Ein Leben in Bildern

Eines vorweg, Pedro Mairal ist ein richtig guter Erzähler. Mit wenigen Pinselstrichen, fast kalligrafisch, schildert er in atemberaubend kurzen Kapiteln Leben und Werk des Malers Juan Salvatierra. Das fehlende Jahr des Juan Salvatierra enthält auf wenigen Seiten zwei Geschichten gleichzeitig: Zum einen die Geschichte von Salvatierras Sohn Miguel, dem Ich-Erzähler, der, anders als sein Bruder Luis, dem malerischen Schaffen seines Vaters nicht den Rücken kehren will.
Nach dem Tod der Eltern fährt er in das Provinznest seiner Kindheit und versucht, die Gemälde Salvatierras zu retten, die aufgerollt in einem alten Schuppen stehen. Es sind unglaublich detailreiche Bilder, die auf insgesamt vier Kilometern Länge das Leben seines Vaters am Grenzfluss zwischen Uruguay und Argentinien erzählen. Eine Rolle allerdings fehlt. Das komplette Jahr 1961 aus Salvatierras Leben scheint verloren. Miguel bekommt Hinweise, dass sich das Bild in Uruguay befindet und überquert den Fluss, um sich auf eine abenteuerliche Suche zu begeben.
Das fehlende Jahr des Juan Salvatierra ist aber auch die Geschichte eines Vaters, der nach einem Reitunfall verstummt. Auszudrücken vermag sich der Mann nur noch mit dem Pinsel. Wie Miguel beim Betrachten seiner Bilder feststellen muss, war sein Vater ein anderer, als er zu sein vorgab. Nicht nur Details seines Lebens, die ihm bislang unbekannt waren, kann er nun an den Bildern ablesen, auch Charakterzüge und Stimmungen, die er bis dahin nicht bei seinem Vater vermutet hätte. Salvatierras Bilderrollen ergeben zusammengenommen ein riesiges, wenn auch endliches Kunstwerk, an dem er 60 Jahre lang gemalt hat und das – ironische Fußnote unseres digitalen Zeitalters – in dem Moment, als es vollständig von einem niederländischen Museum gescannt wurde, in Flammen aufgeht. Dem 1970 in Buenos Aires geborenen Mairal ist ein zeitgemäßer Künstlerroman gelungen, der es schafft, die Übergänge zwischen Kunst und Leben neu auszuloten.

Pedro Mairal // Das fehlende Jahr des Juan Salvatierra // Hanser Verlag // München 2010 // 14,90 Euro

Erstmal wieder offen drüber reden

Ganz geben sich die AktivistInnen auf der argentinischen Seite nicht geschlagen: Anfang September wurde die internationale Brücke General San Martín über den Río Uruguay, den Grenzfluss zwischen Uruguay und Argentinien, wieder für einige Stunden blockiert. Zuvor war der Verkehr für 79 Tage ungestört über die Brücke gerollt, die das argentinische Gualeguaychú mit dem uruguayischen Fray Bentos verbindet. Anlass für die Wiederaufnahme der Blockade waren Äußerungen des uruguayischen Außenministers Luis Almagro, der kategorisch ausgeschlossen hatte, dass die umstrittene Zellstofffabrik irgendwann geschlossen und abgebaut wird. Dieses Maximalziel wollen die argentinischen Umweltgruppen nicht aufgeben – und so kam der erneute Protest nicht überraschend.
Der Streit um die im uruguayischen Fray Bentos installierte Zellulosefabrik des finnischen Konzerns UPM (vormals im Besitz des ebenfalls finnischen Multis Botnia) schwelt seit 2006. Nach über drei Jahren Blockade der Brücke hatten die AktivistInnen aus dem argentinischen Gualeguaychú Mitte Juni 2010 aufgegeben.
Gelöst ist der Konflikt um die mit einer jährlichen Kapazität von einer Million Tonnen aktuell größten Fabrik zur Herstellung von Zellulosepaste freilich noch nicht. Die wichtigste Straßenverbindung zwischen den beiden Ländern ist zwar wieder passierbar – und nach über fünf Jahren harter, zum Teil chauvinistisch-aufgeladener Reibereien zwischen den beiden „Bruderstaaten“ ist auch wieder die Chance frei für offene Diskussion über dieses Megaprojekt in Uruguay. So zum Beispiel über den Wasserverbrauch: Nach Angaben von UPM werden in Fray Bentos täglich 86 Millionen Liter Wasser verbraucht. Oder über den Einsatz von Chemikalien: Täglich werden 400 Tonnen Chemie eingesetzt. Auch die Arbeitsplatzbilanz fällt anders aus als versprochen: Als die Fabrik 2005 genehmigt wurde, war das Versprechen von 9.000 dauerhaften Arbeitsplätzen das Argument der BefürworterInnen, darunter auch des Präsidenten Tabaré Vázquez. Heute arbeiten dort etwa 350 Angestellte. Die Provinz Río Negro, in der die Fabrik angesiedelt ist, ist diejenige mit der höchsten Arbeitslosigkeit im ganzen Land. Und es könnte auch endlich offen über die forstwirtschaftlichen Monokulturen generell gesprochen werden: Von 1990 bis 2009 hat sich die Fläche, auf der Eukalyptusbäume und Pinien angebaut werden, von 45.000 Hektar auf 900.000 Hektar verzwanzigfacht. Das bedeutet, dass in mehr als der Hälfte des Waldbestandes in Uruguay heute keine heimische Baumart mehr zu finden ist. Seit 1987 sorgten Subventionen, Steuererleichterungen und zinsgünstige Kredite für diese massive Ausbreitung der Monokulturen. Die Bäume wurden gezielt in extrem dünn besiedelten Regionen angepflanzt, Weideland und artenreiche Urwälder mussten profitorientierten Baumplantagen weichen. Als das Mitte-Links Bündnis Frente Amplio 2005 an die Regierung kam, wurden zwar die umstrittenen Subventionen abgeschafft, der Boom der „Grünen Wüsten“ ging aber ungebremst weiter.
Ermöglicht wurde die erstmalige Entspannung im Konflikt zwischen Argentinien und Uruguay durch das Urteil des internationalen Gerichtshofes in Den Haag. Argentinien hatte am 5. Mai 2006 dort Klage eingereicht. Das Urteil fiel salomonisch aus: Am 20. April 2010 entschieden die Richter, dass einerseits Uruguay mit der Baugenehmigung für das mit über einer Milliarde US-Dollar bis dahin größte Investitionsprojekt in Uruguay gegen das 1975 von beiden Staaten ratifizierte Abkommen zur gegenseitigen Konsultationsverpflichtung verstoßen habe. Andererseits komme es aber nach Meinung des Gerichts nicht zu den von Argentinien beanstandeten Umweltverschmutzungen im Río Uruguay, und die Republik Uruguay habe ihre Verpflichtungen zur Umweltkontrolle ausreichend wahrgenommen. Der Betrieb der Zellstoff-Fabrik könne daher fortgesetzt werden und Uruguay sei zu keinerlei Ausgleichszahlungen, wie von argentinischer Seite gefordert, verpflichtet.
Für Uruguay bedeutet das Urteil allerdings eine kleine Delle, hatte doch der erste Mitte-Links-Präsident des Landes, Tabaré Vázquez, nur 15 Tage nach seinem Amtsantritt die Genehmigung für den Bau der Botnia-Fabrik am Río Uruguay erteilt – obwohl er sich noch im Wahlkampf vehement dagegen ausgesprochen hatte. Vázquez musste sich vom Gerichtshof vorwerfen lassen, die internationalen Abkommen mit Argentinien verletzt zu haben. Zumindest auf politischer Ebene zwischen den beiden Staaten scheint der Konflikt, der in den letzten fünf Jahren fast zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und zu einem persönlichen Zerwürfnis zwischen den beiden ehemaligen Präsidenten, Néstor Kirchner und Tabaré Vázquez, geführt hatte, damit aber dennoch gelöst zu sein. Drei Monate nach dem Schiedsspruch aus Den Haag vereinbarten die beiden amtierenden Staatsoberhäupter, Cristina Fernández de Kirchner und José Mujica, ein Abkommen zur gemeinsamen Kontrolle des Grenzflusses Río Uruguay. Eine Kommission mit je zwei WissenschaftlerInnen aus beiden Ländern soll die Umweltverschmutzung durch Industrieanlagen überwachen. Über die genauen Details des Abkommens wird derzeit noch verhandelt. Auf uruguayischer Seite geht es den Umweltorganisationen weniger um die Forderung nach einer Verlegung der Fabrik in Fray Bentos, sondern vielmehr darum, eine grundsätzliche, kritische Diskussion über den nach wie vor zunehmenden Ausverkauf des fruchtbaren Landes an ausländische Konzerne, die Ausweitung der Monokulturen in Forstwirtschaft und der Gen-Soja-Pflanzungen, die Steuerbefreiungen und den mangelnden Schutz sowie die unzureichende Förderung der kleinen Landwirtschaftsbetriebe endlich zu beginnen.
Nach einem Ende des Investitionsbooms in Uruguay sieht es allerdings nicht aus: Die Direktinvestitionen aus dem Ausland haben in den vergangenen vier Jahren einen durchschnittlichen Umfang von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Kein anderes Land in Südamerika kommt auf diese Quote. Und weitere Megaprojekte sind bewilligt oder sind in der Genehmigungsphase.
Die Zellstoffmultis Arauco (Chile) und Stora Enso (Schweden-Finnland) beabsichtigen, eine weitere Fabrik mit einer Jahreskapazität von 1,3 Millionen Tonnen am Río de la Plata zu bauen. Insgesamt sollen 2,3 Mrd. US-Dollar investiert werden.
Eine weitere Milliarden-Investition für eine Zellstofffabrik plant das portugiesische Unternehmen Portucel. Und zukünftig wird es im bislang kaum erschlossenen Inland auch um Bergbau gehen.
Der multinationale Konzern Zamin Ferrous hat die Genehmigung erhalten, jährlich 18 Millionen Tonnen Eisenerz abzubauen, aufzubereiten und in der Küstenprovinz Rocha (die bisher zu Recht mit dem Slogan „Rocha – ein Naturparadies“ für sich wirbt) einen gigantischen Hochseehafen zum Abtransport des Materials zu bauen.
Die Auseinandersetzung um dieses Megaprojekt werden die betroffenen Viehzüchter und Kleinbäuerinnen – und bauern sowie die Umweltorganisationen in Uruguay ohne internationale Unterstützung führen müssen – denn eine internationale Brücke, die spektakulär zu blockieren wäre, findet sich im dünn besiedelten Inland von Uruguay nicht.

Erstmal wieder offen drüber reden

Ganz geben sich die AktivistInnen auf der argentinischen Seite nicht geschlagen: Anfang September wurde die internationale Brücke General San Martín über den Río Uruguay, den Grenzfluss zwischen Uruguay und Argentinien, wieder für einige Stunden blockiert. Zuvor war der Verkehr für 79 Tage ungestört über die Brücke gerollt, die das argentinische Gualeguaychú mit dem uruguayischen Fray Bentos verbindet. Anlass für die Wiederaufnahme der Blockade waren Äußerungen des uruguayischen Außenministers Luis Almagro, der kategorisch ausgeschlossen hatte, dass die umstrittene Zellstofffabrik irgendwann geschlossen und abgebaut wird. Dieses Maximalziel wollen die argentinischen Umweltgruppen nicht aufgeben – und so kam der erneute Protest nicht überraschend.
Der Streit um die im uruguayischen Fray Bentos installierte Zellulosefabrik des finnischen Konzerns UPM (vormals im Besitz des ebenfalls finnischen Multis Botnia) schwelt seit 2006. Nach über drei Jahren Blockade der Brücke hatten die AktivistInnen aus dem argentinischen Gualeguaychú Mitte Juni 2010 aufgegeben.
Gelöst ist der Konflikt um die mit einer jährlichen Kapazität von einer Million Tonnen aktuell größten Fabrik zur Herstellung von Zellulosepaste freilich noch nicht. Die wichtigste Straßenverbindung zwischen den beiden Ländern ist zwar wieder passierbar – und nach über fünf Jahren harter, zum Teil chauvinistisch-aufgeladener Reibereien zwischen den beiden „Bruderstaaten“ ist auch wieder die Chance frei für offene Diskussion über dieses Megaprojekt in Uruguay. So zum Beispiel über den Wasserverbrauch: Nach Angaben von UPM werden in Fray Bentos täglich 86 Millionen Liter Wasser verbraucht. Oder über den Einsatz von Chemikalien: Täglich werden 400 Tonnen Chemie eingesetzt. Auch die Arbeitsplatzbilanz fällt anders aus als versprochen: Als die Fabrik 2005 genehmigt wurde, war das Versprechen von 9.000 dauerhaften Arbeitsplätzen das Argument der BefürworterInnen, darunter auch des Präsidenten Tabaré Vázquez. Heute arbeiten dort etwa 350 Angestellte. Die Provinz Río Negro, in der die Fabrik angesiedelt ist, ist diejenige mit der höchsten Arbeitslosigkeit im ganzen Land. Und es könnte auch endlich offen über die forstwirtschaftlichen Monokulturen generell gesprochen werden: Von 1990 bis 2009 hat sich die Fläche, auf der Eukalyptusbäume und Pinien angebaut werden, von 45.000 Hektar auf 900.000 Hektar verzwanzigfacht. Das bedeutet, dass in mehr als der Hälfte des Waldbestandes in Uruguay heute keine heimische Baumart mehr zu finden ist. Seit 1987 sorgten Subventionen, Steuererleichterungen und zinsgünstige Kredite für diese massive Ausbreitung der Monokulturen. Die Bäume wurden gezielt in extrem dünn besiedelten Regionen angepflanzt, Weideland und artenreiche Urwälder mussten profitorientierten Baumplantagen weichen. Als das Mitte-Links Bündnis Frente Amplio 2005 an die Regierung kam, wurden zwar die umstrittenen Subventionen abgeschafft, der Boom der „Grünen Wüsten“ ging aber ungebremst weiter.
Ermöglicht wurde die erstmalige Entspannung im Konflikt zwischen Argentinien und Uruguay durch das Urteil des internationalen Gerichtshofes in Den Haag. Argentinien hatte am 5. Mai 2006 dort Klage eingereicht. Das Urteil fiel salomonisch aus: Am 20. April 2010 entschieden die Richter, dass einerseits Uruguay mit der Baugenehmigung für das mit über einer Milliarde US-Dollar bis dahin größte Investitionsprojekt in Uruguay gegen das 1975 von beiden Staaten ratifizierte Abkommen zur gegenseitigen Konsultationsverpflichtung verstoßen habe. Andererseits komme es aber nach Meinung des Gerichts nicht zu den von Argentinien beanstandeten Umweltverschmutzungen im Río Uruguay, und die Republik Uruguay habe ihre Verpflichtungen zur Umweltkontrolle ausreichend wahrgenommen. Der Betrieb der Zellstoff-Fabrik könne daher fortgesetzt werden und Uruguay sei zu keinerlei Ausgleichszahlungen, wie von argentinischer Seite gefordert, verpflichtet.
Für Uruguay bedeutet das Urteil allerdings eine kleine Delle, hatte doch der erste Mitte-Links-Präsident des Landes, Tabaré Vázquez, nur 15 Tage nach seinem Amtsantritt die Genehmigung für den Bau der Botnia-Fabrik am Río Uruguay erteilt – obwohl er sich noch im Wahlkampf vehement dagegen ausgesprochen hatte. Vázquez musste sich vom Gerichtshof vorwerfen lassen, die internationalen Abkommen mit Argentinien verletzt zu haben. Zumindest auf politischer Ebene zwischen den beiden Staaten scheint der Konflikt, der in den letzten fünf Jahren fast zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und zu einem persönlichen Zerwürfnis zwischen den beiden ehemaligen Präsidenten, Néstor Kirchner und Tabaré Vázquez, geführt hatte, damit aber dennoch gelöst zu sein. Drei Monate nach dem Schiedsspruch aus Den Haag vereinbarten die beiden amtierenden Staatsoberhäupter, Cristina Fernández de Kirchner und José Mujica, ein Abkommen zur gemeinsamen Kontrolle des Grenzflusses Río Uruguay. Eine Kommission mit je zwei WissenschaftlerInnen aus beiden Ländern soll die Umweltverschmutzung durch Industrieanlagen überwachen. Über die genauen Details des Abkommens wird derzeit noch verhandelt. Auf uruguayischer Seite geht es den Umweltorganisationen weniger um die Forderung nach einer Verlegung der Fabrik in Fray Bentos, sondern vielmehr darum, eine grundsätzliche, kritische Diskussion über den nach wie vor zunehmenden Ausverkauf des fruchtbaren Landes an ausländische Konzerne, die Ausweitung der Monokulturen in Forstwirtschaft und der Gen-Soja-Pflanzungen, die Steuerbefreiungen und den mangelnden Schutz sowie die unzureichende Förderung der kleinen Landwirtschaftsbetriebe endlich zu beginnen.
Nach einem Ende des Investitionsbooms in Uruguay sieht es allerdings nicht aus: Die Direktinvestitionen aus dem Ausland haben in den vergangenen vier Jahren einen durchschnittlichen Umfang von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Kein anderes Land in Südamerika kommt auf diese Quote. Und weitere Megaprojekte sind bewilligt oder sind in der Genehmigungsphase.
Die Zellstoffmultis Arauco (Chile) und Stora Enso (Schweden-Finnland) beabsichtigen, eine weitere Fabrik mit einer Jahreskapazität von 1,3 Millionen Tonnen am Río de la Plata zu bauen. Insgesamt sollen 2,3 Mrd. US-Dollar investiert werden.
Eine weitere Milliarden-Investition für eine Zellstofffabrik plant das portugiesische Unternehmen Portucel. Und zukünftig wird es im bislang kaum erschlossenen Inland auch um Bergbau gehen.
Der multinationale Konzern Zamin Ferrous hat die Genehmigung erhalten, jährlich 18 Millionen Tonnen Eisenerz abzubauen, aufzubereiten und in der Küstenprovinz Rocha (die bisher zu Recht mit dem Slogan „Rocha – ein Naturparadies“ für sich wirbt) einen gigantischen Hochseehafen zum Abtransport des Materials zu bauen.
Die Auseinandersetzung um dieses Megaprojekt werden die betroffenen Viehzüchter und Kleinbäuerinnen – und bauern sowie die Umweltorganisationen in Uruguay ohne internationale Unterstützung führen müssen – denn eine internationale Brücke, die spektakulär zu blockieren wäre, findet sich im dünn besiedelten Inland von Uruguay nicht.

