Gringo go home

Die Charme-Offensive des US-Präsidenten hatte offenbar einen üblen Beigeschmack. So kündigte ein Priester eines Maya-Dorfes in Guatemala an, er werde nach der Abreise Bushs den heiligen Ort Iximche flugs einem „Reinigungszeremoniell“ unterziehen, um ihn für die Mayas wieder sauber und nutzbar zu machen. Bushs Botschaft, die er vor seiner achten und ausgedehntesten Lateinamerikareise vor der Hispanischen Handelskammer in Washington verkündet hatte, stieß auf taube Ohren, obwohl er sie mit spanischen Bruchstücken garniert hatte: „Trabajadores y campesinos, ihr habt einen Freund in den Vereinigten Staaten. Wir kümmern uns um eure Not.“
Not gibt es in Lateinamerika in der Tat nach wie vor reichlich: Über 40 Prozent der 570 Millionen LateinamerikanerInnen leben in bitterer Armut. Ihre Hoffnungen setzen sie jedoch mit Fug und Recht nicht auf Bush und seine neoliberalen Ratschläge, sondern auf die Linksregierungen, die sie in den letzten Jahren an die Macht gewählt haben.
Bush hat reichlich spät erkannt, dass sich vielerorts in Lateinamerika der Wind gedreht hat, doch was er bei seiner Reise im Gepäck hatte, waren dennoch nur Peanuts und alte Rezepte: Ein Lazarettschiff zur kostenlosen Behandlung bedürftiger Patienten in Mittelamerika, ein Wohnungsbauprogramm für 385 Millionen Dollar und 75 Millionen Dollar für Stipendien zum Sprachstudium in den Vereinigten Staaten. Dabei beherrschen die Latinos das „Gringo go home“ schon jetzt bestens – allen voran Bushs großer Gegenspieler Hugo Chávez bei seiner gezielten Gegentour. Allein die Aussprache von Chávez’ Namen wiederum mied der US-Präsident wie sonst nur der Teufel das Weihwasser. Trotzdem ist offensichtlich, dass Bushs PR-Tour nur ein Ziel hatte: den wachsenden Einfluss des venezolanischen Präsidenten, der seine bolivarianische Revolution über die Bolivarianische Alternative für Amerika (ALBA) zu exportieren gedenkt, diplomatisch auszubremsen.
Noch ist ALBA nicht weit gediehen, auch wenn nach Kuba inzwischen Bolivien beigetreten ist und Nicaraguas Präsident Daniel Ortega nur noch auf die Ratifizierung seitens des Parlaments wartet. Dennoch trifft dieses Modell einer gleichberechtigten Integration den Nerv in Lateinamerika. Denn die neoliberalen Reformen in den 90ern haben bei allen Unterschieden überall die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Und so war Bush im Gegensatz zu dem euphorisch gefeierten Chávez bei der Basis nirgendwo willkommen, obgleich er sich doch für seine Reiseroute Länder ausgesucht hatte, deren Regierungen ihm zumindest nicht offen ablehnend gegenüber stehen: Brasilien, Uruguay, Kolumbien, Mexiko und Guatemala.
Bushs Helferrhetorik hat bei den über 200 Millionen als arm klassifizierten LateinamerikanerInnen nicht gegriffen, die Abneigung gegen den großen Bruder im Norden ist aufgrund der Geschichte einfach zu groß. Die USA haben auch in ihrem „Hinterhof“ immer die Politik praktiziert, keine Freunde, sondern nur Interessen zu haben. Daran hat sich kein Jota geändert. Bush verspricht zwar seit geraumer Zeit eine Reform der Einwanderungspolitik, doch die Realität sieht anders aus: Jahr für Jahr sterben mit steigender Tendenz Hunderte von MigrantInnen beim Versuch, die immer aufwändiger gesicherte Grenze zu den USA zu überwinden.
Frei sollen aus Sicht der USA nur Waren und Kapital zirkulieren, bei denen sie einen Wettbewerbsvorteil haben. Brasiliens Forderung, die Importzölle auf Ethanol zu streichen, wurde von Bush mit einem kategorischen Nein beschieden. Damit macht man Punkte bei der US-Agrarlobby, nicht aber in Lateinamerika.
Die starre Haltung beim Ethanol konterkariert zudem das Bestreben, Lula als Bündnispartner gegen Chávez zu gewinnen. Aus Bushs Sicht ist das Zünglein an der Waage im Kampf um die politische Hegemonie auf dem amerikanischen Kontinent Brasilien. Das südamerikanische Land versteht sich selbst als regionale Großmacht und Präsident Lula sieht Chávez Vorreiterrolle in Sachen lateinamerikanischer Integration durchaus nicht mit reiner Freude. Dennoch: Als Statthalter für die US-Interessen kann sich Lula nicht hergeben, ohne politisch zur Bedeutungslosigkeit zu verkommen. Denn Bushs diplomatische Offensive in Lateinamerika kann an einem Fakt nichts ändern: Das neoliberale Modell hat dort abgewirtschaftet – so mühevoll der Aufbau von Alternativen auch ist. „Gringo go home“ ist en vogue wie seit langem nicht mehr.

ALBA ist auf Öl gebaut

Eines ist bei Hugo Chávez Reden immer sicher: Der Witz geht auf George Bushs Kosten. Ob bei der UNO, wo er am Rednerpult nach dem Auftritt des USA-Präsidenten den Schwefelgeruch des Teufels auszumachen glaubte oder nun bei seinem Auftritt in einem mit 30.000 ZuhörerInnen gefüllten Stadion in Buenos Aires während seiner Lateinamerikareise: Bush sei ein „politischer Leichnam“, der sich bald in kosmischen Staub verwandeln werde. Keine gewagte These, denn Bushs Amtszeit läuft 2008 ab und eine Änderung der Verfassung, die mehr als zwei Amtszeiten erlaubt, ist in den USA im Gegensatz zu Venezuela nicht in der Diskussion. Den Tod hat Hugo Chávez 2005 auch schon der geplanten amerikanischen Freihandelszone (ALCA) vorausgesagt, nachdem das seit 1990 von den USA vorangetriebene Vorhaben beim Amerika-Gipfel in Mar del Plata auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Chávez hat aus seiner ablehnenden Position gegenüber ALCA ohnehin nie einen Hehl gemacht „ALCA ist dazu da, Lateinamerika zu zerstören und für immer in der Unterentwicklung zu halten.“ Ganz so extrem sehen das zwar nur wenige Regierungen in Lateinamerika, aber auf Freihandel unter den Bedingungen der USA lassen sich derzeit nur die schwächsten und abhängigsten Ländern ein, während die prosperierenden regionalen Größen wie Argentinien und Brasilien zu ALCA deutlicher denn je auf Distanz gegangen sind.
Das gilt besonders für Argentinien, dessen Präsident Néstor Kirchner auf Bushs Erzfeind Chávez nichts kommen lässt und dafür Verstimmungen mit dem Weißen Haus in Kauf nimmt. „Zusammen mit unserem Bruder, Präsident Chávez, arbeiten wir an der Integration Südamerikas“, so Kirchner am 21. Februar beim Start der Probebohrungen des argentinisch-venezolanischen Jointventure in San Tomé am Orinoco. Argentinien und Venezuela schließen zum Verdruss Washingtons ein Kooperationsabkommen nach dem andern – vor allem im Energiesektor, aber auch im Agrarbereich und Gesundheitswesen. So geht in den USA das Gespenst um, Argentinien könnte gar der Bolivarianischen Alternative für Amerika (ALBA) beitreten und damit den US-Freihandelsinteressen einen empfindlichen Schlag versetzen.
ALBA entwickelt sich nämlich im Gegensatz zu ALCA Schritt um Schritt weiter. Die Gründungserklärung ist gerade einmal gut zwei Jahre alt: Am 14. Dezember 2004 wurde sie in Havanna von Fidel Castro und Hugo Chávez unterzeichnet. Eine Erklärung, die ehrgeizige Ziele formuliert: ALBA hat das Ziel, die Gesellschaften der Länder Lateinamerikas und der Karibik so zu ändern, dass sie gerechter, gebildeter, solidarischer werden und sich durch größere Mitbestimmung auszeichnen. ALBA ist als eine integrale Entwicklung zu verstehen, welche die sozialen Ungleichheiten aus dem Weg räumt, die Lebensqualität sowie eine wirksame Partizipation der Völker an der Gestaltung ihrer Zukunft fördert.
Und Chávez hat guten Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen: „Wir haben Öl für 200 Jahre“, frohlockt Bushs Antipode. Venezuela verfügt nach eigenen Angaben über größere Ölvorräte als Saudi-Arabien. Neben den rund 80 Milliarden Fass an sicher nachgewiesenen Reserven, lagern nach Regierungsschätzungen weitere Vorkommen von unfassbaren 1,3 Billionen Fass in dem noch unzureichend erforschten Orinoko-Becken. Damit würden die 267 Milliarden Barrel sicher nachgewiesenen Reserven Saudi-Arabiens locker übertroffen.
Chávez dürfte somit auch in Zukunft über genügend Finanzmittel verfügen, um auf nationaler Ebene Sozialprogramme und den Umbau der Gesellschaft zu finanzieren und auf internationaler Ebene seine Vision der amerikanischen, zumindest lateinamerikanischen Integration, voranzutreiben. Im ersten Jahr beschränkte sich ALBA auf die Kooperation Venezuela – Kuba. Venezuela liefert täglich rund 92.000 Barrel zu Vorzugsbedingungen an Kuba. Im Gegenzug exportiert Kuba vor allem medizinisches Personal: Heute sollen bereits 20.000 kubanische Ärzte in Venezuela tätig sein, aber auch im Bildungssektor erhält Venezuela von der Karibikinsel Unterstützung. Dass der Integrationsprozess vorankommt, hat zwei zentrale Gründe: den politischen Willen auf beiden Seiten und die sprudelnden Erdöleinnahmen, die Chávez seinen politischen Vorstellungen entsprechend im Land und in der Region investiert. So haben sich Caracas und Havanna geeinigt, den Plan Milagro zur Behandlung von Augenkrankheiten auf hunderttausend bedürftige Lateinamerikaner auszuweiten. Ende April 2005 unterzeichneten die beiden Länder 49 Abkommen in den Sektoren Gesundheit, Finanzen, Kommunikation, Transport, Energie und Industrie, die einen strategischen Plan zur Umsetzung der ALBA beinhalten.
Inzwischen hat sich auch Bolivien ALBA angeschlossen – beim Dreiergipfel in Havanna am Wochenende vor dem 1. Mai 2006, an dem Evo Morales seine Erdgasverstaatlichungspläne bekannt gab. Der „Handelsvertrag der Völker“, den Morales mit Castro und Chávez unterzeichnete, sieht unter anderem die Abschaffung der Zölle von bestimmten Gütern im Warenverkehr der drei Länder vor. So soll Bolivien künftig seine gesamte Sojaproduktion zollfrei nach Kuba und Venezuela verkaufen dürfen. Kuba zahlt mit Ärzten und Lehrern, Venezuela mit Öl.
Der Erdölreichtum Venezuelas gepaart mit Chávez Vision eines geeinten Lateinamerikas treibt ALBA und auch darüber hinaus gehende Kooperationen an. Überall dort, wo komplementäre Strukturen vorliegen und/oder wo Chávez bereit ist, mit seinen Ölgeldern Integration zu subventionieren geht es voran. So entstand in Venezuela die Idee des kontinentalen Brennstoffverbundes Petroamérica, der sich aus den drei regionalen Zusammenschlüssen Petrocaribe, Petrosur und Petroandina zusammensetzen soll.
Am weitesten fortgeschritten ist die im Juni 2005 gegründete karibische Erdölallianz Petrocaribe, der 13 der 15 Länder der Caribbean Community (CARICOM) angehören. Außen vor sind Trinidad & Tobago und Barbados. Vor allem die nördlich von Venezuela gelegene selbst Erdöl exportierende Zwillingsinsel Trinidad & Tobago findet es alles andere als lustig, dass Venezuela die Preise drückt. Venezuela sicherte vertraglich zu, täglich 185.700 Barrel Öl zu Vorzugspreisen zu liefern und das Versorgungsnetz zu stellen. 60 Prozent des Kaufpreises sind binnen dreier Monate zu erstatten. Bei Devisenmangel darf, ähnlich wie bei ALBA, auch auf Agrarexportprodukte zurückgegriffen werden. Die restlichen 40 Prozent werden als Kredite mit langen Laufzeiten von 17 bis 25 Jahren zu sehr niedrigen Zinssätzen verbucht. Solidarischer Handel, den sich Venezuela leisten will und offenbar auch kann.

Wirbelsäule für Lateinamerika

Venezuela forciert vor allem die Energiekooperation. Nicht weniger als die längste Leitung der Welt schwebt Venezuelas Präsident vor: Von den Stränden Venezuelas durch den brasilianischen Urwald bis hin zur argentinischen Pampa soll sie sich über 7000 Kilometer erstrecken und venezolanisches Gas an die Abnehmer bringen. „Die Pipeline des Südens ist die Wirbelsäule für Lateinamerika“, beschrieb Chávez in seiner Sendung „Aló Presidente“ malerisch das Megavorhaben. Auf fünf bis sieben Jahre veranschlagt das venezolanische Energieministerium die Bauzeit des auf 20-Milliarden-US-Dollar geschätzten Projektes. Außer Brasilien und Argentinien sollen auch Paraguay und Uruguay, später auch Peru und Chile an das Gasversorgungsnetz angeschlossen werden. Auch bolivianisches Gas soll in das Netz eingespeist werden. Bisher beliefert Bolivien seine Nachbarn Brasilien und Argentinien mit Erdgas und will dies auch nach der Nationalisierung weiter tun ­– wenn auch künftig zu höheren Preisen. Ein strategisches Interesse des Andenlandes an der Pipeline besteht insofern nicht. Trotzdem scheint angesichts der guten Beziehungen von Chávez zu Morales hier ein Interessensausgleich möglich, während das in Sachen Umwelt schwer vorstellbar erscheint. Umweltschutzorganisationen beklagen, dass die Fernleitung durch ökologisch sensible Gebiete wie die venezolanische Gran Sabana, die zum Weltkulturerbe der Menschheit zählt und durch das Herz des brasilianischen Amazonas führen würde. Die Umweltschützer der Red Alerta Petrolera-Orinoco Oilwatch wandten sich gar mit einem offenen Brief an Chávez, um ihn auf die Gefahren und die ökologischen Kosten durch erforderliche Rodungen und Erdabtragungen hinzuweisen. Ganz im Sinne der venezolanischen Verfassung forderten sie die Regierung auf, das Großprojekt in einer öffentlichen Debatte zu diskutieren und darüber in einer Volksabstimmung befinden zu lassen.
In Sachen Energiekooperation weiß Chávez die Energieimporteure Brasilien und Argentinien nicht nur bei der Pipeline auf seiner Seite. Die Anfang Juli 2004 beschlossene Zusammenarbeit zwischen Kirchner und Chavez im Energiesektor soll letztendlich in eine wirtschaftliche, soziale und politische Integration münden und auch mit Brasilien besteht eine strategische Energie-Allianz.
So kommt die Integration in Lateinamerika vor allem dort voran, wo sich ökonomische Strukturen und Interessen ergänzen. „Das 21. Jahrhundert sieht uns vereint oder beherrscht“, lautet eine These von Hugo Chávez. Noch ist Lateinamerika eindeutig beherrscht und gemeinsames Handeln auf Ausnahmen beschränkt. Wie lange die Rohstoffpreisentwicklung nach oben anhält, ist offen. Fünf bis zehn Jahre wird der Rohstoff-Boom anhalten, schätzen Experten. In dieser Zeit müssten die Weichen in Richtung einer langfristigen Entwicklungsstrategie gestellt werden, die, weit mehr als die Rohstoffe, Ressourcen wie Bildung und Ausbildung in den Vordergrund stellen müsste.
Um der ALBA-Vision einer integralen Entwicklung, welche die sozialen Ungleichheiten aus dem Weg räumt und die Lebensqualität sowie eine wirksame Partizipation der Völker an der Gestaltung ihrer Zukunft fördert, näher zu kommen, müssen viele Weichen neu gestellt werden: auf nationaler, regionaler und globaler Ebene. Doch das erwachende Selbstbewusstsein in Teilen Lateinamerikas hat die amerikanischen Machtverhältnisse in Bewegung gebracht. Auch das zeigten die gleichzeitigen Reisen von Chávez und Bush: Chávez erntete tosenden Beifall, während Bush seine Botschaft von den USA als Freund und Helfer nur unter massivem Polizeischutz verkünden konnte.

