gehst…
Da die lateinamerikanischen Lesben in ihrem jeweiligen Umfeld unterschiedlicher sexueller und gesellschaftlicher Unterdrückung ausgesetzt waren, wurden sie zu Expertinnen im Verheimlichen und im Entwickeln verschiedener kleiner Signale zum gegenseitigen Erkennen.
Die beste Art sich zu treffen, war die Teilnahme an Frauenaktivitäten. In diesem Umfeld war es für uns leichter, uns zu er-kennen und dies mit unseren feministischen Aktivitäten zu verbinden. Über das gegenseitige Erzählen der Lebensgeschichte fühlten sich viele gestärkt, und es kam der bis dahin unerhörte Gedanke auf, eine Lesbengruppe zu gründen.
wir wollten dadurch auch diejenigen Lesben unterstützen, die Angst hatten, sich offen zu bekennen und andere zu suchen, um aus ihrer Isolierung heraus-zukommen oder auch um einfach einmal ein bißchen Spaß zu haben. Die Freiräume und Tätigkeiten der Lesbenorganisationen sind vielfältig; einige &von sind kurzlebig, andere wiederum gefestigt.
Das Auftreten der AIDS-Krise wurde in einigen Ländern zum bestimmenden Merkmal der Lesben-und Schwulenorganisationen. Eine der sozialen Folgen ist die Homosexualisierung von AIDS und die sich daraus ergebende Ablehnung oder Diskriminierung aller Personen, von denen man annimmt, daß sie homosexuell sind. Dies führte zu neuen, sozialen, politischen und humanitären Aktivitäten. Kampagnen zur AIDS-Vorbeugung richteten sich meist an die ge-samte Gesellschaft. Dadurch wurden Tabuthemen wie Sexualität und vor allem Homosexualität öffentlich diskutiert.
Erstes öffentliches Auftreten von Lesben
Verschiedene feministische Ereignisse waren für die Bildung einer Lesbenbewegung entscheidend und prägten die gegenseitige Beziehung von Frauen-und Lesbenbewegung.
Im Juli 1983 kamen 600 Frauen beim II. Feministischen Treffen in Lima zusammen. Die geplante Tagesordnung sah das Thema der Liebe zwischen Frauen nicht vor. Dennoch veranstaltete eine Gruppe unabhängiger Frauen einen kleinen Workshop über Patriarchat und Lesbianismus. Dort trafen verschieden Erwartungen, Neugier, Spannung und die unvermeidlichen neutralen Beobachterinnen zusammen. Der Workshop berührte viele, brachte sie einander näher, führte zu den verschiedensten Diskussionen. Es war ein wichtiger Versuch, aus der Isolierung auszubrechen und einander als lesbische Feministinnen mit verschiedenen Hintergründen zu begegnen. Es war das erste öffentliche Auftreten der Lesben und eine Herausforderung für die heterosexuellen Feministinnen. die sich dadurch mit ihrer Homophobie auseinandersetzen mußten. Aus diesem Treffen entwickelten sich Organisationen wie die Gruppe der selbstbewußten feministischen Lesben (Grupo de Autoconciencia de Lesbianas Feministas -GALF) in Peru und des Lesbenkollektivs Ayuquelen in Chile.

Lesbianismus als Politikum
Beim III . Feministischen Treffen in Bertioga/Sao Paulo in Brasilien (1985) organisierte GALF einen geschlossenen Workshop zum Thema “Wie organisieren wir Lesben uns?” Wir tauschten unsere Erfahrungen aus, aber das reichte noch nicht. Wir entschieden, ein eigenes Treffen zu organisieren – eine Idee, die auch 1986 auf der internationalen Konferenz von ILIS (International Lesbian Information Service) in Genf wieder auftauchte, an der mehr als 700 Lesben aus Asien, Afrika Ost-und Westeuropa. Lateinamerika und der Karibik teilnahmen. Es wurde beschlossen, das I. Treffen der Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik in Mexiko -parallel zum IV. Feministischen Treffen in diesem Land -abzuhalten.
Fast 220 Frauen trafen sich im Oktober 1987 in Cuemavaca, Mexiko. Dieses I. Treffen Fe-ministischer Lesben Lateinamerikas und der Karibik wurde zu einem der repräsentativsten überhaupt.

Als Folge entstand ein Netzwerk, mit dessen Hilfe die Isolierung durchbrochen und solidarische Beziehungen gestärkt wer-den sollten. Solche regionalen Treffen sollten in Zukunft regelmäßig, d.h. alle zwei bis drei Jahre, stattfinden. Zur Teilnahme aufgerufen waren feministische Lesben, aber auch Lesben. die sich in anderen Zusammenhängen bewegen. Die Beschlüsse sollten einstimmig gefaßt werden. Um den Informationsfluß zu verbessern, sollte ein halbjährlich erscheinendes Bulletin herausgegeben werden. Trotz des Widerstands seitens der Regierung, der Kirche und der Medien fand das II. lateinamerikanische Treffen der Feministischen Lesben in Costa Rica im April 1990 statt. Frau mußte zu einer heimlichen Strategie greifen, denn die Einwanderungsbehörden hatten die Weisung, keine alleinreisende Frau einreisen zu lassen. Zugleich sollte die persönliche Sicherheit der Frauen im Land gewährleistet werden, und alle Teilnehmerinnen mußten -um jedes Risiko zu vermeiden -am Veranstaltungsort bleiben. Ein Treffen unter solchen Bedingungen war schwierig. Neben kulturellen Veranstaltungen wurden Workshops durchgeführt. Themen waren unter anderem die nicht immer freundschaftlichen Beziehungen zwischen Feminismus und Lesbianismus, die Problematik der lesbischen Mütter und ihr Kampf um das Sorge- recht für ihre Kinder, die gesetzliche Unterdrückung und die internalisierte Lesbophobie.
Auf dem VI. feministischen Treffen in Cartagena / Chile im November 1996, an dem fast 600 Frauen teilnahmen. drehten sich die Diskussionen in erster Linie um die politische Verortung und die Autonomie der Frauenbewegung, um Führungsrollen und Vertretung nach außen, um Ethik und um finanzielle Ressourcen. Das Treffen war sehr spannungsreich und polarisiert. Es nahmen viele, vor allem junge Lesben teil. Trotz ihrer großen Präsenz und Energie, die sich nicht zuletzt in künstlerischen Beiträgen und in der Abendgestaltung manifestierte, waren sie nicht imstande, ihre Vorstellungen und Visionen als konkrete politische Vorschläge zu formulieren. Sie ließen sich vielmehr von einer destruktiven
wußte Sichtbarmachung Ausdruck der nach wie vor bestehen- den Diskriminierung innerhalb der Frauenbewegung ist. Es scheint aber auch, daß es einem nicht unwichtigen Teil der Lesbenbewegung schwerfällt, eine gewisse Opferhaltung zu überwinden.
Perspektiven

Im Zuge ihrer Selbstorganisation hat sich die feministische Lesbenbewegung gewisse Freiräume in der Gesellschaft schaffen können. Diese Freiräume entstanden nicht aufgrund der Aktivitäten der Frauenbewegung oder als Zugeständnis der Gesellschaft. Die Lesben haben hart gearbeitet, das zu erreichen -sowohl innerhalb der Frauenbewegung als auch gemeinsam mit anderen Minderheiten, mit Männem und Frauen, Feministinnen und nicht-feministischen Frauen, national und international. Die Solidarität von Lesben-und Schwulenorganisationen aus dem Norden hat ebenfalls zur Schaffung dieser Freiräume beigetragen.
Die Zunahme an Sichtbarkeit, Legitimität, Anerkennung und die Vielfalt von Aktionen der feministischen Lesben in ihren jeweiligen -zum Teil gemischten -Organisationen bringt neue Spannungen und Herausforderungen in Bezug auf Prioritäten, den Kampf ums Überleben, den ungleichen Zugang zu Ressourcen. die Autonomie der Bewegung, die Teilnahme an anderen Gruppen oder Netzwerken, aber vor allem in Hinblick auf organisierte Strukturen der Bewegung. Diese Aufgaben werden lösbar, wenn Frau die alte Rendenz überwindet, sich Opposition zur Macht zu begreifen, wie es die linken Gruppen tun, denn diese Dynamik schränkt ein und führt zur Erschöpfung. Es geht drum, von der Wut zur Selbstermächtigung überzugehen, und nicht erstere als permanenten emotionalen Zustand zu kultivieren.
Die Zukunft der feministischen Lesbenbewegung wird also von ihrer Fähigkeit abhängen, unterschiedliche ideologische Vorstellungen, die es in der Bewegung gibt, zusammenzubringen und sie in globalere Strategien einfließen zu lassen, um so Antworten auf die komplexe Realität zu finden. Das bedeutet, daß die bestehenden Gruppen gestärkt werden und sich erweitern müssen, um auch schwarze, behinderte oder indigene Frauen zu integrieren. Ziel muß sein, als Bewegung Strategien zu entwickeln, die sich von jenen der NGOs, der Institutionen und der politischen Parteien unterscheiden. Mithilfe dieser Strategien sollen Brücken geschlagen und verschiedene Allianzen und Kooperationen auf regionaler und internationaler Ebene aufgebaut werden.
Es ist eine beständige Herausforderung für uns alle, die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse so zu verändern, daß alle Menschen friedlich zusammenleben können.

Rebeca Sevilla

Nach 19 Jahren wieder ganz oben

Gerade einmal gut 22 Prozent der Stimmen hat der 70-jährige General auf sich und seine Partei ADN vereinigen können, aber es reichte für den ersten Platz. Die Wähler und Wählerinnen haben ihre Sympathien so gleichmäßig auf fünf Parteien verteilt, daß sogar ein Anteil von nur 17,7 Prozent dem Kandidaten der jet­zigen Regierungspartei MNR, Juan Carlos Durán, für den zweiten Platz reichte. In Bolivien muß das Parlament bei der Wahl des Präsidenten zwischen den beiden stärksten Kandidaten ent­scheiden, es gibt – anders als in den meisten lateinamerikani­schen Ländern – keine Stichwahl.
Die notwenigen Koalitionsge­spräche waren schnell beendet, schon kurz nach der Wahl hatte Bánzer die Mehrheit beieinander. Gleich drei Parteien werden ne­ben ADN die Regierung stützen: Die MIR von Ex-Präsident Jaime Paz Zamora, CONDEPA, die in La Paz führende Partei, und UCS, die schon in der bisherigen Regierung Juniorpartner war (zu CONDEPA siehe LN 274). Für Bánzer geht damit zweifellos ein Traum in Erfüllung: Nachdem er schon 1985 – 1989 unter Víctor Paz Estenssoro und 1989 – 1993 unter Jaime Paz Zamora Junior­partner in der Regierung gewe­sen war, wird er am 6. August als demokratisch legitimierter Prä­sident sein Amt antreten.

Wieso ein Ex-Diktator?

Nur scheinbar ist es überra­schend, daß mit Hugo Bánzer ein ehemaliger Militärdiktator, der durch Menschenrechtsverletzun­gen während seiner früheren Re­gierungszeit belastet ist, nun de­mokratisch gewählt wird. Zum einen liegen die sieben Jahre der Präsidentschaft Bánzer von 1971 bis 1978 schon weit zurück, die jüngeren WählerInnen haben kei­ne persönliche Erinnerung mehr daran, wofür der Präsident Bánzer einmal gestanden hat. Ihr Bild von Hugo Bánzer ist viel­mehr davon geprägt, daß er mit seiner ADN seit 1985 bei jeder Präsidentschaftswahl einen der vorderen Plätze belegt hat und acht Jahre lang in der Regie­rungskoalition war – eine ziem­lich normale bolivianische Partei mit einem Caudillo, wie ihn auch andere Parteien besitzen. Aber auch diejenigen, die die Zeit der Bánzer-Diktatur noch erlebt ha­ben, verbinden damit nicht un­bedingt negative Erinnerungen. Das Land war in den 70er Jahren vergleichsweise stabil, und nicht selten ist in Bolivien die Ein­schätzung zu hören “Als Bánzer Präsident war, ging es uns bes­ser”.
Wozu also in der Vergangne­heit wühlen, so scheint es nahe­zuliegen, wenn doch heute von einem Präsidenten Bánzer kein Rückfall in alte Zeiten, sondern – ganz im Gegenteil – Kontinuität zu erwarten ist, so wie auch von allen anderen wichtigen Kandi­daten. Der Wahlkampf war langweilig, denn alle größeren Parteien standen mehr oder we­niger für die gleich Linie: Siche­rung von Stabilität und unspek­takuläre Verwaltung des alterna­tivlos herrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodells. Eine Aus­nahme bildete lediglich CON­DE­PA mit dem vagen Schlag­wort von “endogener Ent­wick­lung”. Der Einstieg CONDEPAs in die Regierungs­koalition be­stä­tigt allerdings die Vermutung, daß es mit dem dif­fus-anti­im­pe­ri­alistischen Diskurs nicht weit her ist. Die Teilhabe an der Macht und damit der Zu­gang zu Po­sten und Pfründen ist allemal at­traktiver als die Aus­sicht, wei­ter auf den Oppositi­onsbänken sit­zen zu müssen.

Da weiß man, was man hat…

Wenn Bánzer mit knappem Vorsprung auf dem ersten Platz gelandet ist, dann vor allem weil er aus der Sicht vieler Wähler und Wählerinnen als bester Ga­rant für Stabilität auftreten konnte. Die MNR mit Juan Carlos Durán? Eine zerstrittene Partei, beschäftigt damit, sich selbst zu demontieren. Jaime Paz Zamora vom MIR? Als Präsident möglicherweise ein Risiko in Sa­chen internationale Kredite, seit die USA ihm wegen vermuteter Kontakte zum Kokainbusiness das Visum entzogen haben. Re­medios Loza von CONDEPA? In Symbolik und Diskurs zu sehr festgelegt auf die Aymaras des Altiplano. Und schließlich Ivo Kuljis von UCS? Ein relativ un­beschriebenes Blatt. Sie alle ha­ben sich Stimmenanteile in fast gleicher Höhe sichern können. Bánzer – da weiß man, was man hat – bot die solideste Aussicht auf risikolose Verwaltung des Staates in den nächsten fünf Jah­ren und schaffte damit die ent­scheidenden paar Prozent mehr.

Verdrängt im Hintergrund: der Reformprozeß

Voraussetzungen für einen interessanten, programmatischen Wahl­kampf waren gegeben. In den letzten Jahren war Bolivien ein vielbeachtetes Modell für ge­sell­schaftliche Reformen. De­zen­tra­lisierung und participación po­pular sollten für Machtvertei­lung von oben nach unten sor­gen, die Bildungsreform steht, zum Beispiel mit zweisprachiger Grund­schulbildung für Kinder, deren Muttersprache nicht Spa­nisch ist, für eine Aufwertung des indigenen Bolivien (siehe. LN 254/255 und 266/267). Die Frage ist, warum es nicht zu einem polarisierten Wahlkampf zwi­schen dem Reformlager – der jet­zigen Regierung – einerseits und der Opposition andererseits kam.
Die Antwort liegt in den in­ternen Auseinandersetzungen der größten Regierungspartei, der MNR. Diese sorgten dafür, daß das Reformlager überhaupt nicht mit Aussicht auf Erfolg zur Wahl stand. Der Parteiapparat hatte nie wirklich hinter den Reformen gestanden. An der Sptize der MNR steht seit 1985 eine Grup­pe von Unternehmern, allen vor­an der noch amtierende Prä­sident Gonzalo Sánchez de Lozada, die das Projekt eines ka­pitalistisch-mo­dernen Bolivien verfolgt und dazu die MNR sei­nerzeit “über­nom­men” hatte. Diese Un­ter­neh­mer, von denen viele nicht ein­mal in die Partei eintraten, blie­ben für den Partei­apparat ein Fremd­körper, gedul­det, weil Ga­ran­ten für Wahler­folg (und für Geld in der Partei­kasse), aber nie ge­liebt.
Die Auseinandersetzung um die Zu­kunft der MNR wurde vor der Wahl vorläufig ent­schie­den. Kurze Zeit durfte Ju­stiz­mi­ni­ster René Blattmann, ein Ver­trau­ter des Präsidenten, als Kan­di­dat auftreten, aber schon nach we­ni­gen Wochen trat er von der Kan­didatur zurück. Viel deutet dar­auf hin, daß er MNR-intern “ab­geschossen” wurde von den eta­blierten Platzhirschen der Par­tei­hierarchie, die endlich ih­ren Ein­fluß geltend machen wollten. An seine Stelle trat der farblose Juan Carlos Durán, der nicht ge­ra­de als vehementer Vertreter der Re­formen bekannt ist.
Das Problem der gonistas, der Mo­dernisierer um “Goni” Sán­chez de Lozada war, daß sie die Erwartungen der Parteibasis nicht erfüllen wollten. Der MNR-Apparat in seiner kliente­listischen Tradition wollte von der Macht profitieren. Wenn schon Dezentralisierung auf dem Pro­gramm stand, wollten die Par­teisodaten die dadurch neu ge­schaffenen Posten einnehmen – ein Wunsch, der unvereinbar bleiben mußte mit dem Anliegen der gonistas, tatsächlich Ent­scheidungen über Geld und Po­sten auf die lokale Ebene zu verlagern und damit zu demo­kratisieren.
Für die WählerInnen war so schon vor dem 1. Juni klar, daß von denjenigen politischen Kräften, die die Reformen durchgesetzt hatten, mit der go­nista-Fraktion in der MNR der wichtigste Pfeiler weggebrochen war. Die Oppositionsparteien ih­rerseits waren klug genug, im Wahlkampf nicht offen gegen die Reformen Front zu machen. Das Spektrum reichte von Jaime Paz Zamora, der sich selbst die Urheberschaft der Reformen zu­schrieb bis zu Hugo Bánzer, der vage davon sprach, die Refor­men mit sozialen Elementen an­reichern zu wollen. So ist von Seiten der neuen Regierung kaum ein Frontalangriff auf par­ticipación popular und Dezen­tralisierung zu erwarten, eben­sowenig allerdings eine gezielte Politik, um diese demokratisie­renden Reformen weiterzube­treiben. In den nächsten fünf Jah­ren wird sich auf lokaler Ebene zeigen müssen, ob der Reform­prozeß aus sich selbst heraus schon tragkräftig ist und ob rele­vante soziale Kräfte vorhanden sind, die darauf bestehen, daß der Sinn der Reformen nicht ausgehöhlt wird.
Von Ort zu Ort ist die Situation dabei sehr unter­schielich. So sorgen sich in nicht wenigen Kommunen einzelne etablierte lokale Machtgrupen um ihren Einfluß, beispielsweise die katholische Kirche in Teilen des Departements Santa Cruz oder Gewerkschaften in vielen Orten des Hochlandes. Die parti­cipación popular ist für sie eine Bedrohung, die durch Blockade oder Instrumentalisierung zu neu­tralisieren ist. Andernorts ist schon eine Eigendynamik in Gang gekommen. Nicht zuletzt werden sich die Kommunalver­waltungen gegen Versuche weh-ren, ihnen ihr neu gewon­nenes Privileg zu nehmen: die eigenständige Verfügungsgewalt über Mittel aus dem Staatshaus­halt.
In der bisherigen Regierungs­koalition galt sie oft als treueste Stütze des Präsidenten: die kleine Partei MBL, die im NGO-Spektrum und bei links-liberalen Intellektuellen auf Sympathie rechnen kann und dazu im süd­bolivianischen Chuquisaca, rund um die offizielle Hauptstadt Su­cre, auch eine gewisse ländliche Basis hatte. Das Wahlergebnis ist katastrophal, nur 2,5 Prozent der Stimmen kann die MBL ver­buchen. Es bleibt ein schwacher Trost, vier Direktkandidaten ha­ben über Siege in ihren Wahl­kreisen den Einzug in den Kon­greß geschafft. Darunter ist mit Juan del Granado einer der Spit­zenpolitiker der MBL, profiliert in Sachen Menschenrechten.

Die MBL als große Verliererin

Die MBL dürfte am meisten darunter gelitten haben, daß sich die Mo­dernisiererfraktion in der MNR nicht durchsetzen konnte. Zwar steht die MBL eindeutig für den Reformprozeß der letzten Jahre, aber sie vermittelt so stark das Image einer Partei von NGO-In­tellektuellen und sie ist mit Aus­nahme von Chuquisaca so wenig in größeren ge­sell­schaft­lichen Gruppen verankert, daß der Weg zur Massenpartei nahezu ausge­schlossen schien. Wer MBL wählte, wußte, daß es sich mit größter Wahr­schein­lich­keit mehr um eine symbolische Stimme gegen Bánzer handeln würde als um ein Votum für eine politische Option mit Aussichten auf die Macht. Daran konnte auch die Vizepräsident­schafts­kan­didatur von Marcial Fabri­cano nichts ändern, dem pro­mi­nenten Indí­genaführer aus dem östlichen Tiefland. Seine eigene Basis, die im Dachverband CIDOB organi­sierten Indígenas des oriente, ist numerisch sehr klein, und von den Indígenas des Hochlandes trennen Fabricano politische und kulturelle Welten.
Mit rund 3,7 Prozent stärker als die MBL wurde Izquierda Unida, das Sammelbecken unter­schiedlicher linker Parteien und Gruppierungen jenseits des unter den größeren Parteien herr­schenden Konsenses. IU hat ih­ren relativen Erfolg allerdings vor allem einem Faktor zu verdan­ken, der der Partei kaum zugute kommen dürfte: Evo Morales, der Vorsitzende der Kokabau­erngewerschaft aus der zentral­bolivianischen Tief­land­pro­vinz Chapare, kandidierte dort und siegte mit dem höchsten Stim­menanteil aller Direkt­kan­dida­ten. Er hat kaum einen Zweifel daran gelassen, daß die Kandi­datur auf der Liste der IU für ihn lediglich Vehikel für den Weg auf die parlamentarische Büh­ne war. In Bezug auf sein Verhält­nis zu seiner Basis im Chapare wird ihm eine aus­ge­prägte Nei­gung zu Selbst­dar­stel­lung und autoritärem Politikstil nachge­sagt – trotz aller radikaler Rheto­rik eher traditionelle Merk­male des bolivianischen Poli­ti­ker­da­seins. Er wird wohl Wortführer der kleinen, zumin­dest verbalra­dikal “system­kri­ti­schen” Oppo­stition im Parlament werden.

Fünf Jahre Warten

Auch die gonistas gehören auf die Liste der Verlierer, aber vermutlich hält sich die Trauer über das Wahlergebnis bei ihnen in Grenzen. Um weiter regieren zu können, waren sie auf die MNR angewiesen. Nachdem diese sich vorerst für einen ande­ren Weg entschieden hat, bleibt den gonistas das Warten auf die nächste Wahl im Jahr 2002. Zwar sind fünf Jahre eine poli­tisch sehr lange Zeit, aber warum sollte Sánchez de Lozada nicht eine zweite Amtszeit ansteuern? Die Verfassung verbietet nur zwei direkt aufeinander folgende Amtszeiten eines Präsindenten, für 2002 ist der Weg für ihn ver­fassungsrechtlich frei. Bis zu ei­ner Entscheidung über die MNR-Kandidatur 2002 werden noch Jahre vergehen, und auch andere Aspiranten werden eine gute Startposition suchen. Aber die politische Option des gonismo ist nach dieser Wahl nicht tot. Nach – soweit gegenwärtig ab­sehbar – möglicherweise un­sepktakulären fünf Jahren unter Hugo Bánzer könnte der jetzt wohl erst einmal auf Eis gelegte Reformprozeß dann wieder an Dynamik gewin­nen.

