Das Kino im Kopf

Beto hütet seit über zehn Jahren eine zum Verkauf stehende Villa in Mexiko-Stadt. Er lebt wie ein Einsiedler inmitten der geschäftigen Großstadt. Seine Kontakte zur Außenwelt beschränken sich auf die Hausbesitzerin, die ab und an zu Kontrollbesuchen vorbeischaut, und Lupe, einer Prostituierten, die er einmal die Woche für ein wenig Gesellschaft bezahlt. Die ersten im Film gesprochenen Worte kommen aus seinem einzigen Fenster zur Welt, dem Fernseher, der immer wieder blutige Nachrichten zeigt. Als das Haus schließlich tatsächlich einen Käufer findet, sieht Beto sein monotones, doch sicheres Leben in Gefahr. Um in seiner Isolation bleiben zu können, bedient er sich des einzigen Auswegs, den er aus den Medien kennen gelernt hat – es kommt zum großen Knall.
Der 32-jährige Nachwuchsregisseur Enrique Rivero beschreibt in seinem ersten Spielfilm das Elend eines Individuums und einer ganzen Bevölkerungsschicht, die die undankbarsten Arbeiten erledigen muss. Dabei mischt er Dokumentarisches mit Fiktion. Hauptdarsteller Nolberto “Beto” Coria ist tatsächlich der Hüter der etwas in die Jahre gekommenen Villa. Sie steht in dem Parque Vía in Mexiko-Stadt – und bis heute zum Verkauf. „Als Enrique mich fragte, ob ich mich selbst spielen wolle, wusste ich zunächst nicht, wie ich das anstellen sollte…“, erzählt der schüchtern wirkende Coria in Locarno.
Für den Zuschauer endlose Minuten lang schlurft Beto dann im Film über die leeren Flure, sein Blick ausdruckslos, mechanisch mäht er den Rasen, putzt Fenster, bügelt seine weißen Hemden. Einige Kinobesucher rutschten nach der ersten halben Stunde unruhig auf ihren Sitzen hin und her. Eine vom Regisseur durchaus beabsichtigte Reaktion. „Ich will, dass der Zuschauer die Monotonie in Betos Leben miterleben kann“, so Rivero. Ob er es damit allerdings in die kommerziellen Kinos schaffen wird, ist fraglich. Noch hat er keinen Verleiher gefunden – trotz des Goldenen Leoparden in Locarno. Ein Schicksal, das Rivero mit den meisten seiner eingeladenen KollegInnen aus Lateinamerika teilt.
Wie Rivero haben sich auch andere RegisseurInnen auf Alltagsgeschichten gestürzt, auf persönliche Erzählungendie, die das Kino im Kopf sichtbar machen sollen. So war es auch mit geringem Startkapital möglich, Filme zu produzieren – eine Befreiung für das lateinamerikanische Kino, das lange Zeit auf internationale Zuschüsse angewiesen war, bevor digitales Video die Produktion revolutionierte.
Doch die meisten dieser in Locarno gezeigten Filme funktionieren nur auf Festivals, fasst der argentinische Producer Hernán Musaluppi den Frust vieler RegisseurInnen bei einer Podiumsdiskussion zusammen. Sein Land erlebe zwar wie einige andere auch einen Boom im Filmgeschäft, und obwohl Argentinien vergleichsweise hohe staatliche Zuschüsse vergebe, machten diese häufig nicht einmal 30 Prozent der Produktionskosten aus. Die Folge: FilmemacherInnen müssten sich zwangsläufig nach anderer Unterstützung umsehen – und die komme zum Großteil aus Europa.
So sitzen beispielsweise beim neuen Spielfilm Dioses des 32jährigen peruanischen Regisseurs Josué Méndez neben Argentinien auch Deutschland und Frankreich als Produktionspartner mit im Boot.
Wie Parque Vía zeigt auch Dioses die sich nicht berührenden Parallelwelten in Lateinamerika, die Menschen nach Herkunft, Geld und Klasse einteilen. Dioses widmet sich jedoch dem Alltag der Oberschicht in Peru, jenem Teil der Gesellschaft, der sich bewusst von den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes abschottet. „Ich denke, es ist wichtig, nicht nur die ökonomische, sondern auch die moralische Misere in meiner Gesellschaft zu zeigen, die uns davon abhält, uns zu einer offeneren, toleranteren und ehrlicheren Gesellschaft zu entwickeln“, erklärt Méndez. Ähnlich wie in Parque Vía leben auch die Charaktere in Dioses in einer selbst gewählten Isolation. Diego ist in seine Schwester Andrea verliebt und kämpft mit Einsamkeit und Schuldgefühlen. Nichts ändert sich ,als der Vater seine neue Freundin Elisa mit nach Hause bringt. Sie ist 20 Jahre jünger als er, stammt aus den Armenvierteln und muss erst noch die Regeln lernen, die ihr neuer Status verlangt. Sie übt das aufgesetzte Lächeln vor dem Spiegel und verleugnet ihre Familie um eine respektable Vertreterin dieser Bourgeoisie zu werden. Méndez schafft es mit seinem zweiten Spielfilm, trotz des Einflusses internationaler Geldgeber, eine peruanische Geschichte zu erzählen, deren vielschichtige Anspielungen vielleicht nicht überall verstanden werden.
Um wirklich unabhängige Filme machen zu können, fehlen vor allem regionale Kontakte und Koproduktionen, beklagte der chilenische Regisseur Bruno Bettati: „Lateinamerikanische Regisseure und Produzenten müssen scheinbar erst auf europäische Festivals reisen, um sich kennen zu lernen.“
Die Finanzspritzen aus europäischen Ländern führen jedoch zu einer Verwässerung lateinamerikanischer Realität, da AutorInnen sich vor den GeldgeberInnen für ihre Geschichten rechtfertigen müssten, folgerte der chilenische Regisseur Alejandro Fernandez Almendras. Denn wer das Geld gebe, der wolle meistens auch Einfluss auf den Inhalt nehmen. „Ich habe es satt, ständig spanische Pfarrer in chilenischen Filmen zu sehen“, so Almendras. Er forderte zusammen mit anderen lateinamerikanischen Filmemachern auf dem Festival mehr finanzielle Unabhängigkeit von außen – sprich: mehr finanzielle Unterstützung durch regionale lateinamerikanische Filmfonds und länderübergreifende Zusammenarbeit. Die 50.000 Franken Preisgeld (ca. 31.000 Euro), die er bei den „Open Doors“ für die Entwicklung seines neuen Projektes Sentados frente al fuego gewann, die nahm Almendras dann aber doch freudestrahlend an.

Vom 6. bis 16. August 2008 zeigte das Internationale Filmfestival Locarno in 12 Kategorien rund 400 Filme aus aller Welt. Weitere Infos: www.pardo.ch

Kasten:
Einige sehenswerte Produktionen
Postales de Leningrado (Venezuela, Peru, 90’) // In den 60er Jahren während des bewaffneten Aufstandes in Venezuela muss eine Guerillera ihr Kind inkognito zur Welt bringen. Sie überlässt die Tochter den Revolutionären. Verkleiden, Verstecken, falsche Identitäten prägen den Alltag des Mädchens. Mit viel Fantasie erfindet es das Leben, die Eltern und die Guerilla neu.
Stranded – I´ve come from a plane that crashed on the mountains (Uruguay, Frankreich 127’) // Im Oktober 1972 stürzt ein Flugzeug mit der uruguayischen Rugby-Mannschaft an Bord in den Anden ab. Der Dokumentarfilm begleitet die Überlebenden zurück an den Ort des Unglücks.

Dem Tod Terrain abgewinnen

Am 23. April 2008 wird Juan Gelman der Cervantes-Preis verliehen, die renommierteste Literaturauszeichnung der spanischsprachigen Welt. Das ist eine zwar nicht sehr überraschende, aber völlig angemessene Würdigung. Denn der 1930 in Buenos Aires geborene Gelman gehört seit Jahrzehnten zu den markanten Stimmen der lateinamerikanischen Lyrik und hatte bereits in den 80er Jahren eine Individualität, Vielgestaltigkeit und Reife erlangt, die ihn jedes großen Preises würdig macht. Nun ist zu hoffen, dass Juan Gelmans dichterisches Werk auch dem deutschsprachigen Publikum bekannter wird.
Bisher ist uns Juan Gelman vor allem im Zusammenhang mit den Verbrechen der südamerikanischen Militärdiktaturen ein Begriff. Er selbst war als Führungsmitglied der argentinischen Tupamaros am bewaffneten Widerstand beteiligt, verließ aber 1975 angesichts des Terrors der Triple-A-Milizen das Land und befand sich im März 1976, zu Beginn der Diktatur, in Rom in Sicherheit. Anders sein Sohn und seine hochschwangere Schwiegertochter: Obwohl beide nicht politisch aktiv waren, wurden sie – vielleicht stellvertretend für Gelman – noch 1976 verschleppt und ermordet.
Aus der römischen Exilzeit stammt der 1980 erschienene Gedichtzyklus Unterm fremden Regen, in dem es heißt: „von den Exilpflichten: das Exil nicht vergessen / die Sprache bekämpfen die das Exil bekämpft! / … / die Gründe des Exils nicht vergessen / die Militärdiktatur / die Fehler die wir für dich begingen / gegen dich“. Gelman war ein privat wie politisch Erschütterter, für den die Exilführung der Tupamaros spätestens dann keine Heimat mehr war, als sie begann, die in Argentinien verbliebenen Mitglieder in sinnlosen Kämpfen zu verheizen.
Angefeindet von beiden Lagern, von den einen als Guerillero, von den anderen als Ex-Guerillero, kümmerte sich Gelman verstärkt darum, etwas über den Verbleib seines verschwundenen Sohnes und seiner Schwiegertochter zu erfahren. Die exhumierten Überreste von Marcelo konnte er 1989 identifizieren, von María Laura García fehlt bis heute jede Spur. Und das Kind? Dass es – wie vermutlich rund 280 weitere Säuglinge – zur Adoption weitergegeben wurde und wohl in Uruguay lebt, fand Gelman bald heraus. Bis er allerdings die entscheidenden Informationen bekam und er sich am 31. März 2000 mit seiner nun schon 24-jährigen Enkeltochter treffen konnte, hatte es eine breite internationale Unterstützungsbewegung, große Hartnäckigkeit und einen Wechsel im uruguayischen Präsidentenamt (von Sanguinetti zu Batlle) gebraucht. Seit Frühjahr 2005 trägt María Macarena den Familiennamen Gelman García.
Die Täter von damals sind auch heute noch Täter, wenn sie über ihre Verbrechen schweigen. María Macarena und Juan Gelman aber haben es geschafft, ihnen einen Teil des Sieges zu entreißen. Die Gewissheit über den Verbleib des Sohnes und über die Verwandtschaft mit dem lebendigen Enkelkind beenden den Schrecken der Ortlosigkeit: Die sterblichen Überreste seines Sohnes begraben zu können, habe für ihn die „Wiedereingliederung des Verschwundenen in die Kultur“ bedeutet. Auf Marcelos Grabstein hat Juan Gelman schreiben lassen: „gerettet aus der Nacht und dem Nebel der Völkermörder“.
Als einen „Wurf gegen den Tod“ hat Gelman auch das eigene Dichten bezeichnet und es würde nicht weit führen, den politisch aktiven Zeitgenossen vom Dichter Juan Gelman zu trennen. Er selbst hat diese Trennung stets abgelehnt, will von einer Lyrik, die das Politische bewusst ausklammert ebenso wenig wissen wie von einer ausdrücklich politischen Lyrik. Gerade am Anfang der kampfbetonten 70er Jahre schrieb er im Gedicht „Vertrauen“: „‘Mit diesem Gedicht wirst du die Macht nicht übernehmen‘, sagt er / ‚mit diesen Versen wirst du die Revolution nicht machen‘, sagt er / ‚auch mit Tausenden Versen wirst du die Revolution nicht machen‘, sagt er / setzt sich an den Tisch und schreibt.“
Es sind in den über 50 Jahren, die seit dem ersten Gedichtband Violine und andere Fragen (1956) vergangen sind, sicherlich an die Tausend Gedichte entstanden, die Gelman dem Tod in jedweder Gestalt entgegengeworfen hat. Der einzige vollständig übersetzte Zyklus Dibaxu / Debajo ist ein gutes Beispiel dafür. Dies sind Gedichte in sephardischer Sprache, die die aus Spanien vertriebenen Juden gepflegt haben – und die langsam am Verschwinden ist. Gelman, Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer, ist selbst kein Sepharde. Aber er schafft sich dichtend im Exil immer wieder neue Heimaten, die im Grunde dasselbe sind wie der wiedergefundene Sohn oder die Enkelin: dem Tod abgenommene Territorien. Und was für lebendige Territorien das sind! – Liebesgedichte in einer zärtlichen, suchenden Sprache, die beim Erscheinen der deutschen Übersetzung (1999 im Verlag der Kooperative Dürnau) diesem Dichter viel Zuneigung zurückgegeben haben.
Und was wäre da nicht noch alles zu erkunden. Die „Gedichte des Sidney West“ aus den 60er Jahren etwa, ein Zyklus mit fingierten Übersetzungen. Gelman setzt sich die Maske erfundener Autoren auf und schreibt ein „englisches“ Gedicht wie ein John Wendell, eines in japanischem Ton wie ein Yamanokuchi Ando. Indem er ein anderer zu sein vorgibt, schreibt er über sich selbst.
„Carta abierta“ (Offener Brief,1980), richtet sich an den ermordeten Sohn – die Zweideutigkeit des Titels ist, wie vieles bei ihm, auch zweideutig gemeint. Oder die großartigen Bände der Jahre 1978-79, die nüchtern HechosRelaciones heißen, Notas, Comentarios oder Citas – hier kommentiert und zitiert er die großen Lyriker und Lyrikerinnen des spanischen Barock, immer wieder Santa Teresa und San Juan de la Cruz, auch Jüngere. Aber das sind mehr als nur Annotationen. Gelman schreibt sie fort, klopft sie auf seine charakteristische Weise ab, streng in der Form, aber es geht eine Welt auf. Er erfindet Worte neu, die es beinahe schon gibt, amorar zum Beispiel, das etwas anderes ist als amar. Darin schwingt auch als Gegensatz demorar mit, „etwas aufschieben“: amorar hieße also nicht nur „lieben“, sondern auch „ganz in der Gegenwart lieben“.
Auch wenn solche Wort-Eröffnungen bisweilen nicht leicht zu übersetzen sind: dass es geht, haben Juana und Tobias Burghardt in der 2003 erschienenen, exzellenten Anthologie Spuren im Wasser (teamart Verlag Zürich) bewiesen. Nun wäre dringend zu wünschen, dass die beiden vorliegenden Bände durch weitere Ausgaben, insbesondere durch Editionen vollständiger Zyklen, ergänzt werden. Der Cervantes-Preis mit seiner Ausstrahlung weit über den spanischen Sprachraum hinaus könnte dazu der Anstoß sein. Und die Gelegenheit bietet spätestens der Frankfurter Buchmessenschwerpunkt im Jahre 2010. Gastland ist Argentinien.

Juan Gelman: Cólera Buey, Buenos Aires 1965-68, übersetzt von Juana und Tobias Burghardt