// DOSSIER: GLAUBE HOFFNUNG MACHT

(Download des gesamten Dossiers)

Foto: Sub Coop

Kleine Altare am Wegesrand, körperteilgroße Kruzifix-Tätowierungen, betende Fußballteams, Gott lobende Staatspräsidenten, mit Heiligenbildern bemalte Busse, Taxis und Lastwagen – leicht finden sich unzählige Beispiele von der Präsenz des christlichen Glaubens im Alltag Lateinamerikas. Im Sprachgebrauch sind Floskeln wie „Gott möge dich segnen“ oder „so Gott es will“ so allgegenwärtig, dass deren religiöser Ursprung schon fast nicht mehr auffällt.

Im vorliegenden Dossier der Lateinamerika Nachrichten soll kritisch hinterfragt werden, wo, wie und warum christliche Religionen in Lateinamerika Einfluss auf politische, gesellschaftliche und auch private Entwicklungen nehmen. Dabei möchten wir sowohl ergründen, wie die (katholische) Kirche so bedeutend wurde und wo sie es heute noch ist, als auch beleuchten, an welchen Stellen andere Akteure aktiv werden und warum. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die zunehmende Bedeutung evangelikaler Kirchen auf dem Subkontinent. Ergänzend gehen wir auch der Frage nach der historischen und aktuellen Bedeutung der Befreiungstheologie nach.

Seit der Eroberung Lateinamerikas durch Spanien und Portugal haben katholische Missionare den christlichen Glauben gepredigt und – teils auch gewaltsam – verbreitet. Zwar konnten indigene Religionen nie gänzlich ausgelöscht werden, doch die Bedeutung des christlichen – noch immer größtenteils katholischen – Glaubens ist bis heute ungleich höher. Die Unabhängigkeit der Länder Lateinamerikas von den Kolonialmächten schwächte die Macht der katholischen Kirche zwar in einigen Ländern, wie beispielsweise in Uruguay, doch sie hat noch immer unter allen Glaubensrichtungen auf dem Subkontinent die größte Anhängerschaft. Ihre Macht hat die katholische Kirche historisch wie auch heute stets sehr unterschiedlich genutzt. War sie während der Militärdiktaturen in einigen Ländern Handlanger der Diktatoren, so bot sie in anderen Ländern oppositionellen Bewegungen Raum und Schutz für den Widerstand. Und während auf der einen Seite vielerorts Bischöfe mit ultra-konservativen Moralvorstellungen Einfluss auf Bildungspolitik und Sexualmoral nahmen und nehmen, so hat auch die Befreiungstheologie ihren Ursprung in Lateinamerika und wirkt dort bis heute fort. Diese zwiespältige Einflussnahme katholischer Institutionen und Gemeinden spiegelt sich bis heute überall in Lateinamerika.

Während die Verflechtung von Kirchenführung und Staatsapparat beispielsweise in Nicaragua höchst kritisch betrachtet werden muss, so leistet an anderen Orten die Kirche oftmals (die einzige) gesellschaftliche und soziale Arbeit gerade für diejenigen Menschen, die in Armut und Ausgrenzung unter den Folgen der neoliberalen Politiken unserer Zeit am meisten leiden. Hier wirkt die Kirche oft nicht nur karitativ sondern auch sinnstiftend.
Diese Unterschiede im gesellschaftlichen Handeln finden sich auch in den Kirchen evangelikaler Glaubensrichtungen wieder. Während ihre teils ausbeuterische und oftmals streng konservative Glaubenspraxis immer wieder in die Kritik gerät, leisten viele Gemeinden Arbeit in Bereichen, die von staatlichen Institutionen längst vergessen wurden.

Das Dossier bietet mit Artikeln zu sehr unterschiedlichen Beispielen der Einflussnahme sowohl katholischer als auch evangelikaler Kirchen einen Einblick in das komplexe Feld der christlichen Religiosität Lateinamerikas.
Für die Bebilderung des Dossiers wurden zwei Fotoreportagen des Kollektivs Cooperativa Sub ausgewählt, die Beispiele der Präsenz des christlichen Glaubens im argentinischen Alltag zeigen. Dabei erheben weder die Artikel- noch die Bildauswahl Anspruch auf Vollständigkeit. Wir möchten mit dem Dossier vielmehr Denkanstöße liefern. Für Informationen und Hintergründe über unsere Artikelauswahl hinaus haben wir am Ende des Dossiers eine Literaturliste zusammengestellt.