Zwei Tote für 9000 Hektar Land

“Es ist nicht auszu­schließen, daß die mexika­nischen Zapati­sten, ehema­lige sal­vadorianische Gueril­lakämpfer und poli­tische Gruppierungen aus Nicara­gua die indigene Be­wegung von Honduras in­filtriert ha­ben.” Julio Chá­vez, Polizei­kommandant aus Tegu­cigalpa, hat seiner Phanta­sie offensichtlich freien Lauf gelas­sen. Es ist nicht klar, warum er in sei­ner Spekulation nicht noch an­dere Widerstandsbewegun­gen erwähnt, etwa die pe­ruanische oder die gua­temaltekische oder auch Fidel Castro persönlich. Aber es ist klar, daß der Hüter der öffentlichen Si­cherheit von der schlag­kräftigen Organisation der Indianer beeindruckt ist. Er kann sich die Stärke und Vielfalt der politischen Ak­tivitäten der Ureinwohne­rInnen, die sich in der “Konföderation der au­tochthonen Völker von Hondu­ras” (CONPAH) gesammelt ha­ben, nur durch äußere Unterstüt­zung erklären.
Tatsächlich sind die “Eth­nien”, wie in Honduras die indi­ge­nen Völker und die schwarzen Be­völ­ke­rungsgruppen zusam­men­fassend genannt wer­den, tra­di­tionell die stärkste der sozialen Be­we­gungen. In dieser “Tra­di­tion” stehen auch die jüng­sten Pro­teste der Chortí-Indianer in Te­gu­cigalpa.
Die Chortí leben in den an Guatemala angrenzen­den De­partamentos Copán und Ocotepeque. Sie haben Anfang Mai einen Marsch auf Tegu­cigalpa organisiert und mit etwa 3000 Men­schen die Residenz des honduranischen Präsidenten be­lagert. Ziel der Proteste war zum einen, die Auf­klärung des Mor­des an ei­nem Chortí-Führer einzu­fordern. Cándido Amador Recinos, einer der Haupt­aktivisten im Landkampf der Chortí gegen Groß­grundbesitzer und Vieh­züchter, wurde Mitte April erschossen. Zum anderen forderten die Chortí die umge­hende Aushändigung der Besitz­titel über 14.000 Hektar Land in ihrem tra­ditionellen Siedlungs­gebiet, das ihnen Viehzüchter streitig machen.
Am Tag, als die Demon­stra­tion vor dem Präsiden­tenpalast be­gann, setzte die Re­gierung eine Verhand­lungskommission un­ter der Lei­tung des Ministers für Kultur, Kunst und Sport ein.

Leihgabe Land

Die sagte nach mehrstündigen Ver­handlun­gen den Demon­strie­ren­den le­diglich die “vor­über­ge­hen­de Nutzung” von Agrarland zu: 2000 Hektar als “Leihgabe” für drei Monate. Die Chortí be­zeich­neten dies als “lächerlich und ignorant” und brachen die Verhand­lungen ab. Zweihundert von ih­nen begannen einen Hun­ger­streik.
Ausdruck von Ignoranz und Rassismus gegenüber der Urbe­völkerung sind auch öffentliche Stellung­nahmen der Kommis­sions­mitglieder. Der staatliche Eth­nien-Beauftragte Eduardo Vi­lla­nueva ver­suchte, die Chortí mit der Behauptung zu dif­fa­mie­ren, diese hätten bei ihrem Marsch auf Tegucigalpa Frauen und Kinder geopfert.
So überrascht es nicht, daß auch das zweite Ange­bot, mit dem die Regie­rungskommission we­nige Tage später auf den Ver­hand­lungsabbruch reagierte, le­diglich Absichtserklärun­gen und keine konkreten Zusagen ent­hielt. Zum Beispiel schlug die Kom­mission vor, die Groß­grund­be­sitzer im Gebiet der Chortí “aus humanitären und so­zialen Grün­den zu bitten”, den In­dí­ge­nas eine für die Subsi­stenz­wirt­schaft nötige Menge Land zu über­lassen. Die Chortí ant­wor­te­ten ihrer­seits mit ei­nem kon­kre­ten Acht-Punkte-Kata­log, in dem an erster Stelle die Forde­rung nach Übertragung von 14.000 Hek­tar Land wie­derholt wird. Der Forde­rungskatalog wurde von CONPAH vorgelegt und hat­te somit das Gewicht ei­nes Do­ku­mentes aller hon­du­ra­ni­schen Ethnien.
Am fünften Tag der Be­la­ge­rung der Residenz un­terbreitete die Regie­rung schließlich ein An­gebot zur Überschrei­bung von 4000 Hektar Agrarland. Bevor die Chor­tí über Zustim­mung oder Ablehnung ent­scheiden konn­ten, wurde die Belagerung völ­lig uner­wartet und gewalt­sam ge­räumt. Polizei­beamte und Sol­da­ten vertrieben die 3000 De­mon­strantInnen aus dem aus Kar­tons und Plastikpla­nen er­rich­teten Lager. Frauen, Kinder und alte Menschen wur­den da­bei ge­schlagen. Der Dia­log brach er­neut zusammen. 400 Meter von der Resi­denz des Prä­sidenten ent­fernt ließen sich die Chortí erneut nieder.

Gewalt gegen die Belagerer

Die Verhandlungen wur­den erst wieder aufgenom­men, als eine Kernbedin­gung der Demon­stranten für die Fortsetzung der Verhandlungen erfüllt wurde und der Kulturmini­ster als Leiter der Regie­rungskommission aus­schied. Schließlich konnte – neun Tage nach Beginn der Proteste – eine Überein­kunft mit der Regie­rung erzielt werden: Sie sicherte zu, den Chortí im Verlauf der näch­sten sechs Mo­nate Besitz­ti­tel für 9000 Hektar Land schritt­wei­se zu über­schreiben.
Der Vertrag zwischen den Chor­tí und der Regie­rung be­deu­tet keineswegs das Ende der Land­konflikte und sollte nicht vor­eilig als “historischer Erfolg nach Jahrhunderten” gefeiert wer­den. Der Tag des Ab­kom­mens zwischen den Chortí und der Regierung wird durch den Mord an einem weiteren In­di­ge­na-Führer überschattet: Jorge Ma­nueles, Aktivist bei der Ver­tei­digung des Landbe­sitzes des Lenca-Volkes und engagiert im Kampf gegen die Abholzung der Wäl­der durch die großen Sä­ge­wer­ke, ist am selben Tag auf of­fener Straße er­schossen wor­den. Gleich­wohl ist das Ergebnis der neun­tägigen Protestaktion ein wich­tiger Schritt nach vorn: Es ist Zeichen da­von, daß die Poli­ti­sierung der Indígenas zunimmt, und es ist ein kon­kreter Erfolg im Kampf der Eth­nien um ihre Land­rechte.

Maestro Abbado mag keine Experimente

Manuel M. Ponce (1882-1948), Silvestre Revueltas (1899-1940) und Carlos Chávez (1899-1978) waren die Hauptfiguren des “musikalischen Nationalismus”, einer Bewegung, die sich im Zuge des kulturellen Aufbruchs nach der Revolution von 1910 bis 1920 in Mexiko formiert hat. Wie in der Wandmalerei eines Diego Rivera oder José Clemente Orozco wandte sich auch in der Musik der Blick nach innen auf die prähispanischen Wurzeln Mexikos und die eigene volkstümliche musikalische Tradition. Es kam zu einer Art Folklorisierung, die sich vor allem in der Übernahme melodischer Motive aus dem Bereich der Volkslieder oder -tänze bemerkbar machte. Aber auch in der Instrumentalisierung gab es den Versuch, vermehrt indigenen Instrumenten, vor allem Trommeln und Flöten, Gehör zu verschaffen. So verwandte Chávez in seiner Sinfonía India zusätzlich zu den vertrauten Maracas und der indianischen Trommel einen Wasserkürbis, eine Reihe von Wildhufen und Schmetterlingskokons, eine Raspel und weitere exotische Laute.

“Musikalischer Nationalismus”

Wie der Begriff “musikalischer Nationalismus” bereits andeutet, erfüllte diese Musik jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem auch eine politische Funktion. Die Mexikanische Revolution hatte nämlich, abgesehen von der Ära Cárdenas in den dreißiger Jahren, die soziale Situation weiter Teile der Bevölkerung kaum verändert. Um ihr trotzdem einen positiven Sinn zuzuschreiben – ein nicht allzu einfaches Unterfangen, schließlich war die Zerstörung und Zerrüttung des Landes nach zehn Jahren Bürgerkrieg enorm – wird vor allem ihre Bedeutung auf die Herausbildung einer mexikanischen Identität hervorgehoben. “Mexiko traut sich zu sein”, schreibt der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz in seinem Labyrinth der Einsamkeit. “Der revolutionäre Ausbruch ist ein einzigartiges Fest, in dem der Mexikaner, betrunken von sich selbst, endlich in tödlicher Umarmung den anderen Mexikaner kennenlernt.”

Es gibt ein mexikanisches Violinkonzert!

Dieses Kennenlernen macht sich vor allem in den Versuchen bemerkbar, der indigenen Tradition Mexikos in Musik und bildender Kunst Gehör beziehungsweise Gesicht zu verschaffen. Mexikanische Identität wird hier präsentiert als die Verschmelzung der europäischen und der indigenen Tradition zu einer gemeinsamen mestizischen Kultur. Jedoch handelt es sich dabei in erster Linie um ein ideologisches Konstrukt. Die Trommeln und Flöten in Chávez’ Sinfonía India oder das volkstümliche mañita-Thema im dritten Satz von Ponces Violinkonzert erfüllen neben der ästhetischen Neuerung vor allem die Funktion, die indigene Bevölkerung in das Symbolgeflecht der mexikanischen Nation zu integrieren. Vom Populismus der postrevolutionären Regierungen, die in erster Linie die Einigung und Zentralisierung der Nation unter dem Banner des Adlers mit der Schlange (Mexikos Nationalwappen) anstrebten, wurden die Werke der Nationalisten gnadenlos ausgeschlachtet. Volkstümliche und indigene Kultur werden emblematisch zur Schau gestellt, um deren soziale und politische Ausgrenzung vom nationalen Projekt zu verschleiern.
Ob dies bereits die Intention der damaligen “nationalistischen” Künstler war, ist sicherlich mehr als zu bezweifeln. Was jenseits jeglicher politischer Funktionalität jedoch feststeht ist, daß diese Bewegung Werke von größter ästhetischer Qualität hervorgebracht hat, die es nicht verdienen, im tauben Fleck eurozentristisch geprägter Hörgewohnheiten zu verschwinden.
Ihren Anfang nahm die Bewegung zu Beginn des Jahrhunderts mit Manuel M. Ponce. Er war, wenn auch nicht der erste, so zumindest derjenige, der sich noch vor der Revolution am eifrigsten mit der mexikanischen Folklore auseinandersetzte, zahlreiche Abhandlungen verfaßte und sich auch in seinen Kompositionen von ihr inspirieren ließ. Er beeinflußte mit seinem “Nationalismus” nicht nur die ihm nachfolgenden Komponisten in Mexiko, sondern wurde zum Vorbild für ganz Lateinamerika.
Wer nun meint, bei Ponces Musik handele es sich um mit Geigen, Flöten und Pauken gespielte Volksliedchen, hat sich allerdings getäuscht. Sowohl sein Gitarrenkonzert Concierto del Sur, das 1942 mit dem weltberühmten spanischen Gitarristen Andrés Segovia in Montevideo uraufgeführt wurde, als auch sein 1943 entstandes Violinkonzert stehen vor allem auch in der Tradition der Romantik und des französischen Impressionismus und stehen Werken von Maurice Ravel oder spanischen Komponisten wie de Falla, Albéniz oder Rodrigo in ihrer mitreißenden Ausdruckskraft und gleichzeitig kunstvollen Verarbeitung lokaler und volkstümlicher Elemente in nichts nach.
Überhaupt erinnern viele Werke der mexikanischen Nationalisten in gewisser Weise an die Musik der Spanier aus der selben Zeit. Beide stehen in einer Tradition, die mit Ravels Rhapsodie espagnole ihren Anfang nahm. An die Stelle der Flamenco-Themen und Kastagnetten bei Albéniz und de Falla treten nun bei Ponce, Chávez und Revueltas die mexikanische Folklore und indianischen Schlaginstrumente. Kennt man de Fallas Dreispitz, seine 7 volkstümlichen Lieder oder Rodrigos Concierto de Aranjuez, kann man sich auch ungefähr vorstellen, was einen bei Chávez’ Ballettsuiten, Revueltas Liedern oder Ponces Konzerten erwartet.

Eurozentristische Taubheit?

Der große Unterschied besteht nun jedoch darin, daß es die Werke der spanischen Meister in Deutschland durchaus zu einem recht hohen Bekanntheitsgrad gebracht haben. Der Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Frühbeck de Burgos, bringt regelmäßig spanische Musik in Berlins Konzertsäle, und auch bei den CDs gehört sie mittlerweile zu den Classic Essentials und ist für 10 Mark pro Stück zu haben. Wenn man jedoch nach CDs von Chávez oder Revueltas fragt, erntet man meist unverständliches Kopfschütteln, und selbst bei ausgewiesenen Klassikspezialisten lautet die Antwort: Ham wa nich, kriegn wa ooch nich mehr rin!
Hier scheint Ursachenforschung angesagt! Sicherlich, es gibt bereits aus Europa derart viel interessante Musik, daß es in gewisser Weise nicht verwundert, daß für mexikanische Klassik kein Markt besteht. Und dennoch: Warum ist die Klassik vom Boom lateinamerikanischer Musik in Deutschland ausgeschlossen? Dies könnte zum einen an den Projektionen der Europäer liegen, die mit Lateinamerika Sambatrommeln und Gitarrenklänge, nicht aber klassische Orchestermusik verbinden. So haben Komponistengrößen wie der Brasilianer Heitor Villa-Lobos oder der Kubaner Leo Brower Werke für Solo-Gitarre geschrieben, die sicherlich dem Bereich der E-Musik zuzurechnen sind und die auch in unseren Breiten durchaus bekannt sind. Sieht man jedoch mal von Ariel Ramírez’ Missa Criolla ab, die mittlerweile zum allweihnächtlichen Klassik-pflichtprogramm avanciert ist, findet lateinamerikanische Orchestermusik hier jedoch fast keinerlei Beachtung.

Überraschungen

Diese Form selektiver Wahrnehmung ist auch Ausdruck eines tiefsitzenden Eurozentrismus, der in Europa nicht nur die Wiege und das Zentrum klassischer Musik vermutet, sondern den “periphären” Kulturen, wenn auch unausgesprochen, solche schöpferischen Höhenflüge eigentlich gar nicht zutraut. Zwar erkennt man Künstlern aus Lateinamerika durchaus die Fähigkeit zu, ein Klavierkonzert von Beethoven gut zu spielen oder eine Bach-Arie schön zu singen; die große Zahl der Auftritte lateinamerikanischer Solisten in Deutschland zeugt davon, und der aus Argentinien stammende Berliner Publikumsliebling Daniel Barenboim ist nur ein prominentes Beispiel. Aber selbst klassische Musik zu komponieren, das scheint den Europäern vorbehalten zu sein. Umso überraschter und verwunderter sind die KritikerInnen dann, wenn sie tatsächlich etwas “Ernstes” aus Lateinamerika zu hören bekommen. Im April 1994 präsentierte der mexikanische Dirigent Antonio López Rios mit der Berliner Sinfonietta lateinamerikanische klassische Musik in der Philharmonie. Der Berliner Tagesspiegel reagierte entzückt und sprach von “weißen Flecken auf der musikalischen Weltkarte”. Insbesondere Silvestre Revueltas habe sich als “Geheimtip des Abends” entpuppt.

Statistenrolle im Indianerkostüm

Revueltas hier präsentiert zu bekommen, ist allerdings ein äußerst seltenes Vergnügen. Der Blick in die Programmzeitschriften der Multi-Kulti-Hauptstadt Berlin zeigt es: Ponce, Revueltas, Chávez? Fehlanzeige! Und auch die ansonsten sehr um die Verbreitung mexikanischer Klassik verdiente Kulturreferentin des mexikanischen Konsulats beteuert, nicht ein einziges Konzert mit einem mexikanischen Komponisten ausgeschrieben gesehen zu haben, das sie nicht selbst mit initiiert hätte. Das renommierteste Orchester Deutschlands, die Berliner Philharmoniker, hatten Chávez mit der Sinfonía India sage und schreibe 1962 das letzte Mal im Programm. Damals kam der Leiter des Sinfonie-Orchesters von Mexiko-Stadt selbst nach Berlin, um sein Werk zu dirigieren. Das Motto des großen Maestro Abbado heute scheint jedoch zu lauten: Keine Experimente!

Und wer kennt ostasiatische Klassik?

Etwas experimentierfreudiger scheint das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zu sein. Hier gab es zuletzt ebenfalls die Sinfonía India unter Milan Horvat, und zwar zur 500-Jahr Feier der “Entdeckung” Amerikas, am 12. Oktober 1992. Daß in beiden Fällen die Sinfonía India ausgewählt wurde, eines der mit dem meisten Lokalkolorit versehenen Stücke, verdeutlicht, daß das Interesse mehr auf den exotischen Charakter gelenkt werden sollte als auf die Musik selbst. Klassik aus der Dritten Welt hat, wenn überhaupt, nur dann eine Chance, wenn sie im Indianerkostüm daherkommt.
Generelle Diskriminierung lateinamerikanischer klassischer Musik will der in Berlin lebende López Rios zwar nicht erkennen, schließlich sei auch japanische Klassik hier sehr unbekannt, aber eine gewisse Form des Eurozentrismus bei den Hörgewohnheiten hat auch er festgestellt. Auf seinen Vorschlag, mexikanische Musik im Berliner Konzerthaus aufzuführen, zeigte sich dessen Programmdirektor zwar durchaus beflissen und interessiert, kam auf das Angebot jedoch nicht mehr zurück. Auch ein weiterer Versuch des Mexikaners, dem Berliner Publikum klassische Musik aus Lateinamerika zu Ohren zu bringen, scheiterte leider. Zu diesem Ziel gründete er ein kleines Orchester, die bereits erwähnte Berliner Sinfonietta. Der anfängliche Elan war schnell verflogen, denn obwohl das Publikum wie auch die Kritik die Werke sehr begeistert aufnahmen, blieb es das größte Problem López Rios’, dafür Veranstalter zu finden. Diese, meint er, hätten zu große Angst, sich finanziell in die Nesseln zu setzen. Mittlerweile spielt die Berliner Sinfonietta eben auch Mozart.
Die Radiostationen sind hier bereits weiter: Den MusikredakteurInnen des SFB scheint der Name Silvestre Revueltas eher ein Begriff zu sein als der Intendanz der Berliner Philharmoniker. Beim SFB erinnerte man sich sofort, vor etwa zwei Jahren eine zweistündige Portrait-Sendung zu Revueltas ausgestrahlt zu haben, und auch im normalen Sinfonie-Programm werden gelegentlich Stücke von ihm gespielt. Natürlich hängt es auch hier vor allem sehr stark vom Interesse der RedakteurInnen ab, ob solche bisher noch unbekannten Komponisten ins Programm kommen oder nicht. Insgesamt scheint die Tendenz zu bestehen, daß die klassische Musik aus Lateinamerika trotz der Weltmusik-Bewegung auf der Strecke bleibt. Radio-Programme wie SFB 4 Multi-Kulti, in denen viel Weltmusik gesendet wird, sehen sich für den gesamten E-Musik-Bereich ganz schlicht nicht zuständig, und im normalen Kulturprogramm spielt klassische Musik aus Lateinamerika trotz einiger Ausnahmen nach wie vor eine Statistenrolle. Schade drum.

CD-Empfehlungen:
Manuel M. Ponce. Concierto del Sur, Piano Concerto, Violin Concerto. ASV Ltd. England
Música Mexicana, Vol.1: Chávez, Chapultepec “Republican Overture” – Ponce Ferial, Instantaneas Mexicanas – Revueltas, Toccata – Ponce Estampas Nocturnas.
Vol.2: Ponce, Concerto for Violin and Orchestra – Chávez, Sinfonía India – Revueltas La Noche de los Mayas. ASV Ltd. England

Ein Schritt vor und zwei zurück?

Guatemala-Stadt im Frühjahr 1997: Die Veränderungen durch den Friedensschluß sind spürbar. An den Straßenständen sind eine Vielzahl neuer Zeitungen erhält­lich, Musik- und Theatergruppen thematisieren die bitteren Erfah­rungen der Repressionszeit, in Büros fortschrittlicher Organisa­tionen hängen Banner mit dem Konterfei von Che Guevara. “Daß wir uns hier in aller Öf­fentlichkeit versammeln können, daß wir sagen können, was wir denken und was wir wollen, daß wäre noch vor ein paar Jahren unmöglich gewesen. Sofort wäre das Militär gekommen!”
Auch auf dem Land sind die mit dem Friedensschluß ein­ge­tre­tenen Veränderungen an­ge­kom­men, zu­mindest in einigen Re­gionen, wie diese Aussage ei­nes Campesinos zeigt. Es herrscht Aufbruchsstimmung. Die Men­schen reden offener, po­li­tische Gespräche werden nicht mehr wie früher hinter vor­ge­hal­te­ner Hand geführt – eine Frucht des Friedens­prozesses, die sich be­reits seit einiger Zeit angekün­digt hat.

Im Griff des Militärs

Über Jahrzehnte war das Land im eisernen Griff des Militärs. Ende der 70er Jahre kamen zwei Faktoren zusammen, die den schon lange vorher latent vor­han­denen Konflikt zu einem Bürgerkrieg werden ließen: Zu der krassen sozialen Ungerech­tigkeit kam eine immer stärker werdende Verfolgung von Oppo­sitionellen. Nicht zuletzt mit die­ser Kombination ist es zu erklä­ren, daß die Guerillaorganisatio­nen der “Nationalen Revolutio­nären Einheit Guatemalas” (URNG) großen Zulauf be­kamen. Trotz der massiven Re­pression, mit der das Militär das Land Anfang der 80er Jahre überzog, und trotz eines militäri­schen Ungleichgewichts, konnte die URNG als politischer Faktor in Guatemala weiterbestehen. Es entstand eine Patt-Situation: Ar­mee und URNG standen sich ge­genüber und keine Seite konnte die andere besiegen.
Der eiserne Griff der Armee lockerte sich auch nach 1986 nicht, als die Macht formal an eine Zivilregierung übergeben wurde. Den Forderungen der URNG, in Friedensverhandlun­gen einzutreten, um den Krieg zu beenden, standen starke Kräfte im Militär und in der Agrar­oligarchie gegenüber, deren ein­zige Option es war, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Guerilla zu vernichten.
Erst unter dem Druck der mit­tel­amerikani­schen Friedens­ini­ti­a­ti­ve der so­genannten Conta­dora-Grup­pe sah sich die guate­mal­te­ki­sche Regierung ge­zwungen, auf die Gesprächs­angebote der Gue­rilla ein­zugehen.
1991 konnten sich Guerilla und Regierung erstmals auf eine Ta­gesordnung für zukünftige Frie­densgespräche einigen. Die­ses Ereignis wurde damals als großer Durchbruch gefeiert. Bis es aber zu wirklich substantiellen Ab­schlüssen in den mal eilig ge­führ­ten, meist aber von der Re­gie­rung verschleppten Gesprä­chen kam, sollten noch weitere vier Jahre vergehen. Große Be­deu­tung sollte der 25. Mai 1993 er­langen: An diesem Tag ver­suchte der damalige Präsident Ser­rano Elías, das Parlament zu ent­machten und sich selbst dik­ta­to­rische Vollmachten anzueig­nen. Dieses Vorhaben, der soge­nann­te Autogolpe, scheiterte, Ser­rano wurde abgesetzt und an sei­ne Stelle kam der damalige Menschenrechtsprokurator Ra­miro de León Carpio. Dieser Präsidentenwechsel markiert einen Bruch innerhalb des Machtgefüges. Bislang waren in der Armee und in der Wirt­schaftselite diejenigen vorherr­schend, die – um ihre Privilegien zu sichern – mit harter Hand ge­gen jegliche Opposition vorgin­gen und der Meinung waren, mit “Terroristen spreche man nicht, sondern töte sie”. Jetzt meldeten moderatere Kreise innerhalb der Elite Machtansprüche an. Bei diesen Modernisierern hatte sich die Einsicht durchgesetzt, daß für eine wirtschaftliche Ent­wick­lung Guatemalas der Krieg be­en­det werden müsse – und daß es da­für notwendig sei, mit der Gue­rilla in wirkliche Friedens­ver­handlungen einzutreten.