Mehr Tabaré Vázquez, weniger Frente Amplio

Was ist in Uruguay heute links? Die Debatte um den Sozialismus im 21. Jahrhundert, in Venezuela, Bolivien und anderen Staaten Lateinamerikas leidenschaftlich geführt, ist in der uruguayischen politischen Praxis kaum noch präsent. Die „Agenda 2009“ von Präsident Tabaré Vázquez von der Sozialistischen Partei Uruguays ist geprägt vom „postneoliberalen Neo-Sozialismus“: Es geht, knapp anderthalb Jahre vor den nächsten Nationalwahlen, fast nur noch um die richtige Strategie, einen erneuten Wahlsieg der „Linken“ zu sichern, inhaltliche Auseinandersetzungen sind marginalisiert. Der Präsident hat zur Konsolidierung seines Kurses (volkswirtschaftliche Stabilität, verlässlicher Schuldendienst, kontinuierliche Freihandelspolitik, Bevorzugung ausländischer Direktinvestitionen in Bezug auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik) Anfang März 2008 eine deutliche Vorgabe gemacht: Mehr „Vázquismus“. Das heißt: mehr Technokraten und enge Vertraute und weniger Regierungsbündnis Frente Amplio (FA, Breite Front).
Gleich sechs Minister wurden entlassen, darunter drei Führungspersönlichkeiten wichtiger Strömungen innerhalb der FA: Agrarminister José Mujica von der links-sozialistischen Bewegung der Bürgerbeteiligung (MPP), der mit Abstand stärksten Fraktion im Regierungsbündnis, Außenminister Reinaldo Gargano, Chef der Sozialistischen Partei und Umwelt- und Wohnungsbauminister Mariano Arana. Während der entlassene Mujica die Neuausrichtung verteidigt („Es ist der Moment, die Regierung dynamischer zu machen“), kritisieren zurückgetretene Abgeordnete wie der Sozialist Guillermo Chiflet das Fehlen eines „Plans für ein linkes Uruguay“: „Eine Reform des politischen Systems, mit dem Ziel die Partizipation auszuweiten, wird auf Regierungsebene immer weniger diskutiert“, sagte Chiflet. Dabei ist die mit dem Wahlsieg 2004 begonnene und bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über das Spannungsverhältnis Linke Regierung – Linke Parteien – Soziale Bewegungen der Schlüssel für das Überleben des ältesten Linksbündnisses in Lateinamerika.
Einen Vorstoß, wieder eine programmatische Diskussion zu führen, hat jetzt der ehemalige Außenminister Reinaldo Gargano eingeleitet. Der nicht ganz freiwillig aus dem Amt geschiedene MERCOSUR-freundliche und USA-kritische Politveteran legte eine eigene Agenda vor, um „Links“ neu zu definieren: Besteuerung des Reichtums und des Kapitals, Erhöhungen der Löhne und Gehälter sowie der Renten, Bekämpfung der Armut und ein uneingeschränktes Bekenntnis zum MERCOSUR sind die Eckpunkte der Vorlage. „Es müssen wieder Ziele formuliert werden, die mit dem Programm der Frente Amplio vereinbar sind und es muss wieder einen lebendigen Austausch der politischen Führung mit der Basis geben“, so sein Credo. Der von seinem Parteikollegen Vázquez geschasste Gargano tritt die Flucht nach vorne an und nutzt seine Position als Vorsitzender der Sozialisten, die Entfremdung zwischen Regierung und Regierungsbündnis offen zu benennen.
Die Regierung habe es nicht vermocht oder nicht gewollt, den Prozess der Konzentration des Reichtums zu stoppen oder umzukehren. Substanzielle Änderungen in der Wirtschaftspolitik wurden nicht durchgeführt und sind für die Zeit bis zum Oktober 2009 auch nicht geplant. Die Bilanz: Ein deutlicher Anstieg der Kapitalgewinne auf der einen und ein Rückgang der Reallöhne auf der anderen Seite. „Es sind die 2.500 reichen Familien, die immer reicher werden.“ Gargano weiter: „Das ist ein Defekt unser ökonomischen Politik“. Genau für diese Politik, die für linke Ökonomen keinen strukturellen Wandel und keinen Abschied von neoliberalen Politikelementen darstellt, feiert der US-Botschafter in Montevideo den Finanz- und Wirtschaftsminister Danilo Astori in einem Bericht an seine Regierung euphorisch. Er lobt die „orthodoxe makroökonomische Politik“ Astoris und die Bevorzugung des ausländischen Kapitals durch die Regierung Vázquez. „Die Macht übernehmen, ohne die Welt zu verändern“ – frei nach John Holloway (oder besser Holloway auf den Kopf gestellt) – wird so immer mehr zum Motto der Linksregierung unter Tabaré Vázquez.
Dabei steht die FA mit ihrer 37-jährigen Tradition für Visionen und permanente Veränderung. Auch in Uruguay waren es die in der Frente Amplio vereinten linken Parteien und politisch-sozialen Bewegungen, die die neoliberale Hegemonie durchbrachen und „linke“, post-neoliberale Regierungen an die Macht brachten. Obwohl der Bruch mit der Vergangenheit in Bezug auf die Menschenrechtspolitik und den Umgang mit den Verbrechen der Militärdiktatur, die Stärkung unabhängiger Gewerkschaften, die Gesundheits- und Bildungspolitik und die Sozialpolitik unverkennbar ist, wird die ökonomische Gestaltungsmacht nach Ansicht vieler Basis-AktivistInnen der FA nicht genutzt, sondern nur noch verwaltet.
Die monatelang geführte, quälende Debatte um seine mögliche direkte Wiederwahl (dafür hätte die Verfassung verändert werden müssen) hat Vázquez Anfang 2008 beendet. Definitiv schloss er eine zweite Amtszeit aus. Trotzdem stehen immer noch nicht die inhaltlichen Debatten auf der Tagesordnung, sondern es geht darum, wer im Herbst 2009 für das Mitte-Links-Bündnis ins Rennen um die Präsidentschaft gehen soll. Der noch amtierende Finanz- und Wirtschaftsminister Astori (Mitte des Jahres soll auch er sein Ministeramt räumen) und der jetzige Senator Mujica haben ihren Hut zwar noch nicht offiziell in den Ring geworfen, aber alle Beobachter gehen davon aus, dass es zum Showdown zwischen den beiden sowohl profiliertesten als auch umstrittensten Politikern der FA kommen wird. Etwas absolut Neues für das breite Bündnis, das seine Stärke immer aus der Einmütigkeit und der Konsensfähigkeit bezog. Offensichtlich wurde das zuletzt beim Kongress der Frente Amplio im Dezember 2007, als es zum ersten Mal seit Bestehen des Bündnisses nicht gelang, einen Präsidenten oder eine Präsidentin zu wählen. Die Kandidatin von Mujica und der MPP, die Politologin Constanza Moreira (eine unabhängige Mittvierzigerin), wurde abgelehnt. In dem vergifteten Klima hatte daraufhin niemand mehr eine Chance, auch nicht die vom Präsidenten vorgeschlagenen Kompromisskandidaten. Die im doppelten Sinne alten Strukturen und Personen (fast ausnahmslos Männer), die seit über 30 Jahren das Bündnis bestimmen und in ihrer Mehrheit die Regierungspolitik unterstützen, widersetzen sich einer sowohl inhaltlichen als auch personellen Erneuerung. Für den 91-jährigen Basis-Aktivisten Ernesto Kroch ist das Gerontokratie und Machismo, er hält eine Verjüngung der Frente Amplio für überlebensnotwendig.
Auch in Bezug auf den aktuellen Konflikt Kolumbiens mit Ecuador und Venezuela wird die Entfremdung zwischen der Regierung und der FA überdeutlich. Während der neue Außenminister Gonzalo Fernández, zuvor als Sekretär des Präsidenten tätig und für seine USA-freundliche und MERCOSUR-kritische Haltung bekannt, von „Vorkommnissen zwischen den Bruderstaaten Kolumbien, Ecuador und Venezuela“ spricht und dafür plädiert „zum Dialog zurückzukehren“, drückt ein Kommuniqué der FA „die totale Zurückweisung und Verurteilung des militärischen Eindringens der kolumbianischen Regierung auf das Territorium Ecuadors“ aus und verurteilt, „dass das Klima des Friedens, das durch die Freilassung der Geiseln durch die FARC eingeleitet wurde, zerstört wurde.“ Die von der FA-Führung verabschiedete Deklaration verurteilt auch die Ermordung des Vize-Kommandanten der FARC Raúl Reyes und macht die USA mitverantwortlich für die Eskalation. In der Stellungnahme des Außenministeriums ist hingegen von einer Verurteilung Kolumbiens nichts zu lesen. Ganz im Gegensatz zu allen anderen lateinamerikanischen Staaten. Sogar die moderate chilenische Präsidentin fand deutlichere Worte: „Uribe schuldet Ecuador und ganz Lateinamerika eine Erklärung“, so Michelle Bachelet.
Die rechte Opposition in Uruguay applaudiert, sieht sie doch durch den neuen Außenminister auch die Annäherung an den verhassten Hugo Chávez gestoppt. Und sie ist gesprächsbereit. Eine der ersten Amtshandlungen von Fernández, ein enger Vertrauter des Präsidenten von diesem zum „Politischen Minister“ ernannt, waren Treffen mit den Führern der rechten Opposition, unter anderem mit dem ehemaligen Staatspräsidenten Julio María Sanguinetti. Der Präsident hatte das ausdrücklich gewünscht. Während zwischen der Frente Amplio und der Regierung die Differenzen wachsen, intensiviert sich der Dialog mit der Opposition. Kaum etwas könnte die Entfremdung zwischen der Exekutive und den Bewegungen deutlicher machen – die Breite Front bewegt sich auf einer immer schmaler werdenden Basis.

Die Schatten der Operation Condor erreichen Brasilien

Die Vermutung, der ehemalige brasilianische Präsident João Goulart sei im Dezember 1976 im argentinischen Exil ermordet worden, steht seit Jahren im Raum. Goularts Schwager, der ehemalige Gouverneur von Rio Grande do Sul und später von Rio de Janeiro, Leonel Brizola, hatte immer wieder die Mordthese betont. Auch Gerüchte um den bis heute nicht restlos geklärten Autounfall, bei dem Juscelino Kubitschek, Präsident Brasiliens von 1956 bis 1961, im Jahre 1976 ums Leben kam, sowie um das plötzliche Ableben des ersten zivilen Präsidenten nach der Militärdiktatur, Tancredo Neves, der in der Nacht vor seinem Amtsantritt am 15. März 1985 in eine Klinik eingeliefert wurde und knapp einen Monat später verstarb, haben immer wieder zu Spekulationen in der brasilianischen Öffentlichkeit geführt: Diese Todesfälle seien kein Zufall, sondern Mord gewesen. Dazu passt nun die Aussage des uruguayischen Ex-Agenten, Goulart sei vergiftet worden.
Ende 2007 hat Goularts Sohn, João Vicente Goulart, mit einem Kamerateam des brasilianischen Parlaments den in Brasilien zur Zeit wegen Raubes, Bandenbildung und illegalen Waffenbesitzes inhaftierten uruguayischen Ex-Agenten Mario Neira Barreiro interviewt. Dieser räumte ein, dass der Mord an Goulart von brasilianischen und uruguayischen Agenten im Rahmen der Operation Condor erfolgte. Unter diesem Namen verfolgten in den 1970er und 1980er Jahren die Geheimdienste von Argentinien, Chile, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay systematisch und in enger länderübergreifender Zusammenarbeit linke Oppositionelle vor allem in Südamerika, aber auch in anderen Kontinenten. Dies erfolgte zumindest unter Kenntnis der CIA. Dieser koordinierten Repression fielen mehrere Tausend Menschen in den südamerikanischen Staaten zum Opfer. Sie wurden inhaftiert, gefoltert, ermordet oder gelten seither als „verschwunden“.

Ein ehemaliger Geheimdienstagent redet über die „Operation Condor“.

Mario Neira Barreiro schilderte dem Sohn Goularts, wie die verbündeten Geheimdienste den im argentinischen Exil lebenden Goulart ermordeten. „Ich erinnere mich nicht genau, ob wir Isordil, Adelpan oder Nifodin benutzten. Es gelang uns,
eine Tablette unter jene aus Frankreich importierten Medikamente zu schmuggeln. Goulart durfte nur für 48 Stunden nicht untersucht werden, sonst wäre die Substanz bemerkt worden“, berichtete Mario Neira Barreiro dem Sohn des Präsidenten vor laufender Kamera. Goulart wurde ohne Autopsie beerdigt. Eine solche war von der Militärdikatur verhindert worden.
Der Ex-Agent berichtete weiter, dass Goulart schon länger im Rahmen der so genannten Operation Skorpion beschattet worden war. Den Sohn Goularts überzeugte Neira Barreiro unter anderem durch die Kenntnis der persönlichen Telefonnummer des Landsitzes der Familie Goulart. Und die brasilianische Zeitschrift ISTOÉ gewann Einblick in Berichte, die der brasilianische Geheimdienst Serviço Nacional de Informações do Brasil (SNI) im Jahre 1975 detailgenau über den 24-stündigen Tagesablauf Goularts auf seinem Landsitz in Argentinien angefertigt hatte. Die Familie Goulart hat nun Anzeige erstattet, und die Bundesstaatsanwaltschaft ermittelt.

Die Familie Goulart forderte auch die brasilianische Regierung auf, die geheimen Archive des „Centro de Informações do Exterior“ (Ciex) auf Informationen bezüglich Goularts Todes hin zu untersuchen und das Archiv zu öffnen. Wie die brasilianische Zeitung Correio Braziliense bereits im Juli 2007 berichtet hatte, fungierte das vom brasilianischen Außenministerium Itamaraty geleitete Ciex zwischen 1966 und 1985 als „Informationsagentur zur Überwachung der Gegner des Militärregimes im Ausland“ und führte Akten und an die 8.000 Berichte über potentielle brasilianische RegimegegnerInnen im Ausland. Die für die brasilianische Öffentlichkeit dabei besonders brisante Information ist, dass die im Archiv des Ciex zusammengetragenen Informationen über RegimegegnerInnen im Ausland von unzähligen brasilianischen DiplomatInnen kamen. Bisher, so der Correio Braziliense, galt das brasilianische Außenministerium in den Zeiten der Militärdiktatur immer als honoriger Ort, gleichsam als „moralische Hüterin der Demokratie“ in den so genannten „Bleiernen Jahren“ der Militärdiktatur.
Die letztes Jahr aufgetauchten Beweise aus dem Archiv des Ciex zeigen nun vielmehr die aktive Rolle, die das Außenministerium und unzählige DiplomatInnen der Zeit bei Identifizierung und Festnahme Oppositioneller im Ausland spielte. Viele der RegimegegnerInnen wurden gefoltert oder sind „verschwunden“. In viermonatiger akribischer Analyse der Dokumente kam der Correio Braziliense zu der Analyse, dass „es niemals eine sichere Zuflucht für Gegner des Putsches von 1964 im Ausland gab“. Die Zeitung schlußfolgert: „Die Regimegegner wurden bei jedem ihrer Schritte überwacht, jedes Wort, jede Aktion oder Reise im Ausland wurde beobachtet, überall in Lateinamerika, auch in Europa, in der Sowjetunion oder in Nordafrika.“ Von den 380 während der brasilianischen Militärdiktatur Ermordeten oder Verschwundenen finden sich 64 im Geheimarchiv der Ciex wieder. Das Identifizieren und Lokalisieren dieser 64 Personen ermöglichte, so der Bericht des Correio Braziliense, letztlich den anderen brasilianischen Geheimdiensten, RegimegegnerInnen zu lokalisieren und zu foltern und zu ermorden. Und der Sohn Goularts erhofft sich neue Erkenntnisse über seinen Vater – doch das Aussenministerium verweigert der Öffentlichkeit den Zugang zum Archiv.

Das Amnestiegesetz von 1979 verhindert nach wie vor die Anklage gegen brasilianische Militärs.

Die Aussagen des Ex-Agenten Mario Neira Barreiro bezüglich Goularts möglicher Ermordung im Rahmen der Operation Condor treffen zeitlich zusammen mit den jüngsten internationalen Haftbefehlen und Auslieferungsersuchen Italiens und Spaniens für insgesamt 146 ehemalige Angehörige von Militär und Geheimdiensten der Länder Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay, denen Ermordung, Folter und Verschwindenlassen italienischer respektive spanischer Staatsangehöriger zur Last gelegt wird.
Die per Interpol ausgestellten Haftbefehle berufen sich sowohl auf Aussagen von ZeugInnen als auch auf gewonnene Erkenntnisse aus den Ermittlungen zur Operation Condor. Vor allem das im Jahr 1992 in einer Polizeistation in Lambaré in Paraguay zufällig gefundene so genannten „Archiv des Terrors“ beinhaltet Tausende von dokumentierten Fällen der länderübergreifenden, staatlich koordinierten Repression gegen „die Subversiven“. Vor allem auf Basis dieses Funds und der seit dem Jahr 2000 in den USA teilweise freigegebenen Dokumente gelingt es, ein genaueres Bild der südamerikanischen Koordination der Repression zu rekonstruieren.
Unter den Personen, für die Italien und Spanien Haftbefehle und Auslieferungsersuche erlassen haben, befinden sich auch brasilianische Staatsangehörige. Die italienische Justiz erhob nach jahrelangen Recherchen nun im Dezember 2007 Anklage gegen 11 brasilianische ehemalige Angehörige von Militär und Geheimdiensten, gegen die im Januar dieses Jahres auch der spanische Richter Baltasar Garzón Haftbefehle und Anträge auf Auslieferung gestellt hat. Dieser war 1998 bekannt geworden durch seinen Haftbefehl und Auslieferungsantrag gegen den chilenischen Ex-Diktator Pinochet.

Einer der von der italienischen Justiz Gesuchten ist Carlos Alberto Ponzi. Er leitete während des Jahres 1980 die lokale Sektion des brasilianischen Geheimdienstes Serviço Nacional de Informações (SNI) im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Ponzi selbst reagiert im Interview anscheinend gelassen: „Ich bin nicht beunruhigt wegen der italienischen Justiz. Wenn sie prozessieren wollen, sollen sie; wenn sie die Auslieferung erbitten, sollen sie darum bitten. Sollen sie machen, was sie wollen, mich interessiert das nicht.“
Derart gelassen kann er den Auslieferungsersuchen aus Italien nur entgegensehen, weil er die brasilianische Verfassung auf seiner Seite weiß, die die Auslieferung brasilianischer Staatsangehöriger ans Ausland strikt untersagt. In Brasilien selbst wurde bislang noch kein Angehöriger von Militär, Geheimdienst oder Polizei wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur angeklagt, weil das seit 1979 in Brasilien gültige Amnestiegesetz dies unterbindet. Doch kennt das Gesetz eine Einschränkung: Die allgemeine und umfassende Amnestie gilt nur für die Taten, die in dem im Gesetzestext festgelegten Zeitraum zwischen dem 2. September 1961 und dem 15. August 1979 begangen wurden. Im Falle der italienischen Haftbefehle und Auslieferungsersuchen geht es hingegen um den Fall zweier italienischer Staatsangehöriger, die im März und Juni 1980 verschwunden sind, nachdem brasilianische Geheimdienstangehörige und Militärs die italienischen Staatsbürger an der brasilianischen Grenze festnahmen und an den argentinischen Geheimdienst übergaben. Doch auch dies scheint brasilianische Militärs aus der Zeit der Militärdiktatur nicht zu schrecken. Der ehemalige Divisionsgeneral Agnaldo Del Nero Augusto kommentierte in einem Interview mit der Tageszeitung O Estado de São Paulo Anfang Januar dieses Jahres die Vorwürfe, brasilianische Militärs hätten aktiv an dieser Aktion der Operation Condor mitgewirkt: „Wir haben nicht gemordet. Wir haben sie festgenommen und übergeben. Das ist kein Verbrechen.“ Doch im Lichte der Anschuldigungen – Mord, Folter und Verschwindenlassen – wäre auch die Beihilfe dazu ein Straftatbestand. Zwar verjährt Mord in Brasilien, doch Folter und Verschwindenlassen nicht.
Und auch um das Amnestiegesetz wird eine neue Debatte geführt. Dabei geht es um eine Klage wegen einer Tat, die 1972–1973, also im eigentlich amnestierten Strafzeitraum, begangen wurde. Die Klage der fünf Mitglieder der Familie Teles gegen den Coronel Carlos Alberto Brilhante Ustra wurde im September 2006 von der 23. Zivilkammer São Paulo als Zivilklage angenommen. Ustra war Ende 1972 Chef des berüchtigten Folterzentrums DOI-CODI (Sonderkommando für Informationsoperationen – Zentrum für Untersuchungen der inneren Verteidigung) in São Paulo. Maria Amélia de Almeida Teles und ihr Mann César Augusto Teles waren im Dezember 1972 festgenommen und ins Folterzentrum DOI-CODI in der Rua Tutóia in São Paulo gebracht worden, wo sie laut ihrer Aussage von Ustra gefoltert wurden. Die Schwester Amélias und die beiden kleinen Kinder des Ehepaars, vier und fünf Jahre alt, wurden ebenfalls dorthin verbracht. Die Schwester, Criméia de Almeida, damals schwanger im siebten Monat, wurde gefoltert. Den Kindern wurden die Eltern gezeigt, die wegen der erlittenen Folter laut Aussage der Kinder nicht wiederzuerkennen waren, obschon sie wussten, dass es ihre Eltern waren, so die Aussage des Sohnes, Edson Teles. Der ebenfalls verhaftete Carlos Nicolau Danielli, damals führendes Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei von Brasilien, PC do B, wurde im DOI-CODI zu Tode gefoltert.
Der angeklagte Coronel Carlos Alberto Brilhante Ustra bestritt in Interviews die Vorwürfe und blieb der ersten Gerichtssitzung fern. Im Prozess steht Aussage gegen Aussage, jedoch ist ein jahrelang von einem Militär privat verwahrtes Dokument aufgetaucht, welches die Aussagen der Familie Teles stützt. Die im Dezember 2006 erhobene Anklage ist in Brasilien die erste gegen einen Militär wegen Menschenrechtsverbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur. Alle bisherigen zugelassenen diesbezüglichen Klagen richteten sich gegen den brasilianischen Staat. Selbst bei einem Schuldspruch verfolgt die Klage der Familie Teles gegen Ustra weder eine Entschädigung noch eine Bestrafung des Täters, weshalb die Klage – auch nach Ansicht des Gerichts – dem Amnestiegesetz nicht zuwiderläuft, da sie nicht strafrechtlicher, sondern zivilrechtlicher Natur ist. Die Klage gegen Ustra verfolgt die Absicht, von dem Gericht die Erklärung zu bekommen, dass Mitglieder der Familie Teles im DOI-CODI gefoltert wurden und der Coronel als „Folterer“ bezeichnet werden darf.
Nach Ansicht von Lúcio França, Mitglied der Menschenrechtskommission der Anwaltsvereinigung in São Paulo (Comissão de Direitos Humanos da OAB/SP – Ordem dos Advogados do Brasil) könnte jedoch ein Urteilsspruch, der Ustra als Folterer bezeichnet, weitere rechtliche Schritte nach sich ziehen. „Mit solch einem Urteil könnte er von der Staatsanwaltschaft auf die Anklagebank gesetzt werden. Die Staatsanwaltschaft könnte sich kaum weigern, ihn anzuklagen“, erklärt França.