Ein ambivalentes Verhältnis

Chile im Jahr 1974: Kardinal Silva Henríquez, Erzbischof von Santiago, verweigert der Militärregierung einen Dankgottesdienst zum „Jahrestag der Regierungsübernahme“ – also des Putsches vom 11. September 1973. Der Diktator ist brüskiert, da seine an „christlichen Werten“ orientierte Regierung nicht auf die verdiente Rückendeckung der katholischen Kirche zählen kann. Er erhält aber religiöse Unterstützung von einigen Pfingstkirchen: Am 14. Dezember 1974 wird das erste protestantische „Te Deum“ abgehalten – ein Dankgottesdienst zu Ehren der Militärjunta und Pinochets. Die Unterstützung durch die zahlenmäßig damals noch unbedeutende Pfingstkirche kann einen Legitimitätsverlust durch die Kritik der katholischen Kirche zwar nicht ausgleichen. Dennoch dient sie als „Beleg“ für die christlichen Werte der Militärregierung.
Argentinien im Jahr 1976: Der in Menschenrechtsfragen engagierte Bischof Enrique Angelelli kommt bei einem fingierten Verkehrsunfall ums Leben. Zwar deutet alles auf ein Attentat hin, doch die Urheber bleiben im Dunkeln. Zuvor hatte sich in Angelellis Bistum eine sehr volksnahe Kirche entwickelt, die zum Ziel militärischer Repression geworden war: Hunderte von Laien wurden verfolgt, Ordensfrauen inhaftiert. Kurz nachdem Angelelli den Mord an zwei seiner Priester angezeigt und öffentlich gemacht hatte, ereignet sich der „Unfall“. Selbst nach diesem Vorfall distanziert sich die katholische Kirchenführung Argentiniens nicht vom Regime, das sich 1976 an die Macht geputscht hatte. Die Mehrheit der Bischöfe Argentiniens schwieg während der gesamten Zeit der Militärdiktatur zu deren massiven Menschenrechtsverletzungen; einige unterstützten das Regime ausdrücklich.
El Salvador im Jahr 1977: Am 12. März wird Pater Rutilio Grande SJ, Pfarrer von Aguilares, heimtückisch erschossen. Der befreiungstheologisch inspirierte Jesuit hatte sich für die Verbesserung der Lebenssituation von LandarbeiterInnen sowie Kleinbauern und -bäuerinnen stark gemacht. Oscar Romero, damals Erzbischof der Hauptstadt San Salvador und dem Ermordeten freundschaftlich verbunden, fordert die Aufklärung des Attentats. In einem Brief an Staatspräsident Arturo Armando Molina teilt er mit, dass er solange an keinen offiziellen Feierlichkeiten teilnehmen werde, bis der Fall aufgeklärt sei. Im Sommer 1977 nimmt Erzbischof Romero dann scharfe Kritik in Kauf, als er der Amtseinführung von Molinas Nachfolger, General Carlos Humberto Romero, aus Protest fern bleibt, da dieser durch massiven Wahlbetrug an die Macht gekommen war.
Die genannten Beispiele zeigen die Ambivalenz, die der katholischen Kirche im Hinblick auf politische Macht und deren Legitimation zukommen. In Lateinamerika ist die Bedeutung von Religion besonders ausgeprägt: Die Zahl der Konfessionslosen ist sehr gering. Bei Umfragen ist die Kirche stets die Institution, der die höchsten Vertrauenswerte zufallen – nur die Feuerwehr schneidet in einzelnen Ländern besser ab. Auch im weltweiten Vergleich bestätigt sich diese Beobachtung. Der „Religionsmonitor“, eine breit angelegte Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zur gesellschaftlichen Bedeutung von Religion, berücksichtigte in seiner jüngsten Erhebung aus dem Jahr 2008 Guatemala und Brasilien. Nach Nigeria haben diese beiden Länder den höchsten Anteil an sogenannten (Hoch-)Religiösen weltweit. Als „Hochreligiöse“ bezeichnet die Studie jene, bei denen „religiöse Inhalte eine zentrale Rolle in der Persönlichkeit“ spielen; bei „Religiösen“ kommen religiöse Inhalte und Praktiken vor, spielen jedoch eine untergeordnete Rolle. Gemäß diesen Definitionen gelten in Brasilien 72 Prozent der Bevölkerung als „hochreligiös“ und 24 Prozent als „religiös“, in Guatemala sind es 76 beziehungsweise 20 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland gelten 18 Prozent der Bevölkerung als „hochreligiös“ und 52 Prozent als „religiös“.
Um die große Bedeutung von Religion und die besondere Rolle der katholischen Kirche in Lateinamerika besser zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte: Von Anfang an gingen Conquista und Missionierung Hand in Hand. Die Mission – oft als „geistige Conquista“ bezeichnet – diente nicht nur der Unterwerfung der Indígenas und der Herrschaftssicherung, sie hatte auch eine legitimierende und „sinnstiftende“ Funktion: Es ging um die „Rettung der Seelen“.
Die spanische Krone hatte sich von Papst Alexander VI. die Besitzrechte an den entdeckten Territorien sichern lassen und sich damit zugleich verpflichtet, die Indigenen zum Christentum zu bekehren. Die Königshäuser Spaniens und Portugals erhielten das sogenannte Patronatsrecht – eine Art Schutzherrschaft über die Kirchen in der Neuen Welt: Dies beinhaltete unter anderem das Recht auf Errichtung von Bistümern, Ernennung von Bischöfen sowie Auswahl und Aussendung des Missionspersonals. So entstand eine äußerst enge Verbindung von Krone und Kirche beziehungsweise von Politik und Religion. Dabei waren die Träger der Mission zum einen Orden wie die Dominikaner, Franziskaner oder Jesuiten und zum anderen die SiedlerInnen selbst, die im Rahmen des encomienda-Wesens zur Mission verpflichtet waren. Die auf ihren Besitzungen lebenden Indígenas wurden den Siedlern „anvertraut“ (encomendar bedeutet „anvertrauen“). Während die Indígenas zu Arbeitsdiensten und Abgaben verpflichtet waren, oblag den Grundherren die Christianisierung der Untergebenen. Religion diente dazu, Ausbeutung und Abhängigkeitsverhältnisse zu legitimieren.
Doch bereits damals gab es eine religiös begründete Herrschaftskritik: Eine herausragende Figur war hier Bartolomé de las Casas (1484 bis 1566), der selbst encomendero gewesen war. Später gab er seine Besitzungen auf und versuchte von der spanischen Krone Schutzgesetze sowie Reservate für Indigene zu erwirken, zu denen außer den Missionaren keine Weißen Zutritt haben sollten.Das Wirken dieser herrschaftskritischen Missionare zeigte gewisse Erfolge: 1537 schrieb Papst Paul III. die Menschenwürde und Menschenrechte der Indigenen fest und erklärte die friedliche Evangelisierung zur einzig angemessenen Art der christlichen Mission. 1542 schaffte König Karl V. das encomienda-Wesen in den meisten Regionen Lateinamerikas ab und untersagte die Versklavung der Indigenen. Auch wenn auf Druck der Kolonialgesellschaft wichtige Bestimmungen später wieder zurückgenommen wurden, galt fortan eine Strategie der Trennung: Zumindest jene Regionen, in die die Conquistadores noch nicht vorgedrungen waren, sollten nicht mehr militärisch erobert, sondern durch das Wirken der Missionare zum Christentum geführt und dem spanischen Weltreich angegliedert werden. Zwar ist aus heutiger Sicht die Indienstnahme der Religion für kolonialpolitische Ziele sehr kritisch zu sehen, dennoch bedeutete dieser Schritt damals eine deutliche Verbesserung der Situation der Indigenen – auch wenn durch die Missionierung ihre ursprünglichen Religionen zurückgedrängt wurden.
Einen fundamentalen Einschnitt in der Beziehung von Kirche und Staat stellte die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Provinzen von Spanien dar. Der Kirche, vormals integraler Bestandteil des Kolonialsystems, fehlte der Ansprechpartner. Die neuen Staaten reklamierten jenen weltlichen Einfluss nun für sich, den zuvor das Patronatsrecht der Krone zugebilligt hatte. Das führte besonders in Ländern mit einem starken liberalen Flügel zu erheblichen Spannungen. Liberalismus war in Lateinamerika gleichbedeutend mit Antiklerikalismus. Aus Sicht der Liberalen symbolisierte die Kirche die Rückständigkeit der Gesellschaft.
So kam es, dass sich das Verhältnis von Kirche und Staat in den einzelnen Ländern unterschiedlich entwickelte. In Uruguay beispielsweise, das heute am wenigsten katholische Land Südamerikas, waren im 19. und 20. Jahrhundert die liberalen Kräfte besonders stark. Die Religion wurde in den Bereich des Privaten verlagert. Die so in die Enge getriebene Kirche zog sich in eine katholische Eigenwelt zurück. Sie konnte kaum mehr als politische oder gesellschaftliche Kraft auftreten. So kommt es, dass man in Uruguay christliche Feiertage wie Weihnachten, Heilige drei Könige oder Ostern vergebens in den offiziellen Kalendern sucht. Stattdessen finden sich dort Bezeichnungen wie „Familientag“ für den 24. Dezember, „Tag der Kinder“ für den 6. Januar und die Karwoche vor Ostern heißt „Semana de Turismo”.
Als anlässlich des Todes von Papst Johannes Paul II. in der Botschaft Uruguays beim Heiligen Stuhl ein Gottesdienst gefeiert wurde, an dem auch die Präsidentengattin teilnahm, wurde dies in Uruguay öffentlich sehr kontrovers diskutiert. Was in anderen Ländern Lateinamerikas selbstverständlich wäre, provoziert in Uruguay Protest und zeigt einmal mehr, wie sehr der laizistische Charakter zum Selbstkonzept der uruguayischen Gesellschaft gehört.
Ganz anders sieht es im Nachbarland Argentinien aus. In der nación católica spielt die Kirche eine zentrale politische und gesellschaftliche Rolle. Der Katholizismus ist eine Quelle der nationalen und kulturellen Identität. Noch bis zur Verfassungsreform von 1994 musste der Staatspräsident katholisch sein. Über Jahre hinweg hat die katholische Kirche durch ihre Kanäle öffentliche und politische Debatten, wie beispielsweise um Empfängnisverhütung, maßgeblich mitgeprägt.
Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich das Staat-Kirche-Verhältnis in den lateinamerikanischen Nationen, das wesentlich durch die Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt wurde. In allen Fällen aber führte die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten zu einer engeren Anbindung der Kirche an den Vatikan. Man versprach sich in diesen unsicheren, bewegten und zum Teil feindlichen Zeiten Orientierung und Unterstützung vom Papst. Gleichzeitig versuchte die Kirche angesichts der Herausforderungen des Liberalismus aber auch, die Gläubigen stärker an sich zu binden. In dieser Zeit entstanden so zahlreiche kirchliche Vereine und Gruppierungen der „Katholischen Aktion“, die zur „Verchristlichung“ der jeweiligen Lebenswelten beitragen sollten.
Nach den Herausforderungen, die durch die Unabhängigkeit von Spanien für die Kirche entstanden, markieren die politischen Ereignisse der 1960er und 1970er Jahre den nächsten entscheidenden Einschnitt für die Positionierung der katholischen Kirche Lateinamerikas gegenüber der politischen Macht. In dieser Zeit putschten sich in zahlreichen Ländern des Subkontinents Militärjuntas an die Macht. Vielerorts wurden Andersdenkende verfolgt, darunter viele engagierte Christinnen und Christen. Die Kirche musste ihr Verhältnis zu den Staaten neu bestimmen. Dabei hing die Haltung der kirchlichen Hierarchie vor allem von prägenden Einzelpersönlichkeiten und von der traditionellen Rolle der Kirche in den jeweiligen Ländern ab.
In Chile hatte 1925 eine Trennung von Kirche und Staat stattgefunden. Die Kirche jedoch hatte als unabhängige Instanz die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Land weiter beobachtet und begleitet. Diese Konstellation ermöglichte ihr eine kritische Haltung gegenüber dem Pinochet-Regime. Die Bischöfe Chiles kritisierten das Militärregime öffentlich. Das von Raúl Silva Henríquez, Erzbischof von Santiago, eingerichtete Solidaritätsvikariat unterstützte Menschen, die von der Militärregierung verfolgt wurden: Tausende Verfolgte wurden außer Landes geschleust, Inhaftierten und ihren Angehörigen Rechtsbeistand geleistet, Menschenrechtsverletzungen untersucht und dokumentiert. In den 1980er Jahren konnte sich so im Schutz der Kirche die verfolgte parteipolitische Opposition neu formieren – nach zähen Verhandlungen mit den Militärs gelang 1989 die Rückkehr zur Demokratie.
In Argentinien hingegen war die Position der Kirche gegenüber dem zivil-militärischen Regime eine komplett andere: Hier war die Kirche sehr eng mit der politischen Macht verwoben und distanzierte sich nicht von der Militärjunta. Abgesehen von den Äußerungen einzelner Bischöfe, schwieg die Mehrheit des Episkopats zu den massiven Menschenrechtsverletzungen. Der Apostolische Nuntius Pio Langhi war gut mit Admiral Massera, einem Mitglied der Junta, befreundet, spielte mit ihm Tennis, traute seine Kinder und taufte seine Enkel. In den Gefängnissen und Haftzentren waren sogar Priester bei Folterungen anwesend und beruhigten das Gewissen der Soldaten.
Nach dem Ende der Diktaturen war die Kirche in vielen Ländern in der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen engagiert: Bischöfe waren Mitglieder staatlicher Wahrheitskommissionen und kirchliche Menschenrechtsbüros leisteten wichtige Beiträge bei der Begleitung der Opfer oder der Aufarbeitung der Verbrechen.
Heutzutage ist die katholische Kirche weiterhin der größte und bestorganisierte zivilgesellschaftliche Akteur in Lateinamerika und der Karibik: Im Jahr 2000 zählte sie hier rund 440 Millionen Mitglieder, über 1.100 Bischöfe, 63.000 Priester und 130.000 Ordensleute. Dazu kommen knapp 30.000 Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft wie Krankenhäuser, Gesundheitszentren oder Kindergärten, zahllose Schulen und Universitäten, Pfarreien, Vereine und Verbände, Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen. Besonders in strukturschwachen Regionen vieler Länder übernimmt die Kirche heute Aufgaben, denen der Staat aus verschiedenen Gründen nicht nachkommt.
Ihre institutionelle Stärke nutzt die Kirche, um auf Politik und Gesellschaft einzuwirken. Auch wenn sich in Lateinamerika (formal) demokratische Systeme durchgesetzt haben und sich der Subkontinent makroökonomisch gut entwickelt, bestehen massive politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme wie Armut und Exklusion, Gewalt und mangelhafte Rechtsstaatlichkeit, Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte, fort. Vielerorts melden sich beispielsweise Bischöfe, die weithin als moralische Autoritäten angesehen werden, gegen Korruption und polizeiliche Gewalt zu Wort.
Und auch der Umweltschutz ist ein wichtiges Themenfeld der Kirche geworden: Im Norden Perus dauern die Konflikte um die Erschließung neuer Kupferminen durch ein internationales Bergbauunternehmen an. Die Kirche stellte sich hier auf die Seite der betroffenen Bevölkerung, die von Minengesellschaft und Regierung massiv eingeschüchtert wurde. Bischof Daniel Turley erhielt bereits mehrere Todesdrohungen. Ähnlich in Brasilien: Im Jahr 2005 wurde in Amazonien die Ordensfrau Dorothy Stang ermordet, die sich dort gegen den illegalen Holzeinschlag eingesetzt hatte, der von HolzfabrikantInnen und GroßgrundbesitzerInnen systematisch betrieben wird.
In den vergangenen Jahren ist jedoch auch ein Erstarken konservativer Strömungen innerhalb des Katholizismus in Lateinamerika festzustellen. Neben konservativen Bischöfen zählen vor allem Gruppierungen wie das Opus Dei, das Sodalitium Christianae Vitae oder die Legionäre Christi. Diese konservativen Strömungen verfügen oftmals über besonders gute Einflussmöglichkeiten und Kontakte zu den politischen EntscheidungsträgerInnen: So gelang es der Kirche beispielsweise in Chile bis zum Jahr 2004 eine rechtliche Regelung der Ehescheidung zu verhindern. Ebenso blockierte die Kirche in verschiedenen Ländern die Einführung von Sexualkunde-Unterricht in Schulen. In Nicaragua wurde auf Druck der Kirche kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2006 ein totales Abtreibungsverbot durchgesetzt (siehe hierzu auch den Artikel von Andrés Pérez Baltodano in diesem Dossier). Diese konservativen Strömungen unterstreichen in besonderer Weise die Bedeutung des päpstlichen Primats und dessen Lehrautorität sowie der einheitlichen Ausrichtung der Weltkirche an Rom. Hinsichtlich der Moral und Ethik betonen sie individualethische Aspekte und die Notwendigkeit zur persönlichen Umkehr. Sozialpastorales Engagement wird so zur Hilfe aus Barmherzigkeit und ist nicht auf die Notwendigkeit gerechterer Strukturen und das empowerment der armen Bevölkerungsschichten ausgerichtet. Besonders in Ländern mit starker befreiungskirchlicher Tradition, wie Brasilien, Peru, El Salvador oder Mexiko, treten deshalb innerkirchliche Spannungen besonders zu Tage.
Doch diese stellen nicht die einzige Herausforderung für die katholische Kirche Lateinamerikas dar: Den grundlegendsten Wandel der religiösen Situation Lateinamerikas seit der Missionierung stellt der Aufstieg der Pfingstbewegung dar. Erstmals befindet sich die katholische Kirche in einer Konkurrenzsituation. Schon heute kann man davon ausgehen, dass auf dem „katholischen Kontinent“ an einem durchschnittlichen Sonntag mehr Mitglieder von Pfingstkirchen als KatholikInnen in den Gotteshäusern sitzen.
Die Pfingstkirchen stellen in sich eine heterogene Bewegung dar: Das Spektrum reicht von jenen, die sich der sozialen Problematik stellen und befreiungstheologische Impulse kreativ aufnehmen und fortschreiben, über biblizistisch-fundamentalistische Kirchen bis hin zu erfolgs- und profitorientierten Mega-Churches (siehe auch den Artikel von Adrián Tovar und Jens Köhrsen in diesem Dossier).
Diese religiöse Pluralisierung birgt Herausforderungen für Gesellschaft und Kirche und wirft auch die Frage nach einem angemessenen Umgang mit christlich-fundamentalistischen Strömungen auf: Wie geht eine Gesellschaft mit religiösen Gruppen um, die ihr eigenes religiöses Werte- und Regelsystem absolut setzen und durch (kirchen-) politische Einflussnahme versuchen, diesen Ansichten eine möglichst allgemeine Verbindlichkeit zu verschaffen? Wie reagieren Kirchen auf polarisierende Gruppen in ihrem Inneren? Was bieten die neuen religiösen, zum Teil fundamentalistischen Bewegungen innerhalb wie außerhalb des Katholizismus, was die Gläubigen bei der katholischen Kirche nicht finden?
Egal wie die Antworten lauten mögen, die katholische Kirche wird in Lateinamerika einer der zentralen religiösen und zivilgesellschaftlichen Akteure bleiben. Dafür sprechen zumindest ihre historische Rolle sowie ihre strukturelle Stärke. Zudem haben die Veränderungen des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat in den vergangenen Jahrzehnten der katholischen Kirche in vielen Ländern zu mehr Unabhängigkeit verholfen. Regierungen legitimieren sich nicht mehr religiös, sondern durch demokratische Verfahren und Politikerfolge. Diese Unabhängigkeit, die oft mit einer Abnahme direkter Einflussmöglichkeiten einhergeht, bietet durchaus Chancen für die Kirche. Sie kann als kritische Beobachterin der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung auftreten. Statt über institutionalisierte Kanäle Einfluss zu nehmen oder mit der Autorität eines religiösen Hegemons aufzutreten, muss sie heute durch Argumente überzeugen.