Der Wendepunkt

Zwischen diesen beiden Frak­tionen, den Hardlinern und den Modernisierern, kam es in den auf den 25. Mai 1993 folgenden Monaten zu einem harten Machtkampf hinter den Kulissen. Je nach Situation in dieser Aus­einandersetzung schritten die Gespräche mit der URNG voran oder stockten. Aus den Wahlen vom Januar 1996 ging schließ­lich mit dem Zuckerhändler und ehemaligen Bürgermeister von Guatemala-Stadt Alvaro Arzú ein Repräsentant des modernisie­renden Unternehmertums als Präsident hervor. In den ersten Monaten seiner Amtszeit gelang es ihm, die Spitzen des Militär­apparates weitestgehend von Hardlinern zu säubern und mit der ultrakonservativen Agrar­oligarchie zu einem Aus­gleich zu kommen. Schon wäh­rend dieser Entwicklungen und Ver­wick­lungen im guatemalteki­schen Macht­apparat erweiterten sich die politischen Spielräume inner­halb der guatemaltekischen Gesell­schaft. Symbolhaft dafür steht die Gründung der fort­schrittlichen Oppositionspartei FDNG (Frente Democrático Nueva Guatemala) und deren Er­folg bei den Parlamentswahlen 1995. Gleichzeitig mit dem Machtzuwachs des Modernisie­rerflügels ist ein Nachlassen der staatlich verordneten Repression zu konstatieren.
In dieser veränderten Kon­stellation ist – sicherlich in Kom­bination mit anderen Faktoren wie dem internationalen Druck – die Begründung dafür zu suchen, daß es nach dem jahrelangen Tauziehen am 29. Dezember 1996 endlich zu den Feierlich­keiten anläßlich der Unterzeich­nung der Friedensverträge kom­men konnte. Mit diesem Akt traten insgesamt elf Teilabkom­men zu verschiedenen Schwer­punktthemen in Kraft, die seit Anfang 1994 von den Verhand­lungsparteien unterschrieben wor­den waren. Die Themen der ein­zelnen Vertragstexte umrei­ßen die Komplexität der so­zi­a­len, wirtschaftlichen und po­li­ti­schen Probleme des Landes. Erst­mals in der Geschichte Gua­te­malas kam es in weiten Teilen der Gesellschaft zu einer Diskus­sion über so brisante Themen wie die Menschenrechtsverlet­zun­gen im Auftrage des Staates, die Rolle des Militärs in einer zu­künftigen Gesellschaft oder über die rassistische Diskrimi­nie­rung der Indígenas. Verein­bart wurde ein umfassendes Maß­nahmenpaket: Reformen des So­zial- und Justizwesens, Ver­bes­serung der Infrastruktur und ei­ne teilweise Neustrukturierung des Staats- und Sicherheits­ap­pa­ra­tes sind nur ei­nige Ele­mente. Vor allem soll die Be­völ­kerung stär­ker in poli­tische Ent­schei­dungs­prozesse einge­bun­den wer­den. Zwar ist bei vie­len Ein­zel­schrit­ten unklar, wie sie um­ge­setzt werden, be­zie­hungs­weise sind die Ver­pflich­tun­gen für die Re­gierung äu­ßerst schwam­mig ge­halten, doch muß al­lein schon die Eini­gung auf das Frie­dens­ab­kom­men als eine be­deut­same Zä­sur für Gua­temala ge­wertet wer­den.

Wirtschaft unter schwieri­gen Vorzeichen

Die Verbesserungen im politi­schen Leben Guatemalas sind – auch wenn sie mit großen Pro­ble­men behaftet bleiben – augen­fällig. Doch wo steht das Land wirtschaftlich und sozial? Die Einschätzung desselben Cam-pesinos, der sich Eingangs über die neuen politischen Frei­heiten freute, ist wenig ermuti­gend: “Früher waren wir arm, jetzt sind wir es immer noch – nur, daß es noch weniger Arbeit gibt und alles teurer geworden ist. In die­ser Hinsicht hat sich gar nichts verbessert.” Die Pro­bleme für einen Großteil der Guatemalte­kInnen sind gravie­rend (s. Kasten). Grassierende Armut und ein Abgleiten immer größe­rer Bevölkerungsteile in den in­formellen Sektor sind die Fol­gen. In letzterem finden nach Angaben der Internationalen Ar­beitsorganisation bereits die Hälf­te aller Wirtschaftsaktivitä­ten statt.
Der wichtigste “formelle” öko­nomische Sektor ist nach wie vor die Landwirtschaft. Diese wird auch als “Dessert-Wirt­schaft” bezeichnet, denn Haupt­pro­dukte sind Kaffee, Bananen, Zucker und Kardamon für den Export. Zumeist werden diese auf immensem Großgrundbesitz angebaut. Neben dem Dienstlei­stungsbereich hat sich zudem die Maquila-Industrie zu einem weiteren wichtigen Wirtschafts­sektor entwickelt. Geschätzt wird, daß in den größtenteils in koreanischem Besitz befindli­chen Betrieben etwa 70.000 Ar­beiterInnen unter miserablen Ar­beits­bedingungen beschäf­tigt sind. Zu 90 Prozent werden Tex­ti­lien “lohnveredelt”.
Trotz des nahenden Friedens­schlusses lag das Wirtschafts­wachstum im Jahre 1996 mit 3,1 Prozent unter dem Wert von 1994 (3,8 Prozent). Dieser Rückgang wurde in Guatemala mit Enttäuschung aufge­nommen, konzentrierten sich die Hoff­nun­gen doch auf einen allgemeinen Aufschwung, bei dem auch ei­nige Krümel für die Ärmsten ab­fallen. Für diese hat sich die Si­tuation durch zum Teil massive Preiserhöhungen, bei Grundnah­rungsmitteln wie Mais und Boh­nen bis zu 60 Prozent, noch ver­schärft.
Als Ursachen für das Ab­flauen der Wirtschaft werden ver­schiedene Faktoren dis­ku­tiert. Durch die ausschließliche Ex­portorientierung der Wirt­schaft, deren Gewinne nicht im Land reinvestiert werden, liegt der Binnenmarkt seit längerem brach. Die Überbewertung der Na­tionalwährung Quetzal bringt für den Export Absatzschwierig­kei­ten auf internationalen Märk­ten und für den Binnenmarkt stär­kere Importe ausländischer Wa­ren mit sich. Letzteres macht sich gerade durch mexikanische Pro­dukte bemerkbar, die in im­mer stärkerem Maße das Land über­schwemmen. Wirtschaftli­che Aktivitäten im Land werden zu­dem durch hohe Kreditzinsen, durch­schnittlich 25 Prozent, be­hin­dert. Ein weiteres Problem stellt die Inflationsrate dar, die 1996 bei 10,8 Prozent lag. Hinzu kommt, daß der Staat keine nen­nenswerten Wirtschaftsanreize durch eigene Investitionen bietet. Eine Folge ist das landesweite Fehlen ausreichender Infra­struktur – mit Ausnahme der Re­gionen, in denen für den Export produziert wird.
Verstärkt wird die Verunsi­cherung der Wirtschaft durch die grassierende Korruption und eine steil ansteigende Kriminalitäts­rate. Hier tun sich vor allem Mi­litärs hervor, die, ihrer originären Aufgabe entledigt, sich umori­entieren oder bereits begonnene Aktivitäten intensivieren: Dro­genanbau beziehungsweise Schmuggel, Autoschieberei und Entführungen gehören zu den einträglichen Geschäften. Die steigende Kriminalität prägt nicht nur das öffentliche Klima – auch der Tourismus ist betroffen: Nachdem in den letzten zehn Jahren die Touristenzahlen rela­tiv gleichbleibend waren, fielen sie im vergangenen Jahr um 16,5 Prozent.

Von der Aufstandsbe­kämpfung zum Neoliberalismus

Jahrelang war der Staat, und somit auch die Wirtschaftspoli­tik, allein auf die Aufstandsbe­kämpfung, die Unterstützung der traditionellen Agraroligarchie und die persönliche Bereiche­rung der Mandatsträger ausge­richtet. Um die Wirtschaft in Schwung zu bringen, begann die Regierung Arzú bereits zu An­fang ihrer Legislaturperiode mit einem klar neoliberal ausgerich­teten Modernisierungspro­gramm. Die Eckpfeiler dieser Politik sind die Straffung der Staatsbürokra­tie, der bereits mehrere tausend Ar­beitsplätze zum Opfer fielen, der Abbau von Handels­hemm­nis­sen, wie zum Beispiel die Ab­schaf­fung von Zöllen auf Ze­ment­importe, und vor allem die Pri­vatisierung von Staats­betrieben.
Gerade bei letzterem geht die Regierung energisch vor, was ihr im Januar auch von der Welt­bank bescheinigt wurde. Der größte Kuchen, der zur Zeit unter internationalen Investoren auf­geteilt wird, ist die staatliche Telefongesellschaft GUATEL. Um das Geschäft attraktiver zu machen, wurde im Frühjahr eine Reform des Tarifsystems vorge­nommen: Während die Preise für internationale Telefongespräche um bis zu 60 Prozent gesenkt wurden, stiegen die für nationale bis zu 2.000 Prozent. In der Pri­vatisierung sollen unter anderem die Eisenbahngesell­schaft und die ländliche Ent­wicklungsbank fol­gen. Zudem machen Gerüchte über die vollständige Entstaatli­chung des Bildungs- und Ge­sund­heitswesens die Runde.

Privatisierung als Allheilmittel

Zu befürchten steht, daß ganze Politikbereiche, die das Friedensabkommen als Aufga­ben des Staates definiert, von der Regierung abgestoßen werden. Nachdem der Staat seine soziale Ver­antwortung bislang nicht wahr­genommen hatte, droht nun, daß die entsprechenden Dienste für die Bevölkerung uner­schwing­lich werden.
Die Verkaufserlöse sollen das Staatssäckel auffüllen, damit die öffentliche Hand aktionsfähiger wird und die Kosten für die Um­setzung der Friedensabkommen, die auf insgesamt 2,4 Millarden US-Dollar geschätzt werden, ab­decken kann.
Scheinbar versteckt sich hier ein Widerspruch: Einerseits sol­len wichtige Bestandteile staatli­cher Politik privatisiert werden, andererseits verpflichtete sich die Regierung im Friedensab­kommen, gerade in den betroffe­nen Bereichen eine Versorgung zu­ gewährleisten. Die Auflösung besteht darin, daß im Abkommen nicht steht, daß der Staat die ent­sprechenden Aufgaben unbe­dingt selbst erledigen muß – er kann sich auf eine Vermittler­rolle beschränken. Aber auch dafür wird Geld benötigt, das nicht nur aus den Privatisie­rungsgewinnen kom­men soll. So konnten auch inter­nationale Gelder geworben werden: Von einem Treffen mit internationa­len Geldgebern wur­den im Ja­nuar Zusagen über ins­gesamt 1,8 Millarden US-Dollar für die nächsten vier Jahre mit nach Hau­se gebracht. Zum Grö­ßen­ver­gleich: 1994 lagen die Ge­samt­einnahmen des guatemalte­ki­schen Staates bei circa einer Mil­liarde US-Dollar.
Diese Ziffer ist sehr niedrig. Guatemalas Steuerquote konkur­riert heftig mit der von Haiti um den letzten Platz im lateinameri­kanischen Vergleich. Steuerhin­terziehung, fehlende staatliche Kapazitäten und nicht vorhande­ner politischer Wille, Steuern zu erheben, sind dafür verantwort­lich. Dies wurde von internatio­naler Seite heftig moniert. Wohl auch auf diesen Druck hin ver­pflichtete sich die Regierung im Friedensabkommen, die Steuer­quote innerhalb von vier Jahren markant anzuheben.
Diese Verpflichtung wirft ein bezeichnendes Licht auf die Ver­änderungen innerhalb des gua­te­mal­tekischen Machtapparates. Noch 1995 wäre der damalige Prä­sident de León Carpio fast über eine Steuerreform gestol­pert, da der mächtige Unterneh­mens­verband CACIF drohte, ihn zu stürzen. Zwar stöhnen auch heute noch einige Unternehmer über das Ansinnen des Staates, die Steuern wirklich einzutrei­ben, doch hat gerade im CACIF ein Umdenken stattgefunden: Man will sich international glaub­würdig und integrierbar zei­gen und am großen Kuchen der Globalisierung teilhaben. Und dafür ist nun einmal ein Staat mit einem gewissen Akti­ons­radius notwendig. Werden die staatlichen Mehreinnahmen nun wirklich in die Umsetzung der Friedensabkommen inve­stiert, so kann vielleicht sogar auf eine Belebung der “for­mel­len” Wirtschaft gehofft werden. Da im Teilabkommen zu Wirt­schafts­fragen explizit die Pri­vat­wirtschaft aufgefordert wird, sich an den anstehenden Aufgaben zu be­teiligen, und auch die Re­gie­rungs­politik in er­ster Linie auf die Stärkung die­ses Sektors aus­ge­richtet ist, kann davon aus­ge­gan­gen werden, daß sich zu­min­dest die privaten Auftragsbücher fül­len.
Am 1. Mai kamen in Gua­te­ma­la-Stadt 40.000 Menschen zu­sam­men, um gegen die Wirt­schafts­politik der Regierung zu de­monstrieren. Friedensprozeß und neoliberale Reformen unter­stütz­ten sich in Guatemala bis­lang gegenseitig. Vielleicht er­mög­li­chen die Freiräume, die sich aus dem einen ergeben, die For­mierung des Protestes gegen das andere. In Guatemala ist die Be­völkerung aber ersteinmal da­bei, sich in der neuen Situation ein­zurichten und die Vergangen­heit zu verarbeiten. Zugleich meh­ren sich diejenigen, die ein Sze­nario befürchten, in dem die großen Hoffnungen auf die Zeit nach dem Friedensschluß mit den Frustrationen über Verschär­fungen im sozialen und wirt­schaftlichen Bereich kollidieren. Dieses mündet in einem Chaos spontaner Aufstände und deren blutiger Niederschlagung. Der Frieden auf dem Papier ist eben noch eine sehr labile Angelegen­heit.

KASTEN

Die Macht in Uniform

Über Jahrzehnte war das Mi­litär der entscheidene Macht­faktor in Guatemala. Auch wenn der Frieden nun unterschrieben ist, die Uniformen nicht mehr omnipräsent sind und die Armee um ein Drittel abgespeckt wer­den soll, wird sich daran auch in Zukunft wenig ändern. Hierüber dürfen auch die Auseinanderset­zungen zwischen Modernisierern und Hardlinern nicht hinwegtäu­schen. Denn im Zweifelsfall hackt eine Krähe keiner anderen ein Auge aus.
Eines der elf Teilabkommen, die zwischen Regierung und URNG unterschrieben wurden, dreht sich um die zukünftige Rolle des Militärs. Dieses Ab­kommen wurde im Vergleich zu anderen Vereinbarungen rela­tiv kommentarlos in Guatemala zur Kenntnis genommen. Festge­schrieben wurden Aufgaben, die durchaus im normalen Spektrum parlamentarischer Demokratien liegen. Interessant sind aber zwei Aspekte.
Einer betrifft die Zukunft des militärischen Geheimdienstes, der ein flächendeckendes Netz von Spitzeln unterhielt, eines der brutalsten und effektivsten Re­pressionsorgane war und seine Informationen im wahrscheinlich umfassendsten Archiv Gua­te­ma­las sammelte. Zwar soll der mi­li­tärische Geheimdienst in eine neue Gesamtstruktur einge­bettet werden, doch spricht bis­lang nichts für eine Auflösung des Dienstes oder gar für eine Straf­verfolgung seiner Mitar­bei­terInnen. Auch ist nirgends ein verantwortlicher Umgang mit den gesammelten Daten festge­schrieben. Interessant ist in die­sem Zusammenhang, daß der FDP-Wehrexperte Wolf Poulet auf einem Seminar in Guatemala als Referent zum Geheimdienst­wesen auftritt. Auf eine diesbe­zügliche Anfrage antwortete die veranstaltende Friedrich-Nau­mann-Stiftung bislang leider nicht.
Der andere Aspekt ist die öko­nomische Macht des Mili­tärs. Diese manifestiert sich vor allem über den Pensionsfonds der Ar­mee IPM. Über diesen ist das Militär an mehreren großen Unternehmen beteiligt: So hält der Fonds Anteile an der gua­temaltekischen Fluglinie AVIA­TECA, ist im Zement- und auch Versicherungsgeschäft tätig. Herausragendes Beispiel für die Wirtschaftsmacht ist die Banco del Ejército (Bank der Streit­kräfte), eine der größten gua­temaltekischen Banken. Ein of­fenes Geheimnis ist die Verfü­gungsgewalt, die die Armee über die Telefongesellschaft GUA­TEL hat.
Auf den Friedensschluß hat sich die Armee bereits vor Jah­ren vorbereitet. Um eine mo­derne Elite heranzubilden, wur­den Offiziere oder Anwärter auf eine eigene Akademie, an Uni­versitäten in den USA und an die Privatuniversität Rafael Landivar in der Hauptstadt geschickt. Dort besuchten sie nicht etwa techni­sche Studiengänge, sondern machten vor allem Abschlüsse in Wirtschafts-, Betriebs- und Ver­waltungswissenschaften oder Ju­ra. Die Ausklammerung der bei­den zentralen Säulen der Macht des Militärs, der Ge­heimdienst und ihr Einfluß in der Wirt­schaft, aus den Friedensver­handlungen soll angeblich deren Vorbe­dingung gewesen sein, in ande­ren Bereichen Zugeständ­nisse zu machen. Zynische Zun­gen sagen, die einzigen in Gua­temala, die wirk­lich langfristige Konzepte hätten, seien das Mili­tär – und die Kirche.

“Wir haben Guatemala geformt…”

Guatemala-Stadt, 1993
“Es lebe das Deutschtum”, Teil I

Gläser klingen, Wein und Bier fließt. Vornehm­lich weiß lackierte Karossen fahren vor. Die Aso­ciaciòn de damas gua­temaltecas-alemanas (Ver­ei­ni­gung guatemaltekisch-deutscher Damen) hat ei­nen schwarz-rot-gold/weiß-blau ge­blümten Kranz im Foyer postiert. Die Asociación de Hum­boldt, im Volksmund “Deutscher Club”, hat gela­den. Die Deutsche Ge­meinde trifft sich zur alljäh­rigen Wie­dervereinigungsfeier. Der Botschafter mahnt in seiner Rede zu Toleranz, Verantwortung und Soli­darität in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Nie­mand scheint ernsthaft interessiert, Deutsch­land ist weit weg und diese Tugenden sind in Gua­temala weniger gefragt. Mit dem Ende der Natio­nalhymne kommt Leben in das sonnige Gefilde zwischen Sonnenschirmen und Swimmingpool. Die Kamera bewegt sich auf Gäste zu: “Wer sind Sie”?
Der alte Plastikfabrikant: “Ich bin die 3.Generation, 100 Pro­zent deutsch abstämmig aus, äh, hier in Guatemala ansässig. Mein Großvater ist seinerzeit eingewandert, er hat sich hier ausge­brei­tet im Kaffeeanbau. Durch den Krieg, 2.Weltkrieg, haben hier sehr viele Deutsche ihren Besitz verloren und es wurde uns hier das ganze Ei­gentum entnommen. Ich bin dann wieder zu­rückgekommen, nach­dem wir durch diese Sache in den Staaten interniert wurden und dann später ge­gen amerika­nische Kriegsgefangene ausge­tauscht wur­den.Und wir kamen zurück, praktisch zu nichts. Heute hab ich mir einen Platz erobert in unserer Gemeinschaft und wir sitzen hier in unserem Deut­schen Club, wo wir schöne Zeiten verleben, wo wir un­ser Deutschtum wieder erkennen und wo wir un­ser Deutschtum erleben und unsere deutschen Freunde wiedersehen. Und an­dere Leute kennen­lernen, wie zum Beispiel die Herrschaften, die jetzt bei mir sitzen (verweist auf Tischnachbarn) und die Ar­beiten machen in unseren Ur­wäldern für die richtige ökologi­sche Ausbeutung…”
Bratwürste, Sauerkraut und Erdbeeren, Wein von der Mosel und aufgelockerte Stimmung. Man ist unter sich, ausgelassen und gut gelaunt.
Die Hemdsärmeligen: “Was, aus Deutschland sind Sie? Mensch, hier Deutsches Fernse­hen … wir sind Banker, Ree­dereivertreter, Spediteure, Kaf­feehändler, was Sie wollen….wir sind mal ausge­wandert und füh­len uns immer noch wohl. -Zwi­schenfrage- Ja, hier sind schon mal Reportagen gemacht wor­den. Da haben wir uns vollkom­men gegen gewehrt … die haben alles verdreht, Foto­montagen gemacht, oben die Reichen, un­ten die armen Indianer…”

Hamburg, 1994
Die Recherche zeigt…

Das doppelseitige Titelfoto einer Ausgabe des “Stern” von 1980 präsentiert zwei deutsche Groß­grundbesitzer vor ihrer avioneta, einem kleinen Sport­flugzeug, mit dem man in Guatemala auf seine Fincas zu fliegen pflegt, seit es auf dem Lande so gefährlich geworden ist. Vater und Sohn, beide sind bewaffnet. Aufreißerischer Titel: “Wir wissen, daß wir die nächsten sind.” Der Artikel ist besser als der Titel: Der Autor schreibt von extre­men sozialen Gegensätzen, Bürgerkriegszustand, 37 Toten bei der Stürmung der spanischen Bot­schaft, die von campesinos besetzt worden war. Der Autor zu Besuch bei deutschen Bankern und Kaffeehändlern: “Die Bankleute haben Angst vor der Revolution. Jetzt schnell das Geld aus dem Land holen, bevor die Scheiße hier los geht.” Ei­nige Zeilen darunter: “70 Prozent des Kaffeehan­dels liegt in den Händen Deutscher oder Deutsch­stämmiger.”