Uruguay blickt gen Norden

George W. Bush hat sich angesagt. Anfang März will der US-Präsident auf seiner Reise durch fünf mittel- und südamerikanische Länder auch Uruguay besuchen. Dazu befragt, hielt Marina Arismendi, Sozialministerin und Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Uruguays Anfang Februar mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg: „Er ist einer der abscheulichsten, mörderischsten und kriegerischsten Menschen der Welt.“ Die Opposition ist entsetzt, fordert ihren Rücktritt, und reflex­­artig wird auch sofort in Anspielung auf die Exil-Jahre der Ministerin in der DDR das Kalte-Kriegs-Beil ausgegraben: „Ich glaube, Marina will eine neue Berliner Mauer aufbauen”, so Carlos Moreira, Senator für die konservative Blanco-Partei.
Doch die Ministerin hat ausgesprochen, was nicht wenige, die sich mit dem linken Parteien- und Bewegungsbündnis Frente Amplio identifizieren, denken. Die Ablehnung des Bush-Besuchs ist stark in Uruguay. Das Problem ist nur, dass Tabaré Vázquez, der Präsident selbst die Einladung ausgesprochen hat.
Seit zwei Jahren gibt es deutliche politische Konflikte innerhalb der verschiedenen Fraktionen der von der Frente Amplio (FA) gestellten Mitte-Links-Regierung. Durchgesetzt hat sich aber bislang meist das wirtschaftsliberale Lager. Und einen neuen Politikstil eingeführt, der so gar nicht zur Basisanbindung der Frente Amplio passt. Gesetzesvorhaben und Abkommen werden durchgesetzt ohne dass die FA rechtzeitig informiert, geschweige denn befragt wird. Die Sachzwänge, ein altbekanntes Totschlagargument.

Freihandelsabkommen light

Und eine geschickte Regie versteht es, gerade immer dann, wenn das Volk Urlaub macht, ohne Diskussion Entscheidungen zu treffen, die von der Basis abgelehnt werden. So auch wieder im Januar 2007. „A wonderful day for America“, sagte der amerikanische Unterhändler nach Unterzeichnung des TIFA (Trade and Investment Framework Agreement – eine Art Freihandelsabkommen light) mit Uruguay durch den Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori am 27. Januar. „Wonderful“ für die USA sicher, ob aber auch für Uruguay, da haben viele an der Basis größte Zweifel. Alle sechs Frente-Amplio-VertreterInnen von Montevideo sowie weitere aus anderen Provinzen und von zwei Linkssektoren der FA stimmten bei der Abstimmung der Mesa Politica gegen die Unterzeichnung dieses Abkommens mit den USA. Der Politische Tisch, laut Statut eines der wichtigsten Gremien der FA, erhielt den Text erst drei Tage vor Unterzeichnung. Trotz dieser breiten Ablehnung wurde das Abkommen unterzeichnet. Sehr zur Freude von Danilo Astori und sehr zum Entsetzen der VertreterInnen der Basis. Was in den letzten Monaten des Jahres 2006 mit dem TLC (dem von Astori forcierten Freihandelsabkommen) nicht gelang, wurde jetzt unter einem neuen Namen eingeleitet. Die USA sind hochzufrieden. John Veroneau, der US-Vertreter war denn auch so entzückt über das erste TIFA, das mit einem südame­rikanischen Staat unterzeichnet wurde, dass er verkündete: „Wenn Uruguay eine Aktie wäre, wäre ich froh, sie kaufen zu können“. Ebenso offen wie die Basis der FA spricht auch die US-amerikanische Presse aus, was ein TIFA bedeutet: Es ist ein erster Schritt hin zu einem vollwertigen Freihandelsabkommen. Das Rahmenabkommen soll die Bedingungen für ein günstiges Investitionsklima ausloten, den bilateralen Handel liberalisieren und Ausgangsbedingungen für den Austausch von Dienstleistungen schaffen. Dazu wird ein bilateraler Rat mit Vertretern beider Länder im April 2007 seine Arbeit aufnehmen. Nach dem faktischen Scheitern des FTAA (Free Trade Area of the Americas), der von der Bush-Administration forcierten Freihandelszone für den ganzen amerikanischen Kontinent (mit Ausnahme Kubas), ist das TIFA mit Uruguay ein Erfolgserlebnis für Bush. Und offen wird darauf spekuliert, dass nach Chile, Kolumbien, Panama, Peru, den Zentralamerikanischen Staaten und der Dominikanischen Republik auch Uruguay ein Freihandelsabkommen unterzeichnen wird.

Mercosur geschwächt

Für den Mercosur würde das aber einer Zerreißprobe gleichkommen. Die Gewerkschafter vom Dachverband PIT-CNT bringen es auf den Punkt: „Den Mercosur ausbauen, ihn besser machen, das ist unsere größte Herausfor­derung. Ziel der USA und der transnationalen Konzerne ist, ihn zu schwächen und zu isolieren”. Die Regierungspolitik verwirrt aber nicht nur die eigene Basis, auch die konservative Opposition ist verwundert. „Ich habe den Eindruck, dass die FA sehr chamäleonhaft ist, nie weiß man was sie plant und macht. Über 50 Jahre polemisierte sie gegen den Weltwährungsfonds und die Weltbank, gegen die Zellstoffindustrie, gegen Gott und die Welt und jetzt sagt sie, alles ist gut“, so Vázquez´ Vorgänger Jorge Batlle in einem Interview mit der konservativen Zeitung El País Anfang Februar.
Für Missstimmung im Mercosur sorgt aber nicht nur die uruguayische Annäherung an die USA, sondern auch der nicht enden wollende Konflikt mit Argentinien um die Errichtung der Zellstofffa­briken am Rio Uruguay. Ein Konflikt, der immer groteskere und gefährlichere Züge annimmt. „Wenn das jetzt nicht bald gelöst wird, wird es für zwei oder drei Generationen Feindschaft zwischen Uruguay und Argentinien geben“, so die Befürchtung von Rubén Saboulard, Mitglied einer Bürgerinitiative aus Buenos Aires. Wie stark der Streit mittlerweile auch die Beziehungen zwischen den Menschen prägt, wurde am 5. Februar deutlich. La República, die die Regierung unterstützende zweitgrößte Zeitung des Landes titelte „Piqueteros Go Home”. Damit waren sieben UmweltaktivistInnen aus Argentinien, fünf aus Buenos Aires und zwei aus Gualeguaychú, der Kleinstadt, die der im Bau befindlichen Fabrik des finnischen Konzern Botnia gegenüberliegt, gemeint. Sie waren nach Montevideo gekommen, um gegen den Bau der Fabrik zu protestieren, Flugblätter zu verteilen und mit den UruguayerInnen zu diskutieren. Alle Flugblätter und Plakate wurden ihnen jedoch schon am Zoll abgenommen, da sie keine Genehmigung eingeholt hatten, zur Diskussion kam es nicht. Vielmehr kam es zu Szenen, die auch viele UruguayerInnen, die sich und ihr Volk für kulturell gebildet, friedlich und offen halten, beschämten und entsetzten. Gut 150 Menschen waren auf die Plaza Independencia, den Hauptplatz der uruguayischen Hauptstadt gekommen, um die NachbarInnen zu empfangen. „Man muss sie umbringen, jetzt umbringen“, so eine der Begrüßungen. Die Argentin­­­­­­­­ierIn­nen wurden beschimpft, be­­spuckt und getreten, von benachbarten Balkons wurden Was­serkübel über ihren Köpfen ausgeschüttet. Die Polizei hielt sich vornehm zurück, obwohl sie sowohl über die Ankunft der ArgentinierInnen als auch die Präsenz der UruguayerInnen, die gut organisiert mit Lautsprechern, Plakaten, Transparenten und auch jeder Menge Eier zum Werfen gekommen waren, informiert war. Eine Vertreterin eines uruguayischen Umweltnetzwerkes äußerte sich entsetzt: „Genauso wie sie jetzt die argentinischen Umweltakti­vistInnen behandeln, so können sie mich morgen behandeln, wenn ich gegen das Modell der Forst-Monokulturen in unserem Land protestiere. Ist das das neue Land, das wir aufbauen? Wie traurig!” Die Argumente auf uruguayischer Seite basieren auf wissenschaft­lichen Gutachten und ökonomischen Erwägungen, die Argumente auf argentinischer Seite auf Umweltaspekten und Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. In den letzten zwei Jahren haben die Regierung, die Opposition, die Wirtschaft und die Presse in Uruguay ein Bild der argentinischen Gegner des Projektes aufgebaut, das Aktionen wie die Ausfälle gegen die UmweltaktivistInnen befördert. Die ArgentinierInnen seien korrupt, gewalttätig, größen­­wahnsinnig, intolerant. Und deswegen wollten und könnten sie sich nicht mit den UruguayerInnen, die pazifistisch, zivilisiert und respektvoll seien, einigen. Die Bevölkerung von Gualeguaychú misstraut aber den Gutachten, die von der uruguayischen Regierung und Botnia in Auftrag gegeben wurden. Ein weiteres Gutachten, auf das sich die uruguayische Seite beruft, wurde von der Weltbank erstellt. Die argentinischen Um­­weltakti­vistInnen glauben nicht an die Wissenschaft, also können sie nicht Recht haben, so Uruguay. Aber dass es genug Gründe gibt, Gutachten der Weltbank über mögliche Umweltschäden von Großprojekten anzuzweifeln und in Lateinamerika viele Zellstofffabriken existieren, bei denen es zu gravierenden Störfällen kam, will die uruguayische Regierung und Öffentlichkeit nicht wahrhaben. Wenn das einmal anerkannt würde, könnte sich ein Fenster für einen Dialog öffnen. Von einem echten Dialog ist allerdings seit anderthalb Jahren keine Rede mehr. Tabaré Vázquez, der uruguayische Präsident, steht nach wie vor auf dem Standpunkt, verhandelt werde nicht, solange die Blockaden der Grenzbrücken zwischen den beiden Rio de la Plata-Ländern anhalten. Zumindest wollen die beiden Regierungen ab März in Madrid, vermittelt durch Juan Antonio Yáñez Barnuevo, den Emissär des spanischen Königs Juan Carlos, wieder miteinander sprechen. Und der uruguayische Präsident machte Anfang Februar ein Zugeständnis. Eine weitere Zellstofffabrik am Rio Uruguay und am Rio de la Plata schloss der Präsident ausdrücklich aus und erfüllte damit eine der Forderungen seines argentinischen Kollegen Néstor Kirchner. Interessant wird, wie sich die uruguayische Regierung in Bezug auf ein Mitte Februar bekannt gewordenes Projekt in Rio Grande do Sul verhält. Eine brasilianische Firma kündigte an, im ökologisch sehr sensiblen Lagunengebiet an der Grenze zu Uruguay ebenfalls eine Zellulose-Fabrik – mit einer Million Tonnen Produktion pro Jahr ein ähnliches Mega-Projekt wie die Fabrik von Botnia – errichten zu wollen. Kritische Stimmen von der uruguayischen Seite des Grenzflusses, in den die Abwässer der Fabrik fließen sollen, ließen nicht lange auf sich warten.
Im Gefüge des ältesten politischen Linksbündnisses in Lateinamerika rumort es aber nicht nur zwischen Regierung und Basis, auch unter den Ministern treten die Gegensätze immer offener zutage. Vor allem zwischen dem sozialistischen Außenminister Reinaldo Gargano und dem Astori-Block, dem neben dem Wirtschafts- und Finanzminister selbst weitere drei Minister angehören. Der eher konservative Linke Gargano steht zu den programmatischen Verpflichtungen des FA-Programms. Und das macht ihn zur Zielscheibe. Vom Präsidenten erhält er keine Rückendeckung, im Gegenteil. Vom angekündigten Bush-Besuch im März 2007 erfuhr der Außenminister aus der Presse. Von der Ausarbeitung des TIFA-Abkommens mit den USA wurde er ausgeschlossen. Und nach Spanien zum „königlichen“ Dialog über die Zellstoff-Fabriken schickt Vázquez seinen Vertrauten Fernández, einen Anwalt, der neben seiner Beratungstätigkeit für den Präsidenten in seiner Praxis internationale Konzerne vertritt, die den Staat Uruguay verklagt haben.