Jawort für die Homoehe

Esteban Paulón lebt in Rosario, der drittgrößten Stadt Argentiniens, gelegen in der Provinz Santa Fé im Norden des Landes. Vier Stunden ist der Ort von der Hauptstadt Buenos Aires entfernt. Paulón ist in den letzten Jahren regelmäßig dorthin gefahren, um das Unvorstellbare möglich zu machen: Argentinien ist das erste Land Lateinamerikas, in dem Lesben und Schwule die Zivilehe eingehen können – mit sämtlichen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Noch unglaublicher ist der Erfolg, wenn man bedenkt, dass Argentinien, anders als Brasilien oder Uruguay, kein laizistischer Staat ist. So heißt es schon in Artikel 2 der Verfassung: „Die Bundesregierung schützt die römisch-katholisch-apostolische Religion.“
Mitte Juli verfolgte das ganze Land eine intensiv und breit geführte Parlamentsdebatte im Fernsehen, live und nahezu ohne Unterbrechung: Es ging um eine Gesetzesänderung, die gleichgeschlechtlichen Paaren nicht nur wie bisher die eingetragene Partnerschaft, sondern die zivile Eheschließung erlaubt. Es war einer jener Momente, die Geschichte atmen.
Esteban Paulón trat bereits als 18-jähriger der Sozialistischen Partei bei. Aufgrund seines strategischen und organisatorischen Talents wurde er zum Verantwortlichen für die Jugendorganisation der Partei ernannt. Mit 20 Jahren hielt er den Moment für gekommen, sich seinen GenossInnen gegenüber als schwul zu outen. Und ihnen zu verkünden, er werde einen Großteil seines Engagements dem Kampf für sexuelle Vielfalt widmen.
„Esteban ist ein sehr mutiger Mensch. Er hat uns vermittelt, wie sehr Diskriminierung und Heterosexismus mit unserem Alltag zu tun haben“, erzählt einer seiner KampfgefährtInnen im Beso, einer von Travestis besuchten Diskothek in Rosario. „Er lehrte uns, von Genossen und Genossinnen zu sprechen“, fügt er hinzu, „und nicht Schimpfwörter wie ‚Stricher‘ zu verwenden. Das war eine enorme Umstellung. Erstmals machten wir uns ernsthaft Gedanken über solche Dinge und vertraten sie mit Stolz politisch nach außen.“ Sprache spielte eine wichtige Rolle, da sie auch Erfahrungen verkörpert: Estebans Lieblingsdisko in Rosario heißt Zuflucht.
Paulón ist derzeit Vorsitzender der Argentinischen Föderation der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans (FALGBT) und erläutert die Schritte zum Erfolg so: „Wir hätten es nie geschafft, die Ehe für gleichgeschlechtliche PartnerInnen auf die Agenda zu bringen, wenn wir nicht AktivistInnen im ganzen Land zusammengebracht hätten. 2005 organisierten wir in Rosario ein großes Treffen der Organisationen, die sich für sexuelle Vielfalt einsetzen.“ An dem Treffen teilgenommen haben der Verband der Travestis, Transsexuellen und Transgender Argentiniens (ATTTA), die Gruppen Nexo und Vox de Rosario, die Lesbenorganisation La Fulana und die AIDS-AktivistInnen von Buenos Aires Sida. „Wir gründeten dann die FALGBT, die zum wichtigsten Instrument wurde, die gleichgeschlechtliche Ehe auf nationaler Ebene juristisch voranzubringen“.
Im nächsten Schritt baute Paulón ab Oktober 2006 das erste Referat für sexuelle Vielfalt in der Stadtverwaltung von Rosario auf. So wurde begonnen, die Forderungen für Gleichheit und Antidiskriminierungsschutz der FALGBT zu institutionalisieren. Später wurde der Aktivist Berater der sozialistischen Abgeordneten Silvia Augsburger im Nationalkongress. Augsburger brachte dort schließlich ein Gesetzesvorhaben zur Ausweitung der Ehe ein, die mittels einer Reform des Zivilgesetzbuches erreicht werden sollte.
Während Paulón das politische Feld bestellte, kämpfte María Rachid mit juristischen Mitteln. Die Repräsentantin von La Fulana und Vorgängerin Paulóns im Vorsitz der FALGBT startete ihre Kampagne genau an dem Ort, der Lesben und Schwulen bisher verschlossen blieb: dem Standesamt. María Rachid und ihre Partnerin Claudia Castro ließen sich von einem Notar bezeugen, dass ihnen im Gegensatz zu Hunderten von heterosexuellen Paaren ein Termin für die Eheschließung verweigert wurde. Dann legten sie Verfassungsbeschwerde ein, da sie den konstitutionellen Gleichberechtigungsgrundsatz verletzt sahen.
Zu diesem Zeitpunkt existierte im Gebiet der Hauptstadt bereits die so genannte Unión Civil (eingetragene Partnerschaft), die es hetero- wie homosexuellen Paaren gleichermaßen erlaubt, bestimmte Rechte in Anspruch zu nehmen, etwa eine Krankenversicherung über den Partner abzuschließen. Einige Rechte schließt die Unión Civil im Gegensatz zur Ehe jedoch aus: das Recht, den Partner zu beerben zum Beispiel oder gemeinsam Kinder zu adoptieren. So empfanden viele der AktivistInnen die eingetragene Partnerschaft als eine Art Trostpreis, der gleichgeschlechtliche Paare von der Ehe fern halten sollte. „Gleiche Rechte unter gleichem Namen“, lautete daher das Motto der FALGBT-Kampagne für die Homo-Ehe.
Rachid und Castro waren nicht die einzigen, die den Kampf mit dem Justizapparat aufnahmen. Die erste Ehe zwischen zwei Personen desselben Geschlechts, die in Lateinamerika rechtlich anerkannt wurde, war die zwischen Alex Freyre und José María Di Bello. Den zwei Männern, beide Homo-Aktivisten und HIV-positiv, gelang die Trauung trotz der zahlreichen rechtlichen Schritte, die von der Vereinigung Katholischer Rechtsanwälte gegen sie eingelegt wurden. Allerdings konnten sie nicht in der Hauptstadt Buenos Aires heiraten. Und das obwohl ihnen dort die Richterin Gabriela Seijo das Recht auf Eheschließung zuerkannt hatte und selbst der rechte Bürgermeister Mauricio Macri seinen Widerstand aufgegeben hatte, nachdem er von BeraterInnen vor Popularitätsverlusten gewarnt worden war. Schlussendlich waren die Widerstände dennoch zu groß – Freyre und Di Bello reisten heimlich bis nach Ushuaia, die Hauptstadt der abgelegenen Provinz Feuerland, um sich das Jawort zu geben.
Im weiteren Verlauf gelang es noch vier weiteren gleichgeschlechtlichen Paaren zu heiraten. Darunter auch Norma Castillo und Ramona Arévalo, zwei 67-jährige Damen, deren Hochzeit im vergangenen April das ganze Land bewegte. Daraufhin begann sich auch der Kongress mit der Frage zu beschäftigen. Bereits Ende des vergangenen Jahres stand Augsburgers Gesetzesvorhaben kurz davor, in der Abgeordnetenkammer debattiert zu werden. Ein bevorstehender Vatikan-Besuch der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner stoppte jedoch den Vorstoß; die Regierungsfraktion verwies darauf, man wolle ihr nicht „das Foto kaputt machen“.
Doch die AktivistInnen der FALGBT ließen nicht locker. Sie trieben ihre Kampagne für die Gesetzesänderung voran und brachten das Thema in die Öffentlichkeit, um die Gesellschaft und damit so viele Abgeordnete wie möglich, für das Thema zu sensibilisieren.
In den frühen Morgenstunden des 5. Mai stimmte die Abgeordnetenkammer nach dreizehnstündiger Debatte schließlich der Reform des Zivilgesetzbuches zu. Der Tag machte unabhängig von Parteizugehörigkeiten deutlich, wer von den Abgeordneten konservativ und wer liberal ist. Sie waren bei der Abstimmung nur ihrem Gewissen unterworfen, es bestand kein Fraktionszwang. Der Regierungsblock aus Sozialistischer Partei, Bürgerkoalition und Radikaler Bürgerunion stimmten mehrheitlich für den Vorschlag. Überraschend war, dass die Reform von den konservativen peronistischen Parteien, wie PRO und Föderaler Peronismus, allen Erwartungen zum Trotz nicht einstimmig abgelehnt wurde.
Auch die Kirche agierte nicht einheitlich. „Ein Teil wollte das Projekt nicht angreifen, ein anderer sehr wohl. Zunächst schienen sich die Gemäßigten durchzusetzen, die davon ausgingen, man müsse sich nicht einmischen, da der Vorstoß schon von selbst scheitern würde“, kommentiert Esteban Paulón, „Ich glaube, sie haben die Zustimmung in der Abgeordnetenkammer nie für möglich gehalten. Erst als auch Ex-Präsident Kirchner und zehn parlamentarische Gruppen für die Reform stimmten, wurde ihnen die Stärke der Befürworter bewusst.“
Daraufhin konzentrierten sich die GegnerInnen der Gesetzesänderung auf den Senat, wo in der notwendigen zweiten Abstimmung die endgültige Entscheidung erst noch getroffen werden musste. Dort verfügten sie über eine starke Verbündete: die erzkatholische Senatorin Liliana Negre de Alonso.
Paulón zufolge hatte es in den Tagen vor der verbindlichen zweiten Abstimmung im Juli dieses Jahres zudem einen erheblichen „Stimmungsumschwung“ in der Gesellschaft gegeben. Es fand eine große Kundgebung gegen das Projekt statt, um die „argentinischen Familie“ zu verteidigen. „Ich glaube, die Gegner des Gesetzes wurden einfach übermütig und sagten unglaubliche Sachen, wie zum Beispiel, dass dies ‚der Krieg Gottes‘ sei“, erinnert sich Paulón an die Gegenkampagne der Kirche.
Doch die Stimmungsmache wurde nicht so aufgenommen wie erwartet. Paulón weist auf einen weiteren strategischen Fehler der Kirche hin: Diese hatte in Córdoba den Priester Nicolás Alessio suspendiert, der sich zuvor zusammen mit anderen Geistlichen aus den Armenvierteln von Buenos Aires und Mendoza für gleiche Eherechte ausgesprochen hatte. „Selbst Journalisten sagten uns, wenn die Mikrofone ausgeschaltet waren: ‚Das mit Alessio war einfach unklug‘. Die Entscheidung zeigte die Arroganz der Kirchenspitze überdeutlich.“ Außerdem hatte es auch in Argentinien Fälle von Kindesmissbrauch in Kirchenkreisen gegeben, was ihr eigentlich nicht unbedingt erlaubt hätte, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen, so Paulón weiter.
Trotzdem rechneten Paulón und seine MitstreiterInnen damit, dass die Macht der Kirche ungebrochen sein würde. „Schließlich gibt es hier in jedem Dorf eine Kirche, aber keine Organisation für sexuelle Vielfalt. Ein Senator erklärte uns sogar, dass er gegen den Entwurf stimmen werde, da er seine Wahl dem Bischof seiner Provinz zu verdanken habe. Ein anderer befürchtete, sein Bischof würde andernfalls sämtliche Kirchen abklappern und schlecht über ihn reden.“ Doch die Stimmung kippte in Richtung Befürwortung: Überraschend wurde auch im zweiten Durchgang für die Gesetzesänderung gestimmt.
Dazu beigetragen hat auch das Verhalten der Regierung Kirchner. Ein paar Tage vor der Abstimmung nahm die Präsidentin zwei katholische Senatorinnen mit auf eine diplomatische Reise nach China und entzog dem Entscheid damit Nein-Stimmen. Da Kirchner im Ausland war, musste Vizepräsident Julio Cobos, erklärter Gegner der Homo-Ehe, die Präsidentschaft übernehmen. Somit konnte er nicht als Senatspräsident die Abstimmung leiten. Die Strategie ging auf: Am Morgen des 15. Juli ging die interessanteste Parlamentsdebatte des Landes seit Jahren mit einer Entscheidung von 33 Ja-Stimmen gegen 27 Nein-Stimmen zu Ende.
Paulón hält für ausschlaggebend, dass sie mit ihrer Kampagne viele PolitikerInnen davon überzeugen konnten, dass die Stimmung im Lande wohlwollend sei und die Mehrheit der Bevölkerung hinter der Reform stehe. „In Wirklichkeit haben wir die Meinungslage positiver dargestellt, als es vielleicht der Fall war“, gesteht Paulón und lacht. Jetzt könne er die Strategie ja offen legen.
Und was kommt als nächstes? „Ein Gesetz, das es Transgender-Personen erlaubt, den von ihnen gewünschten Namen im Personaldokument zu führen. Und ein weiteres, das den Staat und die privaten Gesundheitssysteme zur Übernahme der Kosten für selbstbestimmte, geschlechtsangleichende Operationen verpflichtet. Was kommt, ist ein Land mit mehr Vielfalt“.

// Übersetzung: Sebastian Henning

Die Welt von unten betrachten

Eduardo Galeano betrachtet die „Welt von unten nach oben“ und hat dafür seine eigene besondere Kunstform geschaffen, die „dokumentarische Poesie“, wie Galeano seinen Schreib- und Erzählstil selbst nennt. 1971 wurde er damit weltbekannt, als Die offenen Adern Lateinamerikas, sein wichtigstes Werk, erschien. Bis heute ist dieser Klassiker der politisch-historischen Literatur Lateinamerikas ein Dauerbrenner. Er wurde weltweit übersetzt (2009 in einer neuen Übersetzung im Peter-Hammer-Verlag erschienen) und ist ein Identifikationssymbol für linke Intellektuelle und AktivistInnen in Lateinamerika. Anhand einer Vielzahl von Beispielen beschreibt Galeano einerseits die Ausbeutung Lateinamerikas, andererseits Widerstand und Rebellion.
In seinem zweiten Hauptwerk, der 1983 bis 1988 ebenfalls beim Peter-Hammer-Verlag erschienenen Trilogie Erinnerung an das Feuer setzt er diesen Stil konsequent fort: er erzählt von präkolumbischen Mythen, beginnend mit der Schöpfung, von historischen Figuren und Geschichten über das rebellische Lateinamerika und endet im Jahr 1984, dem letzten Jahr seines Exils in Spanien, wo er seine 1.100 Seiten zählende „Geschichte“ Amerikas verfasste. Sein schönstes, poetischstes und am wenigsten dokumentarisches Werk ist vielleicht das 1991 auf Deutsch erschienene Das Buch der Umarmungen. Die Geschichten des Erzählers Galeano sind hier privater, liebevoller und auch humorvoller, ein heiteres Buch, in dem er von Freundschaften, Weissagungen und Träumen erzählt. Ein literarischer Stil, der sich auch in seinem jüngsten Werk, dem 2009 erschienenen Band Fast eine Weltgeschichte: Spiegelungen wiederfindet.
Eduardo Hughes Galeano wurde am 3. September 1940 in Montevideo als Sohn einer katholischen Familie der oberen Mittelklasse mit spanischen, englischen und deutschen Wurzeln geboren und arbeitete in seiner Jugend u.a. als Fabrikarbeiter, Maler und Schreibkraft. Früh begann er journalistisch und publizistisch zu arbeiten, von 1961 bis 1964 leitete er die Marcha, eine über Uruguay hinaus sehr einflussreiche linke Wochenzeitung, bei der auch Mario Vargas Llosa und Mario Benedetti mitarbeiteten. Marcha wurde 1974 durch die Militärdiktatur verboten. Danach war er als Chefredakteur von Epoca und als Leiter der Publikationsabteilung der Universität von Montevideo tätig. Mitte 1973 wurde er kurz nach dem Putsch der Militärs inhaftiert, konnte aber noch im selben Jahr ins benachbarte Argentinien fliehen.
In Buenos Aires verantwortete er die Literaturzeitschrift Crisis, an der unter anderem Rodolfo Walsh, Juan Gelman und Julio Cortázar beteiligt waren und die in den Jahren 1973 bis 1976 zum meistverkauften Kulturmagazin in spanischer Sprache wurde. Als auch in Argentinien die Generäle die Macht an sich rissen, musste Galeano, der auf einer Todesliste der Junta stand, erneut fliehen. Dieses Mal nach Spanien, wo er ab 1976 in der Nähe von Barcelona lebte. Nach dem Ende der Militärdiktatur kehrte er 1985 in sein Heimatland zurück. Er beteiligte sich an führender Stelle an der Entstehung der Wochenzeitung Brecha, die sich in der Nachfolge von Marcha gründete. Bis ins Jahr 2000 war er Mitglied des Herausgeberkollektivs, dem auch Mario Benedetti angehörte. Und bis heute hat er großen Einfluss auf die wichtige linke Wochenzeitung, die sich gerade auch seit dem Amtsantritt der ersten linken Regierung in Uruguay im März 2005 als Stimme der unabhängigen Linken versteht.
Unabhängigkeit ist ein wichtiges Stichwort für den mit vielen internationalen Literaturpreisen ausgezeichneten Galeano. Bis heute beschreibt er sich als ein von der Dependenztheorie geprägten Sozialist (einer Mitte der 1960er Jahre in Lateinamerika entstandenen Entwicklungstheorie, die die Abhängigkeiten zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern thematisiert). Und diese Unabhängigkeit hat er sich auch gegenüber den linken Regierungen in seinem Land bewahrt, die er mit viel Einsatz und viel Sympathie im Wahlkampf unterstützte, die er aber auch immer wieder kritisiert. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen linken SchriftstellerInnen Uruguays wie z.B. dem durch seine Theaterstücke auch in Deutschland bekannt gewordenen Ex-Tupamaro Mauricio Rosencof.
Vor allem Galeanos Engagement gegen die Zellulose-Fabriken multinationaler Unternehmen und generell gegen die Pflanzung von Eukalyptus-Monokulturen und den Anbau von Gen-Soja wird ihm von vielen AktivistInnen des regierenden Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio übelgenommen. Tabaré Vázquez, der von 2005 bis 2010 regierende erste Links-Präsident Uruguays, schmähte ihn öffentlich und blieb demonstrativ allen Veranstaltungen, bei denen der politische Aktivist Galeano auftrat, fern. Ein weiteres Thema, für das sich Galeano in den letzten Jahren immer wieder einsetzt, ist der Kampf für das Menschenrecht auf Wasser. Vor allem bei der Kampagne für das Verbot der Privatisierung des Wassers, die dazu führte, dass rund 64 Prozent der UruguayerInnen am 31. Oktober 2004 in einer Volksabstimmung dafür stimmten, dem Schutz des Wassers Verfassungsrang einzuräumen, engagierte sich Galeano.
Sein politisches Thema ist und bleibt aber der Kampf gegen das Vergessen: Erinnerung ist für Eduardo Galeano das Wichtigste. Seit Jahren streitet er für die Annullierung der Straffreiheit für die Schergen der Militärdiktatur in seinem Heimatland Uruguay, setzt sich für die Suche nach den Verschwundenen der lateinamerikanischen Schreckensregime der 1970er und 1980er Jahre ein und ist auch heute noch ein unbestechlicher Mahner gegen das Vergessen: „Ohne Erinnerung wird Lateinamerika seine Identität, seine Eigenständigkeit, seinen eigenen Weg nicht finden“.