Stuttgart, 1993-1995
Kontinuitäten

Das Archiv des Instituts für Auslandsbeziehun­gen (ifa) in Stuttgart, vor dem 2. Weltkrieg “Deut­sches Auslands-Institut”. Alte Kolonial­schriften, vergilbte Fotos, ein Artikel eines gewis­sen Fried­rich Karl v. Erckert über “Die wirtschaft­lichen In­teressen Deutschlands in Guatemala” von 1904:
“Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß in keinem außerdeutschen Gebiete, unsere eigenen Kolonien nicht ausgenommen, ein, wenn nicht ab­solut, so doch relativ so umfangreicher und örtlich so konzentrierter ländlicher Grundbesitz in deut­schen Händen ist wie in Guatemala. … Wenn man nur die für den eigentlichen Plantagenbetrieb ge­eigneten Distrikte ins Auge faßt, sind gerade diese fruchtbaren Landstriche im Besitz von Deutschen. Die Zunahme der deutschen Interessen ging mit der Entwicklung des Landes gleichen Schritts, ja letztere war bis zu einem gewissen Grade die Wir­kung der ersteren. …
Überhaupt spielen unsere Landsleute wirt­schaft­lich die Hauptrolle. 3/5 des Kaffees wurden 1897 von ihnen produziert, und die Handelshäuser Ger­lach, Sapper, Nottebohme nebst ihren Filialen monopolisieren so ziemlich den Handel.”

Guatemala-Stadt, 1995
Ministerängste

Ein gut bewaffneter Wachposten öffnet das 2,50 Meter hohe Eisentor. Ein Großraumbüro, unzäh­lige Computer on-line zur New Yorker Börse, Hemds­ärmelige. Ein Vorgespräch liegt hinter uns. Man ist vorsichtig in Guatemala. zwei Jahre stille Be­mühungen, um hier zu drehen. Don Fritz emp­fängt uns. Weißes Hemd, Jeans, locker, man ist so­fort auf Du. “Die starke deutsche Tradition in der Kaffeeproduktion ist leider nach dem Kriege fast verschwunden, seitdem ist überwiegend der Kaf­fee­handel in deutscher Hand geblieben. Gua­te­ma­la war schon immer ein interessantes Land für deut­sche Einwanderer. Der deutsche Immigrant hat sich immer schnell zurechtgefunden. Die deut­sche Disziplin, die deutsche Zähigkeit, die deut­sche Zuverlässigkeit, verbunden mit dem lockeren und freundschaftlichen Leben in Guatemala ist an­schei­ndend eine optimale Kombination und man sieht es an der gesamten deutschen Kolonie: fröh­liche, glückliche und erfolgreiche Leute.”
-Zwischenfrage- “Unsere Firma exportiert heut­zu­tage um die 500.000 Exportsäcke Kaffee. Das ist 20 Prozent der Landesproduktion, das Vo­lumen in Guatemala hat damit auch ein Limit ge­funden, nich. Wir exportieren 60 Prozent unserer Produk­tion nach Deutschland. Unsere Firma ist im gan­zen Land vertreten, obwohl die Verkehrsver­bindungen nicht optimal sind … Guatemala ist ein Land mit totaler Handelsfreiheit … wir haben ein furchtbar sprunghaftes Jahr gehabt … spektaku­läre Preiserhöhung an der New Yorker Börse … .
-Zwischenfrage- Die Gründerfamilie dieser Fir­ma hat eine lange Tradition im Land, seit Beginn des Jahrhunderts. -Zwischenfrage- Die familiäre Sei­te sollten wir nicht unbedingt rein nehmen, das ha­ben die Inhaber nicht so gerne, das schneidet ihr dann raus, nich?” – Ja, natürlich.

Guatemala – Deutschland, 1897 – 1996
Kontinuitäten

I. Die Firma des Geschäftsführers Don Fritz ist im Familienbesitz der Firma Nottebohm. Es gibt in Guatemala ein Sprichwort: Dios protega nuestros hijos de Schlubbach, Sapper, Nottebohm. Zu deutsch: Gott behüte unsere Söhne vor Schlub­bach, Sapper, Nottebohm. Nottebohm ist zu Be­ginn des Jahrhunderts das alles dominierende Han­delshaus in Guatemala.
II. Die Firma des Don Fritz heißt heute Agro Comercial. Die zweite, ebenfalls große Kaffee-Ex­portfirma der Familie Nottebohm heißt Trans-Café und erhielt von der guatemaltekischen Regie­rung 1995 das Goldene Band für das best geführte­ste Unternehmen des Landes.
III. Don Fritz ist wenige Monate nach diesem Gespräch Kommunikationsminister. Die Politana­lysen hatten Recht: Die Regierung Arzú besteht aus Angehörigen der reichsten Familien des Lan­des. Und das neoliberale Wirtschaftsprogramm wird von Don Fritz nach kurzer Zeit in seinem Mi­nisterium in die Tat umgesetzt: erste Massenent­lassungen in seinem Ministerium, Streiks, die bald im Sande verlaufen …

Guatemala-Stadt, 1993
“Es lebe das Deutschtum”, Teil II

Etwas später, das Bier fließt weiter und der deutsche Botschafter hat den Club verlassen, nicht ohne sich vorher vertrauensvoll auf das Filmteam zu verlassen: “Treten Sie den Leuten hier nicht zu nahe, bitte.” Seine Einladung zur Besteigung des Vulkans Pacaya unter Begleitung von Beamten des deutschen Innenministeriums nehmen wir vorerst an. Endlich wird uns der wichtigste Mann im Land vorgestellt: der Prototyp eines erfolg- und einfluß­reichen Geschäftsmannes, eine wahrhaft sprung­hafte Karriere. Doch zur Sache:
“Wir sind eigentlich hier sehr zufrieden, wir hal­ten hier unsere Position, der Guatemalteke ist auch ein Autonarr, kauft gerne sofisticated cars, und auf dem Nutzfahrzeugesektor sind wir stark ver­treten … und im Stadtbus haben wir 80 Prozent Markt­anteil, wir sind im Überlandbusverkehr sehr stark, und können uns eigentlich nicht beklagen, das Geschäft läuft recht gut.”
-Zwischenfrage- der mozo schenkt nach …
“Ja also, wenn Sie beobachten, daß Firmen wie Hoechst und Bayer ihre Produktionsstätten hier in Gu­atemala haben, die haben sich das auch über­legt, wo ist also das größte Land und der größte Ab­satz für ihre Produkte und alle haben sich also hier angesiedelt. Guatemala hat den Nachteil, po­litisch gesehen, daß es ja bekannt ist als ein Land, das also sehr viele Probleme mit Menschenrechten hat, aber wirtschaftlich ist es also so bedeutend, be­deutender wohl als jedes einzelne Land in Zen­tral­amerika. -Zwischenfrage- Auf der ganzen Welt sterben Menschen. Auch in Deutsch­land schlägt mal einer einem andern ‘n Stein aufn Kopf. Hier wird das also immer gleich hingestellt, als wenn das was mit Menschenrechts­ver­letzungen zu tun hätte. Bedauerlich, daß Gua­te­ma­la sich diesen Mantel nie abstreifen kann. -Zwischenfrage- Ja, die 80er Jahre waren sehr betrüblich, Sie wis­sen, der Kommunismus hat hier gekämpft … -Zwi­schenfrage- Der Indianer trägt nicht viel zum wirt­schaftlichen Leben bei … Wenn der zum Bei­spiel nach zwei Tagen sein Geld zusammenhat, was er für die Woche braucht, dann kommt er nicht mehr zum Arbeiten. Das sind also so Dinge, die können Sie erforschen, wenn Sie mal über Land fahren.” -Vielen Dank-

Alta Verapaz, 1995
Landflucht

Wir fahren über Land, befragen Leute am We­gesrand, auf den Fincas … Ausschnitte:
I. “Der erste Deutsche, der hierher kam, hieß Sapper. Die Alten sagen, früher bauten die Leute hier ihren Mais an. Als die Deutschen kamen, kauf­ten sie das ganze Land, mit Blechmünzen. Und al­le, die auf diesem Land lebten, wurden ihre mo­zos, um die Kaffeeplantagen anzulegen.”
II. “Was die Leute sagen ist, daß die Deutschen hier viele Kinder mit Indianerinnen hinterlassen haben. Sie haben sich nie mehr darum gekümmert, denn sobald sie ihre eigene Finca hatten, holten sie sich eine weiße Frau aus Deutschland.”
III. “Leute wie die Deutschen kommen wohl nie mehr nach Guatemala. Die konnten arbeiten, Es herrschte Ordnung und Disziplin, vor allem zu Zeiten des General Ubico.”
IV. “Diese Straße hier hieß früher “Heilige Elena”, denn Elena hieß die Frau des deutschen Verwalters. Sie hat sich später vergiftet. – Zwi­schenfrage- Sie wollte einen Hiesigen heiraten, aber sie ließen sie nicht …”

Guatemala – Deutschland, 1897 – 1995
Herren denken, Herren handeln

Ia. Die französische Zeitung “Le Monde Diplo­matique” schreibt 1979:
“In Alta Verapaz toben heftige Landkonflikte. … Pläne für den Bau einer neuen Straße verschlim­mern die Situation. Angelockt durch steigende Preise der Ländereien beansprucht der Kaffee­pflanzer Richard Sapper 1300 ha Land der Keck­chí-Dörfer Secuachil, Semococh und Yalicoch. Die Bewohner verfügen nicht über Besitzurkunden und werden mit Gewalt vertrieben. Die Landkonflikte eskalieren im Massaker von Panzos am 29. Mai 1979.”
Die Recherche zeigt: Der Schießbefehl kam von Otto Spiegeler, General und Verteidigungsmini­ster.
Ib. Der Pfarrer in San Pedro Carcha:
“Ja, Sapper. Erst in den Jahren 1986,1987,1988 verbrannte er die Ernten dreier Gemeinden. Er behauptete, es sei sein Land.”
II. Eine Gesundheitsstation auf einer deutschen Finca im Polochic-Tal (1995):
Hier wird Präventivmedizin geleistet. Die Ka­mera läuft: Der Finquero: “Auf unserer Finca le­ben 1200 Leute. Wieviel haben sich sterilisieren las­sen?” Die Angestellte: “10 Familien!” Der Fin­quero: “10 Familien von 200. Das sind fünf Pro­zent. Die denken nicht an Familienplanung. In zehn Jahren weiß ich nicht mehr, was ich machen soll.” Sein Vater, 96 Jahre, Pionier des Kaffeean­baus, aus dem Hintergrund: “10-12 Kinder kann ‘ne Indianerin kriegen.”
Zwei Tage später gesteht der Alte: “Zuerst hatte ich ja fünf Kinder mit einer Hiesigen, so ‘ne ganz einfache Indianerin, wie sie halt hier sind. Die wa­ren aber schon 75 Prozent rassisch, denn die hatte schon nen deutschen Vater. Später hab’ ich dann meine deutsche Frau geholt, mit der hab’ ich auch fünf Kinder.”
III. Alta Verapaz, Österreich, Guatemala-Stadt Filmarchiv (1936-1995):
Die Regierung des General Ubico in den 30er Jahren: Gewaltherrschaft in Guatemala, es herrsch­te Ordnung und Disziplin, das berüchtigte ley fuga. Kriminellen und Oppositionellen wurde gesagt: “Du bist frei.” Nach zehn Metern Freiheit wurden sie hinterrücks erschossen.
Ubico war vor seiner Machtüber­nah­me Wegein­spek­tor in Alta Ver­apaz, dem imperio ale­mán. Er­win Paul Die­seldorff, Kaf­fee­ba­ron und Ur­groß­va­ter des ge­gen­wär­ti­gen Vorsit­zenden des Kaffee­pro­du­zen­tenverbandes ANA­CAFE, über­setzt für Ubico das Skla­vengesetz aus Deutsch-Südwest­af­ri­ka. Ubico erläßt es als das “Gesetz ge­gen das Va­ga­bun­den­tum”: landlose In­dígenas werden ge­zwun­gen, auf den Fin­cas oder im Stra­ßen­bau zu ar­beiten.
Das Filmarchiv zeigt: vor dem Na­ti­onalpalast defilieren die Motorräder aus Deutsch­land für die Po­lizei Ubicos. Deut­sche defilieren mit Hitlergruß. Eine SA-Formation aus Deut­schland grüßt den Präsidenten.
Ein Fotoalbum in Öster­reich offen­bart: Haken­kreuz­fah­nen auf den Fin­cas, im Deutschen Club, auf den Sport­festen…
Mathilde Diesel­dorff de Quirin, 97 Jahre, Tochter des Erwin Paul Die­seldorff, Gründer des Kaf­fee-Imperio alemán, sagt: “Ja, sie waren sehr für Hitler, und mein Mann war einer der viel sprach.”

Guatemala, 1942 – 1954 – 1995
Adenauer sagt…

Pearl Harbour, U-Boot-Krieg in der Karibik. Eine Nachrichten-Relais-Station auf einer deut­schen Finca in der Alta Verapaz vermittelt ver­schlüsselte Nachrichten von deutschen U-Booten ins Führerhauptquartier nach Berlin. Die USA be­sinnen sich auf ihren Hinterhof (Teil I), deportie­ren alle Deutschen und der faschistische Spuk in Guatemala findet ein Ende. Guatemala besinnt sich auf seine eigenen Kräfte. Arevalo und Arbenz hei­ßen die Erneuerer (“O-Ton 1995: “der eine war rot, der andere noch röter und drogensüchtig”). Wir finden verloren geglaubte Filme über eine Re­volution: die Landreform, ein Neubeginn. Bundes­kanzler Adenauer sagt 1952: “Nach Korea und In­dochina ist jetzt Guatemala das Ziel der kommuni­stischen Angriffe.” Die USA besinnen sich 1954 auf ihren Hinterhof (Teil II): Arbenz wird gestürzt, die Zeit der ewigen Diktaturen be­ginnt. (O-Ton 1995: “Dann haben wir mit dem An­ti­kommunismus peu a peu weitergearbeitet”).

Guatemala – Zentralamerika, 1967 – 1984
Wie man mit Antikommunismus Geschäfte macht

Der Zentralamerikanische Markt entsteht. “Gua­temala ist für ein Entwicklungsland fast un­verschämt gesund und stabil” stellt “Die Zeit” 1979 fest. Ausländische Unternehmen investieren: Bayer, Hoechst, Siemens, einfach alle fallen ins Land ein. Billige Arbeitskräfte, keine Steuern, keine Arbeitsgesetze … der Standort Guatemala ver­spricht horrende Gewinne. Dem ehrgeizigsten deutschen Entwicklungshilfeprojekt, dem Wasser­kraftwerk Chixoy, müssen hunderte Indígena-Fa­milien weichen. Im ganzen Land müssen die Indí­genas weichen. Als sie sich wehren, beginnt die Politk der Verbrannten Erde. Anfang der 80er Jah­re sterben zehntau­sende, hunderttausende flüchten.

Guatemala – BRD, 1981 – 1986
Hilfe!

Das Land ist am Boden zerstört. Das Militär & Co. hat gesiegt. Die deutsche Regierung wehrt den Vor­wurf der Waffenlieferung an die Diktatoren ab, lediglich “kleine Handfeuerwaffen” wurden 1981 geliefert.
“Lebensmittel für Arbeit” heißt ein Programm der Armee für die zurückgebliebenen Verlierer. Deutschland (Caritas) spendet Lebensmittel für die Campesinos, die ihre zerstörten Häuser, Straßen, Brunnen sich selbst helfend wieder aufbauen. “De­mo­kratie” heißt kontinentweit das Zauberwort (O-Ton BMW-Vertreter, Enkel von Sapper: “Die hie­sigen müssen spüren, daß die europäischen Sy­steme die besseren sind …”)
Die Demokratie braucht eine Ordnungsmacht. 50 Jahre nach den ersten deutschen Polizei-Motor­rädern für Ubico (zu sehen auf alten 35mm-Film­schnipseln aus Guatemala) defiliert der Hoff­nungs­träger Polizei mit Mercedes-Benz-Gelände­wa­gen und BMW-Motorrädern 1986 vor dem Na­tio­nal­palast. Der Polizeihilfe-Deal wird koordiniert über die Innenministerien beider Länder, finanziert aus dem Entwicklungshilfetopf.

Guatemala-Stadt, 1993
“Es lebe das Deutschtum”, Teil III

Inzwischen sind wir anerkannte Gesprächspart­ner, willige Zuhörer. Nehmen auch einen Schluck.
Der Sesamexporteuer: “Soviel tausende Tote, wir können nicht so weiterleben.” -Zwischenfrage- “Wir müssen weg vom Kaffee, das haben die Leute auch hier erkannt. Wir exportieren heute große Mengen Broccoli, Blumen, Frischgemüse usw. Wir trainieren die Leute, die Leute werden finanziert, sie unterschreiben einen Kontrakt und dann liefern sie das Produkt auch bei Ihnen ab. -Zwischenfra­gen- “Auf Wiedersehen, wenn Sie mal ein Sesam­brötchen essen, denken Sie an mich.”
Der wichtigste Mann im Lande: “Es gibt viele soziale Spannungen, und die lösen sie nur mit Geld, und Geld ist eben Mangelware in Gua­temala.”
Die Lehrerin der Deutschen Schule auf die Frage “Was müßte verändert werden?”: “Die gan­zen Menschen.”
Das Bier fließt weiter, die mozos schenken nach, der Abend endet deutsch-national.

Es gibt kein Zurück

Das Ende des Krieges hat den An­stoß zu einer Dis­kussion ge­ge­ben, die von den Maya-Organisa­tio­nen vehement ein­ge­for­dert wird. Erstmalig in der gua­temaltekischen Ge­schichte wird in dem im März 1995 von URNG und Regierung un­ter­zeich­neten “Ab­kommen über Rechte und Identität der in­di­ge­nen Bevölkerung” (Indígena-Abkommen) die rassisti­sche Dis­kri­minierung der indianischen Be­völkerung aner­kannt und für die Zu­kunft die Vision einer mul­tiethnischen, plurikulturel­len und vielsprachi­gen Na­tion Gua­te­mala gezeich­net. Die in den ver­gangenen ein­hundert Jahren do­minie­rende ge­sellschaftliche Grup­pe der La­dino/as scheint dabei zusehens in die Defensive zu geraten. Dies kann kaum ver­wun­dern, denn ein Blick in die Ge­schichte zeigt, daß die Ent­wick­lung des gua­temaltekischen Na­tional­staates und die pro­pa­gier­te nationale Identität in en­gem Zusammen­hang mit den Herr­schaftsinteres­sen der La­dino/as stand und steht.

Die Geschichte ethnischer Machtkonstellationen

Waren es in der Koloni­alzeit Spa­nier und deren Nachfahren, die sogenann­ten Criollos, die die ge­sell­schaftliche Vormacht inne­hat­ten, so begann sich dies mit der Unabhängigkeit Guatemalas 1821 zu verän­dern. Zunächst dran­gen vor allem europäische Ein­wan­derInnen in die traditio­nelle Machtstruktur ein, mit Be­ginn der liberalen Herr­schafts­periode und dem Auf­schwung der Kaffee­wirtschaft ab 1870 er­kämpf­ten sich die “Misch­lings­be­völkerung” und IndianerInnen, die den Bezug zu ihrer Kultur ver­loren hatten – die soge­nannten Ladinos oder Mestizos – ihren Platz im gua­temaltekischen Macht­gefüge. Zwar waren die bei­den Gruppen in der Ko­lo­nial­zeit und in der Pe­riode der frü­hen Unabhän­gigkeit genauso dis­kri­mi­niert und aus­gegrenzt wor­den wie die indiani­sche Be­völ­ke­rung, sie konnten sich aber im Verlauf des vergan­genen Jahr­hun­derts in den länd­lichen Gebieten, in denen sich die “Weißen” kaum blicken lie­ßen, eine Vormachtstellung erarbei­ten. Mit der sich ausbrei­tenden Plan­tagenwirtschaft über­nahmen sie eine wich­tige Brüc­ken­funk­tion. Sie wurden zu An­werbern von billigen Arbeits­kräften in den indianischen Gemein­schaf­ten, zu Landverwal­tern oder manchmal auch zu Land­be­sit­zern und damit zum wichtigsten Element des Zwangs­ar­beits­sy­stems sowie der Inte­res­sen­ver­tre­tung des Staates und der Kaffeeoligarchie in den indiani­schen Gebieten.
Während in den anderen mit­tel­amerikanischen Län­dern der Begriff “Ladino” zum Ende des letz­ten Jahr­hunderts durch “Mestizo” ersetzt wurde, bekam er – so die US-amerikanische An­thropologin Carol Smith – in Guatemala eine neue Bedeutung: Un­terdrücker in den indianischen Gebie­ten des westlichen Hoch­lan­des oder heimatloser Wander­ar­beiter in den Städten oder an der Südkü­ste. Es formte sich jene eth­nische Grenzziehung heraus, die in Guatemala bis heute Be­stand hat. Auf der einen Seite eine extrem heterogene ge­sell­schaft­li­che Gruppe aus Nach­fah­ren spanischer Eroberer, Ein­wan­derInnen und Ladi­nas/os, auf der anderen die indianische Be­völ­ke­rungs­mehrheit. Der Be­griff “Ladino” entwickelte sich dabei im 20. Jahrhundert zu ei­nem Synonym für die ge­samte gesell­schaft­lich do­minierende Gruppe. Auch wenn sich viele europäi­sche Nachfahren bis heute da­ge­gen wehren, als La­dino/as bezeichnet zu wer­den – sie betrachten sich als “Weiße” – hat sich der Be­griff im allgemei­nen Sprachgebrauch durchge­setzt. Zusammengehalten werden sie von einer ge­meinsamen Defi­ni­tion als “nicht-indianisch”, dem Glauben an die guatemal­tekische Nation und an die Auf­recht­er­hal­tung ihrer ge­sellschaftlichen Macht­po­sition. Es entstand damit jene unglück­selige Glei­chung Ladino + Macht + Unter­drückung = Staat + Nation, der sich die india­nische Bevölkerung seit langer Zeit gegenüber sieht.