Die Familie Teles kämpft vor Gericht um das Recht, den Folterer als Folterer
bezeichnen zu dürfen.

Auch die Klägerin Maria Amélia de Almeida Teles ist dieser Ansicht. „Wenn er durch die Justiz zum Folterer erklärt wird, dann hat der brasilianische Staat die Pflicht, von ihm alle diesbezüglichen Informationen zu bekommen. Zum Beispiel, wo die Ermordeten und Verschwundenen sind, die immer noch nicht gefunden wurden. Der Ausgang dieses besonderen Prozesses ist zwar vor allem moralischer Natur. Aber die Tatsache, dass er als Folterer verurteilt wird, wird Weiteres nach sich ziehen“, hofft Amélia. Eine Verurteilung Ustras durch die 23. Zivilkammer São Paulos wäre auch politisch sehr bedeutsam, da sie, wie die zum Teil heftigen Debatten in der Presse und die Aussagen diverser PolitikerInnen – sowie einiger Militärs – zum Thema belegen, ebenfalls in der Lage ist, die Diskussion um das bislang unangetastete Amnestiegesetz von 1979 wieder aufzufrischen.

Sicherheitspolitik als Massenmord

In der Nacht des 31. März 2005 töteten mehrere Polizisten in den Gemeinden Nova Iguaçu und Queimados in der Baixada Fluminense, im Großraum Rio de Janeiro, 29 Personen. Unter den zufällig ausgewählten Opfern befanden sich Studierenden, KünstlerInnen, ArbeiterInnen, BeamtInnen, UnternehmerInnen, Arbeitslose und Kinder. Fünf der Täter wurden zivilgerichtlich des Mordes angeklagt, zwei weitere wegen der Bildung eines Todesschwadrones beziehungsweise einer terroristischen Vereinigung. Das Verbrechen ist die bisher größte außergerichtliche Exekution im Bundesstaat Rio de Janeiro, die von Polizisten ausgeführt wurde, aber bei Weitem kein Einzelfall. Täglich kommt es dort zu Übergriffen und Straftaten der brutalen und korrupten Polizei. Die Ursache von Gewalt ist häufig Armut, doch diese Form der Gewalt entspringt der Missachtung der grundlegenden Menschenrechte. Der verarmten Bevölkerung Brasiliens, nicht nur in der Baixada Fluminense, scheinen diese Rechte von den staatlichen Sicherheitsbehörden nicht zugestanden zu werden.

In der Baixada Fluminense ist die Gewaltverbrechensrate dreimal so
hoch wie im restlichen Brasilien.

Die großen Tageszeitungen und Fernsehsender Brasiliens bringen keine Nachrichten aus dieser Region am Rande der Metropole Rio de Janeiro. Fünf tote Jugendliche in Nova Iguaçu sind keiner Erwähnung wert, aber ein durch einen Querschläger an der Hand verletztes Mädchen in Rio schockiert tags darauf das Land. Selbst die lokalen Zeitungen und die BewohnerInnen verschließen die Augen und Ohren, wenn es um Polizeigewalt geht, sei es aus Gleichgültigkeit, Gewöhnung oder Angst.
Um dies zu ändern, verfolgt die Organisation ComCausa ungeklärte Morde und bringt sie oft unter Bedrohung des eigenen Lebens an die Öffentlichkeit, denn im Gegensatz zur Stadt Rio ist die Baixada Fluminense unsichtbar. Die aus der HipHop-Bewegung stammende Gruppe entschied sich im Jahr 2003, eine Nichtregierungsorganisation zu gründen und das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. ComCausa organisiert Foren, Demonstrationen und Infostände, bringt eine Monatszeitung heraus und betreibt eine eigene Homepage. Die Gruppe kooperiert mit öffentlichen Einrichtungen, der Justiz und „rechtschaffenen“ PolizistInnen, um Straftaten aufzuklären und die TäterInnen ihrer Strafe zuzuführen. Darüber hinaus arbeitet ComCausa zusammen mit anderen Organisationen und Vereinigungen auch präventiv im kulturellen Bereich, um das Leben der BewohnerInnen zu bereichern und ein neues Gesellschaftsprojekt zu entwerfen. Denn dies braucht die Region mit fast vier Millionen EinwohnerInnen, in der es keine Perspektiven und Auswege gibt. Da der Staat dort kaum aktiv ist, und aufgrund der geringen Kaufkraft der Bevölkerung auch private Investitionen ausbleiben, fehlen nicht nur Bildungs- und Gesundheits- sondern auch Kultureinrichtungen.
Die meisten kulturellen Aktionen in der Baixada Fluminense gehen direkt von Jugendlichen aus. So zum Beispiel die HipHop-Events von der Bewegung Enraizados, die für ihren Einsatz gegen Jugendarbeitslosigkeit 2007 den ersten Platz im Kulturwettbewerb des brasilianischen Kultusminis­teriums gewann. Oder die öffentlichen Aufführungen der Theatergruppe Griôt´s, die mit Hilfe von afrikanischen Geschichten die Diaspora, Rassismus und Diskriminierung thematisiert.
Doch durch politische Kultur die Verhältnisse zu ändern und der Gesellschaft Alternativen aufzuzeigen braucht nicht nur Zeit, sondern gestaltet sich in der Baixada Fluminense auch extrem schwierig. In der Region werden täglich sieben bis acht Menschen ermordet und die Gewaltverbrechensrate ist doppelt so hoch, wie die der Hauptstadt Rio und dreimal so hoch wie die Brasiliens. Zu dieser extremen Zahl trägt auch die Polizei maßgeblich bei: Das Verhältnis von im Gefecht verstorbenen Polizisten zu Gegnern beträgt 1:40, wobei dreimal so viele Gegner getötet wie verletzt werden. Menschenrechtsorganisationen sehen in dieser Relation einen Hinweis darauf, dass die Gegner nicht „im Gefecht“ ums Leben kamen, sondern exekutiert wurden.

Für die Ärmsten der brasilianischen Gesellschaft, die an der Peripherie der Großstädte oder in den Favelas leben, ist Mord also ein alltägliches, oft das einzige Mittel, um Konflikte zu lösen. Ausgeübt werden sie in der Favela von Drogenkommandos oder der Polizei. An der Peripherie wie etwa der Baixada Fluminense ist das etwas anders.
Seit der starken Besiedelung in den 1940er Jahren regieren kapitalistische Einzelinteressen und private Machtbestrebungen diese Gegend. GroßgrundbesitzerInnen verkauften damals ihr Land in Millionen Parzellen an Vertriebene der Räumungsaktionen der Favelas von Rio oder an Arbeitssuchende aus anderen Landesteilen. In den 1950er und 60er Jahren entstanden zahlreiche Konflikte zwischen Landbesitzer- und LandbesetzerInnen, die durch Polizeigewalt und teilweise Mord zu lösen versucht wurden. Die politische Instabilität Anfang der 1960er Jahre führte dazu, dass sich die Bevölkerung in Syndikaten organisierte, die unter anderem Massenplünderungen befürworteten. Daher wollten UnternehmerInnen und PolitikerInnen härtere Maßnahmen einführen, um die „arme Masse“ unter Kontrolle zu halten und gründeten Privatmilizen, die nach dem Militärputsch 1964 den Mord als politisches Unterdrückungsinstrument nutzten – Kontrolle durch Terror.
Lokale UnternehmerInnen finanzierten die Todesschwadrone der Baixada. Dabei erhielten sie Rückendeckung von PolitikerInnen und Unterstützung von den Militärs zur systematischen Vernichtung von „subversiven Personen“. Teilweise waren auch PolizistInnen Mitglieder solcher Organisationen, und arbeiteten neben dem Dienst auf der Wache noch bei einer Todesschwadron.

In den 1980ern, vor allem nach Ende der Militärdiktatur 1985, erschwerte sich dieses straffreie Treiben und die „Dienstleistungen“ wurden zunehmend auf einem „Konkurrenz orientierten Markt“ angeboten. Das war die Grundsteinlegung für private Sicherheitsfirmen, die bis heute agieren und mit Polizei und Politik vernetzt sind. Einige widmeten sich außerdem dem Drogen- und Waffenhandel und dem Glücksspiel. Andere wiederum begannen politische Karrieren und sitzen heute noch mit ihren Hintermännern und Gefolgsleuten in verschiedenen Rathäusern oder sind Abgeordnete.
Warum werden Mörder gewählt? Weil sie die einzige staatlich organisierte und kapitalistisch finanzierte Macht darstellen, die eine „öffentliche Sicherheit“ gewährleisten – indem sie Mord legitimieren. Weil sie der „gehobenen Klasse“ zeigen, dass etwas getan wird gegen die „verbrecherische Unterschicht“, die mehrheitlich schwarz und jung ist. Weil sie Verbrechen in Gewinn bringende Geschäfte verwandeln und den Händlern von Drogen, Waffen, etc. Sicherheit geben. Denn nur Wenige sind so „verrückt“ die Morde an den Armen im Land zu untersuchen, ihre Tode aufzuklären und damit ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.
Zu diesen Wenigen zählte Ítalo Lopes dos Passos, kurz Íta, Mitglied von ComCausa und der HipHop-Gruppe Setor BF, der am 14. September 2006 von Paulo Rogério Soares und André Pereira Marcelo ermordet wurde, als er ein Fest verließ.

Nur wenige sind so „verrückt“, die Morde an den Armen aufzuklären und damit ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.

Die zwei Militärpolizisten fügten ihm neun Schusswunden zu – die letzte in den Kopf. Wäre er nicht so bekannt gewesen, wäre Íta wohl nur ein weiterer Toter der aktuellen Statistik von 76 Mordopfern pro 100.000 EinwohnerInnen im Jahr. In einer Region, wo nur 7,8 Prozent der Mordfälle überhaupt untersucht werden, haben die Täter nicht viel zu befürchten und der Fall Íta führte, wie so viele andere, bis heute nicht zur Verurteilung der Mörder. Viele, die sich den brutalen Einheiten in den Weg entgegenstellen, werden aus dem Weg geräumt.
Oft trifft es auch Polizisten, die bei der Aufklärung solcher Morde helfen wollen. So wie zwei Beamte, die wegen des Massakers in der
Baixada Fluminense des 29fachen Mordes beschuldigt wurden und mit der Justiz in Verhandlung traten. Gilmar Simão wurde im Oktober 2006 auf dem Weg zum Militärgericht getötet und im November fand man Marcos Siqueira mit acht Stichwunden im Oberkörper in seiner
Gefängniszelle.
Die Respektlosigkeit vor dem Leben zeigt sich auch in den Aussagen der verurteilten Polizisten: Als sie ihr Motiv erklärten, sagten sie, dass sie die Mordrate in der Baixada Fluminense steigern wollten, um den Einsatz von mehr Polizei in der Region zu provozieren. Denn während in der Südzone von Rio de Janeiro ein Polizist pro 300 EinwohnerInnen im Einsatz ist, beträgt das Verhältnis in der Baixada nur 1:1200, also ein Viertel bei doppelter Mordrate.
PolizistInnen müssen ihre kriminellen Kollegen fürchten und gehen kaum gegen sie vor. Was bleibt ist der Widerstand einiger ambitionierter Gruppen wie ComCausa, welche die Missstände öffentlich anprangern, die Bevölkerung sensibilisieren und sich in Netzwerken organisieren – auch international, denn ComCausa ist Teilnehmer des Jugendaustauschprogramms CBB-Intercambio. In dem seit 2006 bestehenden Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung vernetzen sich Jugendliche aus Brasilien, Deutschland und Uruguay, die in verschiedenen Bereichen sozial und politisch engagiert sind.
Dadurch konnte unter anderem Giordana Moreira, Mitarbeiterin von ComCausa, an den Gegenveranstaltungen zum G8-Gipfel teilnehmen und zur Abwechslung mal den deutschen Polizeieinheiten USK und der Berliner BFE 23 entgegentreten. Doch während in Deutschland die Übergriffe der Hundertschaften beim G8-Gipfel gut dokumentiert sind und es zu ersten Verurteilungen wegen Körperverletzung im Amt und Freiheitsberaubung kommt, arbeiten die brasilianischen Aktivisten noch immer an Jahre alten Fällen und hoffen auf weitere drei Verurteilungen wegen 29-fachem Mordes sowie Gerechtigkeit für Íta.

Mercosur – vom Wandel erfasst?

Der MERCOSUR gilt als typisches Beispiel für den „neuen, offenen Regionalismus“ der 90er Jahre. Welche Ziele werden mit dieser Strategie verfolgt?

Anfang der 90er Jahre war es aus Sicht der Regierungen oberste Priorität, sowohl eine Stabilisierung der Wirtschaftslage zu erreichen, als auch politisch zur Konsolidierung der demokratischen Systeme beizutragen. Andernfalls drohten ökonomische Globalisierungsprozesse und die hohe Auslandsverschuldung die Region weiter ins Abseits gleiten zu lassen. Der „offene Regionalismus“ beschreibt einen Weg enger Allianzen zwischen dem Staat und dem privaten Sektor. Über transnationale Netzwerke und Produktionsketten soll die Einbindung in die Weltmärkte erfolgen. Leitprinzipien sind unilaterale Liberalisierung, Privatisierung sowie Ko-Regulierung mit dem Privatsektor. In den Anfangsjahren stand dieses Modell im Zeichen des sogenannten Konsens von Washington.

Wo steht der MEROCSUR heute? Hat sich diese Entwicklungsstrategie bewährt?

Der wirtschaftliche Kollaps in Argentinien in den Jahren 2001/2002 stellt einen tiefen Bruch dieses Entwicklungsweges dar und hat den MERCOSUR-Mitgliedstaaten deutlich das Scheitern der neoliberalen Politik vor Augen geführt. Paraguay und Uruguay waren stark von den Auswirkungen der Argentinienkrise getroffen, Brasilien hingegen weniger. Die Suche nach neuen Wegen für den MERCOSUR hat begonnen. Von den Regierungen werden zunehmend sozial- und wirtschaftspolitische Instrumente angewandt, die auf eine Förderung lokaler Entwicklungsprozesse abzielen. Durch die Errichtung regionaler Fonds wurde zudem ein neuer Mechanismus geschaffen, um ökonomische und soziale Asymmetrien zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen. Sie beinhalten Finanzierungsinstrumente zum Ausbau von Infrastrukturprojekten, zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen und zur Stärkung des Bildungssektors. Derartige, auf Ausgleich angelegte Institutionen deuten auf eine Abkehr vom ursprünglichen Kurs der Integration hin.

Wie ist die RECM innerhalb des MERCOSUR organisiert? Wie gestaltet sich ihr Einfluss?

Es handelt sich um ein unabhängiges Gremium, das als Repräsentationsforum für die Diskussion sämtlicher politischer Fragen dient, die für Kooperativen und die betriebliche Selbstverwaltung eine Rolle spielen. Zudem werden hier eigene
Initiativen und Vorlagen ausgearbeitet, die direkt an das Wirtschafts- und soziale Beratungsforum des MERCOSUR, das Parlament und die Gruppe des Gemeinsamen Marktes gerichtet werden können. Gerade angesichts des mitunter hohen Maßes an Komplexität der Entscheidungsprozesse ist es besonders notwendig, geschaffene Räume wie das gemeinsame Parlament zu nutzen, um Perspektiven in die öffentliche Debatte einzubringen und auf eine breitere Basis zu stellen. In diesem Sinn ist die RECM eine wertvolle Errungenschaft. Übrigens hat sie auf dieser regionalen MERCOSUR-Ebene in Fragen der solidarischen Ökonomie bislang mehr erreicht als die entsprechenden Gremien der Genossenschaften in Europa.