Es ging ums Ganze

Die Vorgänge von 1968 zu erforschen sowie die Erinnerung an die AkteurInnen und ihre Ziele wachzuhalten, ist auch zwei Jahre nach dem großen Rummel um die StudentInnenproteste ein wichtiges Anliegen. Das bereits im Januar bei Assoziation A erschienene Buch Kontinent der Befreiung? spürt den Facetten des Widerstands jener Generation in Lateinamerika nach.
Das AutorInnenkollektiv, Studierende des Lateinamerika-Instituts der Berliner Freien Universität, versucht dabei auch zu ergründen, welche Zusammenhänge zwischen den Bewegungen dort und den Protesten hier bestanden. Das Symboljahr wird in den Kontext der 1960er und 1970er Jahre eingebettet, ohne das Woher und Wohin der ProtagonistInnen auszublenden. Die erfolgreiche Revolution in Kuba wird dabei als eines der entscheidenden Momente ausgemacht, das unzählige Menschen – nicht nur in Lateinamerika – politisierte und zum Ansporn für die eigene emanzipatorische Arbeit wurde. Eine sozial gerechte Gesellschaft auch im eigenen Land zu erkämpfen, war zum Impuls einer ganzen Generation geworden – nur die Schlussfolgerungen der Beteiligten unterschieden sich bekanntlich.
Nicht von ungefähr betonen die HerausgeberInnen auch den Stellenwert der Befreiungstheologie. Anhand der Porträts zweier ihrer VertreterInnen wird deutlich, wie auch engagierte ChristInnen radikalisiert wurden, welchem Widerstand sie innerhalb der Kirche ausgesetzt waren und wohin ihr Weg sie führte. So fiel der kolumbianische Guerilla-Priester Camilo Torres, der sich 1965 der Nationalen Befreiungsarmee ELN angeschlossen hatte, bereits bei seinem ersten Gefecht gegen die Regierungstruppen. Der Nicaraguaner Ernesto Cardenal, Gründer der Kommune von Solentiname und später Kulturminister der SandinistInnen, befindet sich heute bekanntermaßen im Konflikt mit dem Präsidenten und Ex-Revolutionär Daniel Ortega.
Vertiefende Beiträge zu einzelnen sozialen Bewegungen befassen sich mit Mexiko, Kolumbien, Uruguay, Peru und Brasilien. Die staatliche Reaktion wird in einem eigenen Kapitel an den Beispielen Argentinien, Uruguay, Nicaragua und Mexiko aufgezeigt. Es finden sich zahlreiche Porträts bekannter und weniger bekannter AktivistInnen sowie engagierter Intellektueller jener Zeit, etwa von Paco Ignacio Taibo II und Gioconda Belli oder dem Ex-Tupamaru und heutigen Präsidenten Uruguays, José Mujica. In dem Porträt Marta Harneckers, heute Politikberaterin der venezolanischen Regierung, wird auch die Entwicklung in Chile angerissen, die ansonsten jedoch merkwürdig unterbelichtet bleibt.
Der Band betrachtet auch die soziokulturellen Umbrüche jener Zeit: sexuelle Befreiung, Feminismus, Fernsehen und das neue politische Kino. Das Buch zeichnet sich neben der inhaltlichen Breite vor allem durch die leichte Zugänglichkeit auch für Laien und Jugendliche aus; die kurz gehaltenen Beiträge werden durch zahlreiche Fotos ergänzt. Abgerundet wird Kontinent der Befreiung? durch den Blick auf Spuren von 68 in der Erinnerungskultur Mexikos und Brasiliens sowie eine systematische Kurzdarstellung der Situation in den einzelnen Ländern.

Kollektive Ignoranz

Die Farben des Regenbogens tauchten den zentralen Platz vor dem Kongress in Buenos Aires in buntes Licht. Indigene Organisationen hatten ihn am vergangenen 25. Mai mit ihren wiphalas, den traditionellen siebenfarbigen Fahnen, in Beschlag genommen, um mit ihrer Veranstaltungsreihe El otro Bicentenario (Die andere Zweihunterjahrfeier) daran zu erinnern, dass Argentinien nicht nur ein Einwandererland ist.
Un país con espacio para todos (Ein Land mit Platz für alle) war hingegen das Motto der ofiziellen Feiern zum argentinischen Bicentenario, bei dem mit großem Aufwand an den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Argentiniens von Spanien gedacht werden sollte. Die Geschichte der Indigenen, von denen es heute in Argentinien nur noch wenige gibt, hatte darin keinen Platz.
Die fast komplette Auslöschung der indigenen Bevölkerung wird im öffentlichen Geschichtsdiskurs Argentiniens kaum erwähnt. Stattdessen werden „Helden”, wie der ehemalige Kriegsminister Julio Argentino Roca gefeiert. Unter dessen Führung waren in einem Vernichtungskrieg gegen die argentinische Urbevölkerung, der sogenannten Wüstenkampagne, tausende Indigene ermordet worden. Aufgrund seiner „militärischen Erfolge” wurde Roca 1880 Präsident Argentiniens.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten in den riesigen Gebieten Patagoniens und der Pampa, die von den weißen SiedlerInnen kurz nach der Unabhängigkeit Argentiniens noch kaum erschlossen waren, zahlreiche indigene Gruppen. Doch der damalige Präsident Juan Martín de Pueyrredón hatte beschlossen, die Wirtschaft Argentiniens durch intensive Fleisch- und Agrarproduktion für den Export voranzubringen. Und dafür brauchte er Land.
Pueyrredón sah die Indigenen als „Besetzer” von nationalem Boden, den es „zurück” zu erobern galt. So schickte er hunderte Soldaten gegen die Indigenen ins Feld. Auch 1.000 Indigene, die vorher gefangen genommen worden waren, wurden zu der Teilnahme an dem Feldzug gezwungen. Zusätzlich warb Pueyrredón Söldner aus Europa an. Unter ihnen war auch der junge Leutnant Friedrich Rauch aus Baden, der 1818 nach Argentinien kam und dort schnell Karriere machte. Bereits drei Jahre später war er um drei Ränge zum Major aufgestiegen, und nach einem aus Sicht der Eroberer glorreichen Sieg gegen die Indigenen 1827 wurde der „Schrecken der Wüste” als Held gefeiert. Dass er zwei Jahre darauf bei einem Scharmützel von dem Mapuche Arbolito („Kleiner Baum”) getötet wurde, vergrößerte nur den Mythos um ihn.
Der Historiker Jorge Charata schrieb damals, die Indigenen seien Räuber des Landes gewesen, das sie bewohnten. Zu ihrer Auslöschung gebe es keine Alternative, da sie nur nach einer sehr langen Evolution produktiv sein könnten. Das könne die Regierung nicht abwarten ohne Gefahr zu laufen, ökonomisch zu verarmen, so Charata weiter. Die Wissenschaftskommission Argentiniens erklärte 1881, bei den Indigenen handele es sich um eine „junge, (…) sterile Rasse”, die die fruchtbare Erde nicht angemessen nutzen könne, dafür sei eine „intellektuelle Überlegenheit” nötig. Sie müsse deshalb um jeden Preis und restlos ausgelöscht werden.
Allein in den Feldzügen zwischen Juli 1878 und Januar 1879 gab es insgesamt 26 Militäroperationen gegen Indigene, die von 6.000 modern bewaffneten Soldaten durchgeführt wurden. Die dort ansässigen indigenen Gruppen verloren 550.000 Quadratkilometer Land; 1.314 ihrer Krieger und sechs ihrer Anführer starben. Zudem wurden rund 11.000 Männer und Frauen gefangen genommen und nach Geschlecht getrennt. Die Männer wurden auf die Insel Choele Choel gebracht, wo sie später starben. Die Frauen mussten in Buenos Aires als Hausangestellte arbeiten. Viele Angehörige der Ethnie der Mapuche flüchteten über die Grenze nach Chile. Nur wenige Gruppen, angesiedelt in abgelegenen Regionen Patagoniens oder der nördlichen Berge, überlebten den Vernichtungsfeldzug. Im Kompendium Die Geschichte Argentiniens heißt es dazu: „Sie hatten nur drei Alternativen: Sich zu ergeben, zu fliehen oder zu sterben.”
Eines der wichtigsten Ziele der Feldzüge gegen die Indigenen wurde schnell erreicht: Noch in Julio Rocas erster Amtsperiode als Präsident wuchs der Außenhandel Argentiniens in nie gekanntem Ausmaß. Der Wohlstand im Land stieg an, zahlreiche Projekte zur Erweiterung der Infrastruktur wurden umgesetzt. Argentinien zählte zeitweise zu einem der reichsten Länder der Erde, Buenos Aires wurde zu einer modernen Weltmetropole. Außerdem wurde durch die Vertreibung der indigenen Bevölkerung Land für neue EinwanderInnen frei gesetzt. Allein zwischen 1880 und 1886 immigrierten fast eine halbe Million Menschen nach Argentinien. Juan José Cresto, der frühere Direktor des Nationalen Historischen Museums und Präsident der Academia Argentina schrieb dazu, dass das gesamte Gebiet der Pampa schon vor den Feldzügen in Parzellen zu 10.000 Hektar aufgeteilt worden war, die für 400 Silberpesos pro Landtitel verkauft wurden. Damit wurde das Fundament für den Großgrundbesitz im Land gelegt, auf dem viele Familien bis heute ihren Wohlstand aufbauen. Es war Platz für alle, die das nötige Kleingeld mitbrachten.
Heute hat Argentinien mit unter zwei Prozent den zweitniedrigsten Anteil an indigener Bevölkerung in Südamerika, nur Uruguay hat weniger. Nach den Gründen dafür fragen die NachfahrInnen der damaligen ImmigrantInnen heute kaum. Das wiederum liegt unter anderem an der Art und Weise, wie nationale Geschichte in Argentinien überliefert wird. Im Eingangsbereich des Historischen Museums in Buenos Aires hängen drei riesige Bilder, die die Schlachten während der Wüstenkampagne illustrieren – aus Sicht der Sieger, versteht sich. Ein Wand füllendes Gemälde mit dem Titel Militärische Besetzung der Provinz Río Negro – 1879 von Juan Manuel Blanes zeigt eine Gruppe von Feldherren auf Pferden, mit Roca im Zentrum. Rechts von ihm ist, ebenfalls zu Pferd, eine Gruppe von Wissenschaftlern zu sehen. Die meisten von ihnen sind Deutsche. Die Forscher begleiteten das Heer, um die von Weißen noch unerschlossenen Gebiete zu dokumentieren. Links neben den Reitern zeigt das Gemälde eine Gruppe von Indigenen zu Fuß. Die Informationstafel des Bildes nennt „die Eroberung des Río Negro, die zugleich die Eroberung von leerem Raum war” ein „historisches Paradigma”. Sie habe den „Triumph der Zivilisation über die Barbarei” erreicht, welche auf dem Bild „durch die Indios repräsentiert” sei. Das Gemälde sei zur Erinnerung an Rocas Sieg von ihm selbst in Auftrag gegeben und in das Historische Museum gebracht worden, an dessen Gründung er als Präsident beteiligt war. Die Namen der Dargestellten sind auf einer Tafel gewissenhaft dokumentiert – außer die der Indigenen.
Auf die Frage, warum man für die Eroberung von „leerem Raum” ein Heer braucht, lieferte Museumsdirektor Cresto eigenwillige Antworten. In seiner Logik war die Wüste tatsächlich menschenleer – jedenfalls zum Zeitpunkt der Ankunft Kolumbus’ in Südamerika. Erst im 18. Jahrhundert seien Indigene in die Gebiete eingezogen, die Roca kurz darauf eroberte. „El desierto”, ein Begriff, der auch „menschenleere Wüste” heißt, sei vollständig leer und unbewohnt gewesen, so Cresto. Zudem hätten die Eroberer den Indigenen ihre Kultur zugänglich gemacht und ihnen folglich langfristig einen Gefallen getan. „Für den Neanderthaler sind die modernen Menschen ja auch keine gewaltsamen Eroberer” schrieb Cresto in einem Artikel in der Tageszeitung La Nación vom November 2004 – und meint das noch nicht einmal polemisch.
Der Artikel löste unter HistorikerInnen und Indigenenverbänden eine hitzige Debatte aus. Linke HistorikerInnen kritisierten, die „Wüste” sei keineswegs unbewohnt gewesen – warum hätten die Indigenen auch unter Einsatz ihres Lebens Gebiete verteidigen sollen, die sie weder bewohnten noch wirtschaftlich nutzten? Zudem wurde Cresto dafür kritisiert, dass er die Existenz von Indigenen in Argentinien leugnete: „Sie sind keine Indigenen, sondern Argentinier wie alle anderen auch, ohne besondere Rechte.”
Der große Kontrahent Crestos in diesem Geschichtsstreit ist der Historiker und Journalist Osvaldo Bayer. In seiner Lesart der Geschichte hat Julio Roca einen Genozid begangen. Das Weltbild von HistorikerInnen wie Crespo, die Roca blind verteidigen, ist für ihn geprägt von maßloser kultureller Arroganz. Sein öffentlich vorgetragener Vorschlag, die nach Leutnant Friedrich Rauch benannte Stadt Rauch in der Provinz Buenos Aires in „Arbolito“ umzubenennen und damit den Kaziken zu würdigen, der den badischen General damals tötete, brachte Bayer 1963 für zwei Monate ins Gefängnis. Nach dem Militärputsch 1976 musste er wegen seines 1972 publizierten Buches Patagonia Rebelde (Aufständisches Patagonien) ins deutsche Exil fliehen.
Bis heute sind die Sieger der Vernichtungskriege gegen die indigene Bevölkerung weiter in der Geografie des Landes präsent – in unzähligen Straßenamen und historischen Denkmälern. Rocas Statue oder die nach ihm benannten Straßen und Plätze, sind in jeder argentinischen Stadt mehrfach zu finden. Eine kritische Einordnung seiner Person von offizieller Seite sucht man hingegen vergeblich.
Osvaldo Bayer weist darauf hin, dass es in der Hauptstadt keine Straße gibt, die an die Indigenen des Landes erinnert, hingegen viele, die Eroberern Ehre erweisen. Für ihn ist all das Teil eines großen Geschichtsrevisionismus, der dazu dient, die Schattenseiten des Nationalisierungsprozesses Argentiniens zu verschleiern. Gemeinsam mit Indigenenverbänden hat er Initiativen zur Umbenennung der Straßen und Plätze ins Leben gerufen. Roca-Statuen werden von kritischen AkteurInnen immer wieder mit Graffitis und Sprüchen in roter Farbe versehen, die eine andere Geschichtsschreibung im Stadtbild sichtbar machen sollen.
Im August 2008 wurde im Nationalkongress ein Thema verhandelt, das Bayer schon seit Jahren beschäftigt: das Portrait Julio Rocas, das den 100-Peso-Schein ziert, durch das Bild der Unabhängigkeitskämpferin Juana Azurduy zu ersetzen. Es sei nicht gut, auf dieser wichtigen Banknote „einen Mann abzubilden, der tausende Indigene ermordet hat, um ihnen Patagonien zu rauben” so die Abgeordnete Cecilia Merchán, die den Vorschlag einbrachte. Der Vorschlag wurde als Polemik diskreditiert und abgelehnt.
Bayer wird indessen von jungen ArgentinierInnen als Landesverräter beschimpft. Für eine/n Teilnehmer/in eines historischen Diskussionsblogs mit dem Nickname „M Paris” waren Feldzüge gegen die Indigenen in der Geschichte Argentiniens beispielsweise eine historische Notwendigkeit. M Paris bedankt sich inständig bei „all den Männern und Frauen, die so viel für ihr Vaterland opferten“. So sehen viele Nachkommen der EinwanderInnen ihre Vergangenheit: Als Errungenschaft ihrer Vorfahren.