Show-Down zwischen Astori und Mujica

Unklar bleibt das Kalkül der mit über 30 Prozent stärksten Kraft in der FA, der Bewegung der Bürgerbeteiligung (Movimiento de Participación Popular), und ihrer Leitfigur José Mujica. Einerseits gibt es Gespräche zwischen den Ex-Tupamaros und den Kommunisten, andererseits hat der Landwirtschaftsminister Mujica bisher alle Entscheidungen der Regierung mitgetragen. Auch die Unterzeichnung des Abkommens über das TIFA. Spekuliert wird allerdings, dass der Stratege Mujica schon weiter denkt und sich für die Nachfolge des aktuellen Präsidenten Vázquez in Stellung bringen will. Die steht nämlich 2009 an und laut uruguayischer Verfassung darf ein Präsident nicht wieder gewählt werden. Obwohl auch die Möglichkeit einer Verfassungsänderung immer offener diskutiert wird, rechnet doch damit kaum jemand. Wahrscheinlicher ist ein Show-Down zwischen Astori und Mujica. Und dann geht es auch darum, wer das traditionell linke Erbe der Frente Amplio, das sie sich in 35 Jahren erkämpft hat, bewahren und für sich reklamieren kann. Astori wird das nicht sein, Mujica vielleicht.

„Offenbar gibt es einen Deal zwischen Lula und den Militärs“

Herr Krischke, in Rio und in São Paulo verbreitet das organisierte Verbrechen immer wieder Angst und Schrecken unter der Bevölkerung, mehr noch als 2002, als Präsident Lula da Silva seine erste Amtszeit antrat. Woran liegt das?

Diese Kriminellen haben enge Verbindungen zum Drogenhandel. Dafür ist die Bundespolizei zuständig, ebenso wie für den Waffenhandel und die Geldwäsche. Die schweren Waffen, die in Rio eingesetzt werden, stammen aus dem Waffenschmuggel, vor allem aus Paraguay. Im Fernsehen bekommen wir schwarze Jugendliche in Shorts als Drogenhändler präsentiert. Das ist absurd, die haben nie Dollar gesehen. Das sind arme Teufel, die das letzte Glied der Kette bilden und früher oder später umkommen. Die großen Mafiosi tragen Anzug und Krawatte und wohnen unbehelligt in todschicken Häusern an der Copacabana. Und dann soll die Landespolizei mit sehr wenigen Mitteln gegen das vorgehen, was nicht an der Wurzel bekämpft wurde. Dafür ist Lula verantwortlich.

Warum ist die Bundespolizei so ineffektiv?

Etwa 8.000 Bundespolizisten sollen das ganze Territorium abdecken. Die US-Drogenbehörde DEA bezahlt unsere Bundespolizei, damit die verhindert, dass die Drogen in die USA exportiert werden. Deswegen wächst das Drogenangebot in Brasilien, die Preise fallen, die Kämpfe zwischen den Gangs werden schärfer. Die Bevölkerung der Favelas wird vom Staat völlig allein gelassen, deswegen gibt es mittlerweile in Rio Milizen: Ehrlich arbeitende Menschen, deren Leben die Gangs zur Hölle machen, werfen ihre Groschen zusammen, um Polizisten oder Ex-Polizisten für ihren Schutz zu bezahlen. Doch in dem Maße, in dem diese die Drogenhändler vertreiben, werden sie selbst zur Autorität und verlangen höhere Schutzgelder.
Und warum tun sich die Polizisten der Bundesstaaten so schwer?
Sie sind schlecht ausgebildet, ineffektiv, miserabel bezahlt und deswegen korrupt. Die Militärpolizei ist ein Erbe der Diktatur. Sie wurde 1969 gegründet und dem Heer unterstellt. Selbst in der Verfassung von 1988 steht, dass sie Hilfskräfte der Armee sind. Da herrschen eine militärische Logik und eigene, sehr teure Riten vor.

Weshalb legt man Militär- und Zivilpolizei nicht zusammen?

Das liegt am Druck der Militärs, die die Militärpolizei als Reservearmee für den Notfall begreifen. Durch eine Demilitarisierung könnten wir viel Geld sparen, mit dem man die Löhne erhöhen und die Korruption eindämmen könnte. Aber die Regierung Lula ist mit vielen grandiosen Projekten beschäftigt, ähnlich wie seinerzeit die Militärs, die von der Großmacht Brasilien träumten. Der Alltag der Menschen ist ihr nicht so wichtig.

Und der vielgelobte Haushaltszuschuss Bolsa Familia, von dem über elf Millionen Familien mit bis zu 35 Euro im Monat profitieren, ist das kein nachhaltiger Ansatz?

Nein, dafür werden wir einen hohen Preis zahlen müssen. Viele Leute hören auf zu arbeiten, weil sie dieses Geld bekommen. Wenn das in Verbindung mit Ausbildungsprogrammen angeboten würde wie etwa in Uruguay – genial! Aber darum geht es nicht, sondern um Wählerstimmen. Es war die größte Wahlkampfhilfe für Lula.

Wie hält es der Präsident mit den Geheimarchiven aus der Militärdiktatur?

Wir Menschenrechtler fordern, dass sie ein für allemal geöffnet werden, damit diese Epoche rekonstruiert werden kann. Die Angehörigen der Verschwundenen wissen nicht, was mit ihren Lieben geschehen ist. Alle Menschenrechtsorganisationen waren überzeugt, dass Lula dieses Problem lösen würde. Doch am Tag vor Lulas Amtsantritt 2002 kam ein Dekret heraus, das die Fristen für die Freigabe der Geheimarchive verlängerte. Offenbar gibt es einen Deal zwischen Lula und den Militärs.

Gab es keinen öffentlichen Druck?

Doch. Lula hat daraufhin eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, um die Dokumente prüfen und reklassifizieren zu lassen, doch die ist nie zusammengekommen. In vier Jahren hat Lula kein einziges Mal die Angehörigen der Verschwundenen empfangen. Das macht er nur in Peru oder in Uruguay.

Warum? Ist der Druck in Brasilien geringer als in den Nachbarländern?

Ja. In Argentinien etwa gab es 30.000 Verschwundene, jede Familie hat wenigstens einen Angehörigen oder Bekannten unter den Opfern. Auch in Chile war die Brutalität enorm. Jeder 50. Uruguayer war schon einmal auf einer Polizeiwache, um über sein Leben Auskunft zu geben. In Brasilien war die Repression viel selektiver, es gab „nur“ 300 Verschwundene. Die brasilianischen Militärs haben zwar in den Nachbarländern die Doktrin der nationalen Sicherheit durchgesetzt und Foltermethoden vermittelt, aber hier sind sie geradezu chirurgisch vorgegangen. Deswegen gibt es kaum Druck von unten. Andererseits hatte die Regierung Lula enge Verbindungen zu den sozialen Bewegungen, die immer gehofft hatten, er würde ihre Anliegen umsetzen – das wirkte demobilisierend. Die Zeit ist vergangen und nichts ist passiert. Vor einem guten Jahr wurden ausgewählte Dokumente ins Nationalarchiv nach Brasília geschickt. Aber da gibt es nichts wirklich Neues.

Wie ist die Lage der indigenen Bevölkerung heute?

Wenn sie nicht selbst ihr Schicksal in die Hand genommen hätten, gäbe es in Brasilien heute keine Indígenas mehr. Doch ihre Lage ist heute schlimmer als früher, sie sind besonders stark vom Vormarsch der Eukalyptus-Monokulturen für die Zelluloseproduktion betroffen. Im Bundesstaat Espirito Santo wurden sie im Januar 2006 mit extremer Gewalt durch die Bundespolizei von ihrem angestammten Land vertrieben – ganz im Sinne des Zellstoff-Multis Aracruz. Lula hat über seinen Justizminister zugesagt, ihnen Land offiziell zuzuweisen, aber bislang hat er das nicht eingehalten. Im Dezember waren 20 ihrer Vertreter vier Tage lang in Brasília, nicht einmal der Pförtner des Ministeriums hat sie empfangen.

Aber für die Schwarzen gibt es doch jetzt bessere Zugangsmöglichkeiten an den öffentlichen Universitäten

Es gibt Marginalisierte unter Schwarzen, Indigenen und Weißen. Gefragt wäre eine seriöse Politik der sozialen Integration unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht. Die Schwarzen müssten auf öffentlichen Schulen eine gute Bildung bekommen, damit sie mit den Weißen konkurrieren und stolz auf ihre Leistungen an die Uni gehen können, nicht wegen Almosen.

Hat es in den letzten vier Jahren überhaupt Fortschritte gegeben?

Ja, die Bevölkerung ist sich ihrer Rechte immer mehr bewusst – und sie hat das gegen die Regierungen erreicht. Die Brasilianer halten nicht mehr so still wie früher, sie fordern immer mehr ein. Die wichtigste Aufgabe für Menschenrechtler ist, die Leute zu organisieren, vor allem in den Armenvierteln, wo es darum geht, für Zugang zu Trinkwasser oder eine Schule zu streiten.

Ein Leben zwischen den Welten

Ernesto Kroch schreibt seit mehr als zwanzig Jahren für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen über Uruguay (u.a. regelmäßig für die ILA). Auch für die Lateinamerika Nachrichten ist er kein Unbekannter. Die Lebensgeschichte von Ernesto Kroch, die viele Geschichten des 20. Jahrhunderts beinhaltet, ist geprägt von einem doppelten Exil. Ernst Kroch, der am 11.02.1917 in Breslau geboren wurde, kam als junger Sozialist jüdischer Herkunft unter den Nazis ins Gefängnis und ins Konzentrationslager. Ende 1938 landet er ungewollt in Uruguay. Sein für Paraguay ausgestelltes Visum stellte sich als gefälscht heraus, nach einer kurzen Internierung kommt er frei und kann am Rio de la Plata bleiben. Er engagiert sich in seiner Heimat im Exil für das „Deutsche Antifaschistische Komitee“, tritt der Kommunistischen Partei Uruguays bei und baut mit anderen deutschstämmigen jüdischen Emigranten das „Casa Bertolt Brecht“ auf, das von 1964 bis 1989 als Kulturinstitut der DDR in Uruguay das Bild des anderen Deutschlands vermitteln will. Nachdem auch in Uruguay Mitte 1973 die Militärs geputscht haben, arbeitet der Metallarbeiter für die Gewerkschaft im Untergrund. 1982 muss er auch selbst die Verhaftung fürchten und so geht Ernesto, dessen Eltern im KZ Auschwitz umgebracht wurden, ins Exil in seine Heimat Deutschland. Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 kehrt er nach Uruguay zurück und engagiert sich seitdem vor allem in den Basiskomitees des linken Parteienbündnisses Frente Amplio. Ernesto Kroch steht aber auch für die Öffnung der „Casa Bertolt Brecht“ zu einem offenen Kulturzentrum der Linken. Mit seinen Kontakten zu deutschen Stiftungen und Organisationen einerseits und seinen Verbindungen zur uruguayischen Linken andererseits öffnete er das Haus nach Außen und nach Innen. Seit einigen Jahren gönnen es sich Ernesto und seine Lebensgefährtin Eva Weil, einige Monate im Jahr in Deutschland zu verbringen. Diese Zeit nutzt der „Langstreckenkämpfer“ Ernesto – wie ihn der Frankfurter Filmemacher Martin Kessler, nennt, der seit einiger Zeit an einer filmischen Langzeitbeobachtung über Ernesto Kroch arbeitet – auch intensiv, um die deutsche Realität näher kennen zu lernen. Er interessiert sich für die sozialen und globalisierungskritischen Bewegungen, nimmt als Referent an Veranstaltungen des Attac-Netzwerkes teil, liest aus seiner 2005 im Verlag Assoziation A erschienenen Biografie „Heimat im Exil – Exil in der Heimat“ und anderen Werken in Schulen und vor GewerkschafterInnen. Insgesamt acht Bücher – Romane, Erzählungen, Sachbücher über Uruguay und über die Globalisierung – hat er veröffentlicht, drei davon sind auch auf Deutsch erschienen. Ernesto Kroch ist einer dieser Unermüdlichen und Unersetzlichen, einer jener, von denen Bertolt Brecht in seinem berühmt gewordenen Gedicht geschrieben hat: „Es gibt Menschen, die kämpfen einen Tag, und sie sind gut. Es gibt andere, die kämpfen ein Jahr und sind besser. Es gibt Menschen, die kämpfen viele Jahre und sind sehr gut. Aber es gibt Menschen, die kämpfen ihr Leben lang: Das sind die Unersetzlichen.“

Chávez schwört auf Sozialismus

Der Schwur war unüblich. Nach seiner Wiederwahl im vergangenen Dezember, mit einem robusteren Mandat als jemals zuvor, machte Hugo Chávez bei seiner Amtseinführung am 11. Januar einmal mehr klar, wohin sich Venezuela seiner Meinung nach entwickeln soll. Er schwor bei „Jesus Christus, dem größten Sozialisten der Geschichte“, sein Leben dem Aufbau des Sozialismus in Venezuela widmen zu wollen. „Es ist die Zeit gekommen, die Privilegien und die Ungleichheit zu beenden und nichts und niemand kann den Wagen der Revolution aufhalten“.
Schon bei der Vereidigung der 15 neuen und 12 alten MinisterInnen zwei Tage zuvor hatte Chávez keinen Zweifel daran gelassen, den „sozialistischen Wagen“ nun drastisch beschleunigen zu wollen. Bis 2021 – dem 200-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Venezuelas – solle das Land in den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ geführt werden. Als Antrieb nannte Chávez „fünf Motoren“: die Gewährung einer zeitlich befristeten „revolutionären Vollmacht“, eine „sozialistische Verfassungsreform“, den massiven Ausbau der „Volksbildung“, eine neue „Geometrie der staatlichen Machtverteilung“ sowie eine „Explosion kommunaler Macht“.
Die Gewährung von auf 18 Monate befristeten „revolutionären Vollmachten“ durch das Parlament bezeichnete Chávez als ersten „Motor“. Mit Hilfe von Präsidialdekreten soll vor allem die Transformation der Wirtschaftsstrukturen beschleunigt werden. Unter anderem zählt dazu die Nationalisierung strategischer Sektoren wie Energie und Telekommunikation.
Der zweite „Motor“ ist die bereits zuvor angekündigte Verfassungsreform. Chávez beauftragte Parlamentspräsidentin Cilia Flores mit der Bildung einer Kommission, die Vorschläge erarbeiten soll, welche dann laut Verfassung sowohl vom Parlament (Zweidrittelmehrheit), als auch in einem landesweiten Referendum (einfache Mehrheit) ratifiziert werden müssen. Bereits bekannt ist das Vorhaben, die uneingeschränkte Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten einzuführen. Als neuen Plan nannte Chávez die Abschaffung der von ihm als „neoliberale Idee“ bezeichneten Unab­hängig­keit der Zentralbank.
Durch den Ausbau einer „bolivarianischen Volkserziehung“ als dem dritten Antriebsmodul, will Chávez die „alten Werte“ des „Individualismus, Kapitalismus und Egoismus“ zugunsten einer sozialistischen Ethik“ überwinden.
Weiter nannte der venezolanische Präsident eine „neue Geometrie der Macht“ als vierten „Motor“ seines Regierungsvorhabens. Hugo Chávez will hier die administrativen Strukturen der Gemeinden in Venezuela neu organisieren, um marginalisierte, ärmere Gebiete besser einzubinden und bürokratischen Aufwand zu minimieren.
Den fünften Antrieb, eine „Explosion kommunaler Macht“, bezeichnete Chávez als den „stärksten Motor der neuen Phase“. So möchte er den seit April letzten Jahren entstehenden Kommunalen Räten, die je nach Region von bis zu 400 Familien gebildet werden, mehr Entscheidungsmacht über kommunale Belange geben. Standen 2006 etwa 1,5 Milliarden US-Dollar für die Räte bereit, sollen es dieses Jahr fünf Milliarden sein. Bisher bestehen um die 13.000 Kommunale Räte im ganzen Land. Weitere Tausende sollen im Laufe dieses Jahres hinzukommen.