Kannst Du uns hierfür ein Beispiel geben?

Ein großer Erfolg war das erste interparlamentarische Seminar, das die RECM für Mitglieder des Europäischen Parlaments und des MERCOSUR-Parlaments Ende 2005 in Montevideo organisiert hat. Ziel der RECM war es, den Parlamentariern das Spannungsverhältnis aufzuzeigen, das mit der beabsichtigten Neufassung bestimmter Regelungen der Finanzprüfung und -abrechnung für die Grundprinzipien demokratischer Kontrolle und Teilhabe von Kooperativen verbunden war. Es handelte sich hierbei um privatrechtliche Standards, die nicht einfach auf Kooperativen übertragen werden konnten. Des Weiteren hat die RECM im Zuge der Novellierung des brasilianischen Zivilrechtes 2003 dem brasilianischen Kooperativendachverband (OCB) den Rücken gestärkt, indem sie gemeinsam für eine Verbesserung der Rechtsform von Kooperativen in Brasilien eintraten.

Die Verhandlungen eines Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union haben lange die offizielle Agenda des MERCOSUR bestimmt. Inwiefern war dieses Thema für die RECM von Bedeutung und gab es eine Kooperation mit europäischen Genossenschaften?

In den MERCOSUR-Mitgliedstaaten ist das Konzept solidarischen Wirtschaftens ein wichtiger Bestandteil der nationalen Ökonomien. Der rechtliche Status für Kooperativen ist mittlerweile auf der MERCOSUR-Ebene im Sinne eines gemeinschaftlichen Rahmens verankert, ähnlich dem Status für Europäische Genossenschaften in Europa. Die nationalen Bestimmungen, die entsprechend der jeweiligen kooperativen Tradition auch historisch und kulturell gewachsene Wertesysteme zum Ausdruck bringen, sind weiterhin in Kraft. Im Zuge eines Abkommens hätten gegebenenfalls Regelungen neu gestaltet, also auch auf Ebene der Mitgliedstaaten internalisiert werden müssen. Dementsprechend war es das Ziel der Zusammenarbeit mit europäischen Genossenschaftsverbänden, auf die Umsetzung der Prinzipien der solidarischen Ökonomie hinzuwirken. Dies geschah vermittelt über die jeweiligen nationalen und regionalen Entscheidungskanäle, zumal die RECM ja nicht direkt an den Verhandlungen teilnahm.

Welche Gründe siehst Du für das Scheitern der Verhandlungen zwischen der EU und dem MERCOSUR und gibt es Versuche für eine Wiederaufnahme?

Das Scheitern der Verhandlungen im Oktober 2004 war zu erwarten, trotz der damaligen optimistisch klingenden, offiziellen Verlautbarungen. Zum einen befand sich die Doha-Runde der Welthandelsorganisation in der Krise. Zum anderen hatten sich die MERCOSUR-Staaten gerade aus einer enormen ökonomischen Tieflage heraus gewunden, die jedoch dazu führte, dass das bis dahin dominante neoliberale Wirtschaftsmodell infrage gestellt wurde. Demgegenüber stand auf der anderen Seite eine Europäische Kommission, die eben weiter auf die Versprechungen dieser Schule setzte. Das Festhalten an Agrarsubventionen und protektionistischen Tarifen für Industrieprodukte gab schließlich den Ausschlag für die MERCOSUR-Staaten, den Vertrag nicht zu unterzeichnen. Nichtsdestotrotz folgt die EU dem Beispiel der USA, indem sie bilateral mit Schlüsselstaaten verhandelt. Beispielsweise wurde auf dem ersten europäisch-brasilianischem Gipfeltreffen im Juli 2007 das Vorhaben einer „strategischen Partnerschaft“ mit Brasilien vorgestellt.

Im Juli 2006 ist Venezuela dem MERCOSUR beigetreten. Welche Dynamiken sind von dieser Mitgliedschaft zu erwarten, sowohl hinsichtlich des Integrationskurses als auch der Führungsrolle Brasiliens innerhalb des MERCOSUR?

Venezuela ist zwar formal Mitglied, trotzdem ist die Umsetzung in die Praxis noch nicht erfolgt. Dies liegt daran, dass jede im Rahmen des MERCOSUR getroffene Entscheidung danach von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. In Brasilien, zum Beispiel, haben sich einzelne Gremien bislang quer gestellt, Venezuelas Vollmitgliedschaft zu bestätigen. Mit Blick auf den Integrationskurs repräsentiert Venezuela ohne Zweifel einen anderen Weg. Aber gegenwärtig ist es schwer einzuschätzen, welche Auswirkungen hiermit verbunden sind.

Wie bewertest Du die neuen regionalen Initiativen und Projekte wie insbesondere die im letzten Jahr gegründete Bank des Südens?

Durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch in Argentinien, die politischen Machtwechsel in Argentinien und Uruguay sowie die Wahlen in Bolivien und Venezuela sind in der Region neue Rahmenbedingungen für die Gründung gemeinsamer Institutionen entstanden. Diese bringen der Region mehr Autonomie, vor allem gegenüber den USA. Ein neuer Aspekt besteht zudem darin, dass Ressourcen vermehrt und besser koordiniert und kanalisiert werden sollen. Ich hoffe sehr, dass derartige Bemühungen weiter anhalten und einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Armut und der wachsenden Ungleichheit leisten. Sie legen den Grundstein für einen Mentalitätswandel und vermitteln der Region eine Vision für die Zukunft.

Kasten
RECM – Repräsentation der Kooperativen im MERCOSUR

Die Reunión Especializada de Cooperativas del MERCOSUR (RECM) wurde 2001 formell begründet und vertritt die Interessen der organisierten Kooperativen im MERCOSUR. Sie setzt sich zusammen aus Regierungsvertretern und Repräsentanten der Kooperativenverbände der Mitgliedstaaten. Ihre Arbeit zielt auf die Anerkennung des Kooperativismus und der Solidarischen Ökonomie (siehe: LN 389; 397/398), die auf alternativen Formen sozialen und ökologischen Wirtschaftens aufbaut. Leitprinzipien sind gesellschaftliche Verantwortung, betriebliche und zwischenbetriebliche Demokratie und gemeinschaftliche Selbsthilfe. Zur Verwirklichung dieser Ideen versucht die RECM im MERCOSUR auf die Beschlussfassung und Gestaltung von Regelungen einzuwirken, da diese den rechtlichen Rahmen für kooperatives Handeln und betriebliche Selbstverwaltung bestimmen. Im Zusammenhang der regionalen Integration setzt sie sich für eine sozial gerechte öffentliche Ausgabenpolitik und eine Stärkung lokal-ökonomischer Entwicklungsprozesse ein. Innerhalb der RECM bestehen beispielsweise Arbeitsgruppen zu ökologisch nachhaltiger Agrarproduktion oder zur verbesserten Anbindung benachteiligter Regionen und Grenzgebiete. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, organisiert die RECM seit 2006 jährlich parallel zum Gipfel der MERCOSUR-Präsidenten den „Sozialgipfel des MERCOSUR“.

Romeo und Julia in der Favela

Der Musikfilm Maré, nossa história de amor („Maré, unsere Liebesgeschichte“) verlegt das klassische Romeo und Julia-Thema nach Máre, eine der vielen Favelas von Rio de Janeiro. Dort rivalisieren zwei Banden um die Vorherrschaft im Drogengeschäft und wachen eifersüchtig über die von ihnen kontrollierten Territorien. Die junge Analídia, die Tänzerin werden will, ist die Tochter des einen Anführers, der momentan im Gefängnis sitzt. Jonata, der von einer Karriere als Hip Hop MC träumt, ist der Jugendfreund des anderen Bandenchefs Dudu. In der Tanzschule der engagierten Fernanda, die auf der „Grenze“ zwischen den beiden Territorien liegt, finden die beiden ein Refugium innerhalb der feindseligen Atmosphäre. Fernanda versucht, über Tanz und Musik den Jugendlichen eine Alternative zu Drogen und Bandenkriminalität zu bieten. Zugleich kämpft sie vehement um die Anerkennung ihrer Schule als neutralen Ort, der sich der Logik des Freund-Feind-Schemas entzieht. Mit zunehmender Intensivierung des Bandenkriegs wächst auch der Druck, den das jeweilige Lager auf das frisch verliebte Paar ausübt. Doch Análidia und Jonata widersetzen sich ihrem Umfeld und träumen davon, jenseits der Favela ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. Fernanda hat eine Idee, wie dies verwirklicht werden könnte, die jedoch – getreu des Romeo und Julia-Motivs – tragisch enden muss.
Die Regisseurin Lúcia Murat, die 1989 mit Que bom te ver viva („Wie schön, Dich lebend zu sehen“) ein vielfach ausgezeichnetes Spielfilmdebüt vorlegte, kann mit Maré, nossa história de amor handlungslogisch kaum überraschen. Durch die deutliche Anlehnung an die Thematik von Romeo und Julia oder der West Side Story ist die Handlung leicht vorhersehbar. Dabei geht die Regisseurin durchaus offensiv mit der Bezugnahme um, indem die ProtagonistInnen in der Tanzschule das Stück Romeo und Julia einstudieren. Interessant und sehenswert machen den Film der angebotene Interpretationsrahmen und die Anspielung auf verschiedene Faktoren, die für die harte Favelarealität mitverantwortlich sind.
In der Figur der Tanzlehrerin Fernanda scheint die Position der Filmautorin selbst widerzuhallen: Kulturelle Projekte und engagierte soziale Aktionen sind vonnöten, um den Teufelskreis aus Armut, Perspektivlosigkeit und Gewalt in den Favelas zu durchbrechen. Musik und Tanz werden dabei als eine prinzipielle Möglichkeit präsentiert, in der die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit und Harmonie erfüllt werden kann, die auch bei scheinbar hart gesottenen Bandenmitgliedern vorhanden ist. Dafür steht die Figur des Teenagers Anjo, der einerseits stets mit seiner Knarre herumfuchtelt und seiner Jugendfreundin Análidia verbieten will, Jonata zu sehen, andererseits unbeholfen in der Tanzschule auftaucht und mitmachen will. Tatsächliche soziale Anerkennung erhalten eben auch die Bandenmitglieder nicht durch Waffen, Macht und Einschüchterung, sondern durch Fähigkeiten, Engagement und Empathie, scheint die Regisseurin uns sagen zu wollen. Dennoch ist ihr Film kein pädagogisches Lehrstück für kulturelle Konfliktbearbeitung. So bietet die kulturelle und soziale Arbeit von Fernanda keine einfache Problembewältigung, zumindest im zentralen Handlungsstrang erweist sie sich letztlich als uneffektiv. Ambivalent bleibt dabei das Verhältnis zwischen Kunst und Gewalt. Einerseits präsentiert Murat Musik und Tanz durch die Handlung selbst und durch die dramaturgische Brechung mittels Tanzszenen als Gegenpol zur Gewalt. Andererseits sind auch manche Bandenduelle mit Musik unterlegt und choreographisch wie Tänze inszeniert, so dass eine Ästhetisierung – und Banalisierung – von Gewalt stattfindet.
Ohne sie in den Mittelpunkt zu stellen, deutet Maré zudem verschiedene Faktoren an, die für die Entstehung von Gewalt und der Macht der Drogenbanden mitverantwortlich sind. So entzieht sich der Staat seiner sozialen Verantwortung. Stattdessen übernehmen engagierte Personen aus der Zivilgesellschaft wie Fernanda diese Aufgabe, wobei sie mangels finanzieller staatlicher Ressourcen auf das Sponsoring durch die Bandenchefs angewiesen sind. Dies macht eine wirkliche Emanzipation von der Bandenvorherrschaft unmöglich, zugleich verleiht es den Banden eine gewisse soziale Legitimation. Die Polizei agiert nicht als unparteiische Schlichterin und Gegnerin der Banden, sondern sie stellt ihre Macht in die Dienste des Meistbietenden und ist somit Teil des Bandenkrieges. Zudem leiden alle Favela-BewohnerInnen an sozialer Stigmatisierung, sobald sie die Grenzen ihres Viertels verlassen: Ein Leben außerhalb der Favela erscheint fast unmöglich. In einer eindrucksvollen Szene verlassen Jugendliche, die ihrem Erscheinen nach der Mittelklasse angehören, offenbar in Befürchtung eines arrastão – wie in Brasilien Strandüberfälle durch Jugendliche bezeichnet werden – fluchtartig den Strand, als ein paar Favela-BewohnerInnen auf der Suche nach Badevergnügung auftauchen.
Auch wenn Maré inhaltlich sicherlich nicht mit Überraschungen aufwarten kann, hat Murat bei der Inszenierung und Besetzung ihr sicheres Händchen bewiesen. Die Musikeinlagen aus Hip Hop und Funk sind mitreißend und die jungen DarstellerInnen können überzeugen. Dies gilt vor allem für Cristina Lago als Analídia, die hier ihr Kinodebüt feiert, und den charismatischen Babu Santana als Bandenchef Dudu, der bereits mehrmals in ähnlichen Rollen auf sich aufmerksam machte.

Maré, nossa história de amor von Lúcia Murat, Brasilien/Frankreich/Uruguay 2007, 104 Minuten, läuft auf der Berlinale vom 7.-17. Februar im Panorama-Programm.