Indígenas und Nation

Der Staat propagierte seine Politik nach dem Motto: Wer in unser natio­nales Boot will, muß sich anpassen. Dieser Homoge­ni­sierungs- und Assimilie­rungs­an­spruch stand jedoch im offenen Widerspruch zu einer Pra­xis, in der die in­dianische Bevölkerung als billige, ausbeut­bare Masse eingeplant war. Daß sich diese mit einem solchen Staatsgebilde nicht identi­fizieren konnte, liegt auf der Hand: Der gua­temalte­kische Nationalstaat hatte ihnen nie etwas anderes zu bieten als Unterdrückung, Aus­beu­tung und Raub. An­fang des 20. Jahrhunderts hatten die in­dia­ni­schen Ge­mein­schaften et­wa die Hälfte des Landes ver­loren, das noch während der Ko­lo­nial­zeit in ih­rem Besitz war. Da­her hatte die india­nische Be­völ­ke­rung auch nie ir­gend­welche Er­war­tung­en oder An­sprü­che an den Na­tio­nalstaat – aus­ser, daß er sie in Ruhe läßt.
Dies änderte sich erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhun­derts. Die kurze demokratische Phase zwi­schen 1944 und 1954 und vor allem die folgenden “Modernisierungsbestrebungen” ge­genüber der ländli­chen Bevöl­ke­rung verän­derten die Bezie­hun­gen zwischen Staat und indiani­scher Bevölkerung. Ironie der Geschichte: Gerade die auch als “vorbeugende Aufstandsbe­kämpfung” ge­planten ländlichen Ent­wicklungsmaßnahmen wie Ko­ope­rativenprojekte oder kirch­li­che Bewußtseinsar­beit ver­än­der­ten bei einem Teil der indianischen Be­völkerung ihre Ein­stellung zum Nationalstaat. Sie be­gann soziale und ökonomi­sche Forderungen an den Staat zu stellen. Dieser Prozeß mün­dete Ende der 70er Jahre schließlich in eine offene Unter­stüt­zung der revolutionären Be­we­gung durch große Teile der in­dianischen Bevölkerung. Die re­volutionäre Bewe­gung war zwar nicht aus der indianischen Be­völke­rung heraus erwachsen, viele Mayas sahen darin aber eine Chance zur grundlegenden Ver­besse­rung ihrer Lebensum­stände. Zum ersten Mal in der Ge­schichte Guatemalas hatte sich damit ein größe­rer Teil der in­dianischen Bevölkerung einer natio­nalen Bewegung ange­schlos­sen, die sich eine grundle­gen­de Veränderung des Staates auf die Fahnen geschrieben hatte. Sie wa­ren zu Akteuren auf natio­naler Ebene geworden. Ge­rade diese Allianz über die ethni­sche Grenze hinweg mit anderen gesellschaftli­chen Gruppen wie ökono­misch ausgebeuteten Ladi­nas/os, StudentInnen, städ­tischen Ge­werkschafts- und Volks­or­ga­ni­sationen war es, die die herr­schenden Machtverhält­nisse ernst­haft in Frage stellte. Die in­dia­nische Bevölkerung wurde al­ler­dings zum Hauptziel der Auf­standsbekämp­fungs­maß­nah­men.
Mit der Beendigung des be­waff­neten Konfliktes im Dezem­ber 1996 beginnt sich Guatemala lang­sam aus der politischen Er­star­rung zu lösen, die das Land fast 20 Jahre lang be­herrschte. Heute geht es um die Frage: Wie muß die Nation aussehen, mit der sich alle in Guatemala le­ben­den Bevölkerungsgrup­pen iden­ti­fi­zieren können? Dazu gibt es sehr verschie­dene Meinungen und Szenarien. Es ist zu beob­ach­ten, daß Mayas in dieser Dis­kus­sion mit durchaus unter­schied­lichen Stand­punkten kräf­tig mitmi­schen. Die Initialzün­dung lieferte das Indígena-Ab­kommen. Während die meisten Maya-Organisatio­nen sich dieses Ab­kommen zu eigen machen, es studie­ren, verbreiten, damit ar­bei­ten, ihre Forderungen und politischen Perspekti­ven daraus ableiten, scheint die Mehrheit der Ladinos der Auffassung zu sein, daß dieses Abkommen sie nicht betreffe. Die Soziologin Marta Casaus stellt dazu fest, daß die guatemalteki­sche Gesell­schaft eine “überaus rassistische ist, die sich in einer langsamen Metamorphose von einer biolo­gi­stischen Sichtweise zu einem Selbstverständnis unter kul­tu­rel­len Gesichts­punkten” befin­det. Weiter meint sie: “Im Indí­gena-Abkommen ist erstmalig die Exi­stenz dieses rassisti­schen Staates anerkannt worden”, und fordert die Ladinas/os dazu auf, “unsere Position als Ladi­nos neu zu bewerten und danach mit an­deren darüber (zu) diskutieren, mit wem und wie wir ein multikul­turelles, pluriethnisches Land aufbauen. Wir haben gar keine Basis, um ein einheitliches Land aufzu­bauen, das wäre künst­lich.” Allerdings sind sol­che Meinungen bis heute die Aus­nahme unter der ladini­schen Be­völkerung.

Verkrustungen und Abwehrkämpfe

Die traditionell herr­schenden Sektoren unter den Ladinos – dazu gehören große Teile der Regierung und viele Militärs – lehnen solche Po­si­tio­nen rundweg ab und torpe­dieren das Indígena-Abkommen. Sie wol­len dessen Umsetzung ver­hin­dern, da sie ihre bislang pri­vi­le­gierte Position ge­fährdet sehen.
Das Argument, auf das sich die herrschenden La­dinos zur Ver­teidung ihrer Position bezie­hen, ist para­doxerweise das Recht auf Gleichheit für alle. Kürz­lich brachte ein konservati­ver Abgeordneter im Par­lament einen Entwurf für ein Anti-diskri­minierungs­gesetz ein, nach dem “niemand als Person oder als ethnische Gruppe vor dem Ge­setz diskriminiert, bevorzugt oder besonders behandelt werden darf”. Solche Initiativen werden von vielen Mayas als An­griff be­trach­tet. Juan León von der Defensoria Maya meint dazu: “Wenn wir von unseren Rechten reden, sa­gen sie: ‘Das geht nicht, vor dem Gesetz sind wir alle gleich.’ Sie verdrehen die Argu­men­tation und recht­fertigen da­mit ihr diskrimi­nierendes Ver­hal­ten. Sie meinen, daß die Anerken­nung von Indígena-Rechten gleichzeitig eine Dis­kri­mi­nierung von anderen Völ­kern bedeute. Sie fühlen sich unterlegen, weil deut­lich wird, daß sie selbst nur sehr wenige eigene Werte haben. Aber das ist nicht unser Problem.” Den Vor­wurf von ladinischer Seite, die Mayas wollten jetzt den Spieß umdrehen und sich für die erlit­tenen Unge­rechtigkeiten rächen, weist er zurück: “Unsere Prinzi­pien sind nicht ausgren­zend. Diese Ängste müssen sie über­winden”.
Trotzdem sehen sich viele Ladinos/as durch die For­de­rungen der Maya-Organisatio­nen in ih­ren “Rechten” bedroht und beharren umso stärker auf der Gleichheit aller vor dem Ge­setz. Weit verbrei­tet ist unter ih­nen auch die Meinung, die Ma­yas seien diejenigen, die ihre Identi­tät und ihre Position zum Nationalstaat klären müß­ten, die Positon der Ladi­nas/os sei klar und bedürfe keiner Diskussion. Dahin­ter steht die Überzeugung, die Ladinas/os seien die “wahren GuatemaltekIn­nen”. Indirekt ist damit die alte ladinische Forde­rung an die Mayas verbunden, sich zu assimilieren. Gustavo Palma erklärt diese Situation damit, daß die guatemaltekische Ge­sellschaft weiterhin hoch­gra­dig autoritär und rassi­stisch geprägt sei. Solange viele Ladi­nos für sich die Bezeichnung “Mestize” zu­rückwiesen, weil die­se für sie ein Eingeständnis der Tatsache sei, daß sie in ih­rer Herkunft auch indiani­sche An­teile haben, sei auch die Aner­ken­nung der kulturellen und eth­ni­schen Vielfalt, von Indígena-Rechten extrem schwierig. Unter der Hand gelte das Thema der multikulturellen Gesellschaft als “gefährlich” und werde deshalb abgewehrt.

(K)Eine Bildungsreform

Die derzeitige Regierung ver­folge, erläutert Palma, eine dop­pel­bödige Strate­gie. Einerseits habe sie mit dem Friedensschluß den neuen Diskurs von der “Viel­falt in der Einheit” über­nom­men. Gleichzeitig benutze sie aber weiterhin den mehr als ein­hundert­jährigen Diskurs vom ho­mogenen Nationalstaat Gua­te­ma­la: “Guatemala den Gua­te­mal­te­ken” und “Wir sind alle Guatemalte­ken”. Dieser zweite Dis­kurs ist offensichtlich der weitaus stabilere, er ist fest im Denken verwurzelt und wird sich wahrscheinlich noch lange hal­ten. So wi­dersprechen nach Palma beispielsweise die der­zei­ti­gen Maßnahmen im Bil­dungs­be­reich im Grunde den In­halten des Indígena-Abkom­mens. Hier sei ab­zulesen, daß die Regierung die alte, homogenisie­rende Linie wei­ter verfolge und nicht ernst­haft an Refor­men im Sinne einer neuen nationalen Vi­sion der “Viel­falt in der Einheit” in­te­res­siert sei. Als Basis der jetzt betriebenen Maß­nahmen be­schreibt er das Bildungspro­gramm Educación para la Paz (“Erziehung für den Frie­den”). Dieses berücksich­tige aber die Themen Zu­sammenleben, Re­spekt vor den anderen, Toleranz, eth­nische Vielfalt überhaupt nicht. “Im Indígena-Ab­kommen steht, Rassismus und Diskrimi­nie­rung müs­sen bekämpft wer­den. Aber diese eliminiert man nicht einfach so per Dekret. Das wäre absurd. Es ist ja schön, es als großes, allge­meines Ziel für das ganze Land zu formulieren – aber wie das erreichen? Im Bil­dungs­bereich könnten Wege auf­ge­zeigt werden, aber wenn wir sehen, was die Regierung hier macht, wird die Diskrepanz zwi­schen Diskurs und Praxis deut­lich. Bis heute versucht die Regierung einzig und allein, die homogenisie­rende Vision auf­recht zu erhalten.”
Er berichtet von dem von der Präsidentengattin per­sönlich ge­förderten Projekt Libres y Tri­unfadores (wörtlich: “Freie und Sieg­reiche”), das kürzlich in den staat­lichen Schulen zur Förde­rung der Moralerzie­hung von Ju­gend­lichen eingeführt wurde: “Das Programm geht davon aus, daß alle von Gott geschaf­fen wur­den und deshalb gleich sind. Ein schreckli­ches, autoritäres Prinzip, das den Anschein er­weckt, alles andere zähle nicht. Er­reichen wollen sie zweier­lei: in der Primarstufe Ge­horsam, in der Sekundar­stufe Keuschheit. Damit wollen sie Schafe erzie­hen, ohne Fähigkeit zur Kritik – in allen staatlichen Sekun­dar­stufen arbeiten sie be­reits damit.”
Obwohl im Indígena-Ab­kom­men die Bildung ei­ner Ko­mis­sion zur Erar­beitung von Bil­dungs­re­formen im Sinne einer multikulturellen, plurieth­nischen und vielsprachigen Nation Gua­te­mala verein­bart wurde, die ihre Arbeit allerdings noch gar nicht begonnen hat, verkündet die Vize-Bildungsministe­rin, die Bil­dungsreform in Guatemala sei zu 80 Pro­zent abgeschlossen. Gegen diese Politik der schönen Worte und der gleichzeitig voll­en­deten Tatsachen müssen sich die Maya-Or­ganisationen be­haup­ten, die ihr Recht auf Unterschied­lichkeit einfordern. 120 Maya-Organisationen ha­ben ihr Interesse an einer Mitarbeit zur Formulierung der Bildungs­reform bekun­det, von Seiten der Regie­rung liegen dagegen noch keine Vorschläge über die Beset­zung eines entspre­chenden Gre­miums vor. Gustavo Palma dazu: “Das zeigt das enorme Interesse der Mayas, diesen Gestal­tungs­raum auszufüllen. Die Re­gie­rung, die Ladinas/os hingegen ignorieren diesen, weil nur die homogenisie­rende Sicht repro­duziert werden soll. Das wird sehr bald zu Problemen führen, weil die Mayas dabei sind, kon­krete Vorschläge aus­zuarbeiten, die Regierung hingegen darauf überhaupt nicht vorbereitet ist. Man kann daraus schließen, daß es von Seiten der Regie­rung über­haupt keine Be­reitschaft gibt, das Indí­gena-Abkommen um­zuset­zen. Die Regierung hat die­ses Abkommen aufgrund in­ter­nationalen Drucks un­ter­zeich­net, nicht aus in­haltlicher Über­zeu­gung.”

“Vielfalt in der Einheit” vs. “Wir sind alle Guatemalte­ken”

Obwohl die Strategien des Kampfes, die themati­schen Schwer­punkte und ideologischen Aus­gangs­punkte der in der Koordi­nation COPMAGUA (Co­or­dinación de Organi­sa­cio­nes del Pueblo Maya de Gua­te­mala) zu­sammen­geschlossenen Maya-Or­ga­nisationen sehr unter­schied­lich sind, ver­bindet sie die hi­sto­ri­sche Erfahrung der Aus­gren­zung, Diskriminierung, Re­pres­sion und des Wider­standes. All­er­dings inter­pretieren die in COP­MA­GUA zu­sam­men­ge­schlos­senen Grup­pen die jüngere Ge­schichte Guatemalas auf sehr ver­schie­dene Art und Weise. Zwei Hauptströ­mungen lassen sich unter­scheiden, die beide, bei al­ler Differenz, als wichtigste For­derung das Recht der Mayas auf Unterschied­lichkeit for­mu­lie­ren und diese auch gemeinsam tra­gen.
Die eine Fraktion bilden die Mayas innerhalb der Volksorga­nisationen und der Guerilla na­he­ste­hende Indígenas. Diese geht da­von aus, daß der bewaff­nete Kampf zwar keine wirklichen Lösungen für die Probleme der Indígenas in puncto Ausgren­zung, Diskriminierung und öko­no­mischer Ungleichheit gebracht habe, jedoch eine wichtige Phase im Kampf gewesen sei. Ihr Hauptar­gument: Wenn auch das ur­sprüngliche Ziel einer grund­legenden sozialen Umgestaltung der gua­temaltekischen Gesell­schaft nicht erreicht werden konnte, so ist dennoch festzu­halten, daß es ohne den bewaff­neten Kampf auch kein Indígena-Ab­kommen gäbe, mit dem jetzt alle Maya-Organisa­tionen poli­tisch arbeiten können. Trotz aller Kritik an der ladinisch dominier­ten Guerilla-Führung und daran, daß der Kampf der URNG auf die Änderung der ökonomischen Situa­tion ausgerichtet war und die der kulturellen Verhält­nisse auf einen späteren Zeitpunkt ver­schoben wurde, sieht dieser Flü­gel die Erfahrungen aus dem bewaffneten Kampf als wertvoll an. Viele derer, die diese Posi­tion vertreten, beteiligten sich – zumindest zeitweise – direkt oder indi­rekt als UnterstützerInnen an diesem Kampf und blic­ken auf diesen als einen wichtigen Lern­prozeß zu­rück, auf dem sie ihre heu­tige Arbeit fundieren.
Ein Vertreter dieser Fraktion innerhalb des Maya-Spektrums ist Juan León von der Defensoria Maya: “Es lag vielleicht am hi­sto­rischen Zeitpunkt, daß die In­dígena-Frage nicht konsequent ver­folgt wurde. Aber wir haben an der Formulierung der Abkom­men mitgearbeitet und sowohl Regierung als auch URNG haben Flexibilität gezeigt, indem sie gdas Pro­blem des Rassismus und die Forderung nach Mul­ti­eth­ni­zi­tät anerkannt ha­ben. Das war ein großer Fortschritt, da gibt es kein Zurück mehr. Jetzt müssen wir uns überlegen, wie wir den plurikulturellen Staat wollen, als Zukunftsvision. Das ist für mich zwar ein Traum, der noch weit ent­fernt ist, aber wir müssen jetzt damit anfangen, un­sere kol­lek­ti­ven Erfahrun­gen aufzugreifen, denn Identität ist kollektiv. Un­ser Vorschlag ist, die Viel­falt zur Grundlage der neuen Nation zu machen. Erst einmal soll jede Grup­pe ihre Po­sition fin­den. Dann können wir in einen Dialog tre­ten und ge­meinsam sehen, was wir daraus machen. Die Iden­tität zu stärken, ist be­reichernd für beide Seiten, denn auch viele Ladinos wurden durch die Repres­sion und Milita­ri­sie­rung in ihren Prozessen be­hin­dert. Ein Widerspruch zwi­schen ethnischer und nationaler Iden­ti­tät besteht doch nur für die Mächtigen. Sie be­harren auf der Idee, alle GuatemaltekInnen seien gleich, um die Vielfalt nicht anerkennen zu müs­sen.”
Die andere Strömung in­ner­halb von COPMAGUA lehnt den be­waffneten Kampf voll­ständig ab und vertritt die Mei­nung, daß der Krieg nie die Sa­che der Mayas gewesen sei. Viel­mehr seien die Mayas im Bürgerkrieg von beiden Seiten in gleicher Weise mißbraucht wor­den. Ihre For­derungen begründen sie in erster Linie ethnisch-kul­turell. Einer der re­nommiertesten Ver­tre­ter dieser Gruppe ist De­metrio Cojtí. Auch er macht das Recht auf Unterschiedlich­keit zum Aus­gangspunkt seiner For­de­run­gen: “Danach können wir nach den Gemeinsamkeiten schauen. So wie momentan die Mode des In­terkul­turellen be­trieben wird, ist es für mich nur eine Fort­führung des Ethnozids: Nur das Gemeinsame wird be­tont und das ist in der Re­gel das Ladinische. Da ha­ben wir dann wieder die Dominanz. Die Anforde­rungen an Veränderun­gen werden nur an uns Mayas gestellt. Da gibt es kein Gleich­gewicht.”
Anhand dieser Aussagen wer­den die unterschiedli­chen Grund­po­sitionen deutlich. Wäh­rend Juan León die visionäre Zielvor­stel­lung einer plurikul­turellen Nation formuliert, ist für Cojtí Interkulturalität zur Zeit kein Thema. Pro­vozierend fügt letz­te­rer noch hinzu: “Es ist ja auch noch nicht geklärt, ob wir über­haupt mit den Ladinos in ei­nem ge­meinsamen Staat zusam­men­le­ben wollen.” Gerade diese Aus­sage ist Wasser auf die Mühlen jener Ladino/as, die, in die De­fen­sive ge­drängt, das Ende ihrer Vormachtstellung be­fürchten und den Teufel ei­nes Aus­ein­an­der­brechens des gua­te­mal­te­ki­schen Staates an die Wand malen. Zuweilen geisterte schon das Wort von “jugoslawischen Verhält­nissen” durch die Kom­men­tarspalten der Presse.

Ladinas/os sind gefordert

Sicherlich liegt in dem Thema großer Zündstoff, allerdings ver­laufen die Hauptkonfliktli­nien weiter­hin zwischen der indiani­schen Bevölkerung und der la­di­ni­schen Machtelite. Die näch­sten Monate werden zeigen, ob es ge­lingt, aus der bewaffne­ten Aus­ein­an­dersetzung in eine Phase überzuleiten, in der eine breite und Vertrauen schaf­fende, ge­sell­schaftliche Diskussion über die Zu­kunft der guatemalteki­schen Nation mög­lich ist. Eines jedoch dürfte klar sein: Ohne eine Anerken­nung des Rechtes auf Ei­genständigkeit und Unter­schied­lichkeit der Mayabe­völ­ke­rung geht nichts. Die Ladino/as sind hier gefor­dert.

KASTEN

Zu den im Artikel er­wähnten Personen:

Marta Casaus ist gua­te­maltekische Soziologin, Pro­fes­sorin an der Univer­sidad Au­tónoma in Madrid und Au­to­rin verschiedener Pub­li­ka­tionen über ladini­sche und nationale Identität in Guate­mala.
Demetrio Cojtí gilt als einer der Vordenker der Intel­lek­tuellen innerhalb des Teiles der Maya-Be­wegung, die ih­ren Kampf in erster Linie eth­nisch-kulturell begründet.
Juan León ist Mitbe­gründer von der Campesina/o-Orga­ni­sa­tion CUC und der Or­ga­ni­sa­tion zur Verteidigung der In­dí­genarechte Defensoria Ma­ya. León blickt auf eine lan­ge Ge­schichte des Kam­pfes von Mayas inner­halb der Volks­organisatio­nen zurück. Bei den Wah­len 1995 war er Vizeprä­sident­schafts­kan­didat der Oppo­sitionspartei FDNG.
Alfonso Monroy ist als Ver­treter der Widerstands­dörfer im Petén und der “Bera­ten­den Ver­sammlung der Ent­wur­zelten Bevölke­rung” Mit­glied der Komis­sion für Er­zie­hungsrefor­men in COP­MA­GUA und dort einer der we­nigen La­dinos.
Gu­sta­vo Palma ist Histo­ri­ker und forscht im Rah­men sei­ner Tätigkeit am Sozial­for­schungs­institut AVANC­SO seit einigen Jahren zu Fra­gen nationaler Identität in Gu­a­te­mala.

Quo vadis?

Tiefe Seufzer und gequälte Augenaufschläge waren die wie­derholte Reaktion auf meine Frage an verschiedene namhafte “Lin­ke”, wer heute “die Linke” in Guatemala und welche ihre Per­spektive sei. Das gemeinsame La­mento der URNG-Angehöri­gen, der “DissidentInnen” und der schon immer Unabhängigen ist, daß “die Linke” mit Aus­nah­me derjenigen, die sich unter dem Dach der Ex-Guerilla URNG wiederfinden, auf viele Klein­gruppen verteilt bzw. nicht organisiert ist. Auch fehle ihr eine gemeinsame Position oder gar Strategie angesichts der neo­liberalen Durchmarschpläne, mit denen die Regierung in die Nachkriegszeit zieht.
Aber Kla­gen beiseite, es gibt sie, die Linke. So gehört es zur neuen Konjunktur nach den Frie­dens­abkommen, daß in Zei­tungs­ko­lumnen, in neugegründeten Zeit­schriften und gutbesuchten Po­di­umsdiskussionen über eben die­se Fragen debattiert wird. Zwi­schen zurückgekehrten URNG-Kadern, schon länger heim­gekehrten Dis­sidentInnen, jun­gen AktivistIn­nen und denen, die irgendwie die Repres­sions­jah­re im Land über­standen ha­ben, hat ein Prozeß der Be­geg­nung, des Kennenler­nens und Wie­dererkennens be­gon­nen, der ne­ben den öffentli­chen Schau­plä­tzen in vielen pri­vaten Zu­sammenhängen stattfin­det.
Die gegenseitige Vermittlung von zehn, fünfzehn, zwanzig Jah­ren unterschiedlicher Erfah­run­gen, das Anhören anderer Wertungen über vermeintliche Erfolge oder Niederlagen wäh­rend der Kriegsjahre und die gemeinsame Trauer um verlo­rene FreundInnen und Angehö­rige brauchen ihre Zeit. Nicht immer enden sie harmonisch. Auch die Zersplittertheit der Linken am Rande der URNG selbst ist ein Produkt des 36jährigen bewaffneten Kon­flikts. Des­sen Logik erstickte, so­zu­sagen bis vorgestern, jeden Versuch einer linken Formierung au­ßerhalb der URNG: Entspre­chend der allumfassenden Dok­trin des Aufstandsbekämpfungs-Staats verfolgten und vernichte­ten die repressiven Regimes alle An­sätze von Opposition.
Die URNG ihrerseits ak­zep­tier­te in­folge ihrer militärisch-po­liti­schen Macht­er­grei­fungs-Stra­te­gie keine Gruppie­rung, die au­ßerhalb oder innerhalb der ei­ge­nen Reihen ihren Avantgarde-An­spruch in Frage stellte. Im Lau­fe ihrer 15jährigen Existenz hat sie dies auf allen Ebenen vie­le Kader gekostet.

Vom Primat des Militärischen

“Die Praxis der URNG cha­rak­terisierte sich durch drei Ele­men­te: das Primat des Mi­li­tä­r­i­schen über die Poli­tik, die Aus­wei­tung der konspi­rativen Me­tho­den auf politische Ebenen, und die Notwendigkeit, andere po­litische Kräfte und so­ziale Or­ga­ni­sationen zu lenken und zu kon­trollieren. Der Blick durch die militärische Brille po­la­ri­sier­te die Sicht auf soziale und po­li­ti­sche Aspekte. Die ei­gene Kampf­form wurde verab­so­lu­tiert, und wer mit der Fort­füh­rung des bewaffneten Kam­pfes nicht einverstanden war, endete da­mit, als Gegner be­trachtet zu wer­den. (…) Abge­se­hen davon, daß diese einge­schränkte und sek­tiererische Sichtweise zur Auf­splitterung der Linken bei­ge­tra­gen hat, mach­te sie die realen Ver­bünde­ten sozusagen un­sicht­bar”, resü­miert Megan Thomas in einem Dis­kussionsbeitrag über die Zu­kunft der Linken in der neu­en Zeitschrift Aportes.
All die “Ehe­maligen”, so ihre Schluß­folgerung, stellen jedoch ne­ben den vielen, die in URNG-un­ab­hängigen Strukturen in der ei­nen oder anderen Weise für so­zi­ale Veränderungen, Ent­mili­ta­ri­sie­rung und reelle De­mo­kra­ti­sie­rung gearbeitet haben, ein gro­ßes Potential dar. Mit grö­ße­rem Bündnisgeschick und -wil­len als bisher könnte dies in ei­nem neuen linken Projekt zu­sam­men­gebracht werden: “Not­wen­dig ist eine wirkliche De­mo­kra­ti­sie­rung der politischen Praktiken der Linken. Unser Diskurs über De­mokratie, Respektierung der Viel­falt und Verschiedenheit ver­liert angesichts von Prakti­ken, die dem tagtäglich wider­spre­chen, an Glaubwürdigkeit.”