Auf Nationalisierungskurs

Im eigenen Land wie auch international hatten diese Bekanntmachungen heftige Reaktionen hervorgerufen. Insbesondere Chávez‘ Plan, den Umbau der wirtschaftlichen Strukturen Venezuelas mittels Dekreten voranzutreiben, hatte viel Aufruhr verursacht. Er kündigte zunächst an, „strategische Industrien“ wie den Energiesektor sowie den erst 1991 privatisierten Telekommunikationsmonopolisten CANTV verstaatlichen zu wollen. Zudem solle der venezolanische Staat, wie beim Großteil der Ölförderung bereits üblich, auch eine Mehrheitsbeteiligung an den Ölförderprojekten im Orinokodelta erreichen, wo unter anderem Unternehmen wie Chevron, BP und ExxonMobil beteiligt sind.
Von den Verstaatlichungen wird, neben tausenden KleinanlegerInnen, auch ausländisches Großkapital betroffen sein. CANTV etwa gehört zu 28 Prozent dem US-amerikanischen Unternehmen Verizon, zu sechs Prozent der spanischen Telefónica und zu vier Prozent dem mexikanischen Medienmogul und reichsten Lateinamerikaner, Carlos Slim. Das Elektrizitätsunternehmen Elecar (Electricidad de Caracas), das den Großraum Caracas mit Strom versorgt und sich seit seiner Gründung 1895 in privater Hand befindet, gehört zurzeit mehrheitlich der US-amerikanischen AES. Die Regierung kündigte jedoch an, die AnlegerInnen „gerecht“ entschädigen zu wollen.
Scharfe Kritik an diesen Plänen kam von der Opposition. Der Gouverneur von Zulia und Ex-Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales sagte, Chávez habe „seine Botschaft der Liebe, die er im Wahlkampf angeboten hat, gegen die Botschaft der Gewalt und Aggression getauscht“.
Da die Opposition die letzten Parlamentswahlen Ende 2005 boykottiert hatte und somit nicht in der Nationalversammlung vertreten ist, gilt die Zustimmung zum „Bevollmächtigungsgesetz“ als reine Formsache. Es wäre bereits das dritte Mal, dass Chávez Sondervollmachten vom Parlament erhält. Nach seiner erstmaligen Wahl 1999 wurde Chavez eine Vollmacht zur Sanierung des Haushaltes bewilligt. Auf Grundlage der neuen Verfassung erhielt er zudem 2001 eine einjährige Ermächtigung, die er dazu nutzte, 49 Gesetze zu dekretieren. Präsidiale Sonder­vollmachten per „Bevollmächtigungsgesetz“ sind nun keine Erfindung von Chávez. Für Venezuela ist es seit 1961 bereits das insgesamt neunte „Ley Habilitante“ – die vor Chávez‘ Amtszeit verabschiedeten ernteten allerdings weit weniger öffentliche Entrüstung.

Keine Lizenz für „Putschistensender“

Zuvor hatte bereits die Ankündigung Chávez‘, die am 28. Mai dieses Jahres auslaufende Sendelizenz der Fernsehstation RCTV nicht zu erneuern, in Venezuela und international eine Welle der Empörung ausgelöst. Laut geltendem Gesetz obliegt es dem Staat, die Konzessionen zu erteilen. Schon Ende des Jahres 2006 warf Chávez dem Sender in einer Ansprache vor Militärs „putschistische“ Berichterstattung und permanente Gesetzesverstöße vor. RCTV, das vor allem für die Übertragung von Telenovelas bekannt ist, war während des Putsches gegen Chávez im April 2002 neben Globovisión, Venevisión und Televen einer der Sender, welche die Ereignisse durch gezielte Falschinformation mit herbeigeführt hatten. Während Venevisión und Televen mittlerweile gemäßigter berichten, befinden sich RCTV und Globovisión noch immer in radikaler Opposition zu Chávez und schrecken nicht einmal vor Gewaltaufrufen zurück. Auch Globovisión könnte daher das gleiche Schicksal ereilen wie nun RCTV. Der Sender wird jedoch nicht geschlossen, wie weitläufig interpretiert und einfach gern behauptet wurde, sondern lediglich nicht mehr die öffentliche Sendefrequenz nutzen dürfen. Per Kabel oder Satellit wird man ihn weiterhin empfangen können.
Dennoch bezeichneten die Opposition, die katholische Kirche Venezuelas, die Organisationen Reporter ohne Grenzen und die Interamerikanische Pressegesellschaft (SIP) sowie der Generalsekretär der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, die Maßnahme als Zensur und Einschränkung der Pressefreiheit. Insbesondere die Äußerungen Insulzas deutete Chávez als nicht hinnehmbare Einmischung in innere Angelegenheiten. Er nannte Insulza – den Venezuela ironischerweise bei seiner Wahl 2005 gegen den von den USA favoriserten mexikanischen Kandidaten Luis Ernesto Derbez tatkräftig unterstützt hatte – einen „wahrhaftigen Idioten“ und forderte ihn zum Rücktritt auf.

Vereinigt für die Revolution

Schon Ende letzten Jahres hatte Chávez das Projekt einer Vereinigten Sozialistischen Partei (PUSC) auf den Weg gebracht, um die 23 Chávez unterstützenden Parteien zu vereinen. Ziel der neuen Partei sei der Aufbau des Sozialismus “von unten“, wie Chávez beteuerte. Wer sich allerdings als Partei erhalten wolle „wird die Regierung verlassen“, so der venezolanische Präsident. Noch ist nicht klar, wer sich dem Projekt anschließen wird. Chávez‘ eigene Partei MVR (Bewegung Fünfte Republik), die mit Abstand stärkste Kraft innerhalb des Bündnisses, wird ohne Zweifel den Kern der neuen Partei bilden. PPT (Vaterland für Alle) und Podemos (Wir können), die bedeutendsten der kleineren Parteien fordern jedoch eine tiefer gehende Diskussion über das Thema.
In seine zweite reguläre Amtszeit startet Chávez mit einem etwa zur Hälfte erneuerten Kabinett. Der wohl prominenteste Wechsel betrifft die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Chávez-Vertraute José Vicente Rangel, der schon seit 1999 unterschiedliche Ministerposten innehatte, wird von Jorge Rodriguez abgelöst, dem Ex-Präsidenten des Nationalen Wahlrates CNE. Jesse Chacón nimmt als Innen- und Justizminister seinen Hut und übernimmt das neu geschaffene Telekommunikationsministerium. Chávez begründete die Wechsel mit der Notwendigkeit „Bürokratie, Korruption und Ineffizienz“ zu bekämpfen. Persönliche oder politische Gründe lägen nicht vor. Der scheidende Vizepräsident Rangel betonte, dass er und die anderen Minister zwar die Regierung, aber „nicht die Revolution verlassen“.

Demokratie oder Autoritarismus?

Eines sollte klar sein: Die starke Polarisierung sowohl innerhalb der venezolanischen Gesellschaft als auch in der Debatte über die
Beurteilung Venezuelas wird in nächster Zeit wohl kaum abnehmen. Gerade erst sind zwei für gewöhnlich viel beachtete Studien mit völlig gegensätzlichen Ergebnissen erschienen. Während die US-amerikanische Organisation Freedom House in ihrem am 17. Januar veröffentlichten Jahresbericht „Freedom in the World“, Venezuela mit Russland auf eine Stufe stellt und beide Länder als “eindeutig Richtung Autoritarismus fortschreitend“ ansieht, scheint die venezolanische Bevölkerung selbst dies völlig anders zu sehen. Bei der Ende letzten Jahres erschienenen repräsentativen Erhebung des chilenischen Umfrageinstitutes Latinobarómetro, welches jährlich den Zustand der lateinamerikanischen Demokratien zu messen versucht, erzielte Venezuela – wie bereits im Vorjahr – äußerst gute Ergebnisse. So erhielt das Land sowohl bei der Frage ob Demokratie jeglicher anderen Regierungsform vorzuziehen sei als auch bei der Bewertung der real existierenden Demokratie im eigenen Land jeweils den höchsten Wert nach Uruguay. Laut der Studie ist der Prozentsatz der BürgerInnen, die mit der Demokratie in ihrem Land zufrieden sind, seit 1998 – der erstmaligen Wahl Hugo Chávez‘ – in keinem anderen lateinamerikanischen Land stärker gestiegen als in Venezuela (von 32 auf 57 Prozent). Auch das zeitlich befristete Regieren per Dekret wird wohl nichts an diesen Werten ändern. Chávez wird voraussichtlich nichts beschließen, was nicht sowieso eine Mehrheit hätte. Vor knapp zwei Monaten wurde er zudem ausdrücklich dafür gewählt, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts voranzutreiben. Aber selbst wenn er im Sinne der Bevölkerungsmehrheit handelt, ist es bedenklich, deren Willen durch ein Bevollmächtigungsgesetz in reale Politik umzusetzen. Zumal das zu 100 Prozent von chavistas gebildete Parlament die geplanten Reformen ohnehin abnicken würde. Durch die Gewährung der Vollmachten wird darüber dort im Einzelnen allerdings nicht einmal mehr diskutiert werden.
Auch wenn Venezuela weit davon entfernt ist, eine Diktatur zu sein: Dass derzeit kaum Mechanismen zur Begrenzung der Macht des Präsidenten bestehen, sollte die Bevölkerungsmehrheit auch dann nicht hinnehmen, wenn dieser in ihrem Sinne entscheidet. Denn darauf, dass er dies auch 2021 noch tun wird, kann schlicht kein Verlass sein.

Zwischen Unregierbarkeit und Populismus

Aus den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Mitte Oktober ist keiner der dreizehn Präsidentschaftskandidaten als neuer Staatschef Ecuadors hervorgegangen. Folglich treten der in der ersten Runde unerwartet erstplatzierte „Bananen-Zar“ Álvaro Noboa und der zweitplatzierte Linkskandidat Rafael Correa am 26. November in einer Stichwahl gegeneinander an. Die besseren Aussichten auf einen Wahlsieg werden für den populistischen Kandidaten Noboa erwartet. Die Bevölkerung Ecuadors ist dabei polarisiert – hinter dem Ökonomen Rafael Correa steht von Sozialdemokraten bis hin zu Indígena-Organisationen eine große Anzahl an linken Parteien und Gruppen. Diese unterstützen jeweils Correa, um den Sieg des „oligarchischen Projektes“ des Populisten Noboa, der von verschiedenen Mitte-Rechts-Parteien unterstützt wird, zu verhindern.
Wie schon vor vier Jahren widersprachen die Ergebnisse vom Wahltag dem zuvor erwarteten Szenario. Laut dem offiziellen Endergebnis erhielt Álvaro Noboa 26,83 Prozent der gültigen Stimmen, während 22,84 Prozent auf den Linkskandidaten Rafael Correa entfielen. Für diesen wurde laut Umfragen zuletzt sogar eine Präsidentschaft ohne Stichwahl für möglich gehalten.. Der zuvor lange Zeit in Umfragen führende sozialdemokratische Kandidat León Roldós scheiterte bei seiner dritten Kandidatur überraschend erneut und landete nur auf dem vierten Platz (15%) – noch hinter dem drittplatzierten Gilmar Gutiérrez, Bruder des 2005 gestürzten Präsidenten Lucio Gutiérrez (17%). Die konservative Aspirantin Cynthia Viteri vereinigte weniger als 10 Prozent der gültigen Stimmen auf sich.
Die Verteilung der Stimmen auf mehrere Kandidaten zeigt, dass keiner der Kandidaten den Wählern als wirklicher Hoffnungsträger für die Lösung der Probleme des politisch instabilen Landes gilt. Dafür steht vor allem die alarmierend hohe Zahl an ungültigen oder leeren Stimmen: Es wurden mehr leere oder ungültige Stimmzettel abgegeben, als der drittplatzierte Gilmar Gutiérrez an Stimmen erhielt.

Ablehnung der „Partidocracia“

Ein noch größerer Anteil an Proteststimmen wurde bei den gleichzeitig durchgeführten Parlamentswahlen abgegeben – 45 der 100 Sitze im Nationalkongress stünden de facto dem „Voto Nulo“ zu, was die Ablehnung der bisher herrschenden Parteien-Kaste, aber auch die fehlende Basis der sich als Wahlgewinner präsentierenden populistischen Parteien manifestiert. Bei der Neuverteilung der Abgeordneten-Sitze kam es vor allem für die Konservativen (Partido Social Christiano, PSC) zu einem desaströsen Ergebnis: Nachdem diese zuletzt mit 23 Abgeordneten die größte Fraktion stellten, müssen sie nun eine Reduzierung auf 13 Abgeordnete hinnehmen. Die Sozialdemokraten (Izquierda Democratica, ID) erreichten zusammen mit der verbündeten Gruppierung RED des Kandidaten León Roldós 12 Sitze (2002: 15 Sitze ohne RED). Als Wahlsieger gilt die Partei der Institutionellen Erneuerung (PRIAN) des Kandidaten Álvaro Noboa. Diese kam auf 28 Kongressabgeordnete (2002: 9) und könnte bei einer Allianz mit der Partei Patriotische Gesellschaft (PSP) des Ex-Präsidenten Lucio Gutiérrez, die 24 Parlamentarier (2002: 4) stellen wird, eine Mehrheit im Nationalkongress erreichen.
Die Alianza PAÍS von Rafael Correa war zu den Wahlen nicht mit eigenen Kandidaten für den Kongress angetreten. Correa beabsichtigt, im Falle eines Wahlsieges eine konstituierende Versammlung einzuberufen, die eine gänzlich neue Verfassung erarbeiten soll.