Wahlmüde am Río de la Plata

Jetzt ist zumindest für vier Jahre Wahlpause. Uruguay hat einen einjährigen Wahlmarathon hinter sich und sogar den UruguayerInnen, die den Ruf genießen, bei Wahlen und Volksabstimmungen immer vorbildlich ihre Kreuzchen zu machen, reicht es jetzt. Die Beteiligung bei den regionalwahlen am 9. Mai war wegen der Wahlpflicht mit über 90 Prozent hoch wie immer, neu war aber der Anteil der Enthaltungen und ungültigen Stimmen, der über 15 Prozent lag. Dies ist eine Verfünffachung des Wertes im Vergleich zu vorangegangen Wahlen.
Das Ergebnis der Wahlen in der Hauptstadt besitzt durchaus einen Nachrichtenwert: Im Gegensatz zum traditionell von „alten Männern“ – das gilt von rechts bis links – dominierten Land am Río de la Plata befanden sich in Montevideo unter den fünf KandidatInnen drei Frauen. Mit Ana Olivera zieht erstmals eine Frau als Oberbürgermeisterin ins Rathaus von Montevideo ein. Zudem ist die 56 Jahre „junge“ ehemalige Staatssekretärin im Sozialministerium auch noch Kommunistin. Im dreifachen Sinne eine Neuigkeit in Uruguay, die auf den ersten Blick für einen Politikwechsel auch bei der Mitte-Links-Koalition Frente Amplio, für die Olivera angetreten ist, spricht.
Aber für das Parteienbündnis des seit dem 1. März 2010 amtierenden Staatspräsidenten José „Pepe“ Mujica ist das Ergebnis eine Schlappe. „Die Wähler haben uns die Ohren langgezogen“, so der erste Kommentar seines Vizes, Danilo Astori, direkt nach der Wahl. Nur noch 46 Prozent der HauptstädterInnen stimmten für die Frente Amplio. Ein deutlicher Rückgang. 2005 erreichte Ricardo Ehrlich, der Vorgänger von Olivera, noch 61 Prozent. Dem Sieg in der Hauptstadt, die seit 20 Jahren von der Frente Amplio regiert wird, waren lange Querelen im Mitte-Links-Bündnis vorausgegangen. Erstmals hatte die Einheitskandidatur der Frente Amplio auf der Kippe gestanden, da sich einflussreiche Sektoren gegenseitig blockierten. Vorgeschlagen wurde dann schließlich die Kommunistin Olivera, die von Pepe Mujica als Sozialministerin in seiner neuen Regierung vorgesehen war. Diese wurde dann von den Basiskomitees der Frente Amplio als Kandidatin aufgestellt und mit 100 von 102 Stimmen bestätigt. Olivera hat sich bislang vor allem für soziale Fragen und mehr Partizipation engagiert. Der allseits anerkannten Fachfrau fehlt aber sowohl persönliches Charisma als auch politische Unterstützung. Denn die kommunistische Partei Uruguays (PCU) steht heute für nur fünf Prozent der WählerInnen der Frente Amplio. Und außer beim Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT verfügt die Partei über keine Hausmacht mehr.
Gerade mit den Gewerkschaften wird sich die neue Bürgermeisterin der Anderthalb-Millionen-Stadt in den nächsten fünf Jahren streiten müssen. ADEOM, die komprisslos auftretende Gewerkschaft der städtischen Bediensteten, befindet sich seit Jahren mit der Stadtregierung im Clinch. Zum Unmut vieler BürgerInnen legt sie bevorzugt immer mal wieder die Abfallentsorgung lahm. Der stetig zunehmende Individualverkehr, das wenig moderne städtische Bussystem, die steigende Kleinkriminalität und die prekäre Wohnsituation vieler BewohnerInnen Montevideos sind weitere Probleme, die die linken Stadtregierungen in den letzten 20 Jahren nicht lösen konnten. Immer mehr WählerInnen sind dementsprechend enttäuscht und wenden sich ab, sehen allerdings in der konservativen Opposition auch keine Alternative. Eine Erklärung für den hohen Anteil ungültiger Stimmen bei der Wahl.
Dieser Abwärtstrend bei der Linken, der in Montevideo offensichtlich wurde, spiegelt sich auch im Rest des Landes wider. In der Summe übertrafen landesweit die beiden konservativen Parteien, Blancos und Colorados, mit rund 45 Prozent aller Stimmen die Frente Amplio um gut drei Prozent. Das seit der Gründung der „Breiten Front“ im Jahre 1971 historisch stete Anwachsen der Linken wurde gestoppt. Von den insgesamt 19 Provinzen gingen zwölf an die liberalkonservativen Blancos, zwei an die rechtskonservativen Colorados und nur fünf – darunter allerdings die bevölkerungsreichsten Provinzen – konnte die Frente Amplio für sich verbuchen.
Auch bei den erstmals durchgeführten Wahlen für die neu geschaffenen Bezirke in den großen Städten und in allen Ortschaften über 5.000 EinwohnerInnen, musste die Linke Federn lassen. Obwohl in Montevideo alle acht Bürgermeisterämter an die Frente Amplio gingen, fiel die Mehrheit der landesweit 89 Bezirksämter an die Opposition, die Linke konnte nur 41 Bezirke für sich gewinnen. Die Dezentralisierungsreform, die am 3. Februar 2010 vom Parlament beschlossen wurde, war der letzte politische Willen des Ende Februar aus dem Amt geschiedenen ersten Mitte-Links-Präsidenten Tabaré Vázquez. Dieser hatte noch eilig die beschlossenen Neuerungen gegen seine eigene Partei und gegen die Opposition durchgesetzt. Sowohl Parteimitglieder wie auch die Opposition hatten sich hingegen für einen gründlichen Informationsprozess und eine längere Planungsphase eingesetzt und wollten die Bezirkswahlen erst 2015 erstmals durchführen lassen.
Nun stellt sich bei der Frente Amplio eine Art Katzenjammer ein – und der Ruf nach grundlegenden Veränderungen sowohl in Bezug auf die Organisationsstrukturen des Bündnisses als auch in Bezug auf die Führungspersönlichkeiten wird immer lauter. Zumal auch der neue Präsident, „Pepe“ Mujica, mit seiner Regierung bislang wenig Impulse setzen konnte und es noch keine attraktiven Vorschläge für große politische Projekte mit hoher Bindungskraft gibt. „Der Kapitalismus wird bisher nur verwaltet“, so die Kritik von Constanza Moreira, einer Senatorin von Mujicas eigenem politischen Sektor, der Bewegung für die Beteiligung des Volkes MPP. Für die Politologin liegt die Zukunft der Frente Amplio hingegen darin, dass der „sozialdemokratische Weg“ verlassen wird und der Staat stärker dafür Sorge trägt, dass die soziale Ungleichheit nicht weiter zunimmt beziehungsweise reduziert wird. Genau vor dieser Aufgabe steht auch Ana Olivera in Montevideo. In der Hauptstadt Uruguays, die einerseits auch 2010 im Ranking der lebenswertesten Städte Lateinamerikas wieder auf einem der vordersten Plätze steht, ist die soziale Schere unter den linken Regierungen der letzten 20 Jahre dennoch immer weiter auseinander gegangen.

Gelungener Streifzug durch Uruguay

Uruguay weckt häufig Assoziationen, die an längst vergangene Zeiten erinnern. Sei es die Austragung der ersten Fußball-Weltmeisterschaft 1930 und der zweifache Triumph bei dem Turnier, der einstige Wohlstand in der „Schweiz Lateinamerikas“ oder die Faszination, die ab den 1960er Jahren von der Stadtguerilla der MLN-Tupamaros ausging. Dem Land hafte „in manchem etwas ‚Anachronistisches‘ an“, stellen die HerausgeberInnen des Sammelbandes Uruguay. Ein Land in Bewegung im Vorwort fest. Dass es aber auch heute noch lohnenswert ist, sich mit dem vergleichsweise kleinen Staat am östlichen Ufer des Río de la Plata zu beschäftigen, zeigen die darauf folgenden etwa 260 Seiten.
Angefangen von Geschichte und Geografie, über Politik und soziale Bewegungen, Wirtschaft und Ökologie bis hin zu kulturellen Themen besticht diese „Landeskunde von unten“ durch eine enorme thematische Bandbreite. Neben Persönlichkeiten wie dem Unabhängigkeitshelden José Gervasio Artigas oder bedeutenden Präsidenten des Landes werden spannende linke Biografien vorgestellt. Etwa die der im vergangenen Jahr verstorbenen Tupamara Yessie Macchi, die einer Regierungsbeteiligung der Linken bis zuletzt skeptisch gegenüberstand. Oder die Geschichte des „doppelten Exils“ von Ernesto Kroch. Der jüdische Kommunist floh zunächst vor den Nazis nach Uruguay, bevor er während der uruguayischen Militärdiktatur in den 1970er Jahren den umgekehrten Weg einschlagen musste und Exil in West-Deutschland fand. Dabei wird nicht nur Kroch, der in dem Buch selbst auch als Autor vertreten ist, porträtiert, sondern in einem zusätzlichen Text auch das uruguayische Exil in BRD und DDR beschrieben.
Wo sich die Entwicklung vom Einwanderungs- zum Auswanderungsland wie ein stetiger Abstieg liest, kamen von linken Bewegungen und Organisationen immer wieder wichtige politische Impulse. Zwar konnten die legendären Tupamaros noch vor Beginn der Militärdiktatur (1973 – 1985) militärisch besiegt werden. Bereits 1971 gründete sich mit der Frente Amplio (Breite Front) jedoch eines der ältesten Linksbündnisse Lateinamerikas, in dem die Tupamaros als MPP (Bewegung für Basisbeteiligung) heute die stärkste Fraktion bilden. Während der Hochphase des Neoliberalismus gelang es sozialen Bewegungen und der Frente im Jahr 1992, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen per Referendum zu verhindern. Damit setzte die uruguayische Bevölkerung bereits Jahre vor der viel zitierten „Linkswende“ in Lateinamerika ein bedeutendes Zeichen, indem sie bewies, dass die undemokratische Privatisierung öffentlicher Güter auf demokratische Art und Weise verhindert werden kann. 2003 lehnten die WählerInnen den Teilverkauf der staatlichen Erdölraffinerie ebenfalls ab. 2005 wurde das Recht auf Trinkwasser durch ein weiteres Referendum als elementares Menschenrecht in die Verfassung aufgenommen. Im selben Jahr gewann die Frente Amplio mit dem Mitte-Links-Kandidat Tabaré Vázquez erstmals die Präsidentschaftswahlen und beendete somit die seit der Gründung Uruguays bestehende Zwei-Parteien-Herrschaft der konservativen Blancos und liberalen Colorados. Seit März dieses Jahres amtiert mit dem 74-jährigen bekennenden Anarchisten José „Pepe“ Mujica sogar ein ehemaliger Stadtguerillero, der während der gesamten Militärdiktatur als „Geisel des Staates“ eingekerkert war.
In einem eigenen, wenn auch kurzen Kapitel wird eine ambivalente Zwischenbilanz der Frente Amplio-Regierung gezogen. Die vielseitige Landschaft der sozialen Bewegungen wird hingegen ausführlich vorgestellt. Von Gewerkschaften über die Menschenrechtsbewegung bis hin zu Wohnungsbaukooperativen und alternativen Medien werden zahlreiche Bewegungen behandelt. Die Perspektiven der von regelmäßigen Finanzkrisen gebeutelten uruguayischen Wirtschaft, die sich vor allem um Banken, Fleisch und Papier dreht, werden im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie erörtert. Ein längeres Kapitel ist schließlich der kulturellen Vielfalt Uruguays gewidmet. Das Land hat nicht nur eine erstaunlich reiche Literatur hervorgebracht, wie sich aus den Werken bekannter Autoren wie Eduardo Galeano, Juan Carlos Onetti oder Mario Benedetti ablesen lässt. Auch die musikalischen und in den letzten Jahren immer mehr hervortretenden cineastischen Werke sind beeindruckend. Nicht fehlen dürfen schließlich Fußball, Karneval und Küche, die den kulturellen Teil des Buches abrunden.
Die HerausgeberInnen legen ein facettenreiches und fundiertes Buch über Uruguay vor, das aufgrund seiner thematischen Breite zum Stöbern und quer Lesen einlädt. Insgesamt 50 kurz gehaltene Beiträge deutscher und uruguayischer AutorInnen machen das Buch zu einer idealen Einführung in Land, Geschichte, Politik und Kultur. Doch auch KennerInnen des Landes wird sich sicherlich so manch bisher unbekannter Aspekt eröffnen.