Papier aus dem Süden

Der uruguayische Präsident Tabaré Vázquez war gar nicht amüsiert. Umweltgruppen aus Gualeguaychú, der argentinischen Stadt, die der Zellulose-Fabrik des finnischen Multis Botnia im uruguayischen Fray Bentos gegenüberliegt, hatten spontane Protestaktionen gegen seine Anwesenheit in Buenos Aires angekündigt. Ein Grund, warum der Uruguayer sich am 10. Dezember nur knapp vier Stunden in der argentinischen Hauptstadt aufhielt, um an der Zeremonie zur Amtseinführung von Cristina Fernández de Kirchner teilzunehmen. Als einziger Präsident der sieben beteiligten Staaten war er nicht beim Gründungsakt der Bank des Südens und bei der feierlichen Verabschiedung von Néstor Kirchner am Vorabend anwesend.
Kirchner und Vázquez haben sich mittlerweile so in ihren jeweiligen Positionen eingegraben, dass sogar ein Händedruck schon Nachrichtenwert hätte, eine Publicity, die keiner dem anderen gönnen will. Und dann musste sich Vázquez auch noch einen Rüffel von der gerade ins Amt eingeführten Präsidentin anhören. Neben ihrem Bekenntnis: „Ich bin nicht Präsidentin geworden, um mich in eine Garantin für die Gewinne der Unternehmen zu verwandeln“, wandte sie sich auch äußerst unverblümt an ihren uruguayischen Kollegen. „Der Konflikt um die Zellstofffabrik von Botnia ist allein deshalb ein Konflikt, weil Uruguay das gemeinsame Abkommen über den Rio de la Plata verletzt hat.“ Eine Retourkutsche gegen Vázquez in Anwesenheit von Hugo Chávez, Lula da Silva, Michele Bachelet, Evo Morales und anderen. Denn der hatte beim 17. Ibero-Amerikanischen Gipfel Anfang November in Santiago de Chile unvermittelt die Inbetriebnahme der Mega-Anlage zur Herstellung von Zellstoff mit einer Jahresproduktion von über einer Million Tonnen verkündet und damit sowohl Néstor Kirchner als auch den ebenfalls beim jährlich stattfindenden Gipfeltreffen von 22 iberoamerikanischen Staaten anwesenden spanischen König Juan Carlos brüskiert. Der Sonderbotschafter des Königs, der seit einem Jahr erfolglos zwischen den beiden La-Plata-Staaten vermittelt, hatte es nur wenige Stunden zuvor immerhin geschafft, den uruguayischen und argentinischen Außenminister an einen Tisch zu bringen, um doch noch eine Lösung auszuloten.
Nach dem Vorpreschen von Vázquez war die Diskussion über Kompromissvorschläge aber hinfällig. Am gleichen Tag noch schloss Uruguay wegen angekündigter Proteste die Grenze zu Argentinien und bereits am Tag darauf produzierte Botnia den ersten Zellstoff. Die Internationale Brücke General San Martín, die Gualeguaychú und Fray Bentos verbindet und die die wichtigste Landverbindung zwischen den beiden Staaten ist, ist somit nun von zwei Seiten gesperrt. Von Argentinien aus blockieren seit mehr als einem Jahr UmweltaktivistInnen (in Uruguay nahezu einmütig abfällig als Kirchners Piqueteros beschimpft) den Verkehr. Jetzt haben die uruguayischen Behörden nachgezogen, um so den direkten Protest der ArgentinierInnen aus der Provinz Entre Rios in Uruguay zu verhindern oder zumindest deutlich zu erschweren.
In Fray Bentos selbst hat es im Laufe eines Monats schon erste kleinere Störfälle gegeben. Am 28. November, nur gut zwei Wochen nach Inbetriebnahme der Anlage, mussten mehrere SchülerInnen auf der argentinischen Seite wegen Übelkeit und Erbrechen ins Krankenhaus eingeliefert werden und in Fray Bentos selbst beklagten sich AnwohnerInnen über den Gestank nach faulen Eiern, der die ganze Stadt überzog. José Pouler, einer der GründerInnen der Umweltversammlung von Gualeguaychú ist verbittert, fühlt sich aber auch bestätigt: „Alles, was wir vorhergesagt haben, ist eingetreten. Wir können zwar nicht die Zukunft voraus sagen, aber wir argumentieren auf der Basis von Erfahrungen wie sie weltweit mit solchen Fabriken wie Botnia gemacht wurden.“ Die UmweltaktivistInnen wollen ihre Maximalforderung um keinen Preis aufgeben: „Wir glauben nicht an Wunder, aber niemals werden wir unsere Forderung, dass Botnia verlegt werden muss, aufgeben“, so Susana Padín, die Generalsekretärin des Umweltverbandes.
Nicht alle Umweltgruppen in Argentinien sehen das so. Greenpeace Argentinien plädiert dafür, dem uruguayischen Angebot einer gemeinsamen Überwachung der Auswirkungen des Betriebs auf die Umwelt zuzustimmen und die gebaute Milliarden-Dollar-Investition als Realität anzunehmen. Zudem bezichtigt der internationale Umweltverband Néstor Kirchner der Scheinheiligkeit und weist auf die unzähligen neuen Genehmigungen für genmodifiziertes Soja, für neu erteilte Bergbaurechte und auf die gravierenden Umweltverschmutzungen bei den argentinischen Zellulose-Fabriken hin.
Die uruguayische Bevölkerung steht in ihrer übergroßen Mehrheit hinter dem Ausbau der Zellstoffindustrie und der Ausweisung weiterer Flächen vor allem für Eukalyptus-Monokulturen. Die wenigen UmweltaktivistInnen im Land sind nach wie vor völlig isoliert. Die von der Frente Amplio dominierte Mitte-Links-Regierung will weitere Genehmigungen vergeben. Sie nutzt bisher geschickt eine historisch gewachsene, unterschwellige Abneigung der UruguayerInnen gegen den großen Nachbarn Argentinien und das Versprechen auf Arbeitsplätze, um jeden nennenswerten Protest im Keim zu ersticken. Der Widerstand wächst trotzdem. Besonders die Kleinbäuerinnen und -bauern im Land sind von den sich immer weiter ausbreitenden Plantagen bedroht. Anfang Oktober 2007 gründete sich in Uruguay daher ein Regionalverband von Umweltgruppen mit Mitgliedern aus Uruguay, Argentinien und Brasilien. „Die Ausbreitung der Monokulturen, der täglich stattfindende Verkauf des Landes an ausländische Konzerne und die Errichtung schmutziger Industrien in unserer Region schaffen nicht wieder zu reparierende Schäden und nehmen in keiner Weise Rücksicht auf unsere Lebensformen, unsere Würde und auf unsere Verpflichtung, eine gesunde und saubere Umwelt für alle zu erhalten“, so die Abschlusserklärung des Treffens.
Die Regierung Uruguays ist unterdessen dabei, weitere Zellstofffabriken zu genehmigen. Neben der jetzt in Betrieb gegangenen Botnia-Fabrik in Fray Bentos steht das Genehmigungsverfahren für eine mit einer jährlichen Produktion von über einer Million Tonnen Zellstoffmasse ebenso großen Anlage der spanischen ENCE-Gruppe kurz vor dem Abschluss. Außerdem haben das finnisch-schwedische Unternehmen Stora Enso sowie die portugiesische Portucel, der amerikanische Weltmarktführer International Paper und die japanische Firma Nippon Paper Group Anträge gestellt. Und im Dezember kündigte die argentinische Gruppe Tabicuá an, ebenfalls ein Werk mit einer Kapazität von 700.000 Tonnen pro Jahr in Uruguay errichten zu wollen. Auch hier soll das Endprodukt zu 100 Prozent ins Ausland, das heißt nach USA, Europa, China und Indien gehen. Nach Einschätzung internationaler WirtschaftsanalystInnen können (und sollen) Investitionen in diesem Bereich weitergehen: Laut einer Studie von Pricewaterhouse Coopers eignen sich mindestens 20 Prozent der uruguayischen Fläche für den Anbau von Forstwirtschaftsmonokulturen.
Mittlerweile ist die erste Ladung von in Fray Bentos produzierter Zellstoffmasse auf See. Von den Niederlanden, wo die Fracht Anfang Januar 2008 ankommen soll, sollen die 20.000 Tonnen Rohstoff für die Papierherstellung nach Frankreich, Deutschland und Finnland weitergeleitet werden.
Einen Ausweg aus dem Konflikt kann immer noch niemand aufzeigen, und es deutet sich an, dass Cristina Fernández de Kirchner die politische Linie von ihrem Ehemann fortführt. Kompromissvorschläge gibt es zwar viele, aber keine der insgesamt vier beteiligten Parteien bewegt sich auch nur einen Millimeter. Weder die argentinische noch die uruguayische Regierung, weder die argentinischen UmweltaktivistInnen noch der finnische Zellulose-Multi rücken von ihren Positionen ab. Argentinien fordert weiterhin eine Verlegung der 1,2 Milliarden US-Dollar teuren Botnia-Fabrik, was von Uruguay aber strikt abgelehnt wird. Argentinien sieht durch das Bauvorhaben den mit Uruguay geschlossenen „Rio Uruguay-Vertrag“ in mindestens fünf Punkten verletzt. In Uruguay wiederum ist man der Ansicht, dass es zu keinem Vertragsbruch kam. Montevideo fordert von Buenos Aires, die Blockaden zu unterbinden, was die Regierung in Buenos Aires bislang immer abgelehnt hat. So wird letztlich wohl der Internationale Gerichtshof, bei dem die argentinische Klage gegen Uruguay wegen Verletzung des Internationalen Abkommens über den Schutz des Rio de la Plata anhängig ist, entscheiden. Das wird aber aller Voraussicht nach noch mindestens zwölf Monate dauern. Bis dahin wird der Zellulose-Krieg am Rio de la Plata munter weitergehen und gefördert durch die aggressive Berichterstattung auf beiden Seiten des Rio de la Plata auch dauerhafte Spuren im Verhältnis der beiden Staaten hinterlassen.
Der Streit zwischen Argentinien und Uruguay belastet auch die Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, und in Montevideo wird immer lauter über einen Ausstieg aus dem Bündnis nachgedacht. Trotz des schon über zwei Jahre währenden Konfliktes gehen andere Geschäfte zwischen den beiden Nachbarstaaten aber weiter: Auf dem Höhepunkt der Krise wurde Anfang Dezember in Buenos Aires ein Abkommen unterzeichnet, in dem der gemeinsame Bau einer Anlage zur Gasherstellung beschlossen wurde. Für die Anlage, in der aus Öl Gas hergestellt werden soll, und für die ein Standort bei der uruguayischen Hauptstadt Montevideo vorgesehen ist, ist eine Gesamtinvestition von 1,5 Milliarden US-Dollar erforderlich.

Die Bürde des Reichtums

Beim Thema der lateinamerikanischen Rohstoffe laufen zwei Dynamiken gegeneinander: Progressive Regierungen wie die von Hugo Chávez in Venezuela oder von Evo Morales in Bolivien versuchen mit schon lange genutzten, endlichen Ressourcen wie Erdöl neue Strukturen zu schaffen, die vor allem marginalisierten Bevölkerungsschichten zu Gute kommen. In Brasilien hingegen boomt der Markt der neuen oder auf neue Weise genutzten Ressourcen wie Ethanol und Biodiesel und reproduziert oftmals oligarchische Strukturen, die das Land schon lange beherrschen.
In der medialen Wahrnehmung in Deutschland wird Lateinamerika sowohl kritisch als auch unkritisch als zukünftiger Lieferant von Biomasse wahrgenommen. Das aktuelle Jahrbuch Latein­amerika Rohstoffboom mit Risiken beleuchtet die Ressourcenpolitik der lateinamerikanischen Regierungen historisch, politisch und ökonomisch. Es zeigt, dass die Bruchlinien in der Diskussion wesentlich komplizierter sind als es in den meisten deutschen Medien dargestellt wird.
Elmar Altvater und Ingo Bultmann nähern sich dem Thema historisch: Altvater stellt dar, wie die lateinamerikanischen Staaten seit der Kolonialzeit mit ihrem Reichtum umgingen. Eine Konstante in der mit dem Abbau von Rohstoffen verbundenen lateinamerikanischen Geschichte ist dabei laut Altvater der Streit zwischen Freihandel einerseits und Entwicklung unter Berücksichtigung sozialer Rechte andererseits. Dabei geht es seit Mitte des 20. Jahrhunderts natürlich vor allem ums Öl. In den letzten Jahren sei aber die Produktion von Biomasse zur Alternative geworden. Diese könnte das Öl als Einnahmequelle ablösen, doch das würde den erwähnten Widerspruch nicht ändern: „(…) wenn die Natur in Wert gesetzt und in Ware verwandelt und als solche zur Erzielung von Profiten in den kapitalistischen Kreislauf integriert wird, richtet sich die Produktion nicht mehr nach biologischen Rhythmen, sondern nach den Verwertungsbedingungen von Kapital“, schreibt Altvater. Entsprechend werden ökologische und soziale Schäden den Bedürfnissen des Marktes untergeordnet. Entscheidend, so Altvater, sei also nicht, welcher Rohstoff gefördert wird, sondern auf welche Weise und wie er genutzt wird. Als mögliche Alternative zur Kapitalisierung der Rohstoffe stellt er das von Hugo Chávez ins Leben gerufene, an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte Integrationsprojekt ALBA dar.
Ingo Bultmann schildert die Geschichte der lateinamerikanischen Rohstoffe aus politischer Sicht und setzt seinen Fokus auf den Ressourcennationalismus. Sein Fazit: der Diskurs ist heute ein ähnlicher wie in den siebziger Jahren, doch die AkteurInnen sind andere. Aus den ethnischen und sozialen Bewegungen, die die politische Praxis verändern konnten, sind teilweise linke Regierungen hervorgegangen, die den Ressourcenreichtum der Länder nutzen wollen, um mehr Verteilungsgerechtigkeit zu schaffen.
Dabei enttäuschen sie jedoch häufig nicht nur UmweltschützerInnen sondern auch soziale Bewegungen. Thomas Fatheuer stellt das am Beispiel des brasilianischen Zuckerrohrs dar. Stefan Thimmel bezieht sich auf Zellulosefabriken in Uruguay und Regine Rehaag berichtet mit diesem Fokus über die Zukunft der Gentechnik in Brasilien. Vor allem Fatheuers Artikel trägt wesentlich dazu bei, die Komplexität des Themas darzustellen. Und er hat die Größe zuzugeben, dass viele Faktoren noch unbekannt sind: „Bevor die internationale Umweltgemeinde vorschnell viel Geld und Energie auf bestimmte Lösungsansätze verwendet, sollten wir uns eingestehen, dass wir sehr wenig über die Entwicklungsmöglichkeiten des Agroalkohols in Brasilien wissen.“ Fatheuer zeigt, dass es vor allem um die Landnutzung geht. Der künftige Anbau von Zuckerrohr zur Gewinnung von Ethanol verringert das Weideland, das sich dann in Richtung Amazonas verlagert. Lulas Regierung gehe es vor allem um Wachstum, so Fatheuer. Wenige große Konzerne treiben dafür den Ausbau der neuen Rohstoffe voran und so reproduziere die linke Regierung oligarchische Strukturen. Das gelte auch für die Ausbreitung von Gensoja, die Lula zulässt, obgleich er vor seiner Wahl versprochen hatte, Gentechnik in Brasilien zu verbieten.
Auch in Uruguay ist das Verhalten der Regierung dem Wunsch nach Wirtschaftswachstum geschuldet: Massiv wird in Zellulose-Monokultur für den Export vor allem nach Europa investiert. Stefan Thimmel beschreibt, warum dies stark die Umwelt zerstört, ohne dabei Arbeit zu schaffen.
Wie kompliziert in solchen Konflikten die Fronten verlaufen, stellt Michael Pollman am Beispiel des Bergbaus in Peru dar: Die Wahrnehmung von Umweltzerstörung ist eine andere, je nachdem, ob Bäuerinnen und Bauern oder transnationale Unternehmen den Wald abbrennen. Ähnlich argumentiert Ulrich Brandt in seinem Beitrag über Biodiversität. Er beschreibt, wie in Mexiko Staat und NRO zusammenarbeiten, um Gebiete zu schützen und zugleich für transnationale Firmen zugänglich zu machen. Pollman fordert Vermittlung durch neutrale AkteurInnen, während sich Brand darauf beschränkt, die Widersprüche des Konflikts aufzuzeigen.
Wie Kuba sich hinsichtlich dieser Dynamiken positioniert, ist eine Frage, die Silke Helfrich eher unstrukturiert beantwortet. Sie behandelt eine Vielzahl von Themen, die allesamt interessant sind, aber wenig vertieft werden. Klar wird: Auch Kuba will unabhängiger von Rohstoffimporten werden, ist dabei jedoch vor andere Probleme gestellt. So wäre die Erzeugung von Ethanol von der Landnutzung her kein Problem, aber Castro lehnt sie ab, weil auch die USA die Erzeugung von Agro-Treibstoff vorantreiben. Im Zusammenhang mit Kuba wird die Rohstofffrage eher selten erwähnt, deswegen ist der Beitrag im Jahrbuch trotz seiner Schwächen gut platziert.
Generell gelingt es den AutorInnen des Jahrbuchs, neue Konfliktlinien aufzuzeigen und Vorschläge zu einem Thema zu machen, das in der Diskussion um Klimawandel und Energiesicherheit sehr präsent ist. Zugleich zeigen sie, wie Machtstrukturen auf dem lateinamerikanischen Kontinent hartnäckig bestehen bleiben, auch wenn jetzt linke Regierungen die Kontrolle über die fossilen und regenerativen Rohstoffe übernommen haben.

Karin Gabbert et al. (Hg.) // Jahrbuch Lateinamerika 31 Rohstoffboom mit Risiken // Westfälisches Dampfboot Verlag // Münster 2007 // 222 Seiten // 24,90 Euro

Familiensaga im Tango-Schritt

Beim Aufschlagen des Tango-Romans von Elsa Osorio kommt dem Leser als Erstes ein verzweigter Stammbaum voller französisch und spanisch klingender Namen in den Blick. Man betrachtet ein leeres Gerüst aus Worten und Linien, man zählt: fünf Generationen, Miguel Rinaldi, Asunción, Jugendliebe von, Carlota, Tangotänzerin, Geliebte von, Juan Montes, Tangokomponist, und etliche andere mehr, aha. Und über allen der Tango… steht rätselhaft darüber geschrieben. Man beginnt ein wenig neugierig zu lesen, um, dankeschön, gleich auf den ersten Seiten ins Le Latina, einem Tangolokal in Paris, entführt zu werden und sich mit einer ganzen Reihe von Klischees konfrontiert zu sehen. Da tanzt die schöne Ana, die gerade von ihrem Freund sitzen gelassen wurde, mit dem schönen Luis, der eine , eine Freundin sucht , und, welch ein Zufall, sie entdecken nach dem Tanz gemeinsame Bekannte aus der Vergangenheit, und, schadeschade, nur knapp schlägt das Spontanprojekt einer gemeinsamen Nacht fehl, Madame ziert sich. Man schüttelt beim Lesen leise den Kopf – hier werden Schubladen aufgemacht, in die man eigentlich noch nie hineinschauen wollte: schlanke, sinnliche Beine, schmachtende Blicke, herzzerreißendes Tangogedudel, der argentinische Verführer und die französische Tangoprinzessin, der Tanz als einzige Rettung vor Liebeskummer, und obendrein, kursiv gesetzt, Stimmen aus dem Off, die Tangogeister etwa? Aufseufzen nach den ersten Seiten – wenn dieser Roman ein Lied wäre, dann versprechen die einleitenden Takte noch keine berauschende Melodie.
Irgendwie will man das Buch dann aber doch noch nicht weg legen – hat man vielleicht etwas übersehen, überlesen oder, um bei der Allegorie zu bleiben, etwas überhört, leise Klänge im Hintergrund vielleicht? Kapitel zwei, na also, der Sprung in eine andere Zeit, man findet sich um 1900 in Buenos Aires: die Zeit der großen Einwanderungen und Umbrüche in dem Land, welches für so viele Auswanderer aus Europa und der ganzen Welt ein neues und besseres Leben versprach. Doch auch hier: Tango und Rinder, Lust und Liebe, alles klar und danke, Klischee bedient. Trotzdem, fast unmerklich geben die neuen Klänge aus einer anderen Zeit der Lektüre einen spannenderen Ton, man beginnt sich beim Lesen dem Buchstabenlied zu öffnen und will irgendwie doch wissen, was hier geschieht und geschehen wird. Warum verliebt sich die Tochter des Zimmermädchens in den Schurken aus Uruguay und nimmt die Liebe des Sohnes der Herrschaft nicht wahr?
Im Verlauf der Lektüre bemerkt man langsam aber sicher, wie man im Inneren die Einladung dieser Melodie aus Osorios Worten annimmt und nun beim Lesen schon fast selbst zum Lied dieses Buches zu summen beginnt. Das also ist der Tango, das ist Argentinien, das Leben damals auf der anderen Seite der Welt?

Die Rahmenhandlung des Buches ist schnell erzählt: Ana und Luis entschließen sich zu einem Filmprojekt über den Ozean hinweg, Argentinien und Frankreich als Ausgangspunkt der Arbeiten und Recherchen zu einer Geschichte des Tangos, welche gleichzeitig die Geschichte eines Landes und mehrerer Generationen ist. Der/die LeserIn sieht den entstehenden Film vor den Augen ablaufen; die Erzählgegenwart verwandelt vermeintliche Rückblicke zu direkten Situationen, die Erzählsprache ist voller Spiel und Tanz, wodurch ein sehr unvermittelter Eindruck des Erlebens suggeriert wird. Immer seltener springt die Erzählung in die Gegenwart der Rahmenhandlung, immer tiefer und spannungsreicher entführt sie in die Gegenwart der Vergangenheit.
Es öffnen sich rätselhafte Türen und Pfade in die Vergangenheit: warum hat Ana solche Scheu, von ihrer Familie zu sprechen? Warum ist der Tangokomponist Juan Montes wie ein rotes Tuch aus Schmerz für ihren Vater, so dass er die Fragen seiner Tochter in einem schwarzen Loch aus Schweigen verschwinden lässt? Auch die Gegenwart selbst wird verworrener: werden Ana und Luis ihren Film über den Tango drehen können oder wird das Projekt an ökonomischem und emotionalem Druck scheitern? Als Hintergrundmelodie hört man die Frage, ob die beiden sich endlich kriegen oder nicht. Wenn man nach dem ersten Drittel des Buches aus der Melodie der Geschichten und Begebenheiten auftaucht, bemerkt man verblüfft, dass man längst schon selbst begonnen hat, zum rätselhaften und schmerzlich süßen Lied Elsa Osorios zu tanzen.
Trotz des etwas klischeebelasteten Einstieges und ist der argentinischen Autorin Elsa Osorio 2006 mit Cielo de Tango ein in vielerlei Hinsicht wunderbares Buch gelungen. Es ist Osorios zweiter Roman nach Mein Name ist Luz, der in 16 Sprachen übersetzt wurde.