Chance für Rechtspopulismus

Die Chancen stehen gut für Noboa, aus den Stichwahlen Ende November als neuer Präsident hervorzugehen. Die Führungsspitze der konservativen Partei um den Ex-Präsidenten León Febres Cordero (1984-1988) arrangierte sich umgehend mit der neuen Situation und sorgte dafür, dass die PSC den Populisten Noboa im Wahlkampf vor der Stichwahl unterstützt. Nach weiteren Unterstützungserklärungen aus dem populistischen und dem Mitte-Rechts-Lager geht Noboa mit guten Chancen in die Stichwahl.
Weil lange Zeit die Entscheidung der Gutiérrez-Partei PSP über eine eventuelle Wahlallianz offen war, versuchte Noboa darüber hinaus mit Ankündigungen gegen die „Verantwortlichen“ des Präsidentensturzes im April 2005 die PSP zu einer Wahlaussage zu bringen. So kündigte er an, als Präsident gegen die Radiostation „La Luna“ und deren Leiter Paco Velasco sowie die oppositionelle Bewegung der „Forajidos“, die den Sturz von Gutiérrez im April 2005 vorantrieben, vorzugehen. Zudem erklärte der Journalist Carlos Vera, er habe Drohungen erhalten, nachdem er für den Fernsehsender Ecuavisa Personen interviewt hatte, die sich kritisch über Noboa äußerten. Verschiedene ecuadorianische Menschenrechtsorganisationen wandten sich daraufhin Anfang November in einem gemeinsamen offenen Brief unter anderem an Reporter ohne Grenzen und Amnesty International, und baten darum, die Situation der Journalisten in Ecuador aufmerksam zu überwachen.
Noboa schließt es aus, mit seinem Gegner Correa öffentlich zu diskutieren, da er die eigene Unterlegenheit bei einer solchen Begegnung fürchtet. Stattdessen konzentriert er sich auf die eigenen Wahlkampfveranstaltungen, bei denen er über den „Kommunisten“ und „Chávisten“ Correa wettert, verspricht, jährlich 300.000 Wohnungen zu bauen, und an seine Zuhörer Geschenke wie Lebensmittel, Rollstühle, Kleidung und Dollarnoten verteilen lässt.
Die schon wiederholt eingesetzte Wahlkampfstrategie scheint letztlich aufzugehen: Zusammen mit der Unterstützung der Mitte-Rechts-Klientel und einigen wohl durch die Ankündigungen gegen „La Luna“ gewonnenen Anhänger der Gutiérrez-Brüder könnte sie ihm bei seiner dritten Kandidatur für das höchste Amt des ecuadorianischen Staates den Wahlsieg möglich machen. Seine geringe Wertschätzung gegenüber einer kritischen Presse und die Größe seines Wirtschaftsimperiums lassen Noboa in den Augen von Kommentatoren dabei als einen Berlusconi Südamerikas dastehen – im Falle eines Wahlsieges würde sich in ihm hohe ökonomische wie politische Macht vereinen.

Linke für Correa

Angesichts eines möglichen Wahlsieges Noboas werden innerhalb der Linken immer mehr Stimmen zur Unterstützung von Correa laut. So ruft beispielsweise der aus Uruguay stammende Intellektuelle Kintto Lucas zu einer klugen Bündnispolitik auf. „Es ist Zeit, eine breite gesellschaftliche und politische Front zur Unterstützung Rafael Correas und der Veränderungen, die Ecuador so dringend braucht, zu bilden“, fordert dieser. Gleichwohl müsse Correa vor allem seine Bemühungen um die ärmeren Schichten intensivieren.
Denn auch wenn der Linkskandidat mittlerweile mit der postulierten Unterstützung sowohl der „marxistisch-leninistischen“ Splitterpartei PCMLE, der ähnlich verorteten, größeren Demokratischen Volksbewegung (MPD) und der Sozialdemokraten, als auch verschiedener Gewerkschaftsverbände, der Indígena-Organisation CONAIE und ihres politischen Arms Pachakutik rechnen kann – Correas Kandidatur wird bisher von keiner breiten Mehrheit der „einfachen Leute“, sondern vor allem von einer kleinen polit-intellektuellen Mittelschicht getragen.
Unter den Unterstützern des Linkskandidaten gilt deshalb als wichtigstes Wahlkampfprojekt, an Zustimmung unter den Menschen zu gewinnen, die ungültig oder leer gewählt haben. Rafael Correa legt seine Kampagne seit dem 15. Oktober vor allem darauf an, sich das Image eines modernen und realistischen Linken zu verschaffen. So stellte der Linkskandidat ein Projekt zur Verbesserung der Vergabe und der Konditionen von Mikrokrediten vor, präzisierte seine Positionen zur Politik gegenüber dem IWF und anderen internationalen Kreditgebern und blieb bei seiner Ablehnung eines bilateralen Freihandelsabkommens (TLC) mit den USA. Zudem erneuerte Correa seine Fürsprache für eine alternative südamerikanische Zusammenarbeit. Gleichzeitig kündigte er jedoch vorbeugend Eigenständigkeit gegenüber dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez an – vor allem für den Fall, dass dieser versuchen sollte, sich über eine freundschaftliche Zusammenarbeit hinaus in die politischen Geschicke Ecuadors einzumischen. Gleiches wiederholte sich, nachdem Chávez Noboa als Kandidaten bezeichnete, der den „Applaus aus Washington gewinnen will“ und anzweifelte, dass Noboa tatsächlich als Gewinner aus den Wahlen hervorgegangen sei: Correa wies die Äußerungen des Venezolaners als „unangebracht“ zurück, obwohl er selbst noch kurz nach den Wahlen von Wahlbetrug gesprochen hatte.

Undankbare Aufgabe

Trotz realistischer und gleichzeitig zukunftsweisender Ansätze einzelner Kandidaten ist es vor dem ersten Wahlgang keinem der 13 Kandidaten gelungen, mit seinen Vorschlägen für die Zukunft des Landes eine breite Zustimmung der Wähler zu erreichen. Entweder Rafael Correa mit seinem rhetorisch weitreichenden Diskurs oder Álvaro Noboa mit seinen neoliberalen Formeln werden die undankbare Aufgabe ausfüllen müssen, mit einer dünnen Legitimationsbasis nach der Stichwahl ein instabiles und zutiefst polarisiertes Land zu regieren, das unter internationalem Druck, Korruption, Verschuldung und extremer sozialer Ungerechtigkeit leidet.

Gipfeltreffen ohne Acht

Pünktlich zum Ende der feierlchen Eröffnungsfeier im Teatro Solís kam der argentinische Präsident Néstor Kirchner schließlich doch noch in Montevideo an. So verpasste er die Ansprachen von Enrique Iglesias, dem Generalsekretärs des Gipfels, des spanischen Königs Juan Carlos sowie von Kofi Annan, dem scheidenden UN-Generalsekretär. Kalkül oder nicht, jedenfalls kam er um die Begrüßungsworte des Gastgebers, des uruguayischen Präsidenten Tabaré Vázquez, herum.
Und Kirchner, der seit Beginn seiner Amtszeit mit dem Protokoll auf Kriegsfuß steht, reiste schon am folgenden Tag um die Mittagszeit wieder ab. Es reichte gerade mal für die Teilnahme an einer Debatte und für ein persönliches Treffen mit dem spanischen Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero, Kofi Annan und König Juan Carlos.
Beim Gipfel überraschte Kirchner mit der Initiative, Juan Carlos um königlichen Beistand beim Konflikt um die Errichtung der Zellulosefabrik am Rio Uruguay zu bitten. Der König akzeptierte, will aber kein Vermittler, sondern nur Initiator des Dialoges zwischen den beiden Bruderländern am Río de la Plata sein. Dialog ist bitter nötig, denn seit Monaten wird nicht mehr miteinander, sondern nur noch übereinander geredet. So sollen sich also zwei Präsidenten, deren Länder soviel gemeinsam haben, wie sonst keine anderen in Lateinamerika, über den Umweg ehemalige Kolonialmacht Spanien zusammensetzen, um wieder zu vernünftigen Gesprächen zu kommen.

Die Abwesenden

Bevor Juan Carlos überhaupt Verhandlungen initiieren konnte, ging der Schlagabtausch allerdings weiter. Noch während des Gipfels schickte Néstor Kirchner seine Umweltstaatssekretärin Romina Picolotti nach Washington, um ein Einfrieren der zugesagten Weltbank-Kredite für die Zellulose-Fabrik der finnischen Botnia-Gruppe im uruguayischen Fray Bentos zu erwirken. Kaum war Picolotti auf dem Rückflug nach Buenos Aires, landete der uruguayische Finanz- und Wirtschaftsminister Danilo Astori, um seinerseits Lobbyarbeit für die Auszahlung der Kredite zu machen. Bevor Néstor Kirchner mit seinem Coup, den spanischen König einzubeziehen, die uruguayische Regierung überraschte, wurde in Montevideo viel über eine mögliche Vermittlung des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva spekuliert. Der zog es aber vor, zu Hause zu bleiben. Als Grund wurden aus Regierungskreisen in Brasilia die Strapazen im Wahlkampf genannt, und so glänzte der frisch wiedergewählte Lula ebenso durch Abwesenheit wie weitere sieben lateinamerikanische Präsidenten.
Keiner der 15 vorangegangenen Gipfel der lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs mit ihren Kollegen von der iberischen Halbinsel war so schwach besucht wie dieser. Erst am Eröffnungsabend wurde bekannt, dass auch Hugo Chávez Frías, trotz vorheriger Zusage, nicht kommen würde. Offiziell wegen Verpflichtungen im laufenden Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl am 3. Dezember.
Venezolanische Journalisten mutmaßten hingegen, das Fernbleiben Lulas und die folglich geringere Bedeutung des Gipfels hätten ihn zu der Absage bewogen. Neben Lula und Chávez fehlte aus bekannten Gründen zudem Fidel Castro. Alan García, der im Juni 2006 erneut zum peruanischen Präsidenten gewählt wurde, wollte offensichtlich Chávez aus dem Weg gehen und Enrique Bolaños, Präsident von Nicaragua, steckte mitten im Wahlkampf. Ebenfalls fehlten die Präsidenten von Guatemala, der Dominikanischen Republik und Panamas.

Übertriebene Kontrollen

An der uruguayischen Bevölkerung ging der Gipfel komplett vorbei. „No pasa nada“, es passiert doch sowieso nichts, so der Kommentar überall. Und so ging das größte und wichtigste internationale Treffen, das jemals in dem kleinen Land am Río de la Plata stattfand unter zwischen bilateralen Konflikten, Absagen und wie so oft bei solchen Großereignissen, relativ belanglosen Abschlusserklärungen. Am spannendsten für die Menschen in Montevideo waren noch die Landungen und Starts der vielen Hubschrauber an der Rambla, der Uferpromenade, an der viele Uruguayer traditionell ihre Freizeit verbringen, immer mit dem Mate in der Hand. Zeit hatten sie genug, denn die Regierung hatte die drei Tage des Gipfels zu Feiertagen erklärt. Und dann die Sicherheitsvorkehrungen. Fast die ganze Altstadt von Montevideo wurde zur Sperrzone erklärt, alle Einwohner mussten ihre Fingerabdrücke abgeben, um sich auszuweisen.
Ganz unpassend zu diesem Spektakel fielen die Verhandlungsergebnisse zum obersten Punkt der Gipfelagenda eher bescheiden aus. Dabei ist das Thema „Migration und Entwicklung“ ebenso brisant wie aktuell. In den letzten ca. zehn Jahren haben 26 Millionen Lateinamerikaner ihr Land verlassen, um ihr wirtschaftliches Glück im Ausland zu suchen. Es sind aber auch gerade die Emigranten, die durch Rücküberweisungen zum Funktionieren der Ökonomien ihrer Herkunftsländer beitragen. Für 2006 wird von der CEPAL, der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik, geschätzt, dass diese 45 Milliarden Dollar betragen werden.
Als Ergebnis des Gipfels liegt die „Verpflichtung von Montevideo über Migration und Entwicklung“ vor. Im Abschlussdokument wird obligatorisch die Einhaltung von Menschenrechten und Arbeitsrechten gefordert und jegliche Diskriminierung von Migranten abgelehnt. Allerdings beziehen sich die Absichtserklärungen des Dokumentes nur auf legale Migration und schließen so die Hunderttausende aus, die jährlich ohne gültige Papiere auswandern. Was noch von diesem Gipfel bleibt, ist die Diskussion über Sinn und Zweck solcher Treffen. Vor allem aus Brasilien ist bekannt, dass Lulas Regierung sich auf die Stärkung der Südamerikanischen Staatengemeinschaft (CSN – Comunidad Sudamericana de Naciones) konzentrieren will, und nur wenig von der Einbeziehung der iberischen Staaten hält.
Sichtlich zufrieden kehrten der mexikanische Präsident Vicente Fox und die kubanische Delegation unter Führung des Vize-Präsidenten Carlos Lage nach Hause zurück. Fox erreichte, dass sich die Vertreter der 22 Staaten ausdrücklich gegen die 1.200 km lange Mauer aussprachen, die die US-Regierung an der Grenze zu Mexiko errichten will. Ebenfalls einstimmig wurden die USA aufgefordert, endlich die mittlerweile 14 Resolutionen der Generalversammlung der UN zu respektieren und die ökonomische und finanzielle Blockade gegen Kuba zu beenden.