Stefan Thimmel, Theo Bruns, Gert Eisenbürger, Britt Weyde (Hg.) // Uruguay. Ein Land in Bewegung // Assoziation A // Berlin/Hamburg 2010 // 272 Seiten // 18 Euro

Solider Überblick

Wer die Gegenwart und die mögliche Zukunft gerade der neuen linken Bewegungen Lateinamerikas verstehen will, muss sich mit der Geschichte befassen. Gerade auch mit der Ökonomie. Da kommt die Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas gerade recht. Autor Jörg Roesler befasst sich dabei mit der Entwicklung seit der Unabhängigkeit des Kontinents zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute und liefert einen gut gegliederten, soliden Überblick über mehr als 200 Jahre und zwei Dutzend Staaten. Trotz der damit verbundenen Faktenfülle verläuft sich Roesler nicht, sondern es gelingt ihm gerade auch durch eine leicht verständliche Sprache gut in das Thema einzuführen. Ärgerlich ist vor allem aufgrund des Charakters des Buches, dass eine Reihe der im Text nur kurz zitierten Quellen im Literaturverzeichnis nicht aufgelistet sind.
Inhaltlich werden Überblicksabschnitte durch Fallbeispiele vertieft, die die allgemeineren Aussagen klarer machen. Roesler setzt vor der Unabhängigkeit an und beschreibt mit knappen Worten die Wirtschaftspolitik der Conquista, die in gewisser Weise von der kreolischen Elite übernommen wurde. Rohstoffe exportieren, Fertigwaren bis hin zu originär lateinamerikanischen Produkten wie den Poncho importieren, war bis in die 1930er Jahre das Paradigma. Aber nicht überall. Gerade die gescheiterten Versuche von unabhängiger Entwicklung im 19. Jahrhundert, die Roesler beschreibt, lassen die Geschichte besser verstehen.
Der Fall Paraguay ist dabei paradigmatisch. Die politische Führung des Landes hatte sich nach der Unabhängigkeit die eigene Abgeschiedenheit zu Nutze gemacht und auf den Binnenmarkt gesetzt. Mit Erfolg: Die Einwohner litten keinen Hunger, konnten Lesen und Schreiben und die Finanzen des Landes waren in Ordnung. Das durfte aus Sicht der Briten nicht so bleiben. Eine Tripleallianz aus Brasilien, Argentinien und Uruguay – allesamt durch das Export-Import-System von der Weltmacht Großbritannien abhängig – setzten 1864 dem eigenständigen Wirken der Paraguayer ein Ende. In einem blutigen Krieg eröffneten sie mit Unterstützung durch britische Banken den Markt.
Roesler zeigt nicht nur am Fall Paraguay das Dilemma jeder eigenständigen kapitalistischen Entwicklung im Weltmarkt. Wer seinen Markt abschottet, wird dafür bestraft. Auch die importsubstituierende Industrialisierung ist im Kapitalismus nur in weiterer Abhängigkeit möglich, sie endete in der Schuldenkrise der 1980er Jahre. Wenn Jörg Roesler unterschwellig das Modell der endogenen kapitalistischen Entwicklung mit keynesianischen Zügen dem offenkundig stärker ausbeutendem Export-Import-System vorzieht, dann muss er dies mit bedenken. Leider tut er es nicht. Seine Darstellung bleibt zu sehr auf der Ebene des Nationalstaats beschränkt, die er zweifellos kenntnis- und faktenreich darzulegen vermag. Er klammert den Weltmarkt an entscheidenden Stellen leider aus. Doch gerade hier ist einer der notwendigen Ansatzpunkte für eine neue Politik, wie zahlreiche lateinamerikanische Bewegungen es zeigen.
Laut Roesler ist das Scheitern der bisherigen Modelle wohl auch der Grund für den heutigen Zustand, den der Autor als „verwirrende Verbindung von bislang systemisch getrennten Paradigmen“ bezeichnet: Aktive Sozialpolitik und (neo-)liberale Wirtschaftsführung. Als Zwischenschritt für eine tiefgreifende Transformation mag dies indes notwendig sein. Das macht Roeslers Überblick klar, diskutiert es aber nicht.

Jörg Roesler // Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas vom 18. bis zum 21. Jahrhundert // Leipziger Universitätsverlag // 2009 // 242 Seiten // 19 Euro

Ein kleines Land mit großen Visionen

Der ehemalige Blumenzüchter und Stadtguerillero ist Präsident. In Anwesenheit von sieben lateinamerikanischen Staatschefs, darunter Hugo Chávez, Cristina Fernández de Kirchner, Luiz Inácio Lula da Silva, Rafael Correa, Evo Morales und Fernando Lugo, sowie der US-Außenministerin Hillary Clinton legte der 74-jährige José „Pepe“ Mujica vor dem uruguayischen Parlament, in dem in beiden Kammern das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio die Mehrheit stellt, den Amtseid für seine fünfjährige Präsidentschaft ab. Im Gegensatz zu Chile, wo die Mitte-Links-Regierung durch einen rechten Präsidenten abgelöst wurde, steht Uruguay insofern für linke Kontinuität. Dabei gibt es aber auch im 3,4 Millionen EinwohnerInnen zählenden Land am Rio de la Plata auf den ersten Blick verwunderliche Widersprüche. In internationalen Wirtschaftskreisen wird das Investitionsklima in Uruguay gelobt und der Luxusreiseanbieter Art of Travel preist Uruguay als Jetset-Destination. Auf der anderen Seite wird ein ehemaliger Tupamaro-Guerillero und unkonventioneller, sich selbst als Anarchist bezeichnender Autodidakt zum Staatspräsidenten gewählt. Jetset und Pepe Mujica sind (und bleiben es mit Sicherheit auch) ein unauflösbarer Widerspruch, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich auch an. Dafür ist auch Guido Westerwelle ein Beispiel. Der liberale Bundesaußenminister, der sich im März 2010 für wenige Stunden auf Staatsbesuch in Montevideo aufhielt, zeigte sich beeindruckt vom ehemaligen Stadtguerillero, der in den 1960er Jahren Banken ausraubte, und will die bilateralen Beziehungen ausbauen. Ausländische Investoren haben vom neuen Staatspräsidenten jedenfalls nichts zu befürchten. Dafür sorgt auch Mujicas Vize Danilo Astori, der mächtige ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister unter der Regierung Tabaré Vázquez, der die ökonomischen Leitlinien des Landes bestimmt und durchgesetzt hat, dass die entsprechenden Schlüsselministerien mit seinen Getreuen besetzt wurden.
Der Präsident selbst will sich dagegen vor allem um die Außen-, die Innen- und die Sozialpolitik kümmern. Und in allen drei Bereichen hat er schon in seinen beiden Antrittsreden am 1. März klare Signale gesetzt. Einmal in seiner Rede vor beiden Kammern des Parlamentes, als er sichtlich bewegt von seiner Ehefrau Lucía Topolansky, der amtierenden Parlamentspräsidentin, ins Amt eingeführt wurde und danach bei der erstmals in der Geschichte des Landes unter freiem Himmel durchgeführten Übergabe der Präsidentenschärpe vor dem Denkmal für den Staatsgründer José Gervasio Artigas auf dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen von Montevideo.
In Bezug auf die Außenpolitik ist für ihn die Stärkung des Mercosur, des gemeinsamen Marktes von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay (und demnächst auch Venezuela) eine Herzensangelegenheit, für die er kämpfen will „bis dass der Tod uns scheidet“. Zudem will er im „Bicentenario“-Jahr, in dem 200 Jahre Unabhängigkeit in Lateinamerika gefeiert wird, den Traum von der „Patria Grande“, der Einheit Lateinamerikas wieder beleben.
In der Innenpolitik skizzierte er für seine Amtszeit vier Schlüsselbereiche: Bildung, Energie und Infrastruktur, Umweltschutz und Innere Sicherheit. Bei diesen Themen will er auch die Opposition einbeziehen und schon vor dem 1. März wurden vier parlamentarische Kommissionen eingerichtet, in denen Mitglieder aller vier im Parlament vertretenen Parteien und Bündnisse im Konsens Leitlinien erarbeiten sollten. Etwas, das bis auf den Komplex Innere Sicherheit auch schon im Vorfeld der Amtsübergabe gelungen ist.
In der Sozialpolitik ist der „Plan Habitacional“, ein Projekt zur Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation für die armen Bevölkerungsteile das Kernprojekt seiner Politik. Mit der „Operación Solidaridad“, wie das Vorhaben auch genannt wird, will Mujica ebenso einen Schwerpunkt setzen, wie es sein Vorgänger Tabaré Vázquez mit dem „Plan Ceibal“ getan hat, durch den 390.000 SchülerInnen an öffentlichen Schulen mit einen Laptop versorgt wurden. Ein Projekt, das auch international große Beachtung fand und in das die erste linke Regierung in der Geschichte des Landes 130 Millionen US-Dollar investierte. Mit dem Vorhaben will Mujica sein Versprechen einlösen, die Armut zu bekämpfen und den Anteil der UruguayerInnen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, binnen fünf Jahren zu halbieren. Dabei will er neue Wege gehen und die Gesundheitsversorgung, die Bildungschancen und die Arbeitsbedingungen verbessern – vor allem aber eine neue solidarische Bewegung initiieren, um die soziale Kluft zu verringern. Alle Sektoren der Gesellschaft, Nichtregierungsorganisationen, StudentInnen, Gewerkschaften, Unternehmen, die Staatsbetriebe und das Militär sollen einbezogen werden. Für Lucía Topolansky, „Primera Dama“ im Staat und Senatorin für die Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP), dem politischen Sektor Mujicas innerhalb des Linksbündnisses Frente Amplio, geht es dabei um viel mehr als um einen Plan für die Verbesserung der Wohnungsversorgung: „Es ist eine große Schlacht für die soziale Integration“. Vor allem an die Solidarität aller UruguayerInnen soll dabei appelliert werden und alle sollen ihren Beitrag leisten, unter anderem durch Freiwilligen-Arbeit und Spenden. Mujica selbst ist dabei schon mit gutem Beispiel vorangegangen. Über 80 Prozent seines Präsidentengehaltes will er auf das Konto einer Stiftung überweisen, die solidarische Projekte realisieren soll (mit den restlichen 20 Prozent unterstützt er bedürftige Verwandte). Durchgeführt wird das Programm vom Sozialministerium, an dessen Spitze mit der Kommunistin Ana Vignoli eine Sozialarbeiterin steht, die langjährige Arbeitserfahrungen in den Elendsvierteln gesammelt hat.
Ein weiteres Hauptanliegen Mujicas ist eine Staatsreform. Schon Tabaré Vázquez bezeichnete eine Reform des uruguayischen Staates als Mutter aller Reformen, grundlegend angegangen wurde der Umbau des sprichwörtlich bürokratischen Staatsapparates aber unter dem ehemaligen Präsidenten nicht. Bei diesem Thema hat Mujica jedoch schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit Gegenwind verspüren müssen. Vor allem die Gewerkschaften der Staatsangestellten haben Widerstand gegen den geplanten Personalabbau angekündigt und hier wird die auch von seinen politischen Gegnern anerkannte Dialogfähigkeit Mujicas („Verhandeln, verhandeln, verhandeln! Wichtig ist, immer Brücken zu bauen und niemals Türen zuzuschlagen, sondern sie zu öffnen“, so sein Credo) vor ihre erste große Bewährungsprobe gestellt werden.
Auf Dialog setzt Mujica, der unter der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 als „Geisel des Staates“ fast zwölf Jahre eingekerkert war, auch beim Umgang mit den Streitkräften. Zusammen mit dem Verteidigungsminister Luis Rosadilla und dem Innenminister Eduardo Bonomi, beide als ehemalige Tupamaros ebenfalls viele Jahre unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, will er die Militärs (die er für „unentbehrlich“ hält), besser entlohnen und sie stärker in gesellschaftliche Aufgaben im Land einbeziehen. Von Personalabbau wie bei den Staatsangestellten ist bei der Armee keine Rede. Dabei halten KritikerInnen des Militärs die Personalstärke von 30.000 Armeeangehörigen für ein Land mit 3,4 Millionen EinwohnerInnen für völlig überdimensioniert. Dieser versöhnliche Umgang mit seinen ehemaligen Folterern (nicht wenige Armeeangehörige, denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, begleiten auch 25 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur noch hohe Posten) sowie seine Aussage, dass er „keine Alten im Gefängnis“ sehen will, hat ihm heftigen Widerspruch von Menschenrechtsorganisationen und der Vereinigung der Angehörigen der Ermordeten und der „Verschwundenen“ eingebracht.
Am 9. Mai 2010 wird in Uruguay wieder gewählt. In den 19 Provinzen des Landes stehen die Wahlen für die Lokalregierungen an. Erstmals werden dabei auch BezirksbürgermeisterInnen in den Städten des Landes gewählt. In Montevideo, das seit 1990 von der Frente Amplio regiert wird, gibt es dabei zwei Besonderheiten. Erstmals kandidiert für die Linke mit Ana Olivera eine Frau und ebenfalls erstmals mit der ehemaligen Vize-Sozialministerin ein Mitglied der Kommunistischen Partei als Oberbürgermeisterin. In der Hauptstadt des Landes, in der 1,5 Millionen Menschen leben und in den weiteren bevölkerungsreichsten Provinzen des Landes kann die Frente Amplio ihren Triumph von 2005, als sie in acht Provinzen gewinnen und somit über 75 Prozent der Bevölkerung regieren konnte, wiederholen. Gerade im Hinterland, das von den traditionellen Parteien immer vernachlässigt wurde, spielt der Mujica-Faktor die entscheidende Rolle. Die Lebenssituation der Menschen auf dem Land in Uruguay, das lange auch als „eine Stadt mit Bauernhöfen im Hinterland“ bezeichnet wurde, hat sich in den letzten fünf Jahren ökonomisch deutlich verbessert. Nicht zuletzt von der „Operación Solidaridad“ ihres Präsidenten „Pepe“, der ihre Sprache spricht und der sich bei der Arbeit auf seinem Feld erholt, versprechen sich die LandarbeiterInnen sowie die Kleinbauern und -bäuerinnen eine bessere Zukunft.