Elsa Osorio spielt mit Erzählperspektiven, Erzählerstimmen und Erzählebenen, wobei sie im Verlauf ihres Romans ein so umfassendes Lied vom Land des Tangos und der Rinder komponiert, dass sie es schafft, selbst die allseits bekannten und flachen Klischees über Argentinien mit Wahrheit und Leben zu füllen. Über die Geschichte des Tangos verknüpft erhält man auf faszinierende Weise Einblick in Vergangenheit und Gegenwart dieses südamerikanischen Landes, in tiefere Prozesse wie die beginnende neoliberale Ausrichtung der Wirtschaft, die sozialen Bewegungen, die Demonstrationen, Krawalle und Morde, die zerrüttenden und schmerzhaften Erfahrungen mit blutigen Aufständen, Militärputschen und Diktatur. Im Epilog gibt die Autorin, eingebettet in die Romanhandlung, einen beeindruckenden und erschütternden Bericht der Ereignisse um den wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des Jahres 2001, und ganz im Sinne des Tangos endet der Roman voller Liebe und Schmerz, voller Musik und Leidenschaft. Versprochen: wer Elsa Osorios Aufforderung zum Lesen annimmt, der lernt mit ihren Figuren leben, lieben, lachen und leiden und, ganz gewiss: er lernt tanzen, den schönsten und himmlischsten aller Tänze: Tango!

Elsa Osorio: Im Himmel Tango. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007, deutsch von Stefanie Gerhold, 19,80 Euro

Zwei Teufel sind einer zu viel

Der Tag war mit Bedacht gewählt. Am 19. Juni, dem Geburtstag des Nationalhelden und Übervaters der uruguayischen Geschichte, José Gervasio Artigas, sollte es nach dem Willen des Präsidenten einen gemeinsamen Marsch von Militärs, Parteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen wie der Vereinigung der Familienangehörigen der Verhafteten und Verschwundenen geben. Vázquez schlug
sogar vor, alle Schüler dazu aufzufordern, an diesem Marsch teilzunehmen. Ziemlich schnell musste er aber zurückrudern. Zuerst war diese Idee nach heftigen Protesten der LehrerInnengewerkschaften und der StudentInnen- und SchülerInnenvereinigungen vom Tisch. Später musste er seinen Vorschlag dann komplett umbauen, nachdem die Basis seiner Mitte-Links-Koalition Frente Amplio nahezu ausnahmslos sein Vorhaben kritisiert hatte. Das Konzept von Vázquez, das Nunca Más auch auf die Aktionen des Widerstandes (hier war vor allem die Stadtguerilla Tupamaros gemeint, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, mit einigen spektakulären Überfällen und Entführungen die rechte Regierung bekämpfte) auszudehnen, wurde sowohl von den Basiskomitees der Frente Amplio als auch den Gewerkschaften, den Familienangehörigen der Verschwundenen sowie von mehreren Frente Amplio-Parteien wie den Kommunisten und der Partei des Sieges des Volkes vehement abgelehnt. Diese Kröte war die übergroße Mehrheit der Frente Amplio Basis nicht mehr bereit zu schlucken. Das „Nie wieder“ ist und bleibt auf den Terror des Staates bezogen, so die klare Botschaft an „ihren“ Präsidenten.

Vertuscht wird
„nur ein bisschen“
Am 4. Juni, zwei Wochen nachdem am 20. Mai über 50.000 Menschen beim alljährlichen Gedenkmarsch für die 1976 in Argentinien ermordeten uruguayischen Politiker Héctor Gutiérrez Ruiz und Zelmar Michelini gegen die „Versöhnung“ protestiert hatten, kam der Rückzieher. „Nunca más terrorismo del estado“ (Niemals mehr Staatsterrorismus), verkündete Vázquez in einer Erklärung als neue und alte Formel. Sekundiert wurde er beim Versuch, einen totalen Gesichtsverlust zu vermeiden von Jorge Rosales, dem Kommandeur der uruguayischen Streitkräfte. Rosales hatte in einer Ansprache nur wenige Tage zuvor jedwede Verantwortung der Militärs für die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur negiert und ebenso wie die Gewerkschaften und die Angehörigen auf der anderen Seite ausgeschlossen, sich hinter der „Versöhnungsfahne“ des Präsidenten am 19. Juni einzureihen. Mehr noch: Auf Vorwürfe, die Militärs hielten Informationen über das Schicksal der Verschwundenen in Uruguay zurück, gab er kurz und knapp eine mehrdeutige Erklärung. „Alle Akten sind beim Ministerium für Verteidigung und es wird nichts vertuscht und wenn dann vielleicht nur ein bisschen“.
Ohne Beteiligung des Volkes, ohne die Basis der uruguayischen Linken, fand dann der Staatsakt, am Morgen des 19. Juni statt. Nur insgesamt ca. 3.000 Personen waren gekommen, die Mehrzahl davon ParteienvertreterInnen und aktive und ehemalige Militärs. Die sozialen Organisationen, die Menschenrechtsorganisationen, die StudentenInnenbewegung, die Gewerkschaften und einige Sektoren der Frente Amplio fehlten komplett. Die sozialen Bewegungen und Organisationen, die wesentlich am Wahlsieg der Frente Amplio und ihrer Partner am 31. Oktober 2004 beteiligt waren, sich aber heute, nach knapp zweieinhalb Jahren immer weniger von „ihrer Regierung“ vertreten fühlen, führten am Abend mehrere Demonstrationen gegen den Marsch durch. Diese wurden allerdings durch einen harten Polizeieinsatz, bei dem es mehrere Verletzte und Verhaftete gab, jäh unterbrochen. Offensichtlich ist, dass es nichts mehr zu feiern gibt. Der legendäre Ausspruch des Präsidenten in der Nacht des Wahlsiegs, „Feiert, Uruguayer, feiert“ ist heute nur noch Anlass für sarkastische Bemerkungen. Die deutlichsten Worte fand, wie so oft, wenn die Regierung kritisiert wird, der ehemalige Tupamaro Jorge Zabalza: „Das Volk hat den Staatsakt nicht unterstützt und sie waren total isoliert, nur umringt von Militärs.“
Auch von den Gewerkschaften, bislang eine der Hauptstützen der Frente Amplio, entfremdet sich die Regierung immer mehr. Zuerst durch die neoliberal orientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik des einflussreichen Ministers Danilo Astori, nun durch die völlig missratene „Versöhnungskampagne“. „Da gab es Märsche und Gegenmärsche und lauter konfuse Positionen. Darüber hinaus war der Ansatz des Präsidenten, von einem Krieg zwischen den UruguayerInnen auszugehen, völlig falsch. Hier gab es keinen Krieg zwischen den Uruguayern, sondern die Durchsetzung des Staatsterrors“, so die klare Haltung von Luis Puig, Mitglied des Direktoriums des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT.

Umarmung mit Diktatorensohn
Ein weiterer Kernpunkt der Konfrontation ist die Diskussion um die Interpretation des Straflosigkeitsgesetzes. Der PIT-CNT sowie viele Sektoren innerhalb der Frente Amplio fordern die Annullierung des 1986 vom Parlament beschlossenen und 1989 in einem Referendum bestätigten Gesetzes. Der Präsident lehnt dies bisher kategorisch ab.
Das Bild des Tages am 19. Juni war die öffentliche Umarmung zwischen Vázquez und Pedro Bordaberry, Politiker der rechten Colorado-Partei und Sohn von Juan María Bordaberry, dem Diktator, der 1973 die Militärdiktatur einleitete. Und Bordaberry Junior nutzte gleich die Gelegenheit, um weiter Öl ins Feuer zu gießen: “Ich glaube, es ist eine gute Absicht des Präsidenten, „Nie Wieder“ zu Gewalt, sowohl zur Gewalt des Staates als auch zur Gewalt wie in den 1960ern, den 1970ern und den 1980ern zu sagen”. Seinen Vater, der seit Dezember 2006 im Gefängnis sitzt und dem Mittäterschaft in mindestens 14 Mordanklagen vorgeworfen wird, wird es gefreut haben. Die Angehörigen der Verschwundenen sind entsetzt und fühlen sich verraten. Bis heute wurden erst die sterblichen Überreste von drei während der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 Verschwundenen gefunden. Für Luisa Cuesta von der Vereinigung der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen, gibt es kein Wenn und Aber bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur, die in Uruguay, 22 Jahre nach der Wiedereinführung der Demokratie, gerade erst begonnen hat: „Das Nunca Más bedeutet, dass die Streitkräfte sagen, was passiert ist. Dass wir die Wahrheit erfahren. Das Nunca Más heißt Nein zum Staatsterror und nichts anderes.“
Zur „Versöhnungs-Strategie“ von Vázquez gehört auch ein Gesetzentwurf, der von Daniel García Pintos, einem Abgeordneten der Colorado-Partei, ins Parlament eingebracht wurde und der eine gleichberechtigte Entschädigung für alle Opfer von Gewalt vorsieht. Das Gesetz, das mit den Stimmen der Frente Amplio-Mehrheit verabschiedet wurde, stellt die unter der Militärdiktatur Inhaftierten, Verschwundenen und Ermordeten und deren Angehörige mit den Polizisten, Militärs und Zivilpersonen, die während der Zeit von 1962 bis 1973 Opfer von Gewalt wurden, auf eine Stufe. Es provozierte heftigen Widerspruch und Empörung innerhalb und außerhalb der Frente Amplio. Vor allem, weil damit die Theorie der „Zwei Teufel“ bestätigt wird, die besagt, dass sowohl Militärs als auch der breite gewerkschaftliche und studentische Widerstand und Gruppierungen wie die Tupamaros Schuld an der Zerschlagung der demokratischen Institutionen Anfang der 1970er Jahre tragen.
Der Theorie der „Zwei Teufel“ hängt auch das Bündnis MPP (Movimiento de Participación) an, dessen Herzstück die ehemaligen Tupamaros mit ihrer Leitfigur José „Pepe“ Mujica bilden und das heute die stärkste Fraktion innerhalb der Frente Amplio stellt. Jorge Zabalza, selbst einer der „Geiseln des Staates“ während der Militärdiktatur (wie sein ehemaliger Kampfgefährte und heutige Gegner Mujica war er viele Jahre in Einzelhaft eingekerkert), erklärt zur „Theorie der Zwei Teufel“ verbittert: „Die Entscheidung, den einzigen Teufel, den es im Land gab, zu umarmen, öffnet Tür und Tor für einen neuen Staatsterrorismus, eine neue Diktatur und eine neue Repression.“

Kampf um die Nachfolge
Das zweite Nunca Más (das zumindest bis 2014 gilt) von Tabaré Vázquez kam allerdings überraschend: Anfang Juni stellte er klar, dass er sich nicht um eine weitere Amtszeit bemühen wird. Obwohl die Verfassung eine direkte Wiederwahl des Präsidenten nicht vorsieht, hatten doch nicht wenige seiner Anhänger damit gerechnet, dass die Frente Amplio und die mit ihr regierenden Parteien und Gruppierungen es darauf anlegen würden, mit ihrer absoluten Mehrheit in beiden Kammern des Parlamentes die Verfassung zu ändern, um eine zweite Amtszeit von Vázquez zu ermöglichen. Warum aber gerade jetzt dieser Schritt, nachdem der Präsident über Monate zu den ins Kraut schießenden Spekulationen geschwiegen hatte? Offensichtlich ist, dass er einerseits damit die Aufmerksamkeit weg von seiner bislang größten internen Niederlage lenken wollte und andererseits die Frente Amplio, die ihm bei seinem Vorhaben den 19. Juni jedes Jahres als Tag eines generellen „Niemals wieder“ zu begehen, nicht gefolgt ist, auch irgendwie abstrafen wollte.
Nach dem Rückzug des Präsidenten herrscht jetzt Klarheit und der interne Machtkampf innerhalb der Frente Amplio im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl im Oktober 2009 hat begonnen. Alles deutet auf einen Machtkampf zwischen den beiden politischen Schwergewichten in der Mitte-Links-Regierung Uruguays hin. Auf der einen Seite steht der eher marktliberal orientierte Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori, der sich schon im Vorfeld der Wahlen 2004 nur widerwillig hinter den Kandidaten Vázquez gestellt hatte, in den Startlöchern. Auf der anderen Seite findet sich der nur schwer in Kategorien von Mitte oder Links einzusortierende Agrarminister José „Pepe“ Mujica, der sich bislang immer noch ziert, sich öffentlich zu einer möglichen Kandidatur zu erklären. Explizit ausgeschlossen hat er eine Kandidatur aber auch nicht. Nicht ausgeschlossen ist auch eine überraschende Kandidatur eines Dritten. Der ist allerdings bisher nicht aufgetaucht. Viele erwarten und erhoffen sich jetzt von der verbleibenden Regierungszeit, dass der Präsident endlich mehr regiert und weniger moderiert. Und so zum Beispiel Astori dazu auffordert, endlich eine Umverteilung des Wohlstandes einzuleiten, denn aktuelle Zahlen belegen, dass sich während der zwei Jahre der Regierungszeit der Frente Amplio die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet hat.

Staatlichkeit ist Verhandlungssache

Das staatliche Gewaltmonopol gehört nicht nur zu den zentralen Pfeilern eines jeden Staates. Es bietet auch einen guten Ausgangspunkt, um die Rolle der lokalen „Machthaber“ – als politische Intermediäre – in Lateinamerika zu erhellen. Allerdings ist schon der Begriff des staatlichen Gewaltmonopols problematisch, weil in keiner Gesellschaft alle Formen der Gewaltsamkeit exklusiv im Staat verortet werden können. Es handelt es sich eher um eine effektive staatliche Zentralisierung der Gewalt, denn um eine Monopolisierung. In den meisten lateinamerikanischen Ländern (Ausnahmen bilden Chile, Uruguay und Costa Rica) fällt nun auf, dass hier bis heute die Gewalt nicht effektiv im Staat zentralisiert werden konnte. Der Zentralstaat muss sich daher immer wieder mit den lokalen Machthabern und deren Interessen arrangieren, um die allgemeine politische Stabilität gewährleisten zu können und die konkrete Präsenz des Staates auf lokaler Ebene zu verhandeln.