Globalisierungskritik on Air

Sie steht um vier Uhr früh auf, macht Essen für die Familie, arbeitet von sechs Uhr morgens bis acht oder neun Uhr abends – und das mindestens sechs Tage die Woche. Aide Silva pflückt Blumen auf den Plantagen Kolumbiens, Blumen für den Export: für die KundInnen in den USA, Japan, der EU. „Schuften in der globalisierten Ökonomie“, heißt der Beitrag, der Aide Silva zu Wort kommen lässt. Ihre Stimme ist neben vielen anderen auf der CD „Wandel statt Almosen“, die das Radioprojektes Onda nach dem EU-Lateinamerika-Gegengipfel im Mai dieses Jahres herausgegeben hat, zu hören.
Dem Radio wurde vor wenigen Jahren noch eine düstere Zukunft prophezeit: Fernsehen und Internet schienen zu mächtige Konkurrenten für ein Medium, das ganz ohne Bilder, allein mit dem Ton auskommen muss. Doch es kam anders als zunächst gedacht: denn gerade das Internet entpuppte sich als das perfekte Medium für das Radio – die Produktion von Hörbeiträgen und der LiveStream übers Netz ist selbst mit geringer technischer Ausstattung möglich.
In Lateinamerika haben Community Radios und unabhängige Sender eine lange Tradition. Sie spielen nach wie vor eine wichtige Rolle als Kommunikationsmedium. In den großen Radio-Netzwerken wie ALER oder AMARC haben sich weit über hundert Radios aus dem gesamten Kontinent zusammengeschlossen. Die Radio-Szene ist lebendig und hat in den letzten Jahren zahlreiche neue Formen hervorgebracht – wie das Radioforum als eine neue, interkulturelle Form der Berichterstattung über die großen Treffen sozialer Bewegungen. Ein solches fand anlässlich des EU-Lateinamerika-Gipfels vom 10.–13.Mai in Wien statt. Während die Staatschefs ihre „strategische Partnerschaft“ zelebrierten, trafen sich zur gleichen Zeit Teile der sozialen Bewegungen beider Kontinente zum Alternativgipfel Enlazando Alternativas II. Das Radio RMR aus Uruguay hatte das erste Radioforum Europas angeregt, und so trafen sich in Wien RadiomacherInnen aus ganz Europa und Lateinamerika und produzierten gemeinsam über neun Stunden Programm jeden Tag.
Mit dabei war auch das Radioprojekt Onda vom Nachrichtenpool Lateinamerika. Aus der Vielzahl der Interviews, Mitschnitte und Diskussionen, die auf dem Alternativgipfel aufgenommen wurden, hat Onda nun eine CD zusammengestellt. Acht Beiträge behandeln je einen thematischen Schwerpunkt des Gipfels, von Biopiraterie bis Militarisierung, Wasserprivatisierung bis Ernährungssicherheit. Zu Beginn wird der aktuelle Stand der Beziehungen EU-Lateinamerika analysiert. Anschließend wird gezeigt, wie diese sich in verschiedenen Bereichen auf die Betroffenen auswirken. Die Landfrage, die Arbeitsbedingungen von Frauen in den Maquilas, Wasserprivatisierung oder der Goldabbau werden in kurzen, prägnanten Beiträgen auch themenfernen HörerInnen verständlich gemacht. Und sie lassen dabei auch viele zu Wort kommen, die sonst wenig Gelegenheit haben, ihre Sicht der Dinge zu schildern. Wie Aide Silva.

Radio Onda: Wandel statt Almosen, CD, 75 min. gegen eine Schutzgebühr von 3 € zu erwerben bei Nachrichtenpool Lateinamerika, Köpenicker Str.187/188, 10997 Berlin, www.npla.de

Zurück zur Basis?

Am 11. September 2006 war es endlich so weit: 21 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur wurden acht Militärs und Angehörige der Polizei wegen Folter, Mord und „Verschwindenlassen“ verurteilt und inhaftiert. Bis dahin lebten die Offiziere unbehelligt im Land. Sie wurden von konservativen Regierungen gedeckt, jede Anzeige gegen sie wurde abgelehnt und archiviert. Uruguay als Paradies der Straflosigkeit gehört damit endgültig der Vergangenheit an und ein Anfang zur Bewältigung der Diktatur von 1973 bis 1985 ist gemacht. Die Gewerkschaften gingen gleich weiter in die Offensive. Zwei Tage nach der Inhaftierung der Militärs startete der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT eine Kampagne zur Annullierung des Gesetzes über die Straflosigkeit. Obwohl sich im April 1989 die Bevölkerung (noch unter dem Eindruck der Diktatur, die 40.000 Menschen inhaftierte und 200 Menschen „verschwinden“ ließ) in einem Referendum mit knapper Mehrheit für die Straflosigkeit ausgesprochen hatte, soll die Regierung der Frente Amplio (FA) mit ihrer Mehrheit in beiden Parlamentskammern dazu gedrängt werden, das Gesetz zu kippen. Das entscheidende Argument: die Straflosigkeit widerspricht den internationalen Menschenrechtsabkommen, die auch Uruguay unterschrieben hat.

Ausgesetzte Verhandlungen

Eine weitere, wegweisende politische Entscheidung fiel ebenfalls im September. Der sozialistische Präsident Tabaré Vázquez setzte die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen (TLC – Tratado de Libre Comercio) mit den USA aus. Vor allem sein mächtiger Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori hatte sich vehement für das Abkommen eingesetzt. Er verspricht sich davon Exportvergünstigungen für landwirtschaftliche Produkte und mehr ausländische Direktinvestitionen. Die Einschätzung vieler Mitglieder der Frente Amplio – so u.a. der KommunistInnen, Teile der SozialistInnen, der Mehrheit des Movimiento de Participación Popular (Bewegung der Bürgerbeteiligung, MPP) – ist allerdings, dass mit dem Aussetzen der Gespräche nur eine Schlacht gegen den Astori-Sektor gewonnen wurde, aber es noch lange keinen Politikwechsel im Wirtschafts- und Finanzministerium gibt.
Astori hat mittlerweile jedoch einiges wegstecken müssen. Er scheiterte mit seiner Weigerung, 4,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes innerhalb von fünf Jahren für Bildung und Erziehung auszugeben (eines der wichtigsten Wahlversprechen der Linken) am Machtwort des Präsidenten. Weiter liegt er im Dauerclinch mit dem von der MPP gestellten Landwirtschaftsminister José „Pepe“ Mujica, der die kleinen und mittleren Agrarbetriebe entschulden will, um ihnen so nach der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2002 bis 2004 einen Neuanfang zu ermöglichen. Etwas was von Astori strikt abgelehnt wird, da sein vorrangiges Interesse die rechtzeitige Bedienung der Auslandsschulden ist. Die Logik der eher wirtschaftsliberalen Ausrichtung der Politik ist nicht gebrochen: Aber, nachdem sie anderthalb Jahre nahezu paralysiert waren, gewinnen die KritikerInnen ihre Stimme zurück.
Über die Motive des Präsidenten wird viel spekuliert. Mitentscheidend für das Ende der Verhandlungen war sicher die Einsicht, dass „ein größerer und besserer Mercosur“ und gleichzeitig ein TLC mit den USA nicht zu vereinbaren sind. Allzu offensichtlich war, dass das Interesse der USA an einem Freihandelsabkommen mit Uruguay weniger ökonomischer denn vielmehr politischer Natur ist. Der Bush-Administration ging es nach Einschätzung vieler KritikerInnen des TLC darum, nach dem faktischen Scheitern des ALCA-Projektes einen Keil in den (immer schon ungeliebten) Mercosur zu treiben. Erst recht, nachdem im Dezember 2005 Venezuela als Vollmitglied aufgenommen wurde.
Aber es war auch wohl der Druck aus Brasilien, Argentinien und Venezuela, der Vázquez zum Rückzug zwang. Der brasilianische Außenminister drohte Mitte 2006 Uruguay offen den Rauswurf aus dem Wirtschaftsbündnis an. Hugo Chávez distanzierte sich im Laufe des Jahres merklich von seinem „Freund“ Tabaré. Und nicht zuletzt: bei einem Durchpeitschen des TLC durch Teile der Regierung mit Hilfe der konservativen Opposition hätte die endgültige Spaltung der FA gedroht.

Kein Freihandelsabkommen mit den USA

Insofern erinnerte sich der Präsident an eines seiner Versprechen, mit denen er die Präsidentschaftswahl 2004 gewonnen hatte. Jedoch ging bei der Entscheidung, die TLC-Verhandlungen auszusetzen unter, dass sie lediglich wiedergibt, was alle Gremien der FA seit Jahr und Tag beschlossen hatten und was bei ihrer letzten Nationalversammlung Mitte 2006 mit übergroßer Mehrheit noch einmal klargestellt wurde: Kein Freihandelsabkommen mit den USA.
Auch beim Konflikt um die Errichtung von zwei Zellulose-Fabriken am Flussufer des Río Uruguay hat sich das Gewicht leicht verschoben. Die KritikerInnen haben Boden gut gemacht, weil eingetreten ist, was von den GegnerInnen der Mega-Projekte vorausgesagt wurde. So hat die finnische Botnia-Gruppe angekündigt, dass ausländische Fachleute ins Land kommen werden, um die Fabrik zu betreiben. Die Nachricht führte dazu, dass die ArbeiterInnen auf der Botnia-Baustelle im September in den Streik getreten sind. Botnia errichtet gegenwärtig an der Mündung des Río Uruguay in den Río de la Plata die größte Zellulose-Fabrik der Welt.
Bei der zweiten Fabrik, die vom spanischen ENCE-Konzern gebaut werden sollte, herrscht derweil ein Baustopp. ENCE prüft gegenwärtig eine Verlegung der Fabrik in den Norden des Landes. Gerüchte über den Rückzug des Multis machen bereits die Runde und es wird über den Einfluss der argentinischen Regierung auf internationale Kreditgeber spekuliert. Zudem gibt es Anzeichen, dass sich die Debatte, die Ende 2005/Anfang 2006 auf einem inhaltlich erschreckend tiefen Niveau und in einem nationalistisch aufgeheizten Klima stattfand, versachlicht.
Mittlerweile wird aber auch in der uruguayischen Öffentlichkeit über das Pro und Contra der Zellulose-Fabriken diskutiert. Unter anderem über die Frage, warum die Regierung bei ihrer Steuerreform plant, die Forstwirtschaftsbetriebe – in ihrer Mehrheit im Besitz multinationaler Konzerne – von allen Steuerzahlungen zu befreien, während die kleinen und mittleren nationalen Agrarbetriebe keine Steuererleichterungen erhalten. War es vor Jahresfrist noch eine verschwindend kleine Minderheit aus ökologischen Gruppen und Vereinigungen von Kleinbauern und -bäuerinnen in den betroffenen Provinzen, die sich gegen die sowohl ökonomisch als auch ökologisch umstrittenen Projekte stellte, so sind nach den Erfahrungen der letzten Monate auch die Gewerkschaften skeptischer geworden.
Und auch ein neuer „heißer Sommer“ wird kommen. Es wird erwartet, dass die UmweltaktivistInnen auf der argentinischen Seite des Río de la Plata mit Beginn der Tourismus-Saison ab Mitte Dezember ihre Blockaden der Grenzbrücken von Argentinien nach Uruguay wieder aufnehmen, um gegen die Fabriken zu protestieren.
Auch wenn es vielen KritikerInnen nicht schnell genug geht, die Frente Amplio-Regierung kann nach gut anderthalb Jahren Amtszeit durchaus Erfolge vorweisen.

Sichtbare Erfolge

Es wird verstärkt in alternative Energien investiert. Es gibt endlich wieder öffentliche Investitionen. 2005 wurde ein Wirtschaftswachstum von sieben Prozent erreicht. Die Exporte stiegen um 17 Prozent, es gibt einen Außenhandelsüberschuss (unter anderem bedingt durch die erhöhte Nachfrage nach Fleischprodukten weltweit) und die Verschuldung wurde abgebaut. Die ausländischen Direktinvestitionen verdoppelten sich im Vergleich zu 2004. Ein Großteil dieser Summe geht allerdings auf das Konto der Zellulose-Multis.
Paritätisch besetzte Tarifkommissionen wurden gesetzlich festgeschrieben. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen und liegt heute auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze ist stark angestiegen. Der Mindestlohn hat sich seit Dezember 2004 verdreifacht und die Reallöhne stiegen um drei Prozent. Rund 80.000 Haushalte profitieren von den verschiedenen Programmen des neu eingerichteten Sozialministeriums und der Bildungsetat soll schrittweise bis 2009 auf 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht werden.
Lange Zeit hatte es jedoch danach ausgesehen, als würde sich die Regierung von Tabaré Vázquez verselbständigen und ihren Kontakt zur Basis verlieren. Doch die lokalen Komitees und Gruppen der einzelnen Parteien und Organisationen der Frente Amplio-Koalition haben wieder an Stärke und Einfluss gewonnen.

Zurück zu den Wurzeln?

Ein Zurück-zur-Basis gibt es vor allem bei der stärksten „Partei“ in der Breiten Front, dem MPP. Nach knapp zwanzig Monaten Regierungsbeteiligung steht das MPP vor der Zerreißprobe. Im September hatte die Mehrheit bei der Delegiertenversammlung kein Verständnis mehr für die Positionen einiger einflussreicher MPP-PolitikerInnen. Das bekam vor allem einer der legendären Gründer der Partei, der ehemalige Tupamaro und heutige einflussreiche Senator Eleuterio Fernández Huidobro zu spüren. „Wir wurden auf der ganzen Linie besiegt“, so sein Resümee, nachdem der von ihm geführte Sektor der „Institutionalisten“ bei den internen Wahlen der Bewegung vom 17. September 2006 abgestraft wurde.
Damit haben die regierungsnahen PragmatikerInnen um Huidobro, die sich gegen die Aufhebung der Amnestiegesetze für die Verbrechen während der Militärdiktatur stellen und die das TLC mit den USA und den wachsenden Einfluss der multinationalen Zellulose-Konzerne befürworten, einen kräftigen Dämpfer erhalten. Eine wesentliche Verschiebung der MPP-Politik, die auch direkte Auswirkungen auf die Regierungspolitik haben kann. Das befürchten die einen und hoffen die anderen in der Frente Amplio-Koalition.

Der Kondor zieht weiter

Die Erinnerungen an die Zeit des Stroessner-Regimes lassen Martín Almada nicht los. Von 1974 bis 1977 wurde er in einem geheimen Folterzentrum des Landes gefangen gehalten. Wenige Monate nach seiner Verschleppung ermordete die Geheimpolizei seine Ehefrau Celestina Perez. Nach seiner Freilassung ging Almada ins Exil nach Frankreich. Von dort aus verschaffte er sich interne Dokumente der paraguayischen Polizei, die entscheidende Informationen über Aufbau und Struktur der geheimen „Operation Kondor“ lieferten, jener Militäroperation, die sich auch gegen ihn und seine Frau richtete. Heute, 14 Jahre nach der Entdeckung der Archive, sind zahllose Einzelheiten über die „Operation Kondor“ bekannt. In einigen Nachbarländern werden die Verantwortlichen nach und nach zur Rechenschaft gezogen. Allein in Paraguay sitzt bislang kein einziger Täter hinter Gittern. Dennoch konnten mit Hilfe der Archive erste bescheidene Erfolge im Kampf gegen Straflosigkeit verzeichnet werden.

Grenzenlose Repression

Die „Operation Kondor“, initiiert und geleitet von der chilenischen Geheimpolizei DINA, stand für den grenzübergreifend organisierten Staatsterrorismus der Militärdiktaturen der Länder Argentinien, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Ihren höchsten Aktionsgrad erreichte die Operation nach dem Militärputsch in Argentinien im Jahre 1976. Ziel der Zusammenarbeit war, die Repression über die Landesgrenzen hinweg zu ermöglichen. Politische Flüchtlinge konnten so über die Grenzen der Nachbarstaaten hinaus verfolgt, verhört und gefoltert werden. Die Anzahl der Opfer der „Operation Kondor“ konnte nie genau beziffert werden. In der gesamten Region wurden mehr als 40.000 Personen entführt und getötet. Da viele Fälle bis heute nicht aufgeklärt sind, werden sie meist als desaparecid@s (Verschwundene) bezeichnet. Einige hundert Kinder dieser desaparecid@s wurden damals von den Entführern ihrer Eltern adoptiert und wissen größtenteils bis heute nichts von ihrer Herkunft.
Zwar waren Ausrichtung und Umfang der „Operation Kondor“ im Grundsatz bekannt, für juristische Verfahren fehlten jedoch jahrzehntelang stichhaltige Beweise für die Geheimdienstoperationen.