Trans-Formiert!

Das Festivalprogramm des ersten argentinischen Destravarte-Festivals spiegelte die zwei wichtigsten Anliegen der zeitgenössischen Trans-Community Südamerikas wieder: Einerseits, auf die schwierige Lebenssituation von Trans-Personen aufmerksam zu machen, die unter systematischer Verletzung ihrer Grundrechte leben und damit leicht zu Opfern sexueller und finanzieller Ausbeutung werden. Andererseits aber auch, sich einem breiten Publikum in ihrer ganzen glamourösen Vielseitigkeit und Kreativität zu zeigen.
Zu sehen waren Konzerte von Künstler_innen wie Helena Tabbita und Tatiana Morandi, Lesungen von Naty Menstrual und Susy Shock. Außerdem gab es eine Kunstausstellung mit über 70 Exponaten von 13 Künstler_innen und neun Kurzfilme, vor allem Dokumentarfilme über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Trans-Frauen in Argentinien. So erzählt beispielsweise die 2009 entstandene Dokumentation „Tamara“ des argentinischen Filmemachers Hernán Bonfiglio von dem Leben der gleichnamigen Sexarbeiterin auf dem Straßenstrich im Stadtteil Constitución von Buenos Aires, bis zu ihrer Ermordung durch eine_n bis heute nicht gefasste_n – und auch gar nicht gesuchte_n Täter_in. Die Straflosigkeit bei Gewaltverbrechen an Trans-Personen ist hoch und eine der vielen Folgen des nicht vorhandenen öffentlichen Interesses für die Exponiertheit und Ausgeliefertheit der Trans-Frauen in Argentinien. Im Falle eines Gewaltverbrechens müssen sie mit zusätzlichen Demütigungen und Diskriminierung durch die Polizei und in den öffentlichen Krankenhäusern rechnen, weshalb die meisten ganz auf eine Anzeige und medizinische Versorgung verzichten.
Neben den ernsteren Tönen nutzte die Trans-Gemeinde das Festival aber auch, um mit Stolz zu zeigen, dass sie auch andere Facetten zu bieten hat, als Opfer von Schutzlosigkeit und Repression zu sein. Hochstimmung herrschte beispielsweise, als die Modedesignerin Valeria Licciardi ihre aktuelle Kollektion mit Trans-Frauen präsentierte und sie so bewusst in ihrer Schönheit und erotischen Anziehungskraft inszenierte. Licciardi formuliert geschickt eine Antwort auf die gesellschaftliche Doppelmoral gegenüber Trans-Frauen, die sich gerne über die Körper von Trans-Personen als „unnatürlich“ oder „monströs“ lustig macht, während die nachts gut besuchten Straßenstriche eindeutig belegen, dass Trans-Frauen durchaus im erotischen Begehren der Gesellschaft vorkommen. Am Ende setzte die Designerin noch einen zusätzlichen politischen Akzent: Das obligatorische Hochzeitskleid, das klassischerweise das Finale jeder Modenshow bildet, wurde von einem transsexuellen Model getragen, zusammen mit einem Plakat, in dem ein neues Ehegesetz unter Einbeziehung von LGBTI gefordert wurde.
Daneben waren insgesamt sechs Theaterinszenierungen zu sehen, die die ganze Bandbreite der Berührungspunkte von Trans-Identität und Theater abdeckten: von Drag Queens und Cross-Dressers, wie Ricardo Manetti, Cross-Performer und Professor für lateinamerikanische Filmgeschichte an der Universität von Buenos Aires, über Transformistas bis hin zu Aufklärungstheater von und für transsexuelle Sexarbeiter_innen. Bei letzterem wurden mit unschlagbar satirisch-bissigem Tonfall die wichtigsten Fragen zu Aidsprävention, Silikoneinlagen und Risiken bei der Selbstmedikation mit Hormonen geklärt. Das Abendprogramm stand bildlich für die Verschiedenartigkeit und Vielfalt, die die enorm heterogene Trans-Gemeinschaft in sich vereint. Bei Destravarte traten Intersex-Personen solidarisch mit Drag Queens auf und umgekehrt, um gemeinsam gegen die allgegenwärtige Transphobie anzukämpfen, die in Lateinamerika auf Grund des Machismus und des katholisch-konservativen Wertekanons besonders tief in der Gesellschaft verankert ist.
Neben dem reichhaltigen Kunstangebot bildeten die öffentlichen Gesprächsrunden den Kern des Festivalprogramms. Eröffnet wurden diese durch eine Veranstaltung zu einem Gesetzesentwurf zur Gender-Identität, dem Ley de Identidad de Género, über den nächstes Jahr in Argentinien und Uruguay abgestimmt werden soll. Das neue Gesetz soll es Trans-Personen künftig erlauben, ihren Namen und die registrierten Daten zu ihrer Person in einem unkomplizierten, außergerichtlichen Verfahren ihrem Gender, das heißt ihrem real gelebten Geschlecht, anzupassen und innerhalb von neunzig Tagen einen neuen, aktualisierten Pass zu erhalten. Entwickelt und auf dem Festival vorgestellt wurde das Projekt von Silvia Augsburger, die bis 2009 einen Sitz für die sozialdemokratische Partei PS im argentinischen Abgeordnetenhaus innehatte, Marcela Romero, Vorsitzende des Verbands der Travestis, Transsexuellen und Transgender Argentiniens (ATTTA) sowie Vizepräsidentin des Argentinischen LGBT-Zusammenschlusses (FALGBT). Romero wurde von der argentinischen Abgeordnetenkammer als Frau des Jahres 2009 ausgezeichnet und ist die erste Trans-Frau Argentiniens, die nach jahrelangem Kampf im August 2009 erfolgreich ihre Identität als Frau durch einen neuen Personalausweis bestätigt bekam. „Keinen Ausweis zu haben bedeutet für uns, das Grundrecht auf unsere Identität verweigert zu bekommen. Neben dem psychischen Druck versperrt es uns außerdem den Zugang zum öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen, zum Arbeitsmarkt, zum Anspruch auf Rente und Sozialversicherung und macht jede Art von Vertragsabschlüssen, egal ob in der Bank, bei der Wohnungssuche oder beim Bezahlen mit der Kreditkarte, unmöglich“, so Romero zur allgemeinen Lebenssituation von Trans-Frauen und -Männern in Argentinien. „Sogar bei der Wahl müssen wir uns in die Schlange der Männer stellen. In vielen Provinzen werden wir von der Polizei verhaftet, inhaftiert und umgebracht. Für die Trans-Personen hat die Demokratie noch nicht begonnen. Wir leben wie während der Diktatur unter der systematischen Verletzung unserer Menschenrechte.“
In einer Gesprächsrunde zum Thema „Kultur, Transvestismus und Medien“ kritisierten Marlene Wayar, Chefredakteurin und Herausgeberin die erste lateinamerikanischen Travesti-Zeitung El Teje, der uruguayischen Trans-Aktivistin Collette Richard und Marta Dillon von der linken argentinischen Tageszeitung Página 12 einstimmig die polemische und diskriminierende Berichterstattung der Medien gegenüber Trans-Personen. Als gravierendstes Beispiel von Mediendiskriminierung wurde die einseitige und populistisch-dämonisierende Darstellung von Trans-Frauen als personifizierte Gefahrenzonen und wandelnde Ansteckungsrisiken für HIV und Geschlechtskrankheiten benannt. Dillon fasst das Problem folgendermaßen: „Als die Aids-Hilfe-Organisation Buenos Aires Sida das Ergebnis ihrer letzten Studie veröffentlichte, der zufolge 37 Prozent der Trans-Frauen im Rotlichtviertel von Buenos Aires HIV-positiv sind, erschien eine Meldung der rechtskonservativen Tageszeitung La Nación. Sie warnte lediglich vor dem Gesundheitsrisiko für das Personal in den Krankenhäusern und für die Kunden der Trans-Sexarbeiter_innen und kümmerte sich nicht um die Lebenssituation der tatsächlich Betroffenen Trans-Frauen“. Ins Leben gerufen und geleitet wurde das Festival von dem erfolgreichen argentinischen Schauspieler und Regisseur Mosquito Sancineto, der als einziger Trans-Künstler in Buenos Aires den Weg in die großen Theaterhäuser gefunden hat und somit ein großes, heterogenes Publikum anzieht. Unterstützt wurde er dabei von der Organisation Cien por Ciento Diversidad, einer Organisation gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung sowie vom staatlichen Antidiskriminierungsbüro INADI.
Und die Zukunft von Destravarte? Dem Pressesprecher zufolge ist es das Ziel, das Festival in den nächsten Jahren zu einem mobilen, internationalen Forum für Transgenderbelange auszubauen:„Geplant ist, das Festival jedes Jahr zu vergrößern, durch mehr internationale Beiträge zu erweitern und anschließend mit Destravarte in die Provinzen zu touren.“
Zwei Dinge kann das Organisationsteam allerdings jetzt schon feiern: einen weiteren Etappensieg im Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz der Trans-Gemeinschaft in Südamerika und die phänomenale Premiere eines Augen öffnenden Festivals.

Kasten:

GLOSSAR

Intersexuelle // Menschen, die aufgrund verschiedener körperlicher Merkmale (von Geburt an) nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.
LGBT // (engl.) Abkürzung für Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender = Lesbisch-Schwul-Bisexuell-Transgender.
Transgender // (Oberbegriff) = (engl.) Person, die sich nicht oder nur teilweise mit den ihrem anatomischen Geschlecht zugewiesenen sozialen Rollen und Praktiken identifizieren kann.
Trans // Der Terminus wird hier als Oberbegriff verwendet. Er umfasst dabei ausdrücklich sowohl Transgender im engeren Sinne, die das Überwinden von Geschlechterkategorien anstreben, als auch Transsexuelle, die eine Geschlechtsangleichung innerhalb der gegebenen Kategorien wünschen.
Travesti // (span.) Subkulturelle Selbstbezeichnung für Transgender mit ursprünglich männlicher Zuordnung, die selbstbestimmt ihre geschlechtliche Identität leben und definieren sowie teilweise ihre Körper modifizieren, etwa mittels der Einnahme weiblicher Hormone und der Injektion von Silikon.
_innen // Schreibweise, die im Gegensatz zur Schreibung mit großem „I“ in Texten auch jene Personen sichtbar machen will, die „zwischen den Geschlechtern“ existieren.
LGBTI // Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Intersex-Comunity

Drag Queens bzw. Kings und Transformistas geht es eher um den künstlerischen und Show-Aspekt als eine permanente, tagtägliche Identität des biologisch anderen Geschlechts.
Transgender, Transsexuelle und Transvestiten streben dagegen eine dauerhafte Identität als Mann oder Frau an und unterstützen dies auch mitunter durch geschlechtsangleichende Operationen und Hormoneinnahme.
Cross-Dresser dagegen genießen einfach die Vorteile modisch typische Attribute des jeweils anderen Geschlechts zu tragen.

Ein Anarchist für alle

Schon kurz nach dem zweiten Wahlgang war klar, dass es letztlich ein deutlicher Sieg werden würde: Mit dem amtlichen Endergebnis von 53 Prozent der Wählerstimmen wurde der 74-jährige José „Pepe“ Mujica vom linksgerichteten Parteibündnis Frente Amplio am letzten Novembersonntag zum 40. Präsidenten Uruguays gewählt. Keine noch so schmutzige Kampagne der beiden großen rechten Oppositionsparteien konnte den Triumph des Ex-Stadtguerilleros verhindern. Vor allem die beiden Ex-Präsidenten Julio María Sanguinetti und Jorge Batlle von der rechtskonservativen Colorado-Partei hatten sich hierbei hervorgetan, so wollte Batlle Mujica beispielsweise in Zusammenhang mit dem ausgehobenen Arsenal eines Waffenschiebers bringen.
Mujicas Kontrahent, der ehemalige Präsident und bekennende Neoliberale Luis Alberto Lacalle von der rechtsliberalen Nationalpartei erhielt bei der Stichwahl nur 43 Prozent. Und der Wahlsieger stellte sich schließlich selbst auch kein Bein mehr, nachdem er im Wahlkampf noch durch abschätzige Bemerkungen sowohl über die argentinischen NachbarInnen als auch über einige Parteien in seiner Mitte-Links-Koalition Eigentore geschossen und vor allem die WählerInnen aus der immer noch sehr breiten Mittelschicht in Uruguay verunsichert hatte. Der Triumph des ehemaligen Tupamaros bedeutet für Uruguay einerseits innenpolitisch eine Weiterführung der auf Sozialreformen und Investitionen ausgerichteten Politik und andererseits eine Konsolidierung der 1971 gegründeten Frente Amplio. Bei einer Niederlage wären mit Sicherheit Grabenkämpfe bei der Suche nach Verantwortlichen ausgebrochen und sogar ein Auseinanderbrechen eines der ältesten Linksbündnisse Lateinamerikas wäre nicht auszuschließen gewesen.
Für die südamerikanische Politik könnte der Einfluss des knorrigen „Anarchisten“ (so bezeichnet er sich auch heute noch selbst) einen Schub bringen. Den verschiedenen Integrationsinitiativen wie der Bank des Südens, UNASUR, Telesur etc. steht der neugewählte Staatschef deutlich offener gegenüber als sein Vorgänger Tabaré Vázquez, der bei seiner Außenpolitik immer auch Washington im Blick hatte. Und da Mujicas präsidiale „Vorbilder“ Michelle Bachelet (Chile) und Luiz Inácio „Lula“ da Silva (Brasilien), auf die er sich im Wahlkampf immer wieder bezog, bald aus dem Amt scheiden, wird auch die Zusammenarbeit mit seinem „Freund“ Hugo Chávez (den er allerdings vor seinem Sieg aus taktischen Gründen selten erwähnte) an Wichtigkeit gewinnen. Schon in den ersten Tagen als gewählter Präsident kündigte Mujica an, stärker mit Venezuela zu kooperieren. Und auch mit Argentinien will er den Ausgleich suchen und das durch den Bau einer Zellulosefabrik am uruguayischen Ufer des Río Uruguay seit mehr als drei Jahren vergiftete Verhältnis wieder normalisieren.
José Mujica wird am 1. März 2010 von seiner Ehefrau Lucía Topolansky, die wie er selbst viele Jahre im Untergrund und in den Kerkern der Militärdiktatur inhaftiert war und heute Mehrheitsführerin der Frente Amplio im Parlament ist, den Präsidentenstab überreicht bekommen. Er will „El Presidente de Todos“, der Präsident aller UruguayerInnen, werden. Das hatte auch schon sein Vorgänger Vázquez beim Antritt der ersten Linksregierung Uruguays am 1. März 2005 versprochen und mit einer Popularität von über 70 Prozent zum Ende seines Mandats zu einem guten Teil eingelöst. „El Pepe“ wird daran gemessen werden. Andererseits wünschen sich aber nach wie vor einige in der Frente Amplio, dass er weniger Kompromisse macht und die „Breite Front“ wieder mehr nach links führt.

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