Die URNG konstituiert sich als Partei

Ohne Zweifel ist die URNG wei­terhin die bedeutendste Kraft im Lager der guatemaltekischen Linken. Ihre Mitgliedsorganisa­tionen haben sich in den ersten drei Monaten des Jahres sukzes­sive aufgelöst und damit den Pro­zeß des Parteiaufbaus einge­lei­tet. Über die zukünftige Partei ist bisher wenig Konkretes durch­gedrungen. Auf einer De­legierten-Vollversammlung in El Sal­vador im März wurde – Ver­laut­barungen zufolge ohne Pro­porz­rücksichten auf die Stärke der einzelnen URNG-Mitglieds­or­ganisationen – ein 15 köpfiger “Pro­visorischer Nationalrat” ge­wählt, dem die bisherige Gene­ral­kommandantur der URNG vor­steht.
Ein Parteiprogramm und die Sta­tuten werden zur Zeit aus­ge­ar­beitet und sind somit bis­lang nicht veröffentlicht. Be­kannt ist aber, daß es eine offene Massen­partei werden soll, wenn­gleich sich die Struktur zunächst na­tür­lich auf die bisherigen Kämpfer­Innen der URNG stüt­zen wird. Über Allianzen – so Miguel An­gel Sandoval, ehema­liges Mit­glied der Politisch-Di­plo­ma­ti­schen Kommission der URNG und weiterhin Kader der URNG – wer­de man sprechen können, wenn es Gruppen neben der URNG gibt, mit denen Bünd­nis­se möglich sind. Bisher sehe er nur einen verstreuten Haufen klei­ner Grüppchen. Eine Aus­nah­me bilde die Partei der De­mo­kratischen Front Neues Gu­a­te­mala FDNG (Frente De­mo­crá­ti­co Nueva Guatemala), mit der ein strategisches Bündnis ge­sucht werde.

Klarheit tut not

Schwer behindert wird der Weg zur offiziellen Parteikon­stituierung dadurch, daß Rodrigo Asturias, Ex-Kommandant Gas­par Ilom der ORPA (der URNG-Teilorganisation Organi­zación Re­volucionaria del Pue­blo en Ar­mas, Revolutionäre Or­ga­ni­sa­tion des bewaffneten Vol­kes) und Mitglied des Provisori­schen Na­tionalrats, bislang nicht nach Guatemala zurückgekehrt ist. Grund dafür ist die Entfüh­rungs-Affaire vom Oktober ver­gan­genen Jahres, die weiterhin un­an­genehme Wellen schlägt.
Zur Erinnerung: Im Laufe des ver­gangenen Jahres entführte ein nach ORPA-Lesart autonom agie­rendes Kommando von ORPA-Mitgliedern die Industri­el­len-Greisin Olga de Novella. Die Aktion endete mit der Fest­nahme des Kommando-Verant­wortlichen Rafael Baldizón alias Comandante Isaías, der nach dis­kreten Verhandlungen auf höch­ster Regierungs- und URNG-Ebe­ne im Austausch ge­gen die Ent­führte freigelassen wur­de. Als die Ultrarechte die ganze Ge­schichte ans Tageslicht zerrte, kam es zum Abbruch der Frie­dens­verhandlungen, bis Ro­dri­go Astu­rias mit seinem Rück­zug vom Verhandlungstisch die Fort­set­zung ermöglichte.

Stillschweigen über ein unschönes Detail

Inzwischen wurden der Presse Informationen zugespielt, daß sei­nerzeit nicht nur Comandante Isaías festgenommen wurde, sondern noch ein weiteres URNG-Mitglied, Juan José Ca­brera Rodas alias Mincho. Min­cho wurde offenbar nach der Festnahme zu Tode gefoltert, und offensichtlich war es Teil der diskreten Austauschvereinba­rung zwischen Regierung und URNG, über dieses häßliche Detail Stillschweigen zu wahren. Als nun in den Zeitungen die er­sten Fragen über den Verbleib von Mincho gestellt wurden, lie­ßen sich Regierung und URNG/ ORPA zu bizarren und teilweise makabren Erklärungen hinrei­ßen, in denen sie die Exi­stenz dieser Person negierten. Ange­sichts der Ergebnisse erster Nachforschungen, die die UNO-Mission für Guatemala MINU­GUA auf Antrag von Familien­angehörigen durchführte, sind solche Äußerungen jedoch nicht länger möglich. Erklärungen beider Seiten stehen aus.
Die politische Bedeutung die­ses Vorfalls ist vielschichtig. Ein­deutig werden die Informa­tionen, wie schon zu Beginn des Entführungsskandals, gemäß dem Zeitplan und Kalkül der Hardliner-Fraktion aus den Rei­hen der Armee und der ultra­rech­ten Oppositionspartei FRG (Fren­te Republicano Guatemal­te­co) gestreut. Sie sind scharfe Muni­tion, gegen den Präsidenten und sein Kabi­nett, im anhalten­den Macht­kampf in­nerhalb der Ar­mee und zur Diskreditierung der URNG. An dieser Stelle will ich mich auf die Konsequenzen für die URNG beschränken.

Politischer Schaden für die URNG

Ro­dri­go Asturias, der URNG-Kom­man­dant mit dem stärksten Cha­risma und der meisten Poli­tik­erfah­rung, galt als sicherer Prä­sident­schaftskandidat und po­li­tische Leitfigur der künftigen Par­tei. Der Entführungsfall in all seinen Facetten ist daher für die Rechte auch innerhalb der regie­ren­den “Partei des Nationalen Fort­schritts” (PAN) ein reichhal­tiges Arsenal, um ihn als politi­sche Figur völlig in Verruf zu brin­gen. Gleichzeitig hat dieser Fall eine zersetzende Wirkung in den Reihen der URNG und der ehe­maligen ORPA selbst: Die an­de­ren URNG-Mit­glieds­or­ga­ni­sa­tionen werden es irgendwann mü­de sein, die eklatanten politi­schen Fehler der ORPA mitzu­be­zah­len. Und auch unter den ORPA-Mitgliedern ist Unmut zu hö­ren über die Linie der Füh­rung, die nicht nur Co­mandante Isa­ías verleugnete, sondern of­fen­sichtlich auch dem zu­stimm­te, daß die Folter und Er­mordung ei­nes ihrer Kamera­den ungestraft bleibt. All diese un­schönen De­tails erfahren einfa­che URNG-Mit­glieder wie an­dere auch aus der Tagespresse. Das hat nicht ge­rade einigende Wirkung.
Auch die Demobilisierung der Ex-KämpferInnen, die inzwi­schen abgeschlossen wurde, birgt Un­sicherheitsfaktoren für den künf­tigen Zusammenhalt der URNG. Für viele GenossInnen wa­ren deren konkrete Umstände ein bitteres Erwachen. Beim Ver­lassen der Demobilisie­rungs­la­ger erhielten sie drei Mo­nats-Schecks in Höhe von insge­samt 3.780 Quetzales (rund 635 US-Dol­lar) als dreimonatiges “Aus­bil­dungs-Stipendium”, dazu je 30 Quetzales (5 US-Dollar), für die Busfahrt vom Ende des Sam­mel­transports zum An­kunftsort. Über Inhalt, Ort und Kon­di­tio­nen der Fortbildungs­kurse konn­te mir in drei Lagern kei­neR der “Be­günstigten” Aus­kunft geben. Es gibt lediglich vage Aussichten auf weitere Exi­stenz­grün­dungs­hil­fen, ungefähr in Höhe des ge­nann­ten Stipendi­ums. Über die Fru­stration und Zukunftsangst in den Reihen der Demobilisierten kann sich ange­sichts dieser Um­stän­de jedeR eine eigene Vor­stellung machen – noch herrscht al­lerdings eine bewundernswerte Dis­ziplin und Vertrauen in die Füh­rung vor.
Es wäre ein Mißverständnis, die­se Darstellungen als Rundum­schlag gegen die URNG zu in­terpretieren. Ein ebensolches Mißverständnis wäre es, die Ge­neralkommandantur mit der URNG gleichzusetzen, oder das eine auf das andere zu reduzie­ren. Während der ersten drei Monate ihres “öffentlichen Le­bens” in den Demobilisierungs­lagern wurde deutlich, daß die jeweiligen Guerillaverbände in der Bevölkerung der Umgebung verankert waren und große Achtung genießen. Ebenfalls traten die zahlreichen Kader auf mittlerer Ebene ans Licht der Öf­fentlichkeit.

Gehversuche als (parla­mentarische) Opposition

Nun werden sie Gelegenheit ha­ben, ihre politi­schen und mensch­lichen Füh­rungs­qua­li­tä­ten im zivilen Rah­men ein­zu­se­t­zen. Die URNG stellt ein großes po­litisches Po­tential dar. Ihre Füh­rung wird hoffentlich in der La­ge sein, den schwierigen Über­gangsprozeß von der klan­de­st­inen, militäri­schen Grup­pie­rung zur offenen, poli­ti­schen Or­ga­nisation zu lei­ten und da­bei Raum für eine neue Führ­ungs­ge­ne­ration und Allianzen zu öf­f­nen.
Ende April, anläßlich der er­sten Bilanz zur Umsetzung der Frie­densabkom­men auf Regie­rungs­seite, gab die URNG ihr De­but als zivile poli­tische Oppo­si­tion. Viel beachtet von links und rechts, kritisierte sie die neo­li­berale Wirtschafts­politik der Re­gierung und präzi­sierte ihre ab­lehnende Haltung gegenüber der Privatisierung grundlegender staat­licher Dienst­leistungen, nach­dem Rodrigo Asturias die Ge­werk­schaften mit einer pri­va­ti­sie­rungsfreundlichen Äu­ße­rung von Mexiko aus ver­ärgert hatte. Die Erfüllung der Frie­dens­ab­kom­men ist derzeit der einzig prä­zise Bezugsrahmen für die Poli­tik der URNG. Nun gilt es ab­zuwarten, wann sie wieder ge­nug Luft ho­len kann. Dann muß sie konkre­tisieren, was sie meint, wenn sie sagt, daß die Ab­kom­men nur eine Mini­mal­ba­sis für die De­mokratisierung von Wirt­schaft und Gesellschaft sind.

URNG und FDNG – eine strategische Allianz

Eine weitere Unbekannte auf dem künftigen Weg der Linken ist die Zukunft der FDNG. In ih­rer Gründungsphase von einem wirk­lich breiten Bündnis linker In­tellektueller, Volksorganisa­tio­nen und KleinunternehmerIn­nen ge­tragen, konstituierte sie sich schließlich drei Monate vor den letz­ten Präsidentschafts- und Kon­greßwahlen im November 1995 als Ausdruck der mit der URNG sympathisierenden Volks­bewegung und konnte über­raschend als drittstärkste Par­tei des Landes mit sechs Ab­ge­ordneten in den Kongreß ein­zie­hen.
Nineth Montenegro, eine der FDNG-Abgeordneten, ge­steht in ei­nem Artikel über die Per­spek­ti­ven der Linken selbst­kritisch ein, daß die FDNG bis­lang kein brei­tes Bündnis, son­dern die Iz­quier­da Popular vertritt. Ihre po­li­ti­sche Zukunft hänge davon ab, Tei­le der ver­streuten linken Inte­llek­tuellen, der Frauen- und Indí­gena­bewe­gung und der Mittel­schicht zu gewinnen. Als Be­din­gungen da­für nennt sie, “das ei­ge­ne Haus in Ordnung zu brin­gen”, und das nächste Na­tio­nal­ko­mi­tee demo­kratisch zu wäh­len. Im gua­te­mal­te­kischen Kon­text heißen diese vor­sich­ti­gen Um­schreibun­gen, daß die Par­tei eine wirkliche Un­ab­hängigkeit von der URNG ge­win­nen muß, mit der im übri­gen eine stra­te­gi­sche Allianz an­ge­strebt wird.

Im Bündnis gegen Machtmonopole

Insgesamt ist zu beobachten, daß sich sowohl die URNG als auch die FDNG stark auf die nächsten Wahlen im Jahre 2000 konzentrieren. Sicher hat der Aufbau glaubwürdiger, demo­kra­tischer Wahloptionen eine nicht zu unterschätzende Be­deutung in einem derart abge­wirtschafteten politischen Sy­stem, in dem für die Einführung minimaler rechtsstaatlicher Prak­ti­ken die Waffen erhoben werden mußten. Er kann aber in die Sackgasse führen, wenn die Parteien nicht gleichzeitig daran arbeiten, zum offenen Sprach­rohr und Katalysator der zer­splitterten sozialen Bewegungen zu werden, ohne diese zu domi­nieren oder zu instrumentalisie­ren. Bündnisse zu schaffen und diesen im wohlverstandenen ei­genen politischen Interesse zu dienen, kann dabei durchaus als historische Bringschuld gesehen werden. Denn ausgehend von politischen Strömungskämpfen, die von URNG-Spaltungen aus­gelöst wurden, hat sich bei­spielsweise die Flüchtlingsbe­völkerung gespalten, in Ver­handlungsunfähigkeit gegenüber der Regierung manövriert, und nun verschleißt sie sich gegen­seitig im Ixcán (Grenzregion zu Me­xiko, in der viele Flüchtlings­rücksiedlungen entstanden sind; Anm. der Red.) zugunsten land­gieriger Öl-Firmen.
Gleiches gilt für die 300 Landbesetzungen von Bauern­or­ga­nisationen verschie­de­ner po­li­ti­scher Ausrichtung, die in allen Lan­des­teilen der Ent­faltung der Bündnisfähigkeit ih­rer Führer harren, damit sie nicht länger ein­zeln zu schlagen sind, sondern gemeinsam der Regie­rung Lösungen abtrotzen kön­nen.
Die Regierung ihrerseits be­setzte in den vergangenen Wo­chen fast unangefochten die Schlüssel­positionen verschiede­ner von den Friedensabkommen vor­gesehener Kommissionen mit ih­ren KandidatInnen: Dem Na­tio­nalen Frauen-Forum wurde ohne vorherige Konsultationen mit Aracelli de Conde eine Frau vor­gesetzt, die ihre Politikerfah­rung im Team des Putschisten Jorge Serrano gesammelt hat. Die Nationale Kommission zur Be­handlung der Agrarprobleme führt Luis Reyes Mayen an, ehe­ma­liger Präsident der Agrar­kammer, des Horts der reaktio­nären Unverbesserlichen. (Vor­läu­fig) ist es also so, wie der Ko­or­dinator der Bauern- und In­dí­gena­organisation KABAWIL in ei­nem Gespräch sagte: “… schwie­rig, gegen diese Manöver der Regierung anzugehen, so­lange wir nicht einmal in der Lage sind, gemeinsam eigene Ge­genkandidaten aufzustellen.”
Suche nach Einheit
Die gesamte Marschrichtung zur Umsetzung der Friedensab­kommen hängt daher von der Bündnis- und Handlungsfähig­keit einer Linken ab, die mehr als die URNG und FDNG um­fassen müsste. Die Ausgangsbe­dingungen dafür sind, trotz der geschilderten Probleme, günstig. Denn innerhalb und außerhalb der Hauptstadt ist eine Vielzahl von Initiativen entstanden, die mit viel Schwung damit begon­nen haben, die neu gewonnenen politischen Spielräume zu beset­zen. Lokale BürgerInnengruppen machen den Nachfolge-Instanzen der Zivilpatrouillen das bisherige Macht­monopol auf der lokalen Ebe­ne streitig und gewinnen Ver­handlungsfähigkeit gegen­über den politischen Parteien.
Frauen organisieren sich in ver­schie­densten Landesteilen und nehmen über Re­gio­nal­ko­or­di­na­tionen an den nationalen Fo­ren teil. Dieser Prozeß wird ge­ra­de auch von Indígena-Frauen ge­tra­gen und ist nicht nur in­te­res­sant und wichtig für die Her­aus­bil­dung einer Frauenbewegung auf nationaler Ebene, sondern hat ebenfalls frischen Wind in die Debatten der Indígena-Bewe­gung über die Interpretation von au­thentischer Kultur gebracht. Die Indígena-Bewegung selbst kon­solidiert nach und nach plu­rale, repräsentative Vertretungs­struk­turen und gewinnt Schritt für Schritt Stimme und Gehör auf nationaler Ebene.
Neue Ak­teure arbeiten an neu­en Themen und alle sind sich be­wußt, daß jede zukünftige Ver­änderung der Kräfte­ver­hält­nis­se im Land nur über Zu­sam­men­schlüsse gehen wird. In die­sem Zusammenhang ist es viel­ver­sprechend, wenn aus den Rei­hen der “alten” Akteure zu hö­ren ist, daß künftige Allian­zen nicht als ideologische son­dern als so­zi­ale Bündnisse ge­sucht wer­den sol­len. Im Mo­ment, und wohl ei­ne ganze Weile noch, ist Um­bruch- und Auf­bruch­stimmung an­gesagt, kön­nen von außen nur Fra­gen ge­stellt, aber keine Wer­tun­gen ab­gegeben wer­den.

Abschied von den Bergen

Den Beginn für die Waffen­abgabe und den Eintritt ins zivile Le­ben der URNG-Mitglieder stell­te der sogenannte Tag “D” (für Demobilisierung) dar. Die­ser Tag war zugleich Fixpunkt al­ler die Demobilisierung betref­fenden Maßnahmen und Zeit­punkt des definitiven Waffen­stillstands. Seit dem D-Tag, dem 3. März, überwachten 155 Blau­helme aus 17 Staaten den Frie­den. Die größten Kontingente kamen aus Spanien mit 43 Soldaten, Uruguay mit 20, Bra­silien und Kanada mit je 15; Deutschland war mit vier Mili­tärärzten an der Mission betei­ligt.

Sammeln für den Tag “D”

Den Einheiten der URNG blieben vor dem Tag “D” drei Wo­chen, um sich in den acht vorbe­reiteten Sammelpunkten einzu­finden. Die Gesamtzahl der Kämpfer und Kämpferinnen in­klusive ihrer Kinder lag mit 2959 un­ter der ursprünglich von der URNG angegebenen Zahl von 3614. Die Guerilla erklärte die­sen Umstand damit, daß viele aus Mißtrauen zunächst nur ihre Pseu­donyme angegeben hätten, wo­durch Doppelregistrierungen ent­standen seien. Desweiteren sei­en etwa 400 KämpferInnen nicht in den Sammelpunkten er­schie­nen, da sie sich entschieden hät­ten, direkt zu ihren Familien zu gehen bzw. bei ihnen zu blei­ben.
Die eigentliche Demobilisie­rung erfolgte in vier Etappen. Zu­nächst mußte die URNG ihre ge­samte militärische Ausrüstung mit Ausnahme der persönlichen Waf­fen bis zum Tag “D+42”, dem 14. April, den Vereinten Na­tionen übergeben, bzw. in be­reit­gestellte Container ablagern. Diese wurden durch zwei Schlös­ser gesichert – eines unter der Verantwortung der UNO, das an­dere unter der der URNG. Au­ßer­dem mußte die Guerilla bis zu die­sem Termin alle Waffenver­stecke bekannt gegeben haben. In drei weiteren Etappen von je­weils fünf Tagen gaben bis zum Tag “D+60”, also dem 2. Mai 1997, je ein Drittel der Kämpfe­rInnen ihre persönlichen Waffen ab.
Insgesamt handelte es sich nach Angaben der URNG um 1818 Schußwaffen, 100 Kilo­gramm Sprengstoff, 409 Minen, sowie eine nicht genannte Zahl von Mörsern und Raketen. Die Dis­krepanz zwischen Anzahl von KämpferInnen und Waffen schür­te Gerüchte, die Guerilla habe nicht alle Waffen abgege­ben. Zweifel gab es zum Bei­spiel. bei der Südfront Santos Salazar der FAR, die 150 Kämp­ferIn­nen zählte, jedoch lediglich 70 Waffen abgab.

Mehrstufige Demobilisierung

Verwiesen sei aber darauf, daß im August 1994 während ei­ner Militäraktion drei Mitglieder der FAR festgenommen und 600 Ge­wehre des Typs AK-47 si­cher­gestellt worden waren. Diese im Verhältnis zur Gesamtstärke der FAR und zur Anzahl der ins­ge­samt von der URNG abgege­be­nen Waffen nicht unerhebliche Men­ge, wurde von einem Kom­man­danten der FAR damit er­klärt, daß die Waffen für die Ge­samt­struktur der URNG gedacht waren und durch die Mili­tär­ak­tion der Guerilla ja auch nicht mehr zur Verfügung gestanden ha­ben. Sowohl der Chef der UNO-Mission in Gua­temala, Jean Arnault, als auch die gua­te­mal­tekische Regierung wider­sprachen denn auch den Speku­la­tionen, die Guerilla würde einen Teil ihrer Waffen zurückhalten.
Anläßlich eines Besuches von RepräsentantInnen ziviler Bau­ern- und Indígenaorganisationen im Lager der Guerillaeinheit Luis Ixmatá umriß Capitán Héc­tor in einer kurzen Rede die neu­en Aufgaben der URNG: “Nach 36 Jahren bewaffneter Ausein­an­der­setzungen beginnt eine neue Pha­se des Kampfes. Für den po­li­tischen Kampf und die Schaf­fung einer Partei, die sich grund­sätzlich von allen an­deren Par­tei­en Guatemalas un­terscheidet, ist es unabdingbar, zunächst eine große politische Einheit zu schaf­fen.”
Angegangen wurden die neuen Aufgaben zunächst in den internen Strukturen der URNG. Zur Überwindung der histori­schen Differenzen der Teilorga­nisationen wurde eigens eine “Ho­mogenisierungskommission” ge­schaffen. Zudem wurden im September 1996 in allen Gue­rillafronten “Politische Schulen” eingerichtet, in denen die Kämp­fer und Kämpferinnen seitdem Un­terweisungen in der neuen strategischen Ausrichtung der URNG erhalten. Den Kämpfe­rInnen wurden ihre möglichen zukünftigen Arbeitsfelder erläu­tert, die sich grob in zwei Berei­che unterscheiden lassen: In den politischen Kampf der URNG (Aufbau der Parteistrukturen, politische Allianzen, Wahlen, parlamentarischer Kampf) und in den Kampf des “organisierten Vol­kes” (Unterstützung von For­de­rungen auf lokaler Ebene wie Was­ser, Elektrizität etc. und so­zia­le Kämpfe auf nationaler Ebe­ne wie Gleichstellung der Frauen und Schaffung von Ko­ope­ra­ti­ven).