Erdrückende Beweislast

Nachdem Martin Almada 1989 aus dem Exil zurückkehrte bekam er einen anonymen Anruf, der ihm den entscheidenden Hinweis auf eine Polizeistation in Lambaré brachte. In einem Hinterzimmer entdeckte er ein umfassendes Archiv der Geheimpolizei, das nicht nur die Akten der Gefangenen, sondern auch die Tonaufzeichnungen der Folterverhöre, die Namen der Täter und den internationalen Schriftwechsel der Geheimoperation enthielt. Seitdem konnte Almada weitere Teilarchive ausfindig machen und sicherstellen. Einige der jüngeren Dokumente belegen, dass selbst nach dem Sturz Stroessners die Überwachung von Oppositionellen grenzüberschreitend fortgeführt wurde. Dieses Datenmaterial ist heute unter dem Namen „Archiv des Terrors“ im Justizpalast in Asunción zusammengeführt und öffentlich zugänglich.
Für die juristischen Kampagnen gegen die Straflosigkeit in den Ländern der „Operation Condor“ war der Fund dieser Archive ein Meilenstein. Es waren vor allem die Dokumente der „Archive des Terrors“, die im Jahr 1999 in der Anklageschrift gegen den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet als Beweise angeführt wurden. Auch in Argentinien stützen sich die Anklagen maßgeblich auf die Beweismittel aus Asunción.
Auch der Kampf der Zivilgesellschaft für eine gerechte Bestrafung der Menschenrechtsverbrechen erfuhr durch den Fund der Archive einen entscheidenden Anstoß. 1994 wurde die paraguayische Zweigstelle der Amerikanischen Juristenvereinigung gegründet, die eine Reihe symbolischer Tribunale gegen hochrangige Militärs organisierte. Begonnen wurde mit Stroessners Polizeichef General Ramon Duarte Vera, der als Cheffolterer des Regimes galt. Das Tribunal befand ihn für schuldig. Die Beweislast war so erdrückend, dass er anschließend vor ein offizielles Gericht gestellt wurde, das ihn zu 13 Jahren Haft verurteilte. Doch erkannte er das Urteil nie an und ging immer wieder mit dem Argument in Berufung, dass die Verbrechen bereits verjährt seien. Auf ähnliche Weise wurde General Guanes Serrano, vormals Chef der Armee und des militärischen Geheimdienstes, posthum schuldig gesprochen.

Mühen der Anklagen

Bereits 1990 reichte Martin Almada eine Klage gegen den Ex-Diktator Alfredo Stroessner und General Fretes Davalos ein. Letzterer war unter Stroessner Oberster Befehlshaber der Armee und wird in den Archivdokumenten unter dem Decknamen „Kondor Nr. 1“ geführt. Die Klage behandelt zum einen die Ermordung von Almadas Ehefrau Celestina Perez, sowie seine eigene Gefangenschaft, die erlittene Folter und die unrechtmäßige Konfiszierung seines Eigentums. Darüber hinaus klagt Almada gegen die Verantwortlichen des Verschwindenlassens anhand konkreter Fälle. Das Verfahren stagnierte, bis sich vor einigen Jahren der Untersuchungsrichter Santander Dans des Falles annahm. Santander Dans beschäftigt sich mit weiteren Fällen von Folter, Verschwindenlassen und Korruption, die sich neben Stroessner und Davalos auch gegen etwa 30 weitere Militärs richten. Im April vergangenen Jahres stellte Richter Santander mit General Davalos erstmals ein ranghohes Mitglied der Militärdiktatur unter Hausarrest.
Trotz dieser jüngsten Entwicklungen bleibt die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Paraguay noch immer ein schweres Unterfangen. Dabei gibt es weder Amnestieregelungen noch Schlusspunktgesetze, keine Immunität oder sonstige Schutzmechanismen, die den Tätern in Nachbarländern ihre Straffreiheit sichern. „Und dennoch ist die Straflosigkeit perfekt“, empört sich die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Maria Stella Caceres. Gemeinsam mit Almada eröffnete sie kürzlich ein „Museum für Erinnerung“ in einem ehemaligen geheimen Haftlager im Zentrum von Asunción.
Als im Oktober 2003 per Gesetz die Einrichtung der „Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit“ beschlossen wurde, waren die Erwartungen hoch. Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen hatten lange für einen solchen Schritt gekämpft. Das Mandat der Kommission ist es, eine Grundlage für die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit zu schaffen. Die Verbrechen, die sie untersucht, erstrecken sich von Haft und Folter über das Verschwindenlassen Oppositioneller. Im Gegensatz ähnlichen Kommissionen in Nachbarländern ist der Handlungsspielraum der Kommission qualitativ kaum eingeschränkt. So ist es ihr beispielsweise erlaubt die Namen der Täter öffentlich zu nennen.

Unbegrenzter Wahrheitsanspruch

Da ihr allerdings sowohl die nötige Zeit als auch finanzielle und institutionelle Ressourcen fehlen, wird sie ihren Auftrag kaum erfüllen können: Innerhalb von 18 Monaten soll sie zwischen Mai 1954 und Oktober 2003 begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen. Derweil fehlt es an juristischen Mitteln, um Täteraussagen zu erzwingen. Für die Aufnahme von Zeugenaussagen gibt es zwar einige dezentrale Büros in Paraguay, doch reicht der Etat für die notwendigen Reisekosten der Kommissionsmitglieder nicht aus. Und auch im Exil lebende ParaguayerInnen können nicht angehört werden, da die Kommission nicht über die notwendige Infrastruktur verfügt. Lediglich in Buenos Aires, wo immer noch ein Großteil der paraguayischen ExilantInnen lebt, wird in diesem Sommer eine öffentliche Anhörung stattfinden wo Zeugenaussagen aufgenommen werden sollen.
Ein wesentliches Hemmnis für die Effektivität der Kommission sind ihre Mitglieder aus Regierungskreisen, denn die beteiligen sich kaum aktiv an der Aufdeckung der Menschenrechtsverbrechen. Alle Arbeit lastet folglich auf den VertreterInnen der NGOs, die mit hohem Einsatz versuchen einen Abschlussbericht zu verfassen. Ein solcher Bericht könnte für eine juristische Verfolgung der Täter von großer Bedeutung sein. Zur Zeit wird noch um eine Verlängerung ihres Mandates gerungen. Jedoch ist damit zu rechnen, dass sich die Kommission im August dieses Jahres auflösen muss. So weicht die anfängliche Hoffnung zunehmend den Zweifeln, ob die offizielle Politik überhaupt an den Arbeitsergebnissen interessiert ist und sie gebührend berücksichtigen wird. Schließlich wird die Regierung noch immer von den Colorados gestellt, der Partei der Militärdiktatur

Umsetzung lässt auf sich warten

„Die Verantwortlichen sind zum Teil noch heute auf Machtpositionen der Regierung, die sie vor einer Strafverfolgung schützen“, beklagt Carlos Portillo, Psychologe und Mitglied der Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit. „Sie verfügen nicht nur über die politische Macht, um das System am Laufen zu halten, durch die Profite, die sie im Rahmen der Militärdiktatur anhäufen konnten, haben sie auch die wirtschaftliche Macht.“ Auch Maria Stella Caceres bleibt angesichts der erhofften Konsequenzen der Kommissionsarbeit skeptisch: „Die Kommission hat eine öffentliche Debatte über die Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Jahrzehnte lanciert. Jetzt müssen andere Instrumente im Kampf gegen die Straflosigkeit die bestehenden Missstände aus dem Wege räumen.“
Menschrechtsorganisationen in Paraguay werden es weiterhin schwer haben, dem öffentlichen Desinteresse an den Verbrechen der Militärdiktatur und den Leiden der Opfer etwas entgegen zu setzen. Für einen erfolgreichen Kampf gegen die Straflosigkeit ist ein entsprechendes gesellschaftliches Bewusstsein von entscheidender Bedeutung. Das derzeitige politische Klima scheint solche Bemühungen nicht zu begünstigen. Entgegen bestehender Verfassungsbestimmungen versucht die Regierung derzeit die Macht der Exekutive sukzessive zu stärken: Präsident Nicanor plant die Beschränkung auf eine Amtszeit aufzuheben. Derweil bauen die USA ihre militärische Präsenz in Paraguay weiter aus. Diese Entwicklungen und die weiterhin funktionierende länderübergreifende Zusammenarbeit der Geheimdienste in Form von so genannten Sicherheitskonferenzen geben Anlass zur Beunruhigung. „Der Kondor setzt seinen Flug fort“, prognostiziert Martin Almada düster, und meint Vorboten eines Staatsterrorismus zu erkennen, wie er für die „Operation Kondor“ typisch war.

Für weitere Informationen siehe:
www.gerechtigkeit-heilt.de

Kein Dialog mehr zwischen Nachbarn

Néstor Kirchner blickte schelmisch in die Runde. „Ich habe damit nichts zu tun“, schien er sagen zu wollen. Hugo Chávez lachte, applaudierte und bekannte später: „Ich habe ihr einen Handkuss geschickt.“ Tony Blair war offensichtlich begeistert und sogar Tabaré Vázquez lächelte im ersten Moment. Zu sehr hatte er wohl seine Augen auf die Karnevalskönigin, die nur mit einem Bikini und hohen schwarzen Stiefeln bekleidet war, gerichtet und zu wenig auf das Plakat geachtet, das diese für wenige Sekunden über ihren Kopf hielt: „Basta de Papeleras contaminantes“ („Schluss mit Umwelt verschmutzenden Zellstofffabriken“) war darauf zu lesen, umgeben von einer uruguayischen und einer argentinischen Fahne, mit dem Greenpeace-Schriftzug versehen. Was durch Monate lang andauernde Proteste nicht gelungen war, erreichte die 25-jährige Evangelina Carrozo aus Gualeguaychú beim Gruppenfoto zum Abschluss des Gipfels der lateinamerikanischen und europäischen Staats- und Regierungschefs in Wien am 12. Mai 2006 in zehn Sekunden: Das Interesse der internationalen Medien auf die Krise zwischen Uruguay und Argentinien zu lenken. Diese hat die guten nachbarschaftlichen Bindungen zwischen den beiden Ländern und ihren Mitte-Links-Regierungen zerrüttet und stellt den Mercosur, das regionale Wirtschaftsbündnis im Süden Lateinamerikas, auf die Zerreißprobe.

Leere Versprechen

Die beiden Fabriken der spanischen ENCE-Gruppe (dem weltweit zweitgrößten Lieferant von Eukalyptus-Zellstoff) und des finnischen Botnia-Konzerns (der bisher fünf Zellstoffwerke in Finnland betreibt) sollen Ende 2007 ihren Betrieb im uruguayischen Fray Bentos am Río Uruguay aufnehmen. Der weltweit größte Komplex dieser Art wird pro Jahr 1,5 Millionen Tonnen (allein eine Million Tonnen in der Botnia-Anlage) gebleichten Eukalyptus-Zellstoff produzieren – für den Export nach Europa und China, wo der Rohstoff unter anderem zu Hygiene- und Büropapieren verarbeitet werden soll. Insgesamt 1,8 Milliarden US-Dollar sollen investiert werden, die höchsten ausländischen Direktinvestitionen in der Geschichte Uruguays. Bis zu 8.000 Arbeitsplätze werden von den Firmen versprochen. Für die KritikerInnen der Anlagen eine Fantasiezahl: Nach Abschluss der Konstruktion werden nur wenige Hunderte dauerhafter Arbeitsplätze geschaffen, hauptsächlich hochqualifizierte TechnikerInnen werden gebraucht. Und die Forstwirtschaft, die für den wirtschaftlichen Betrieb der Fabriken massiv ausgeweitet werden muss (für jede Tonne Zellstoff werden etwa drei Tonnen Holz benötigt), benötigt mit 4,4 Menschen pro 1.000 Hektar nur wenige Arbeitskräfte. Sogar die in Uruguay traditionell dominierende extensive Viehwirtschaft beschäftigt mit 5,8 Arbeitern auf 1.000 Hektar mehr Menschen. Für die Volkswirtschaft leisten die Fabriken auch keinen wesentlichen Beitrag. Sie werden in einer Freihandelszone gebaut, die ausländischen Firmen zahlen also keine Steuern und eine Weiterverarbeitung des Zellstoffs im Land ist nicht vorgesehen.

Grüne Wüsten und leere Brunnen

Negativ auswirken wird sich der Betrieb der Fabriken dagegen nach Ansicht von UmweltschützerInnen auf den Tourismus. Nicht nur die EinwohnerInnen der argentinischen Grenzstadt Gualeguaychú, die seit Monaten gegen die Projekte Sturm laufen, auch eine Minderheit der UruguayerInnen in der betroffenen Provinz Río Negro befürchten negative Auswirkungen für den Wirtschaftszweig, von dem auf beiden Seiten des Grenzflusses Río Uruguay Tausende von Arbeitsplätzen abhängen. Und die Forstwirtschaftsmonokulturen (hauptsächlich Eukalyptus-Plantagen), so genannte „Grünen Wüsten“, die sich schon auf über 7.000 Quadratkilometer im Land ausgebreitet haben (und die überwiegend im Besitz ausländischer Unternehmen sind), sind von ihrer Öko-Bilanz her eine Katastrophe. Vor allem was den Wasserverbrauch angeht. Schon jetzt – vor der Ausweitung der Plantagen – klagen Kleinbauern und -bäuerinnen über ausgetrocknete Brunnen. Zudem wird auch der fruchtbare Boden am Río de la Plata durch die extrem schnell wachsenden Bäume (Wachstumszeit zwischen sieben und zehn Jahren) ausgelaugt.
Obwohl sich Néstor Kirchner uneingeschränkt hinter den Protest in der argentinischen Provinz Entre Ríos stellt und die Missstände im eigenen Land zumindest anspricht („Beim Thema Ökologie haben wir für Jahrzehnte interne Probleme vor uns, die wir lösen müssen.“), ist die argentinische Regierung nur bedingt glaubwürdig, da sie gegen die mehr als zehn mit völlig veralteter Technologie arbeitenden Zellulose-Fabriken im eigenen Land wenig unternimmt. Außerdem wurde inzwischen bekannt, dass auch in Argentinien, sozusagen im Windschatten des Konflikts, Angebote von Botnia vorliegen, riesige Zellulosefabriken zu bauen.
Tabaré Vázquez hingegen beruft sich darauf, dass Uruguay im internationalen Umweltranking den dritten Platz weltweit einnimmt und beschwert sich darüber, dass die UruguayerInnen „zu Unrecht als UmweltverschmutzerInnen behandelt werden“. Dabei wirft niemand den UruguayerInnen vor, die Umwelt zu verschmutzen. Vielmehr wird den Konzernen unterstellt, dass sie die Zellstoffproduktion wegen zahlreicher Umweltskandale (wie zum Beispiel im galizischen Pontevedra, dem Heimatwerk der spanischen ENCE) aus Europa nach Lateinamerika verlagern wollen, wo sie weniger Widerstand erwarten. Aber die uruguayische Regierung hat die Ansiedlung der Fabriken zu einer Frage der nationalen Souveränität hochstilisiert, eine Sackgasse, aus der auf der politischen Ebene niemand mehr einen Ausweg zeigen kann.