Das koloniale Erbe

Dies hat vor allem historische Gründe. Die spanischen und portugiesischen Kolonialmächte verfügten zu keiner Zeit über die Ressourcen und auch nicht über den politischen Willen eine umfangreiche und effektive Kontrolle über ihren Kolonialbesitz auszuüben. Vielerorts wurde diese Kontrolle deshalb an lokale politische Agenten delegiert. Diesen wurden formell und informell gewisse Privilegien und Rechte zugestanden, die sie auch gerne übertreten konnten, so lange sie nur für Ruhe, Ordnung sowie den notwendigen Ressourcentransfer „nach Hause“ sorgten und die Herrschaft der jeweiligen Königshäuser nicht offen herausforderten oder ihr schadeten. Diese Situation wurde durch die Unabhängigkeitsprozesse zwar modifiziert, jedoch nicht wirklich überwunden. Vielmehr waren es diese lokal verankerten Machthaber, die von der Schwächung der Kontrollmacht der jeweiligen Hauptstädte profitierten. Nach der Unabhängigkeit bildeten sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in den meisten lateinamerikanischen Staaten so genannte liberal-oligarchische Regime heraus. Neben einer verstärkten Integration der lateinamerikanischen Exportwirtschaften in den Weltmarkt, vermochten es diese zwar, im Inneren die Staatsapparate deutlich weiter zu zentralisieren und den Staat durch den Ausbau der Infrastruktur geographisch näher an die Bevölkerung zu bringen. Man denke hier nur an die vom mexikanischen Präsidenten Porfirio Díaz initiierte massive Erschließung weiter Teile Mexikos durch Eisenbahnen und die damit einhergehende Ausdehnung des staatlichen Zugriffs auf die lokale Bevölkerung. Im Kern basierten diese Regime jedoch unverändert auf einem Pakt zwischen den politischen Eliten in den jeweiligen Hauptstädten und lokalen Machthabern. Letzteren wurden inoffiziell weiterhin erhebliche Freiräume für die individuelle Ausgestaltung ihrer lokalen Herrschaftsbereiche und Einflusszonen zugestanden – zumindest so lange, wie sie durch ihr Verhalten nicht die Stabilität dieser Arrangements bedrohten. Nun ließe sich einwenden, dass diese Struktur mit Beginn des 20. Jahrhundert und den nachfolgenden politischen Entwicklungen überwunden wurde. Immerhin denkt man bei den relativ erfolgreichen populistischen Entwicklungsstaaten und den bürokratisch-autoritären Militärdiktaturen kaum an ein intern fragmentiertes und permanent zwischen lokalen und hauptstädtischen Eliten ausgehandeltes Herrschaftsarrangement. Bei näherem Hinschauen wird jedoch genau dies deutlich: Die populistischen Staaten waren für ihre Entwicklungsprojekte ebenso auf die Unterstützung der lokalen Machthaber angewiesen wie die „Putsch-Koalitionen“ (O’Donnell) aus Militärs und internationalisierten Kapitalfraktionen in den bürokratisch-autoritären Staaten. Nicht zuletzt die von den brasilianischen Militärs eingeleiteten Dezentralisierungsmaßnahmen und umfangreichen subnationalen Reformprogramme sind in diesem Kontext exemplarisch. So schuf die Militärregierung beispielsweise mehr als 200 parastaatliche Unternehmen und Banken, deren Kontrolle exklusiv an der von lokalen Eliten dominierten bundesstaatlichen und Gemeindeebene angesiedelt war. Auf diese Weise versuchte sie, über Entscheidungs- und Ressourcentransfer lokale Machthaber in ihr Projekt einzubinden. Ähnliche Entwicklungen finden sich auch während der zweiten argentinischen Militärdiktatur von 1976-1983. Auch die demokratischen Transitionsprozesse der letzten Jahrzehnte haben an dieser Grundstruktur substantiell wenig geändert, auch wenn sie sie entscheidend modifiziert haben.
Die meisten Staaten Lateinamerika sind also in ihrem Inneren als sehr fragmentierte politische Gebilde zu verstehen. Diese Fragmentierung eröffnet die Möglichkeit für die Entstehung politischer Intermediäre, die aufgrund ihrer starken lokalen – kulturellen und/oder ethnischen – Verankerung und der nur sehr geringen sozialen Einbettung des Staates in der Lage sind, sich zwischen Staat und Bevölkerung zu schieben. Sie sind das Nadelöhr durch das jedes zentralstaatliche politische Projekt hindurch muss. In diesen lokalen Räumen, in denen der Staat nicht in der Lage ist, als Agent effektiver sozialer Kontrolle zu agieren, entstehen auf lokaler Ebene autonome Herrschaftsräume, in denen alternative, durch personalistische und klientelistische Formen der Machtausübung gekennzeichnete Ordnungsmuster dominieren. Nicht selten werden diese von der dortigen Bevölkerung als legitim betrachtet. Dies bedeutet, dass hier die Durchsetzung von in der Hauptstadt entworfenen politischen Projekten, aber auch die Aufrechterhaltung politischer Stabilität auf lokaler Ebene oder auch der gewünschte Wahlerfolg, auf einen permanenten informellen Aushandlungsprozess der Agenturen des Zentralstaates mit lokalen Machthabern angewiesen ist. Hieraus folgt, dass diese Räume nicht als „autoritäre Enklaven“ bezeichnet werden können. Vielmehr sind sie Teil eines fragmentierten Gesamtkomplexes, in dem gerade auch scheinbar paradoxe Effekte wie die Existenz von Privatarmeen und die lokale Verfügungsgewalt über Paramilitärs für die Stabilität der Gesamtstruktur wichtig ist. Diese Phänomene bedeuten jedoch keinesfalls eine Infragestellung des staatlichen „Gewaltmonopols“. In einem Kontext, in dem der Staat niemals die Fähigkeit hatte, solch eine Zentralisierung der Gewalt zu verwirklichen, sind sie eher als eine lokale Substitution des „Gewaltmonopols“ zu verstehen, die für den Staat als solchen durchaus positive Effekte hat. Vor diesem Hintergrund treten die lokalen Machthaber den staatlichen Agenturen als wichtige Garanten von lokaler Ruhe und Ordnung, aber auch als politische Mobilisierungsmaschinen gegenüber und fordern als Gegenleistung für ihre Dienste staatliche Ressourcen ein. Diese Ressourcen wiederum dienen im lokalen Kontext nicht nur der persönlichen Bereicherung dieser Personen, sondern werden gleichzeitig auch in selektiver Form an die Bevölkerung weitergegeben und nähren damit in einem Kontext „struktureller Staatsferne“ den Mythos des privilegierten Zugangs der Intermediäre zum Zentrum der politischen Macht. Hieraus resultiert ein interessanter ideologischer Effekt. Denn auch dann, wenn der Staat in diesen Räumen keine institutionelle Präsenz
aufweist, ist er doch durch die „intermediär“ bereitgestellten Ressourcen in der kollektiven Vorstellungswelt der Bevölkerung präsent. Es ist häufig nicht der Staat als solcher, der von der Bevölkerung kritisiert wird, sie zu „vernachlässigen“ oder „ungerecht zu behandeln“. Es sind vielmehr die korrupten Regierungen, die Staatsbeamten oder sogar die Mittler-Instanz selbst, welche zu viele Ressourcen in die eigene Tasche wandern lassen. Der Staat selbst jedoch erscheint als unerschöpfliche Quelle von Ressourcen und dient als permanenter Einschreibungshorizont für kollektive Bedürfnisse. Er verwandelt sich, mit den Worten des venezolanischen Anthropologen Fernando Coronil, in einen „magischen Staat“.

Magischer Staat

Diese Situation wurde durch die neoliberalen Dezentralisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte vielerorts noch verstärkt. Denn der in den späten 1980er Jahren eingesetzte und als Demokratisierung bezeichnete Transformationsprozess, welcher von einer Reihe von Dezentralisierungsmaßnahmen begleitet wurde, ist im Kern eher die Abkehr eines autoritär-klientelistischen hin zu einem liberal-klientelistischen Staatsmodell. An der Relevanz politischer Intermediäre hat dieser Prozess nichts geändert.
Dies lässt sich am Beispiel Mexikos sehr gut veranschaulichen. Dort gelang es nämlich den anpassungsfähigen und mit der ehemaligen Staatspartei PRI assoziierten lokalen Bossen vielerorts – vor allem im Süden Mexikos – ihren Einflussbereich zu festigen. Darüber hinaus eröffnete gerade die parallel zu Dezentralisierungs- und Demokratisierungsprozessen einhergehende neoliberale Umstrukturierung von Staat und Wirtschaft in Mexiko den Weg zur Konstitution neuer lokaler Machtzentren. Diese neuen Machtzentren sind wiederum häufig nicht nur in der Lage, sich die aus den Dezentralisierungsprozessen resultierende Ressourcenausstattung und politische Autonomie lokaler Institutionen anzueignen. Häufig geschieht dies durch die Gründung lokaler Nichtregierungsorganisationen (NRO) – oft im Umweltbereich- und bei Entwicklungsinitiativen. Diese neue Generation politischer Intermediäre entzieht sich auch der bisher notwendigen Identifizierung mit der PRI. Sie weist vielmehr einen hohen Grad an Beliebigkeit bezüglich einer festen Parteizugehörigkeit auf. Auch vermeintlich demokratische politische Kräfte wie die rechts-klerikale PAN nehmen die Macht der Intermediäre für die Aufrechterhaltung von lokaler Ruhe, Ordnung und Investitionssicherheit gerne in Anspruch.
Lokal verankerte emanzipative soziale und politische Bewegungen haben es dabei oft schwer, sich diesen Strukturzusammenhängen zu entziehen. Der weit verbreitete Glaube an einen „magischen Staat“ ist auch ihnen dabei nicht selten ein Hindernis.

Equipo Morales vs. Die Höhenangsthasen

Ich bin in den Bergen geboren. Das Dorf in der Schweiz, aus dem ich stamme, liegt bei den höchsten Bergen Europas. Deswegen habe ich keine Angst vor der Höhe“, erklärte FIFA-Präsident Joseph Blatter während eines offiziellen Besuchs in La Paz im Jahr 2000. Seit ein paar Wochen glaubt ihm das in Bolivien niemand mehr: Am 26. Mai beschloss der FIFA-Exekutivrat, dass keine internationalen Spiele mehr in Stadien ausgetragen werden dürfen, die oberhalb von 2.500 m liegen. Die Entscheidung bedeutet insbesondere für Bolivien einen herben Schlag, denn damit sind fünf große Stadien des Landes für FIFA-Partien tabu: La Paz (3.640 m), Cochabamba (2.550 m), Oruro (3.080 m), Sucre (2.790 m) und Potosí (4.070 m). Allein in Santa Cruz darf noch international gespielt werden. Aber auch Ecuador, Kolumbien und Peru sind betroffen: Quito liegt auf 2.850 m, Bogotá auf 2.640 m und Cusco auf 3.400 m.
Die FIFA begründete die Maßnahme mit dem Schutz der Gesundheit der Spieler, sowie der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen, die sich ergäben, wenn eine höhentrainierte Mannschaft gegen ein Team antritt, das auf Meereshöhe trainiere. Die Argumente wurden von bolivianischen Fußballexperten angezweifelt: So sei in der Geschichte der bolivianischen Liga, in denen die Teams ständig zwischen ein paar Hundert und 4.000 m Höhe pendeln, noch nie ein Gesundheitsproblem bei einem Spieler dokumentiert worden, das sich auf den Höhenunterschied zurückführen lasse. Seltsam ist auch, dass das Verbot nur für internationale Partien gilt: Wäre die Gesundheit von nicht akklimatisierten Spielern auf über 2.500 m Höhe wirklich ernsthaft in Gefahr, müsste die FIFA auch eine entsprechende Warnung an nationale Fußballvereinigungen erteilen – davon war bei der FIFA kein Wort zu hören. Auch gebe es keine Statistik, die einen Vorteil der Teams aus Potosí und La Paz gegenüber den Teams aus Cochabamba oder Santa Cruz belege. Vielmehr geht man in Bolivien davon aus, dass die FIFA dem Drängen der großen lateinamerikanischen Verbände in Argentinien, Brasilien und Uruguay nachgegeben haben, deren Spielern das Laufen in großer Höhe schlicht zu anstrengend sei.
Boliviens Präsident Evo Morales, selbst begeisterter Fußballspieler, erklärte die Rücknahme des FIFA-Votums zur Chefsache. Am 6. Juni lud er 200 Bürgermeister, Präfekten und weitere Autoritäten aus den Andenländern nach La Paz ein, um die FIFA-Entscheidung zu verurteilen und über Protestmaßnahmen zu beraten. „Der Fußball ist mehr als ein Sport, er ist eine Grundlage der Einheit Lateinamerikas“, rief er den Delegierten zu. Inzwischen kann Morales erste diplomatische Erfolge aufweisen: Die Organisation Amerikanischer Staaten sowie die Andengemeinschaft verurteilten das FIFA-Verbot ebenso wie der Südamerikanische Fußballverband als diskriminierend und ausgrenzend. Die Vertreter des Verbands wollen sich in der nächsten Sitzung des FIFA-Exekutivrats dafür stark machen, dass die Entscheidung zurückgenommen wird.
Doch nicht nur auf dem diplomatischen Parkett kämpft Evo Morales gegen das FIFA-Verbot, sondern auch in Fußballschuhen: Seit dem Bekanntwerden der Entscheidung hat er mit der Fußballmannschaft des Präsidialamts mehrere Spiele in schwindelerregenden Höhen absolviert, so am Chacaltaya-Gletscher auf 5.270 m, und unterhalb des Sajama, des höchsten Berges Boliviens, auf über 6.000 m Höhe. Klar, dass das Team des Präsidenten bislang alle Partien gewann.
Evo Morales kommt das FIFA-Verbot gelegen: Er kann sich durch sein Engagement in einer Angelegenheit profilieren, in der ihn die große Mehrheit der BolivianerInnen aus allen Regionen, Ethnien und sozialen Schichten unterstützen – eine große Seltenheit in dem gespaltenen Land.

Zertifiziertes Raubrittertum

Der Klimawandel entwickelt sich zu einem neuen Hauptwiderspruch. Um die Erderwärmung zu begrenzen, scheint alles erlaubt. Als „sauberer“ Energieträger gilt zunehmend die Biomasse der Dritten Welt: Soja, Zuckerrohr, Palmen, Rizinus, Maniok, Eukalyptus oder Bambus. Emsig arbeitet eine breite Koalition aus Auto-, Öl-, und Agromultis gemeinsam mit Regierungen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) an der Verwandlung dieser nachwachsenden Rohstoffe in Treibstoffe für das kapitalistische Produktionsmodell.
Derweil schrumpfen die Folgen dieser Inwertsetzung zum Nebenwiderspruch: die Expansion von Monokulturen, die Plünderung der Tropenwälder, die gewaltsamen Vertreibungen, der Siegeszug der Gentechnik, das Verheizen von Nahrungspflanzen und nicht zuletzt die nachwachsenden Monopole transnationaler Konzerne. Trotz alledem betrachten viele NRO die massive Steigerung der Biomasse-Importe in die EU als alternativlos. Der Treibhaus-Effekt lasse keine andere Wahl, so ihr Diktum.

Im Rausch des Bioethanols

Zu den Propagandisten des Hauptwiderspruchs vom Klimawandel gehört das deutsche Forum Umwelt und Entwicklung. In einem Positionspapier schreibt dieses Netzwerk, der Klimawandel zwinge die Menschheit, auf erneuerbare Energien umzustellen, und schlussfolgert: „In diesem Sinne ist eine massiv ausgebaute Biomasse-Nutzung alternativlos.“ Für Entwicklungsländer biete der Export von Bioenergieträgern eine Chance, die sie auch nutzen würden.
Vor allem für das aus Zuckerrohr gewonnene brasilianische
Bioethanol will das Forum die Handelsschranken niederreißen. „Es ist politisch kaum durchsetzbar und auch nicht sinnvoll, international nicht wettbewerbsfähiges, teures europäisches Bioethanol durch protektionistische Maßnahmen vor der Konkurrenz aus Entwicklungsländern zu schützen“, schreiben sie. Entsprechend solle dieser Flüssigtreibstoffbedarf in der EU „vorwiegend aus Importen gedeckt werden“.
Aber nicht nur Brasilien, neben den USA der größte Bioethanolproduzent, soll massenhaft in die EU exportieren. Die deutsche Lobbyinitiative Germanwatch prüft, ob und wie auch afrikanische, karibische und pazifische Länder (sog. AKP-Gruppe) vom Bioethanol-Boom profitieren können. Anders als Brasilien dürfen die AKP-Staaten aufgrund von Präferenzabkommen zollfrei Bioethanol in die EU einführen.
Ergänzend fordert das Forum Umwelt und Entwicklung die „aktive Förderung eines vielfältigen Energiepflanzenanbaus“ in aller Welt. Denn neben dem bereits expandierenden Weltmarkt für Bioethanol wächst auch die Produktion von Biodiesel. Die Basis des Bioethanols bilden diverse zucker- oder stärkehaltige Pflanzen (Zuckerrohr, Zuckerrüben, Gerste, Weizen, Mais und Maniok) sowie Zellulose aus Gras, Stroh, Holz und Abfällen. Biodiesel hingegen wird aus verschiedenen Ölpflanzen gewonnen, etwa Raps, Soja, Palmen, Sonnenblumen, Rizinus oder Jatropha.

Blut für Pflanzenöl

Angeheizt wird der Welthandel mit Agroenergie duch die Beimischungsziele in den USA, Europa und einer Reihe von Schwellenländern. Bis 2010 will die Europäische Union einen Biosprit-Anteil von 5,75 Prozent der fossilen Brennstoffe erreichen, bis 2020 sollen es 10 Prozent sein. Die USA wollen 15 Prozent des fossilen Kraftstoffverbrauchs bis 2017 durch Biosprit ersetzen. Ähnliche Ziele formulierten China, Indien und Brasilien. Da Europa und die USA diesen Bedarf nicht durch Eigenproduktion decken können, setzen Wirtschaft und Politik auf steigende Importe.
Schon jetzt erweisen sich die niedrigeren Herstellungskosten in Asien, Lateinamerika und Afrika als entscheidender Katalysator des Handels. Beispiel Bioethanol: Trotz hoher Zölle in den USA und Europa lohnt die Einfuhr, denn Brasiliens Zuckerbarone haben die weltweite Preisführerschaft inne. Nicht nur die klimatischen Vorteile ermöglichen dies, sondern vor allem der stark konzentrierte Landbesitz, der Monokulturanbau, der hohe Mechanisierungsgrad und der intensive Pestizideinsatz. Kehrseite der Medaille ist die Vergiftung von Böden, Grundwasser und Saison-ArbeiterInnen. Die Arbeitsbedingungen gehören zu den härtesten in der Landwirtschaft: Noch heute sterben Zuckerrohrschneider an Erschöpfung.
Ähnliches gilt für Palmöl: Aufgrund steigender Preise für heimischen Raps ist der Großteil der deutschen Betreiber von Blockheizkraftwerken zur Verbrennung von billigerem Palmöl übergegangen. Verschiedene Stadtwerke planen den Bau von Palmölkraftwerken. Zu den Hauptanbaugebieten zählen Indonesien und Malaysia, in Lateinamerika vor allem Kolumbien, Ecuador und Brasilien. Während deutscher Rapsanbau dem streng kontrollierten Regularium der „guten fachlichen Praxis“ unterworfen ist, gehören in Lateinamerika großflächige Abholzungen und schwere Menschenrechtsverletzungen zu den häufigen Begleiterscheinungen der Palmölproduktion.
Eine Studie der Menschenrechtsorganisation Human Rights Everywhere beschreibt die „gute fachliche Praxis“ in Kolumbien als mehrstufiges System der gewaltsamen Inwertsetzung. Zunächst rücken paramilitärische Gruppen in Regenwaldgebiete vor, um mit Terror und Mord die lokale Bevölkerung zu vertreiben. Anschließend werden Wälder gerodet, das Holz verkauft und der Landraub mittels Korruption „legalisiert“. Es folgt die Anlage großflächiger Palmplantagen und die industrielle Verarbeitung des Palmöls, auch dies unter dem Schutz der Paramilitärs. Schließlich landet das blutige Pflanzenöl auf dem internationalen Markt, um unter anderem in Blockheizkraftwerken verbrannt zu werden.