Wiedereingliederung in die zivile Gesellschaft

Im Februar diesen Jahres führte die URNG Interviews an allen Fronten durch. Anhand der Ergebnisse sollen Fortbildungs­maßnahmen, wie sie in dem Ab­kom­men über die Eingliederung der Guerilla vorgesehen sind, vor­bereitet werden. Zur Durch­füh­rung dieser Projekte und Pro­gram­me gründete die URNG eine Stiftung, über die interna­ti­o­na­le und nationale Hilfsgelder ka­na­lisiert werden sollen. Die Phase der Eingliederung der Guerilla in die Gesellschaft be­gann mit dem Tag “D+60”, dem 2. Mai, und endet ein Jahr später. In dieser Zeit sollen den ehema­ligen KämpferInnen ausreichend Verpflegung, Bildungspro­gram­me und Dienstleistungen ge­währ­leistet werden sowie die Ein­gliederung ins Arbeitsleben be­ginnen. Danach beginnt die Pha­se der definitiven Eingliede­rung, während der langfristige Lei­stungen, die von der Regie­rung angeboten werden sollen, in An­spruch genommen werden kön­nen. Dabei handelt es sich laut Abkommen um finanzielle Un­terstützung, technische, juri­sti­sche und berufliche Beratung, so­wie um Erziehungs-, Bildungs- und produktive Projekte. Diese sollen dazu dienen, “die Einglie­derung in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben des Landes unter den gleichen Be­dingungen zu gewährleisten, wie sie die restliche guatemalteki­sche Bevölkerung hat.”
Nach Meinung der Teniente (Leut­nant) Victoria der Frente Luis Ixmatá sind Schwierigkei­ten, wie sie in El Salvador nach Frie­densschluß aufgetreten sind, nicht zu erwarten. Ein großes Problem im südlichen Nach­bar­land sei die Gespalten­heit der re­vo­lutionären Organi­sationen in­ner­halb der damaligen FMLN ge­wesen. Diese hätte viel Un­zu­frie­denheit und Ungerech­tig­kei­ten verursacht. Die URNG hin­ge­gen sei sehr geeint und werde in dieser Hinsicht keine Pro­ble­me bekommen. Desweite­ren sei die Anzahl der URNG-Ange­hö­ri­gen geringer als seiner­zeit in El Sal­vador.
Alfonso Bauer Paiz, Wirt­schaftsminister der fortschrittli­chen Regierung Arbenz zu Be­ginn der fünfziger Jahre und heute juristischer Berater der im me­xikanischen Exil lebenden bzw. in den vergangenen Jahren zu­rückgekehrten guatemalteki­schen Flüchtlinge, äußerte sich in ähnlicher Weise: “Mit der Ein­gliederung der Guerilla wird es kei­ne Probleme geben, da es nicht sehr viele KämpferInnen sind. Im Gegensatz dazu wird es mit den Flüchtlingen große Schwie­rigkeiten geben, da allein aus Chiapas noch Tausende Fa­mi­lien zurückkehren werden.”

Landverteilung als Knackpunkt

Im Rahmen des Abkommens über die Eingliederung der URNG in die Gesellschaft ist keine direkte Landverteilung an ehemalige Kämpfer und Kämp­ferinnen der URNG vorgesehen. Dies ist ein substantieller Unter­schied zu den Vereinbarungen in El Salvador und auch gegenüber der Situation der guatemalteki­schen Flüchtlinge. Viele Kämp­ferInnen der FMLN mußten drei, vier Jahre oder gar vergebens auf ein Stück Land warten und sehen sich heute als eindeutige Verlie­rer eines Krieges, der laut Frie­densabkommen keine Verlierer kennen sollte. Den guatemalteki­schen Flüchtlingen im mexikani­schen Exil ergeht es ähnlich: Vertraglich zugesicherte Bedin­gungen, die den schnellen, unbü­rokratischen Zugang zu Land einschließen, geraten im befrie­deten Guatemala zusehends in Vergessenheit.
Insgesamt er­scheint die Integration der Gue­rilleros und Guerilleras in Gua­temala mit in erster Linie vom Aus­land finanzierten Ausbil­dungs- und Eingliederungspro­gram­men als durchaus über­windbare Hürde der Entwicklung zum Frieden. Die Führung der URNG verspricht ihren Kämpfe­rInnen außerdem Projekte, wel­che die politische und kulturelle Differenzen überwinden helfen und die persönliche Sicherheit der KämpferInnen gewährleisten sol­len. Gerade diese beiden Aspekte, die zunächst weniger relevant erscheinen, bzw. bezüg­lich der Sicherheit lediglich als ein Problem der höheren Kader an­gesehen werden, machen vie­len der KämpferInnen mehr Sor­gen als die materielle Zu­kunft.
“Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen werde und was ich ar­bei­ten werde. In mein Dorf kann ich aus Sicherheitsgründen nicht zu­rückkehren.” Befragt nach den in­dividuellen Zukunftsplänen, ka­men häufig diese oder ähn­li­che Ant­worten von den Kämpf­er­In­nen. Tania Palencia, Re­prä­sen­tan­tin der “Versammlung der zi­vilen Gesellschaft” (ASC), for­mu­lierte die Problematik sehr tref­fend: “Die Demobilisierung wird ein sehr komplexer Prozeß sein, denn das Überleben muß nicht nur wirtschaftlich abgesi­chert werden. Die Demobilisier­ten müssen aber auch in eine für sie neue Kultur integriert wer­den. Angesichts der Erinnerung an den Krieg, des Fehlens eines Dia­loges, der Greueltaten des Mi­litärs und der Repression der 80er Jahre bedürfen gerade die Ex-Compas eines Raumes, damit sie in einen Dialog mit ihrer ei­genen Geschichte treten können. So müssen sie alle Kommunika­tionsmittel nutzen können, ohne daß sie Angst haben müssen. Das kann die Gesellschaft aber zur Zeit nicht gewährleisten.” In An­betracht wachsender “allge­mei­ner” Kriminalität, von Entfüh­rungen und Lynchjustiz läßt sich die Angst vieler Gue­rilleros/as, nach der Demobilisie­rung Frei­wild zu sein, auch durch die edelsten Bekundungen der Frie­densabkommen nicht ba­gatellisieren.

Schleppende Demobilisierung der Armee

Die Waffenabgabe der Gue­rilleros und Guerilleras ist mitt­lerweile ohne größere Probleme abgeschlossen. Auf Seiten der Regierungsarmee verläuft dieser Prozeß jedoch äußerst unbefrie­digend. Der unzureichende De­mobilisierungswille der Armee zeigte sich bereits Ende Januar durch einen Aufstand der Policía Militar Ambulante (PMA), einer Spezialeinheit der Armee, und durch einen Winkelzug der Mi­litärführung: Durch ihren Spre­cher Verhandlungsführer Coro­nel Otto Noack ließ die Armee verlauten, daß die in den Frie­densabkommen festgelegte 33 prozentige Reduzierung der Hee­resstärke von der Sollstärke von 46.000 Soldaten ausginge. Da die derzeitige Ist-Stärke jedoch lediglich 35.000 sei, müßten nur 4.180 statt 11.900 Soldaten de­mobilisiert werden, um auf 66 Prozent von 46.000 zu gelangen. Demnach wäre die Stärke der Armee nach der Demobilisierung also 30.820 gegenüber rund 23.100 Soldaten, wenn von der Ist-Stärke ausgegangen würde. Außerdem solle es in den oberen Rängen der Armee zu keinerlei Reduzierung kommen.
Sowohl die Reduzierungsde­batte als auch der PMA-Aufstand mögen sich in den kommenden Jahren als Nebensächlichkeiten he­rausstellen, in der derzeitigen Situation können sie jedoch auch als Warnsignale an die sich neu konstituierende Opposition Gu­a­te­malas verstanden werden. De­ren wichtigste Gruppe – die URNG – hat mit der Waffenab­ga­be ein wichtiges Faustpfand aus den Händen gegeben.

KASTEN

36 Jahre Guerillakrieg

Die erste guatemaltekische Guerillabewegung geht auf das Jahr 1960 zurück. In die­sem Jahr rebellierte eine Gruppe junger Offiziere ge­gen das korrupte Regime unter Ydígoras Fuentes, wel­ches den USA erlaubt hatte, Guatemala als Basis einer In­vasion Kubas zu nutzen. Der Aufstand wurde niederge­schla­gen. Die jungen Rebel­len kamen in Kontakt mit der Kommunistischen Partei Gu­atemalas, die im Jahre 1961 den bewaffneten Kampf als not­wendig für eine revo­lu­ti­o­nä­re Entwicklung erklärt hat­te. 1963 entstanden aus die­sem Bündnis die Fuerzas Ar­ma­das Rebeldes (FAR). Nach ei­ner groß angelegten Mi­li­tär­offensive hatte diese Gue­ril­la Ende 1967 jedoch prak­tisch aufgehört zu exi­stieren.
Einige ihrer Anführer flohen nach Mexiko, von wo aus sie den Widerstand reorgani­sier­ten. Aufgrund politischer Dif­ferenzen gab es jedoch kei­ne einheitliche Organisa­tionsstruktur mehr. Während die FAR im nordöstlichen De­partement Péten einen Guerilla-Focus aufbauten, wurden zwei weitere Grup­pen im westlichen, indigen ge­prägten Hochland des Landes aktiv. Dieses waren die Nueva Organización Re­vo­lucionaria de Combate, die am 19. Januar 1972 mit einer ersten Aktion und unter dem Namen Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP) an die Öffentlichkeit trat, und die Regional de Occidente, die sich seit 1979 Organización del Pueblo en Armas (ORPA) nannte.
Beginnend mit wenigen Ak­tivisten und Aktivistinnen und ohne finanziellen und materiellen Rückhalt, gelang es der guatemaltekischen Guerilla bis zu Beginn der 80er Jahre eine militärische Stärke zu entwickeln, die – kombiniert mit dem Druck der Bauern-, Arbeiter- und Stu­dentenorganisationen – ei­nen nahen Umsturz der Mi­li­tär­diktatur Romeo Lucas Gar­cía möglich erschienen ließ. Es folgte jedoch eine ge­wal­tige, von den USA un­ter­stütz­te, Terrorwelle, unter der in erster Linie die Zivil­be­völkerung zu leiden hatte, die aber auch für die Guerilla ei­nen schweren Rück­schlag be­deu­tete. Ein revolu­tionärer Um­sturz rückte in weite Fer­ne, und damit be­gann 1991 die Verhand­lungsphase zwi­schen den je­weiligen Re­gie­run­gen und der URNG, dem 1982 gebil­deten Zusam­men­schluß der einzelnen Gue­ril­la­organisa­tionen. Das Er­geb­nis ist der am 29. Dezember 1996 un­terzeichnete feste und dau­er­hafte Frieden, dessen zu­vor ver­handelten Teil­ab­kom­men auch die De­mo­bi­li­sie­rung und Wie­der­ein­glie­de­rung der Kämpfer und Kämp­fer­innen der URNG regeln.

Schneller, breiter, größer, besser?

Fünf Länder sind an dem Projekt beteiligt: Bolivien, das über einen Kanal mit dem Rio Paraguay verbunden ist, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Ausgangspunkt ist der bolivianische Ort Cáceres, der Zielhafen am Atlantik ist Nueva Palmira in Paraguay.
Als infrastrukturelles Rückgrat des Mercosur soll die Mega-Wasserstraße die Wettbewerbsfähigkeit des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses auf dem Weltmarkt stärken. Verkürze sich, wie geplant, die 45-tägige Schiffsfahrt von Caceres nach Nueva Palmira um die Hälfte – so die beteiligten Regierungen – würden die Exportprodukte preislich attraktiver und die Region für Investoren lukrativer. Geltend gemacht werden zudem noch länderspezifische Interessen: Bolivien hätte endlich freie Bahn zum Meer, Argentinien verspricht sich Exportverbesserungen, für Brasilien bieten sich geopolitische Vorteile (bessere Kontrollmöglichkeit über die Nachbarländer) und auch Paraguay lockt ein besserer Meereszugang. Ein zwischenstaatliches Hidrovía-Komitee koordiniert die Vorhaben und Studien und beteiligt sich außerdem an der Suche nach Finanzquellen. Zugleich fungiert es als Ansprechpartner für Nichtregierungsorganisationen (NROs) und als Organisator von sogenannten Partizipationstreffen.

Flüsse für die Schiffe statt Schiffe für die Flüsse ?

Bisher besteht das Projekt aus 90 Einzelvorhaben, wie Eindeichungen, Begradigungen, Stillegung von Seitenarmen, Hafenbau, Baggerarbeiten zur Vertiefung und die Sprengung störender Felsformationen. Die Kosten werden sich (nach Berechnungen von 1989) auf 1,3 Mrd. US-Dollar belaufen, mit danach folgenden Unterhaltungskosten von ca. 3 Mrd. US-Dollar jährlich. Wer das finanzieren soll, ist zur Zeit noch unklar; gerechnet wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Weltbank und verschiedener bilateraler Geber, die sich teils mit Projekten, teils mit Exportbürgschaften beteiligen. Auch von der EU sind – als zukünftigem Handelspartner – Hilfen zu erwarten.
Aus den selben Töpfen finanzierten sich die in den letzten zwei Jahren unter Beteiligung von norwegischen und nordamerikanischen Beratern durchgeführten Umwelt- und Durchführbarkeitsstudien.Zur Zeit werden die Studien von verschiedenen Gruppen und Institutionen evaluiert. So untersucht der World Wildlife Fund for Nature (WWF), ob die ökologischen Folgen realistisch abgesehen wurden, die holländische Regierung schätzt Kostenpläne ein, Nichtregierungsorganisationen vor Ort untersuchen die Verläßlichkeit der Studien. International anerkannte Hydrologen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank herangezogen wurden, beschrieben die Durchführbarkeits- und Verträglichkeitsstudien in einem vorläufigen Dokument als “simplifizierend” und kritisierten, daß die komplexen Wasser- und Strömungsverhältnisse nicht ausreichend beachtet wurden. Sie forderten dazu auf, “die Schiffe den Flüssen anzupassen und nicht die Flüsse den Schiffen”.
Trotz der aufkommenden Protesten haben die Präsidenten der Länder im Februar 1997 eine pressewirksame “Eröffnung” des Projektes inszeniert, um Tatsachen zu schaffen. Diese Eröffnung, die mit Ausschreibungen von Ausbaggerungsarbeiten einhergeht, steht im Widerspruch zu den Versprechungen des Hidrovía-Komitee, nicht vor Ende der Studien- und Evaluierungen mit der Umsetzung zu beginnen und eine ausreichende Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den Auswirkungen des Projekts muß man zwischen jenen unterscheiden, die sich unmittelbar aus dem Flußausbau ergeben und solchen, die als mittelbare Folgen abzusehen sind. Beide Flüsse zusammen haben ein Einzugsgebiet von ca 720.000 km2 (entspricht etwa der doppelten Fläche der Bundesrepublik). Auf diesem Gebiet leben 40 Millionen Menschen direkt an den Flüssen, 14 Millionen sind in ihrer Lebensweise eng an die Flüsse gebunden. Unter ihnen sind zahlreiche indigene Gemeinden.

Ein Feuchtgebiet liegt auf dem Trockenen

Eine ökologische Katastrophe wartet auf das Pantanal. Hier, im größten Feuchtgebiet der Erde, leben zahlreiche Menschen vom Fischen, Sammeln, Jagen, Ökotourismus und kleiner Landwirtschaft. Sie alle würden Land und ihre Erwerbstätigkeit verlieren. Für die inianischen Völker bedeutet die Terstörung ihrer Umwelt darüber hinaus den Verlust einer kulturellen Umwelt. Von einer Kompensation wurde bisher nicht gesprochen. Die geplanten Sprengungen während des Baus der Hidrovía würden sozusagen den “Pfropfen” aus dem Gebiet ziehen. Das Zukunftsszenario: Weite Teile des Feuchtgebietes trocknen aus, umliegende Strömungsverhältnisse verändern sich, da das Pantanal seine Funktion als Wasserschwamm verliert. Im Unterlauf ist dann entsprechend mit riesigen Überschwemmungen zu rechnen. Veränderte Strömungsverhältnisse bedeuten aber auch Versalzung, Versandung und Erosion in der Umgebung der Flußufer. Fischbestände und Fischreichtum werden beeinflußt. Der bisherige Transport, Einnahmequelle für tausende, wird gefährdet, statt dessen wächst mit den Riesenfrachtverbänden die Unfallgefahr.
Offiziell soll im Pantanalgebiet nicht gearbeitet werden, der Hafen von Descalvados soll aus den Planungen herausgenommen werden. Zweifel kommen jedoch auf seit oberhalb des Pantanals am bolivianischen Tamengokanal ausgebaggert wird. Diese Arbeiten sind nicht zu erklären, wenn die Schiffe nicht auch Fahrterleichterungen durch das Pantanal bekommen.
Weitreichendere Folgen sind abzusehen: geplant ist eine Vergrößerung und damit ein Heranrücken der Agrarfront an die Flußufer. Die Landspekulation beginnt bereits. Dank ungesicherter Eigentums- und Verfügungsrechte der Kleinbauern und indigenen Gruppen, vertreiben Großfirmen in den betreffenden Gebieten die Menschen mittels Gewalt, Druck oder Geld mit Leichtigkeit von ihrem Land. Die erhofften Arbeitsplätze werden ausbleiben: Großplantagen wie die geplanten, die Frachtverbände bis zu 16 Schiffen füllen sollen, sind hochmechanisiert. Dazu kommt die Wasserbelastung durch den Transport, den Pestizideinsatz, die Abwässer aus Minen und aus Häfen. Es werden Straßen in umliegende Waldgebiete getrieben und damit indianische Gebiete zerstört.

…. auch die sozialen Unterschiede werden tiefer

Die Nachhut bilden in solchen Fällen weitere Entwaldung, Brandrodung, Erosion, Aufgabe der Subsistenzwirtschaft, die Anlage illegaler und legaler Minen, die Ausbreitung von Krankheiten und sozialen Konflikten durch die Zunahme Landloser und WanderarbeiterInnen – und führt letztendlich zu einer weiteren Konzentration produktiver Ressourcen in den Händen weniger.
Von den offiziellen Stellen werden der Zusammenhang Hidrovía und nachfolgende Entwicklung ignoriert. Partizipative Planungsmethoden existieren höchstens als selektive Alibiauslese, die Betroffenen wissen in der Mehrheit kaum um das Projekt.

Soja für Europa

Problematisch ist Hidrovía allerdings nicht nur als Einzelprojekt. Bei einer Betrachtung der Hintergründe wird deutlich, daß sich die ganze wirtschaftliche Struktur der Region verändern wird. Geplant sind Agrar-, Holz- und Bergbauprojekte in der gesamten Region, privat, staatlich oder durch Entwicklungshilfe finanziert. Drei Ölfirmen haben ihre Kapazitäten verdreifacht, und es gibt neue Holzeinschlagskonzessionen in Formosa. Die Produkte sollen auf der Hidrovía bzw. Zugangsflüssen,-kanälen und Zügen transportiert werden. Ziel der Transporte: die EU, mit der Mercosur zur Zeit ein Sonderabkommen aushandelt. Absurd erscheint in diesem Zusammenhang, daß in weiteren Teilen Südamerikas Flüsse in Wasserstraßen umgewandelt worden sind oder werden sollen, also eine direkte Konkurrenz darstellen. Darunter sind die beiden Wasserstraßen Madeira-Amazonas und Toncantins-Araguaia in Brasilien, die den Norden des Landes nach Westen öffnen.
Die einseitige Exportorientierung von Produkten, die sowieso schon von mehreren Ländern in Masse exportiert werden, wird zum Preisverfall auf dem Weltmarkt führen. Kommt noch der – allerdings schleppende – Subventionsabbau in der EU, und das Aufholen der osteuropäischen Staaten bei der Agrarproduktion.
Exportiert werden soll vorrangig eins: Soja. Schon seit Jahren gehört Brasilien zu den drei größten Sojaproduzenten der Welt – Spitzenreiter sind die USA. Als Exportschlager, um Devisen zur Schuldenreduzierung zu bekommen, um Importe zu ersetzen, und um billiges Sojaöl zur Verfügung zu haben, ist die Sojaproduktion in Brasilien mit Subventionen und Krediten massiv gefördert worden. Paraguay, stets wachsam angesichts der Konkurrenz, hat das Programm des Nachbarn importiert, große, kapitalkräftige brasilianische Firmen ins Land gelockt und ebenfalls mit Soja expandiert.
Auch im Osten Boliviens soll der Sojaanbau massiv ausgeweitet werden. Dazu wird die Hafenkapazität in Caceres verdreifacht – mit Hilfe der größten Agrarfirma der Welt, Cargill aus den USA, die 51 Prozent am Hafen besitzt. Ab März 1997 sollen über den oben erwähnten Transportweg Madeira-Amazonas 750 Tonnen Soja pro Tag verladen werden – das ist eine LKW-Ladung alle 2 Minuten.

Widerstand – die Rios-Vivos Koalition

Gegen das Projekt wenden sich mittlerweile viele NRO. Gegen HPP haben sich über 300 Gruppen aller fünf Länder, darunter indigene Organisationen, soziale NROs und Umweltorganisationen zu einer Koalition namens Rios Vivos zusammengeschlossen. Sie versuchen, das Projekt und die Bandbreite der Folgen in der Bevölkerung bekannt zu machen, organisieren Seminare, auf denen sich zum Beispiel Indígenas aus mehreren Ländern treffen, um gemeinsame Positionen zu überlegen. Sie bündeln und koordinieren die Kritik der NROs und haben international Kontakt mit Organisationen aufgenommen, um von außen Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen auszuüben. Zu Rios Vivos gehören daher mittlerweile auch eine europäische und eine amerikanische Organisation.
In der Bundesrepublik halten mehrere Organisationen ständigen Kontakt zu Rios Vivos und arbeiten mit ihnen zusammen. So waren im Frühjahr 1996 fünf Vertreter von Rios Vivos in der Bundesrepublik und haben das BMZ und andere Institutionen der Entwicklungshilfe besucht und über die fehlende Vorabinformation und Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt aufgeklärt.

Kein Fortschritt ohne Aufklärung

Rios Vivos ist nicht grundsätzlich gegen den Transport auf den Flüssen, da diese seit Jahrhunderten genutzt werden. Die Organisation wendet sich aber dagegen, daß ohne jede Mitwirkung und voraussichtlich ohne jeden Nutzen für die regionale Bevölkerung ein Megaprojekt durchgezogen wird. Sie fordern daher eine umfassende Information über HPP und alle angekoppelten Projekte. Sie fordern eine Beteiligung und Einbeziehung der Menschen und eine Diskussion über das mit HPP vorgegebene Entwicklungsmodell. In den Worten einer Resolution, die 70 VertreterInnen von 22 indianischen Gruppen im Mai herausgegeben haben, sieht das so aus: “Erlaubt uns, den Regierungen zu mißtrauen angesichts der Gleichgültigkeit, die sie uns bei anderen Großprojekten entgegengebracht haben, die sie uns immer als positive Projekte dargestellt haben und die uns nie etwas Positives gebracht haben. Wir wissen, daß der Fluß vertieft wird, und wir fürchten, daß unser Land austrocknet. Wir wollen, daß die Regierung uns garantiert, daß sich die Flüsse nicht verändern und wir wollen wissen, was getan wird, um unser Leben zu verbessern. Wir verlangen, daß mit HPP nicht eher angefangen wird, als bis gründliche Umweltstudien fertig sind, die die Belange der Anwohner und unsere miteinbeziehen. Wir wollen, daß unsere Territorien bestätigt werden. Wir empfinden HPP als Angriff auf das sozioökonomische und kulturelle System der indigenen Völker, weil es uns ein Entwicklungsmodell auferlegt, daß einem adäquaten Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen fremd ist.”

Hidrovía und Deutschland

Die Bundesrepublik ist bisher nicht direkt an der Finanzierung und den Bauvorhaben beteiligt, wird aber als “reiches Land” als eine potentielle Finanzquelle betrachtet. Finanzierungen könnten dabei über die offizielle Entwicklungshilfe oder Exportbürgschaften laufen. In Betracht gezogen werden muß dabei, daß es nicht nur um die Finanzierung der Flußarbeiten geht, sondern auch um Anschlußprojekte wie Bergbau und Agrobusiness.
Indirekt ist die Bundesregierung allerdings schon jetzt an dem Projekt beteiligt – und zwar über ihre Beteiligung an der Interamerikanischen Entwicklungsbank, dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (8,9 Prozent Beitragsanteil 1993) und der EU. Letztere hat für Studien zur Modernisierung mehrerer Häfen entlang der Flüsse 850.000 ECU zur Verfügung gestellt. Die Durchführung der Studien, die bis September 1997 fertiggestellt werden sollen, obliegt der deutschen Consulting Rogge Marine in Bremerhaven. Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik ausserdem der wichtigste Handelspartner für Lateinamerika, besonders für Agrarimporte: 28 Prozent aller Agrareinfuhren stammen aus der Region, davon sind 30 Prozent Futtermittel, also auch Soja. Vor dem Hintergrund wachsender Handelskontakte zwischen EU und Mercosur würden nicht nur substantielle Handelsinteressen der EU befriedigt, sondern wären auch millionenschwere Aufträge für europäische Firmen zu erwarten. Nur einige, durch die Erfahrung mit dem Erzabbauprojekt Grande Carajas in Brasilien mißtrauisch gewordene EU-ParlamentarierInnen haben sich vorsorglich in einer informellen Hidrovía-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen.
Auf Nichtregierungsebene haben sich ca. 15 deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, darunter der WWF, KoBra (Koordination der Brasiliengruppen) und Pro Regenwald. Die Gruppen machen in der Bundesrepublik und auf EU-Ebene Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Gesucht wird auch der Kontakt zu Gruppen, die sich in Deutschland mit der Problematik Wasserstraßen, also dem geplanten Ausbau der letzten Kilometer freifließender Flüsse und dem Rückbau kanalisierter Flüsse beschäftigen, um den Partnern in Lateinamerika Vergleichsmöglichkeiten und Kritikpunkte bieten zu können.
Ob HPP in der jetzigen Form verhindert werden kann, hängt zu einem grossen Teil davon ab, ob und wie europäische und dabei besonders deutsche Gruppen und Personen anfangen, Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf PolitikerInnen auszuüben. Die weltweite Degradierung von Flüssen zu Verkehrswegen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Natur führt in eine Sackgasse. Transport muß nicht billiger und schneller werden, sondern anders: vermieden, wo nicht notwendig und vor allem so teuer wie es den ökologischen und sozialen Schäden entspricht, die er verursacht.

Subcomandante Marcos, Ritter von der traurigen Gestalt

Wer sich die Postskripten der Kommuniqués des Subcomandante vornimmt, stellt fest, daß Marcos den am Beginn des 17. Jahrhunderts entstandenen spanischen Klassiker der Weltliteratur, Don Quijote, von Miguel de Cervantes, der übrigens dieses Jahr seinen 450. Geburtstag feiert, sehr genau gelesen hat. So erschien zuletzt am 24. Januar in der Tageszeitung La Jornada ein langer Text mit dem Titel “Sieben Fragen an die Betreffenden”, in dem Marcos den Ist-Zustand der mexikanischen Gesellschaft und Politik beschreibt. Jeder einzelnen der sieben Fragen und dem Text selbst ist ein längeres Zitat aus Cervantes’ Don Quijote vorangestellt.
Aber der ehemalige Philosophiestudent der Nationaluniversität Mexikos (UNAM) zitiert Cervantes nicht nur, um damit seinen Texten den gewissen Touch von Bildung zu verleihen. Peu a peu hat Marcos in Gestalt des ebenfalls pfeiferauchenden Käfers Durito, den Protagonisten aus Cervantes’ “wirkungsmächtigstem Werk seit der Bibel” (Kindlers Literaturlexikon), sozusagen als sein alter ego wieder auferstehen lassen und erneut in einen “Kampf gegen Windmühlen” geschickt. Denn so wie Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt, ist Durito fahrender Ritter und hat in Marcos einen ihm – wenn auch nicht immer ganz so treu – ergebenen Schildknappen. Außerdem hat auch Durito eine ferne Geliebte, redet barockes Spanisch und schreckt vor keiner Gefahr zurück. Er begibt sich sogar auf den Marsch der Gewerkschaften zum 1. Mai nach Mexiko-Stadt, für einen Käfer kein ungefährliches Unterfangen, denkt man an die vielen bedrohlich trampelnden Füße.
In ihren zahlreichen Dialogen unterhalten sich Durito und Marcos über Politik und Neoliberalismus wie einst Don Quijote und Sancho Panza über das eiserne und das goldene Zeitalter.

Don Quijote als politischer Kampfbegriff

Sicherlich, das Sprichwort vom “Kampf gegen Windmühlen” ist überstrapaziert. Besonders in der Politik. Die großen Helden, die beharrlich für hehre Ziele kämpfen und sich weigern, die objektiven Bedingungen anzuerkennen! So wird die tragische Unausweichlichkeit vor dem Scheitern zum ästhetischen Genuß, die Inhalte der Ziele bleiben auf diese Art und Weise angenehm im Schatten des Sprich-wortes stehen. In Lateinamerika wurden die verschiedensten Geschichtsgrößen, von Cortés über Pizarro bis Bolívar, zum Quijote erhoben. Das Hantieren mit diesem literarischen Symbol, um eine öffentliche Figur vor den Wirbelstürmen von Geschichte und Politik zu bewahren und positiv zu besetzen, ist in Lateinamerika demnach zumindest eine erfolgversprechende Strategie. Denn schließlich verkörpert diese Figur, dieser unverbesserliche Idealist, den “spanischen Helden schlechthin” (Carlos Fuentes), und bildet damit den Gegensatz zum Helden angelsächsischer Prägung, der die ihn umgebende Welt akzeptiert und von dort aus in Robinson Crusoe-Manier versucht, pragmatisch vorzugehen und das beste aus seiner Situation zu machen.
Ist es also lediglich eine medienwirksame Strategie, wenn sich der Subcomandante aus dem mexikanischen Südosten mit Don Quijote vergleicht? Meiner Meinung nach nein. Cervantes ist neben Neruda, Cortázar oder Miguel Hernández einer der wenigen Autoren, die Marcos in den Urwald begleitet haben und von denen er sich beim Schreiben seiner Kommuniqués inspirieren läßt. Wie auch Don Quijote, der die Welt mit den ihm aus den Ritterbüchern bekannten Zeichen liest, und der Windmühlen für Giganten, Schafherden für feindliche Armeen hält, liest Marcos sich und die Welt literarisch. In seinen Texten wird er zum Bestandteil seiner eigenen Fiktion und so wie Cervantes seine Helden den Druck des Buches überwachen läßt, das von ihren ruhmreichen Taten berichtet, thematisieren auch Durito und Marcos die Probleme ihrer eigenen Publikation: “Es wäre besser, wenn du langsam zum Ende kommen würdest, wir haben ja schon mehrere Seiten geschrieben und das veröffentlicht uns keine Zeitung. Sie sagen ja bereits, daß ich die Kommuniqués nur als Vorwand benütze, um ihnen zu schreiben, was mir so einfällt…”.
Während Marcos von Carlos Fuentes sozusagen als erster postmoderner (Guerilla-)Held charakterisiert wurde, steht Don Quijote literaturgeschichtlich am Beginn der Moderne.

Der moderne Held

Zum ersten Mal treten hier Autor und Held autonom in Erscheinung und emanzipieren sich von einander. Im Gegensatz zu seinem Helden hat der moderne Autor begriffen, daß die ewigen Inhalte und Haltungen, seit der kopernikanischen Wende ihren Sinn verloren haben und die Welt immer mehr im Inneren der sie konstituierenden Subjekte versinkt. Gleichzeitig aber mag er sich nicht ausschließlich in sich selbst zurückziehen und so die “prosaische Niedertracht des äußeren Lebens” (Lukács) unwidersprochen hinnehmen. Hat er doch schließlich den Anspruch, objektiv etwas über die Welt sagen zu können. So wurde der Autor der Moderne zu einem Grenzgänger, einem Vermittler zwischen Subjekt- und Objektwelten.
Wie der moderne Autor mit seinem Held, identifiziert sich Marcos mit dem Quijote, gleichzeitig aber auch nicht. Zum einen ängstigt ihn die Idee, auch er könne, wie einst Alonso Quijano (Don Quijotes bürgerlicher Name) am Ende seines Ritterlebens erkennen, daß all seine Taten die eines Wahnsinnigen waren. “Die Niederlage der Verrücktheit, der Sieg der Reife und Vorsicht, sind das Schmerzhafteste an diesem Buch”, sagt Marcos in einem Interview. Zum anderen weiß er jedoch auch, daß die Wirklichkeit zu ernst ist, als daß man sich einfach über sie hinwegsetzen könnte: “Die Windmühlen waren die Helikopter der Bundesarmee, obwohl sie genaugesehen keine Windmühlen sind. Ebensowenig sind die Pilatos-Flugzeuge, die die “neutrale” schweizer Regierung der mexikanischen Regierung zum Töten von Indígenas verkauft, genaugenommen Fiktion.” Marcos ist in erster Linie Politiker und als solcher muß er konkrete Lösungsvorschläge zu politischen Problemen anbieten.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Utopie und Pragmatismus, Literatur und Politik, Fiktion und Realität, zieht sich in Form des fahrenden Ritters durch Marcos’ Diskurs. Um von diesen Gegensätzen nicht zerrissen zu werden und ein gewisses Maß an Objektivität und Autorität zu behalten, muß Marcos sie aufheben, oder wie die Literaturwissenschaft sagt, dekonstruieren. Das Moderne an Marcos’ literarischem Vorbild ist, daß Cervantes solche dekonstruktivistischen Verfahren als erster in der Literatur konsequent durchexerziert hat. Er bediente sich dabei dessen, was Michail Bachtin das “Prinzip des Karnevals” nennt. “Das Karnevaleske dominiert Texte, die einer komisch-parodistischen Schreibweise verpflichtet sind. Strukturell ist es dadurch gekennzeichnet, daß Stile, Gattungen und Schreibweisen gemischt, Hohes und Niederes zusammengebunden werden. Funktional ist es darauf gerichtet, die eine offizielle Wahrheit, die überkommene festgefügte Ordnung aufzubrechen.” Cervantes gelang es mit seinem Buch, die Macht der damals so beliebten Ritterromane zu brechen. Die Literaturkritik wurde dadurch selbst Bestandteil seiner Literatur.

Gegen die (Wind-)Mühlen der Politik

Marcos verfolgt das gleiche Ziel in der Politik. Um Kritik zu üben, greift er zuerst die Sprache an, die die Politik Konstruktion ihrer Diskurse verwendet. Bereits in seiner 1980 an der UNAM eingereichten Abschlußarbeit mit dem Titel “Philosophie und Erziehung – Diskursive und Ideologische Praktiken im mexikanischen Erziehungswesen” setzt er sich mit diesem Thema unter philosophischen Fragestellungen auseinander. Abschließend fordert er eine politische Position, die neue diskursive Strategien ermöglichen soll.
In quijotesker Manier hat er diese Forderungen in die Tat umgesetzt, und das Prinzip des Karnevals in den politischen Diskurs eingeführt: Sein Schreibstil ist ebenso parodistisch wie ironisch. Er ver-mischt poetische und erzählende Stile mit politischen Forderungen und Anklagen, löst die Trennung zwischen dem Autor und seinen Figuren auf und läßt so die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen.
Auf Octavio Paz’ Lob an der Erfindung Duritos antwortet Marcos in einem Interview: “Das ist ungerecht, protestiert Durito. Er meint, er sei keine Erfindung, sondern wirklich, und die Erfindung sei eigentlich ich.” Indem sich Marcos auf diese Art und Weise von selbst in Frage stellt und ironisch relativiert, gelingt es ihm, sich gegenüber ideologiebeladenen Kritikversuchen, sowohl aus der bürgerlich-liberalen, als auch der dogmatisch-marxistischen Ecke, erhaben zu machen. Der Literatur gelang dies bereits im Quijote. Sie hat ihre eigenen Unzulänglichkeiten bei der Vermittlung transzendentaler Werte längst erkannt, während die moderne Gesellschaft selbst diesen Anspruch aufrechterhielt.
Zwar setzte mit der Aufklärung ein Prozeß ein, der die “Entzauberung der Welt” anstrebte, dies gelang jedoch nur um den Preis einer Mythisierung der Aufklärung selbst. Die christlichen Religionen wurden durch politische Pseudoreligionen ersetzt. In der postmodernen Kritik der Moderne wird der endgültige Zusammenbruch dieser Pseudoreligionen oder “Meta-Erzählungen” wie Jean-Francois Lyotard sie nennt, proklamiert. Wenn Carlos Fuentes die EZLN aufgrund ihrer pluralistischen Ideen und deren Kritik an der politischen Sprache etwas vorschnell als “erste postmoderne Guerilla” charakterisiert, so müssen dem andere Postulate dieser philosophischen Richtung entgegengesetzt werden, die mit Marcos’ Denken in keinster Weise zu vereinbaren sind. Er begreift sowohl Tradition und Geschichte als auch handelnde Subjekte als Faktoren, die bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft unbedingt in Betracht zu ziehen sind. Gerade diese beiden zutiefst modernen Kategorien, das Subjekt und die Geschichte, sind der Postmoderne jedoch abhanden gekommen.
Marcos dekonstruiert Politik, indem er Verfahren, die der literarischen Moderne verpflichtet sind, auf politische Diskurse anwendet. Er betreibt die Dekonstruktion jedoch nicht um ihrer selbst willen. Es ist nicht seine Art, sich nach getaner Arbeit von dem Scherbenhaufen dekonstruierter Ideologien angeekelt abzuwenden und diesen sich selbst zu überlassen. Vielmehr hat er ein klares Ziel vor Augen: Die Sicht auf die Realität freizulegen. Und die Realität ist für ihn Armut, Hunger, Unwissenheit, Krankheit, Unterdrückung, Tod; das heißt also die Verweigerung der elementarsten Menschenrechte für einen grossen Teil der Bevölkerung Mexikos. Die Veränderung dieser Realität ist sein Ziel. So gesehen steht Marcos, genau wie Don Quijote, ganz am Anfang der Moderne. Und nicht nur der Moderne. Denn wie der Literaturwissenschaftler Sebastian Neumeister zu verstehen gibt, ist Don Quijote in all seiner Tragikomik der Held der gescheiterten Utopien aller Zeiten, auch der Unseren. Wir sollten ihn ernstnehmen!

Literaturhinweis: Marcos. “Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald.”, Hamburg 1996.

Monolog der Macht

Nach langem Hin und Her, nach kleinen Fortschritten und großen Enttäuschungen in den Verhandlungen hat die Hoff­nungslosigkeit einen neuen Hö­hepunkt erreicht. Seit Ende Au­gust 1996 hat die EZLN wegen anhaltender Feindseligkeiten und Wortbrüche der Regierung Ze­dillo den Verhandlungsprozeß unterbrochen, doch die Krise der letzten Wochen macht die ohne­hin schwierige Situation noch komplizierter.
Ihren Ausgang nahm die ak­tuelle Verhandlungskrise bereits am 29. November letzten Jahres, als die parlamentarische Ver­mittlungsgruppe COCOPA ihre endgültige Ausarbeitung der Ab­kommen von San Andrés über “Rechte und Kultur der indige­nen Völker” mit dem Hinweis an den Präsidenten Ernesto Zedillo weiterleitete, sie würde nur Zu­stimmung oder Ablehnung ak­zeptieren, aber keinerlei weitere Modifikation.

Nachträglicher Rückzieher des “besoffenen” Ministers

Das Abkommen war im Februar 1996 zwischen EZLN und Regierung vereinbart worden und beflügelte die Hoff­nung auf substantielle Reformen und eine friedliche Lösung des bewaffneten Konfliktes in Chia­pas. Und zunächst sah es auch tatsächlich so aus, als würde die Regierung Wort halten.
In Abwesenheit Präsident Ze­dillos, der auf Staatsvisite in Ländern Südostasiens weilte, versicherte Innenminister Emilio Chauyffet, der Entwurf sei für die Regierung akzeptabel, nur könne er ihn vor der Rückkehr des Präsidenten nicht offiziell unterzeichnen. Doch nach der Rückkehr des Staatsoberhauptes und nachdem dieser sich eine Frist “zur Durchsicht und Klä­rung” ausgebeten hatte, kam die brüske Absage. Chauyffet er­klärte – symptomatisch für die Regierungselite Mexikos – er habe den Entwurf nur deshalb positiv bewertet, weil er sich vorher mit einem alkoholischen Getränk, Chinchon, betrunken hätte. In den folgenden Wochen setzten Zedillo und die Hardliner in seiner Regierung sich mit ei­ner Juristenriege um Ignacio Burgoa Orihuela, dem Vorsit­zenden des Verbandes mexikani­scher Juristen, zusammen, um mit spitzfindigen, scheinbar un­wichtigen Bemerkungen am Ori­ginaltext der COCOPA dessen In­halte auszuhöhlen und damit die Verhandlungsergebnisse von San Andrés zu entstellen.
Freilich lehnten die Zapatistas Zedillos Gegenvorschlag Mitte Januar nach wenigen Tagen Be­denkzeit ab und erteilten der “arroganten kreolischen Haltung, die in der mexikanischen Macht­elite noch immer weiterlebt und der rassistischen Überzeugung anhängt, daß Indios sich nicht selbst regieren können” (so der Historiker und EZLN-Berater Antonio García de León in ei­nem Kommentar) eine glatte Ab­fuhr. Da nützte es der Regierung auch nichts, an den traditionell starken Nationalismus der mexi­kanischen Bevölkerung zu ap­pellieren, indem sie behauptete, die Anerkennung indigener Au­tonomie “führe zur Balkani­sie­rung und Kleinstaate­rei” in Me­xiko und stelle somit eine Gefahr für die Souveränität des Landes dar.
Ein Vorwurf, der vor dem Hintergrund der jüngst ans Licht gekommenen Skandale um die Verbindungen des Militärs zur Drogenmafia und die grotesken Verwicklungen höchster Funk­tionäre in Korruptions- und Mordfälle besonders absurd er­scheint. So absurd, daß sich die Öffentlichkeit nicht überzeugen lassen wollte und internationale Beobachter nachdrücklich die Einhaltung des Abkommens von San Andrés forderten. In Anbe­tracht der Tatsache, daß dieses weitgehend dem Abkommen Nr.69 über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisa­tion ILO, einer UN-Sonderorga­nisation, entspricht, ist Letzteres sicher nicht die “Einmischung in innere Angelegenheiten”, die die mexikanische Regierung darin sehen wollte. Schließlich wurde das ILO-Abkommen 1989 auch von Mexiko unterzeichnet.

Ablenkungsmanöver in der Presse

Als Zedillo und die um ihn gescharte Machtclique innerhalb der seit beinahe 70 Jahren regie­renden Partei der Institutionali­sierten Revolution PRI sich be­wußt wurde, daß sie die intel­lektuelle Auseinandersetzung zu diesem Thema mangels Argu­menten nur verlieren konnten, verlegte sich die intrigenerprobte Machtmaschine darauf, aus dem Hinterhalt zu operieren: Wäh­rend in den folgenden Wochen ganz Mexiko über den Justiz­skandal um den Staatsanwalt Lo­zano Gracía, seinen Gehilfen, den Strafverfolger Chapa Beza­nilla und die Seherin “La Paca” staunen durfte und mal wieder ein bißchen in der Ermittlungs­suppe um den Mord am PRI-Prä­sidentschaftskandidaten Colosio herumgerührt wurde (siehe LN 273), gingen die Warnungen der COCOPA-Mitglieder in der Tages­presse unter. Immer wieder ver­suchten diese, darauf auf­merk­sam zu machen, daß es sowohl eine “Kampagne zur Dis­kreditie­rung der COCOPA” ge­be, als auch ganz direkten “Druck auf deren Mitglieder”, wie der PRD-Abge­ordnete Heberto Castillo – eben­falls Mitglied der Vermittlungs­kom­mission – sich ausdrückte. In einer Erklärung der Cocopa ist nach der Kampagne der letzten Wochen nun keine Rede mehr davon, daß das Abkommen von San Andrés unantastbar sei. Die parlamen­tarischen Ver­mittler sind unter dem präsidentialen Druck eingeknickt und räumen ein, daß durchaus über “bessere Formulierungen” nachgedacht werden könne und mahnen die “Dialogbereitschaft” beider Kon­fliktparteien an. Im Klartext: Auch die COCOPA verteidigt das bereits geschlossene Abkom­men nicht mehr, wie sie ursprünglich beteuert hatte. Damit ist die EZLN wieder auf sich alleine gestellt.

Aushöhlung des Abkommens

Die Erklärung der COCOPA läuft letztlich darauf hinaus, daß sie sich mindestens mit einer Neubearbeitung des Ver­trags­ent­wurfes, wenn nicht sogar mit Neuverhandlungen des ei­gentlich längst unterzeichneten Abkom­mens abfindet. Und dabei brin­gen ihre Mitglieder nicht einmal den Mut auf, mit dem Finger auf diejenige zu zeigen, die von Anfang an den Dialog und später die Verhandlungser­gebnisse zum Scheitern bringen wollte: Die Regierung. Stattdes­sen müssen sich die Zapatistas nun anhören, ihre Dialogbereit­schaft sei “verbesserungsbedürf­tig”. Zynischer geht es nicht.
Präsident Zedillo und die als “Dinosaurier” bezeichneten Bos­se der diversen einflußrei­chen Cliquen in der PRI dürften dagegen frohlocken. Innenminis­ter Chauyffet kann fortfahren bei der Militarisierung weiter Teile vor allem Süd-Mexikos und der Polizeistruktur der Hauptstadt. Verhaftungen Oppo­sitioneller, “Verschwindenlassen” und poli­tischer Mord gehören mittler­weile zur Tagesordnung in Guer­rero, Oaxaca und Tabasco. Auch der “Krieg niedriger Intensität” in Chiapas geht weiter.
Kaum jemand außerhalb der zapatistischen Solidaritätskomi­tees und einer Handvoll Intel­lek­tueller hat bisher die Trag­weite dessen erfaßt, was das Ein­knicken der COCOPA vor dem Präsidenten wirklich bedeutet: Wieder einmal setzt sich die Exekutive über die Legislative hinweg. Die Rechtlosigkeit in der mexikanischen Gesellschaft wird exemplarisch deutlich. Wie soll ein Dialogprozeß funktionie­ren, wenn bereits beschlossene Ergebnisse wieder zur Disposi­tion gestellt werden? Wieder einmal zeigt sich der mexikani­sche Präsidentialismus als die “perfekte Diktatur”, als die der peruanische Schriftsteller Vargas Llosa das mexikanische System bereits vor vielen Jahren be­zeichnete. Und damit erfährt nicht nur in Chiapas, sondern in ganz Mexiko vorerst eine Hoff­nung auf Veränderung eine glatte Ohrfeige, die das Land gerade jetzt in der schwersten Wirt­schafts- und Sozialkrise seiner Geschichte so dringend bräuchte: Die Hoffnung auf eine grundle­gende Demokratisierung der Ge­sellschaft.

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