Die Be-Siegelung des Raubbaus

Diese und andere Verwerfungen meinen viele NRO durch zertifizierte Nachhaltigkeitskriterien eindämmen zu können. So fordert das Forum Umwelt und Entwicklung ein europäisches „EcoFair-Zertifizierungsschema für nachhaltig erzeugte Bioenergieträger“. Dessen Kriterien sollen Energie- und Arbeitsplatzbilanzen, eine nachhaltige Landwirtschaft und soziale Auswirkungen berücksichtigen. Allerdings will das Forum den Biomasse-Handel keineswegs behindern. Vielmehr sollen „privilegierte Marktzugangsbedingungen in der EU“ zugesichert und „verdeckter Protektionismus“ verhindert werden. Die optimistische Erwartung ist, dass die Zertifizierungen „Rahmenbedingungen schaffen, die auch in den Anbauländern zu nachhaltiger Entwicklung führen.“
Damit liegt das Forum ganz auf der Linie transnationaler Konzerne, die sich ebenfalls Nachhaltigkeitskriterien wünschen. Gern arbeiten sie dafür auch mit NRO zusammen, wie diverse Runde Tische zeigen Der Runde Tisch zu Nachhaltigen Biotreibstoffen (Roundtable on Sustainable Biofuels) etwa versammelt eine illustre Schar von Konzernen, internationalen Organisationen und NRO, darunter Shell, British Petroleum, Petrobras, Toyota, die Gentech-Firmen Dupont und Genencor, der Agrarhändler Bunge, das World Economic Forum, die International Energy Agency, die Siegel-Organisationen Max Havelaar und Forest Stewardship Council (FSC) sowie der World Wide Fund for Nature (WWF) und Oxfam.
Ziel dieses Runden Tisches ist die Erarbeitung eines globalen Mindeststandards mitsamt Zertifizierungssystem für Biokraftstoffe. Dieser Prozess soll staatliche, private und zivilgesellschaftliche Akteure einbinden, um dem Standard „Legitimität zu verleihen“. Allerdings betont der Runde Tisch, dass der Standard „keine Handelsbarriere errichten“ dürfe. Vielmehr solle er „generisch, einfach und apolitisch“ sein. Damit die Zertifizierung so reibungslos wie möglich erfolgt, möchte man auf vorhandene Standards zurückgreifen. Als Referenz gelten vor allem das FSC-Siegel und aktuelle Zertifizierungsprojekte des WWF.
Jedoch sind diese Initiativen aufgrund dürftiger Standards, leichter Zugänglichkeit und mangelhafter Kontrolle erheblich unter Beschuss geraten. So forderten im vergangenen Jahr Umweltgruppen aus acht Ländern, darunter Brasilien, Kolumbien, Chile, Ecuador und Uruguay, der Forest Stewardship Council solle einer Reihe von Firmen das FSC-Siegel wieder aberkennen. Dabei handelte es sich durchgängig um großflächige Monokulturen wie Eukalyptus- oder Pinien-Plantagen, die massiv gegen die Grundsätze des FSC verstießen. Die beteiligten Gruppen
begründeten ihre De-Zertifizierungsforderung mit erheblichen Umweltschäden, Menschenrechtsverletzungen und Landkonflikten. Getragen wird der FSC von Konzernen und NRO, darunter WWF, Greenpeace und Friends of the Earth.
Auf Industrieseite erfreut sich der Holzzertifizierer jedoch großer Beliebtheit. Schon seit vielen Jahren bereitet sich Royal Dutch Shell auf das Ende des Öls und den kommenden Zellulose-Boom vor. Eifrig kauft der Öl-Multi Plantagen in aller Welt mit Schwerpunkt Lateinamerika. Im Jahr 2001 schließlich erhielt Shell Forestry das FSC-Siegel für seine Wälder in Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay. Damit die Siegel-Kriterien auch künftig den Zellulose-Handel stimulieren, setzt sich der Konzern für eine „Harmonisierung“ und „Rationalisierung“ bestehender Zertifizierungssysteme ein.

Greenwashing des Biobusiness

So verwundert es nicht, dass Shell auch am Runden Tisch zu nachhaltigem Palmöl (Roundtable on Sustainable Palm Oil, kurz RSPO) Platz genommen hat. Geladen hatte der WWF. Erklärtes Ziel des RSPO sind Förderung und Wachstum einer vorgeblich „nachhaltigen“ Palmölproduktion. Dazu entwickelten die Beteiligten einen Satz von fragwürdigen Kriterien, anhand derer demnächst die ersten Plantagen zertifiziert werden. Mittlerweile zählt der Runde Tisch 173 Mitglieder, darunter nur elf NRO. Lediglich eine von ihnen, die indonesische Sawit Watch, vertritt Betroffene aus einem der Anbauländer. Der Rest der Mitglieder repräsentiert Plantagenbesitzer, Palmölverarbeiter, Handelsfirmen und Finanzinvestoren.
Auffällig ist dabei der neue Komplex aus Agro-, Gentech-, und Energiekonzernen. Beim RSPO kooperieren u.a. Cargill, Bunge, Bayer, Syngenta, BP, Shell, EDF und RWE. Die Industriedominanz wird noch dadurch abgesichert, dass jedes Mitglied eine Stimme hat, vorausgesetzt es entrichtet den Jahresbeitrag von 2.600 US$.
Zur Freude des Schweizer Biotech-Unternehmens Syngenta schließen die RSPO-Kriterien die Verwendung gesundheitsschädlicher Pestizide nicht aus. Syngenta ist wichtigster Hersteller des hochgiftigen Unkrautbekämpfungsmittels Paraquat. Dieses kommt beim industriellen Anbau von Ölpalmen und Soja zum Einsatz. Hunderte von ArbeiterInnen vergiften sich jedes Jahr schon bei der vorschriftsmäßigen Handhabung von Paraquat. Viele von ihnen sterben an den Folgen.
Nach dem Muster des RSPO lancierte der WWF noch weitere Runde Tische, so zu Soja und Zuckerrohr. Damit ist die Umweltorganisation bei einigen der bedeutendsten Bioenergieträgern mit Siegelprojekten präsent. Jedoch trifft der WWF auch auf Widerstand. Als er im März 2005 zu einer ersten Konferenz seines Runden Tisches zu Verantvortungsvoll Gewonnenem Soja (Roundtable on Responsible Soy) im brasilianischen Foz do Iguaçu einlud, veranstaltete das Netzwerk Vía Campesina die Gegenkonferenz „Nein zum ‚nachhaltigen‘ Soja“. Zum Abschluss ihres Treffens demonstrierten die AktivistInnen vor dem Tagungshotel der WWF-Veranstaltung.
Die Proteste sind leicht verständlich, denn unter den Mitgliedern des Soja-Tisches finden sich berüchtigte Anbauer wie das Unternehmen des brasilianischen „Sojakönigs“ und Gouverneurs des Bundesstaates Mato Grosso, Blairo Maggi. Scharf kritisierte Vía Campesina daher die „skandalöse Unterstützung großer NRO“ für das Agrobusiness. Die zentrale Schwäche der WWF-Initiativen bringen die AktivistInnen auf den Punkt: „Wo es Monokulturen gibt, kann die Nachhaltigkeit nicht existieren, wo es das Agrobusiness gibt, können Campesinos nicht existieren.“
Tatsächlich stellen die Siegelprojekte in erster Linie die Nachhaltigkeit des Biomasse-Nachschubs sicher, nicht eine nachhaltige Produktion. Sie zeichnen intensive Plantagenwirtschaft aus, die sich mit steigender Nachfrage nach Energiepflanzen weiter ausdehnen wird. Keine der Initiativen intendiert eine Beschränkung des Handels. Viele NRO stützen diese Entwicklung. Explizit sprechen sie sich für das Wachstum des Bioenergiemarktes und gegen „Protektionismus“ aus.
Selbst wenn ihre Siegel greifen und zu umwelt- und sozialverträglicherem Anbau auf den kontrollierten Flächen führen würden, bliebe das Expansionsproblem. Denn die Weltmarktpreise befehligen den Vormarsch der Monokulturen in Wälder und Weiden. Die Abholzung des Amazonas korreliert mit dem Sojapreis. Gegenwärtig ziehen die Preise für die energetisch genutzten Pflanzen kräftig an. Solange die Nachfrage nach Agroenergie steigt und die Flächenexpansion nicht zu Angebotsüberschüssen führt, wird dies auch so bleiben.

Zertifizierte Destruktion

Die Preissteigerungen betreffen vor allem Ölpflanzen und Getreide. FAO-Prognosen (Food and Agriculture Organisation der UN) gehen davon aus, dass dieser Trend anhalten wird. Für die auf Nahrungsmittelimporte angewiesenen Entwicklungsländer, viele von ihnen auch Ölimporteure, ist dies überaus bedrohlich. Laut FAO müssen viele von ihnen mangels Devisen die Lebensmitteleinfuhr einschränken.
Allein für die 48 LDCs (am wenigsten entwickelte Länder) stiegen die Importrechnungen für Nahrungsmittel zwischen 2000 und 2006 bereits um 58%. Die Ausgabensteigerung ging auf die Preiserhöhungen zurück, nicht auf größere Importmengen. Diese können real gesunken sein. Wissenschaftler der Universität von Minnesota berechneten, dass die Zahl der Hungernden ohne den Biotreibstoffhandel bis zum Jahr 2025 von über 800 Millionen auf 625 Millionen hätte sinken können. Setzt sich das Verheizen von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen jedoch im prognostizierten großen Maßstab fort, könnten im Jahr 2025 möglicherweise 1,2 Milliarden Menschen hungern.
Die Konkurrenz mit der energetischen Nutzung betrifft mittlerweile auch Nahrungspflanzen, die bisher noch nicht im Zentrum des Verwertungsinteresses standen. BASF Plant Science arbeitet an der genetischen Manipulation von Maniok, um den Stärkegehalt für die Produktion von Bioethanol zu vergrößern. Maniok ist ein Grundnahrungsmittel für über 600 Millionen Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika, das vielfach für die Subsistenz angebaut wird. Nun aber stimuliert der Biotreibstoffboom die Entwicklung patentierter Hochleistungssorten, deren Anbau die traditionelle Landwirtschaft nur noch weiter verdrängt.
Während viele deutsche NRO dieses Raubrittertum „be-siegeln“ wollen, nimmt die Kritik in den Anbauländern immer mehr zu. Das lateinamerikanische „Forum Widerstand gegen das Agrobusiness“ erinnert an eine Option, die der NRO-Mainstream längst ausgesondert hat: „Die Zentralität der Energiekrise für die Kapitalakkumulation eröffnet die Möglichkeit einer globalen Debatte über andere Formen der Produktion und des Lebens, über ein radikal anderes Projekt.“ Ohne eine solche Debatte jedoch werde das destruktive Gesellschaftsmodell, nun auf Basis der Bioenergien, lediglich fortgeschrieben.

Energie treibt die Integration

Es roch nach Streit. Bereits vor dem schicken Luxushotel Hilton in Porlamar, in dem die TeilnehmerInnen des Ersten Südamerikanischen Energiegipfels Mitte April auf der venezolanischen Karibikinsel Margarita untergebracht waren, prangte ihnen von einem Plakat in großen Lettern Hugo Chávez‘ Position zum Thema Agrotreibstoffe entgegen: „Die Nahrungsmittel sind für Menschen, nicht für Autos.“ So wurde denn auch erwartet, dass dieses sensible Thema einen der Hauptkonfliktpunkte auf dem Gipfel ausmachen würde. Der venezolanische Präsident profilierte sich zuletzt neben Fidel Castro als einer der härtesten Kritiker der Kooperation zwischen Brasilien und den USA. Die beiden Länder wollen die Ethanolproduktion ausweiten, um mit dem daraus gewonnenen Agrotreibstoff die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern wie Erdöl und Gas zu verringern. Den USA warf Chávez vor, das Thema Ethanol dafür zu benutzen, einen Keil zwischen ihn und den brasilianischen Präsidenten Lula treiben zu wollen. Zu Beginn des Gipfels sendeten Chávez und Lula jedoch andere Signale. Wie um ihre tiefe Verbundenheit zu bekräftigen, weihten sie kurz vor dem Gipfel ein binationales Projekt ein. Gemeinsam mit den Präsidenten Boliviens und Paraguays, Evo Morales und Nicanor Duarte, nahmen sie Schaufeln in die Hand und legten den Grundstein für einen petrochemischen Komplex in Barcelona, gelegen in der Provinz Anzoátegui, an dem beide Länder zu je 50 Prozent beteiligt sind. Für gewöhnlich besteht Venezuela bei derartigen Joint-Ventures auf einen eigenen Anteil von mindestens 51 Prozent.

Kompromissbereiter Chávez

Auch auf dem Gipfel zeigte Chávez Kompromissbereitschaft. Er bezeichnete die Agrotreibstoffe als „komplementär zum Erdöl“, solange deren Produktion nicht die Ernährung der Menschen beeinträchtige. Die brasilianische Variante, Ethanol aus Zuckerrohr zu gewinnen, sei vertretbar, dass die USA den alternativen Energieträger aus Mais gewännen jedoch inakzeptabel. Der venezolanische Präsident artikulierte sogar den Wunsch, zollfrei Ethanol aus Brasilien einzuführen, um es zur Verringerung des Bleigehalts venezolanischem Benzin beizumischen. Der Gipfel endete schließlich harmonisch. In der als „Deklaration von Margarita“ betitelten Schlusserklärung wird „das Potenzial der Biotreibstoffe“ anerkannt, „um die energetische Matrix der Region zu diversifizieren“.
Jenseits des vermeintlichen Streitpunktes der Agrotreibstoffe wurden die Weichen für eine tiefere Integration Südamerikas gestellt. Aus fast allen der 13 Länder des Subkontinents waren die jeweiligen Staats- und Regierungschefs angereist. Lediglich Peru, Uruguay und Surinam schickten Vertreter, das französische Überseedepartment Französisch-Guyana blieb mangels Unabhängigkeit außen vor. Sie einigten sich darauf, die Beziehungen zwischen ihren jeweiligen Ländern zu stärken und im Energiesektor stärker zu kooperieren. Durch gemeinsame Investitionen sollen die Infrastruktur im Energiebereich verbessert, die Entwicklung alternativer Energien sowie Kooperationsvorhaben im Bereich des Energiesparens vorangetrieben und ein Ausbau der Kooperation zwischen den staatlichen Energieunternehmen angestrebt werden. Die Ende 2004 ins Leben gerufene Südamerikanische Staatengemeinschaft wird in Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) umbenannt und erhält ein permanentes Sekretariat in der Nähe des bei der ecuadorianischen Hauptstadt Quito gelegenen Äquatormonumentes „Mitad del Mundo“ (Mitte der Welt). Schließlich soll ein Südamerikanischer Energierat, dem die EnergieministerInnen der zwölf Länder angehören sollen, gebildet werden. Seine erste Aufgabe: die Erarbeitung eines Abkommens über Gas, Erdöl, alternative Energien und Energieeinsparungen bis zum nächsten Gipfeltreffen, das für Ende des Jahres in Kolumbien geplant ist.

Große Vorhaben

Allerdings waren sich die teilnehmenden Länder nicht bei allen Themen derart einig. Über die Gründung eines regionalen Gaskartells (OPPEGAS) nach Vorbild des Erdölkartells OPEC, konnte kein Einvernehmen erzielt werden. Venezuela, Argentinien und Bolivien hatten dieses im vergangenen März ins Leben gerufen. Von brasilianischer Seite wurde das Vorhaben jedoch kritisiert. „In einer Anstrengung zur Integration müssen wir die Interessen von Produzenten und Konsumenten harmonisieren“, sagte der Außenminister Brasiliens, Celso Amorim.
Auch die von Hugo Chávez vorgeschlagene Idee einer „Bank des Südens“ wurde am Rande des Gipfels diskutiert, in der Abschlusserklärung jedoch nicht erwähnt. Die Bank gilt als Alternative zu bisherigen Kreditgebern wie Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Allerdings soll sie im Gegensatz zu den in Südamerika nicht sonderlich beliebten „Zwillingsorganisationen“ keine Bedingungen stellen und von den Ländern der Region selbst verwaltet werden. Jedes der Mitgliedsländer soll einen Teil seiner Devisenreserven einzahlen. Hatten sich bisher nur Venezuela und Argentinien verbindlich dazu bereit erklärt und zahlreiche weitere Länder der Region eine Mitgliedschaft angekündigt, signalisierte kurz vor dem Gipfel zwar auch Brasilien Interesse, hält die Idee jedoch für unausgereift. Eine Beteiligung Brasiliens wäre ein enormer Gewinn für die Bank des
Südens, denn die größte Volkswirtschaft des Subkontinents verfügt mit mehr als 100 Milliarden US-Dollar über circa dreimal so große Devisenreserven wie Venezuela oder Argentinien.
Sollte die Gründung der Bank tatsächlich zustande kommen, könnte eines der ersten Projekte, das durch diese mitfinanziert wird, die geplante lange „Gaspipeline des Südens“ sein, über die auf dem Energiegipfel ebenfalls diskutiert wurde. Diese 8.000 Kilometer lange Pipeline soll von Venezuela bis nach Argentinien Gas transportieren und auch Abzweigungen nach Bolivien beinhalten. Dieses, aufgrund seiner fragwürdigen ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit von vielen Seiten kritisierte Projekt, würde laut Schätzungen insgesamt rund 23 Milliarden US-Dollar kosten.

Kritik von sozialen Bewegungen

Unter anderem auf das Pipeline-Projekt nahmen zahlreiche soziale und gewerkschaftliche Bewegungen, Organisationen und Netzwerke vor dem Treffen Bezug. In ihrer gemeinsamen Deklaration „Die Energie ist ein öffentliches Gut und keine Ware“ sprechen sie sich gegen jede Art von Megaprojekten aus, die aus sozialer, ökologischer und sozioökonomischer Sicht negative Effekte produzieren könnten. Weiterhin fordern sie unter anderem die komplette Rückgewinnung staatlicher Souveränität über die Energiereserven, die gerechte Verteilung der Einkünfte, die Respektierung der Umwelt und die Stärkung sauberer Energien. Außerdem kritisieren sie die massive Ausweitung von Monokulturen zur Produktion von Agrotreibstoff. Diese fördere eine weitere Konzentrierung des Landbesitzes sowie ausbeuterische Arbeitsbedingungen und gefährde die Ernährungssicherheit in der Region. Die auf dem Gipfel diskutierten Themen sollten zudem generell einer breiten gesellschaftlichen Debatte unterworfen werden.
Folgt man dem Wortlaut der Abschlusserklärung des Gipfels, könnten KritikerInnen ansatzweise zufrieden sein. Dort heißt es zu Beginn des Dokumentes „die energetische Integration“ solle „als ein wichtiges Werkzeug dienen, um die soziale und wirtschaftliche Entwicklung sowie die Ausradierung der Armut voranzutreiben“. Was die konkreten Pläne angeht, wird die Zivilgesellschaft allerdings weiterhin mit Nachdruck Kritik
äußern müssen.

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