Sackgasse Souveränität

Dabei hat Greenpeace schon Ende 2005 einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Die Fabriken könnten, weg von den Touristenzentren am Río Uruguay, weiter in Richtung Unterlauf des Flussdeltas Río de la Plata verlegt und sollten mit der modernsten Technologie ausgestattet werden, die ab 2007 in der Europäischen Union (EU) Pflicht ist. Ein weiterer Vorschlag: Eine bilaterale Kommission soll innerhalb von sechs Monaten Umweltstandards für alle Zellstofffabriken in beiden Ländern erarbeiten. Das alles ist aber für die Zellstoff-Multis, vor allem für die finnische Botnia, kein Thema. Diese Position der Stärke kann sich der Konzern wegen dem zwischen Uruguay (unter der Vorgängerregierung von Präsident Batlle) und Finnland abgeschlossenen Investitionsabkommen und wegen der Unterstützung der finnischen Regierung und der EU leisten. Botnia hat wenig zu befürchten, wenn es nach der Inbetriebnahme tatsächlich dazu kommen sollte, dass der Gestank unerträglich wird oder dass Giftstoffe wie Dioxin in die Umwelt gelangen (etwas, von dem unabhängige ExpertInnen wegen der Größe der Anlage überzeugt sind). Denn der uruguayische Staat hat sich gegenüber Finnland verpflichtet, alle Investoren für eventuelle Verluste zu entschädigen, die durch Proteste oder Demonstrationen entstehen könnten. Für Erkki Varis, den Präsidenten von Botnia, dann auch Grund genug einerseits zu unterstreichen, „Uruguay ist ein sehr gutes Land für Investitionen“ und andererseits in Richtung Argentinien zu hoffen, dass „auch Argentinien es in Zukunft sein wird“.

Klage in Den Haag

Argentinien hat am 5. Mai 2006 beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen seinen Nachbarn Uruguay wegen der Errichtung der beiden Zellulose-Fabriken eingereicht. Die Anzeige bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Punkte. Erstens wirft Argentinien Uruguay vor, das bilaterale Abkommen (Tratado del Río Uruguay) von 1975 verletzt zu haben. Dort ist geregelt, dass alle Entscheidungen, die den zum Hoheitsgebiet beider Länder gehörenden Fluss betreffen, in einem konsultativen Prozess im Vorfeld gemeinsam ausgearbeitet und getroffen werden müssen. Zweitens wird Uruguay vorgeworfen, den Schutz des Flusses nicht zu gewährleisten und die Rechte der EinwohnerInnen in der Region zu verletzen. Die ersten Stellungnahmen des Internationalen Gerichtshofes sind für Juli dieses Jahres zu erwarten. Vorher wird keine Entscheidung über den Baustopp getroffen werden. Die endgültige Entscheidung in Den Haag, die allerdings mehrere Jahre auf sich warten lassen wird, ist laut der Charta der Vereinten Nationen für beide Seiten verpflichtend.
Der Dialog zwischen den beiden Río de la Plata-Staaten ist mittlerweile komplett eingestellt. Für Tabaré Vázquez machen weitere Gespräche keinen Sinn: „Argentinien hat den Fall vor das Gericht in Den Haag gebracht. Über was sollen wir noch reden?“ Unter dem Druck der konservativen Opposition im Land und beunruhigt durch fallende Umfragewerte schließt der Sozialist einen Kompromiss kategorisch aus. „Die Schritte für uns sind: Erstens werden die Fabriken dort fertig gestellt, wo sie gerade gebaut werden, und zweitens mit der Technologie, die geplant ist. Weiter haben wir nichts zu sagen“, so Tabaré. Und sein Kollege Kirchner hält auch nichts mehr von Moderation. Ein erneutes Vermittlungsangebot von Brasilien und Venezuela wies er zuletzt bei seinem Treffen mit Lula da Silva, Hugo Chávez und Evo Morales im argentinischen Puerto Iguazú am 4. Mai 2006 vehement zurück. Über den unmittelbaren Konflikt hinaus wirkt sich der „Zellstoffkrieg“ am Río de la Plata auch auf die regionale Integration aus.

Uruguay strickt bilateral

Für Carlos „Chacho“ Alvarez, den Präsidenten der ständigen Kommission des Mercosur, steht das 1991 gegründete Bündnis an einem Scheideweg: „Entweder konstruieren wir ein gemeinsames politisches Subjekt, eine Gemeinschaft, oder es wird ein Alleingang gewählt, außerhalb des regionalen Bündnisses.“ Und an dieser individuellen Lösung ist die uruguayische Linksregierung am Stricken. Immer wahrscheinlicher wird ein bilaterales Investitionsabkommen mit den USA, zuletzt verhandelte Tabaré Vázquez im Mai in Washington mit der US-Regierung und der Weltbank über Details.
Viele BewohnerInnen der Region haben das Gefühl, dass bei all der nationalistischen Konfrontation die eigentlichen Kernpunkte auf der politischen Agenda Lateinamerikas untergehen. Linksintellektuelle UruguayerInnen bezeichnen die Krise als beispielhaft für das Versagen der linken Regierung von Präsident Tabaré Vázquez. Sie hatten sich mehr Unabhängigkeit von multinationalen Unternehmen, mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit erhofft. Jetzt werden sie mit kalter Realpolitik konfrontiert. „Warum“, fragen sie, „haben wir eigentlich links gewählt?“ Und es hat den Anschein, dass mehr denn je gilt: Jeder gegen Jeden – im Zweifel auch mit US-amerikanischer Unterstützung – obwohl es noch nie in der Geschichte Lateinamerikas eine so breite gemeinsame Basis für eine eigenständige, progressive Politik Lateinamerikas gab. Aber, wie der einflussreiche uruguayische Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori sekundiert: „Ich denke, wenn es um wirtschaftliche Themen geht, darf es keine ideologischen Zweifel geben.“

Eine im März 2006 zu dem Thema erschienene, circa 35-minütige DVD des argentinischen Videokollektivs Chaya Producciones mit dem Titel El Papel del Sur ist für 16 Euro (inkl. Porto und Verpackung) bei Stefan Thimmel (stefan.th@snafu.de) erhältlich.

Einheit auf dem Prüfstand

Eigentlich hätte es allen Grund zu einem ordentlichen Krach gegeben. Doch bei dem Energiegipfel im argentinischen Puerto de Iguazú am 4. Mai gaben sich die Staatspräsidenten Argentiniens, Brasiliens, Boliviens und Venezuelas alle Mühe, das zu demonstrieren, was man gemeinhin „Geschlossenheit“ nennt. Anstatt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, gaben sich Néstor Kirchner, Luiz Inácio Lula da Silva, Evo Morales und Hugo Chávez im Blitzlichtgewitter der FotografInnen die Hände. Dabei geht die Nationalisierung des bolivianischen Gases eindeutig gegen brasilianische Interessen: Brasiliens staatseigene Erdölgesellschaft Petrobras ist immerhin der größte Investor im Gassektor und das größte auf bolivianischem Terrain tätige Unternehmen. Es erwirtschaftet 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes des Landes. Etwa 1,5 Milliarden US-Dollar hat das Unternehmen dort investiert. Die Botschaft auf dem Gipfel sollte lauten, dass man trotz der Nationalisierung des bolivianischen Gases fest zusammensteht und weiter gewillt ist, an der Einheit Südamerikas zu arbeiten.
Doch mit der Einheit ist es nicht immer so weit her. Hugo Chávez verfolgt seine eigenen Integrationspläne, auch wenn dies zum Nachteil anderer Bündnisse geschieht. Vor gut einem Monat trat Venezuela aus der Andengemeinschaft (CAN) aus und begründete dies mit den Freihandelsverträgen, die die CAN-Mitglieder Peru und Kolumbien mit den USA unterzeichnet hatten. Chávez betrachtet diese Verträge als erste Schritte zur Verwirklichung der von den USA vorangetriebenen gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA.
Perus Präsident Alejandro Toledo, der noch bis zu den Wahlen im Juni amtiert, hatte zuvor mehrfach die „Einmischung“ des venezolanischen Präsidenten in die „inneren Angelegenheiten“ seines Staates kritisiert. Schließlich lässt dieser kaum eine Gelegenheit aus, sich für den nationalistischen Präsidentschaftskandidaten Ollanta Humala auszusprechen. Nachdem Chávez angekündigt hatte, im Falle eines Wahlsieges von Alan García die Beziehungen zu Peru abzubrechen, zog die peruanische Regierung Ende April ihren Botschafter aus Caracas ab.
Humala gewann die Unterstützung des venezolanischen Präsidenten, weil er Sympathie für dessen Integrationsvorhaben bekundet hat. Als Alternative zu ALCA propagiert Chávez das Projekt ALBA, die Bolivarianische Alternative für Amerika.
Chávez will damit solidarische Wirtschaftsbeziehungen fördern. Bestehende Ungleichheiten zwischen den Ländern sollen durch Kooperation gemindert werden. Bisher wurde ALBA oft als kaum ernst zu nehmende antiimperialistische Vision des venezolanischen Präsidenten abgetan, hatte doch außer dem kubanischen Staatspräsidenten Fidel Castro niemand ernsthaftes Interesse bezeugt.

Soja für Bildung

Doch in jüngster Zeit gewinnt ALBA an Kontur. So unterzeichnete Venezuela unter anderem Energieverträge mit einigen karibischen Ländern und mit linksregierten Gemeinden in Nicaragua und El Salvador (siehe LN 377, 383). Am 29. April traf sich Evo Morales mit Castro und Chávez in Kuba, wo er verkündete, sein Land werde als festes Mitglied ALBA beitreten. Mit dem Handelsvertrag der Völker unterzeichneten die drei Staatschefs das erste Abkommen des Integrationsbündnisses.
Dieser Vertrag sieht zunächst einmal die Eliminierung der Zölle im Warenverkehr zwischen den drei Ländern vor. Der ALBA-Ideologie folgend geht das Abkommen aber weit über einen gewöhnlichen Freihandelsvertrag hinaus. So wird Venezuela nun auch Bolivien mit Gütern wie Erdöl und Asphalt zu Vorzugspreisen beliefern. Darüber hinaus soll Bolivien insgesamt 130 Millionen US-Dollar zur Stärkung der Wirtschaft und für Sozialprogramme erhalten.
Andere Vereinbarungen des Abkommens betreffen die Gewährung von Stipendien für BolivianerInnen seitens der beiden anderen Vertragspartner. Kuba, das sonst wirtschaftlich nur wenig anzubieten hat, stellt außerdem ÄrztInnen und LehrerInnen bereit, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern und den Analphabetismus rasch zu beseitigen. Venezuela hat diese Herausforderung mit kubanischer Hilfe bereits im vergangenen Jahr gemeistert. Schon jetzt arbeiten 600 kubanische ÄrztInnen in Bolivien sowie über 20.000 in Venezuela.
Bolivien selbst wird mineralische Rohstoffe und Agrarprodukte liefern. Die von Venezuela und Kuba erhaltenen Güter und Dienstleistungen will Bolivien vor allem mit Soja bezahlen. Dies ist auch eine Reaktion auf den Freihandelsvertrag zwischen Kolumbien und den USA. Es ist abzusehen, dass Soja aus US-amerikanischer Produktion über kurz oder lang das bolivianische Soja vom kolumbianischen Markt verdrängen wird. Bislang ist Kolumbien der Hauptabnehmer bolivianischen Sojas.
Der Beitritt Boliviens zu ALBA hat vor allem auch eine politische Signalwirkung. Denn derzeit konkurrieren auf dem amerikanischen Kontinent mehrere Integrationsmodelle. Neben ALBA ist der gemeinsame südamerikanische Markt Mercosur eine potenzielle Alternative zum US-Freihandelsprojekt ALCA. Vollmitglieder des Mercosur sind bislang Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Venezuela ist im Januar dieses Jahres ebenfalls dem Bündnis beigetreten, allerdings noch nicht als stimmberechtigtes Mitglied. Die Mercosur-Staaten planen den Bau einer Gaspipeline von Venezuela nach Argentinien, mit der die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Kernregion des Mercosur – das Gebiet um den Río de la Plata und Südostbrasilien – und Venezuela verbessert werden sollen.

Stagnation im Mercosur

Doch trotz des Beitritts Venezuelas stagniert der Mercosur seit langem. Insbesondere die kleineren Staaten Paraguay und Uruguay bemängeln, dass ihre Interessen in dem Bündnis zu wenig berücksichtigt würden. Zwischen Argentinien und Uruguay tobt außerdem ein heftiger Streit wegen des geplanten Baus zweier Papierfabriken in Uruguay nahe der argentinischen Grenze. Auf der argentinischen Seite des Río de la Plata befürchtet man massive Umweltschäden (siehe Artikel in diesem Heft). Doch auch in Uruguay ist man mit der Entwicklung des Mercosur unzufrieden: Der uruguayische Präsident Tabaré Vazquez drohte wiederholt damit, das Bündnis zu verlassen, und mit den USA einen bilateralen Freihandelsvertrag zu schließen, sollte sich nichts an der Übermacht der großen Staaten ändern. Bislang profitiert vor allem die mit Abstand größte Wirtschaftsmacht Brasilien vom gemeinsamen Markt.

Abhängigkeit vom bolivianischen Gas

Doch nun wendet sich das Blatt, zumindest teilweise. Zwar deckt die Erdölproduktion Brasiliens den Eigenbedarf des Landes. Aber die größte Volkswirtschaft des Subkontinents ist von Gasreserven außerhalb ihrer Landesgrenzen abhängig. Insgesamt 50 Prozent des brasilianischen Erdgasbedarfs wird von Bolivien gedeckt. Im Bundesstaat São Paulo, der mit Abstand wichtigsten Industrieregion des Landes, sind es sogar über 70 Prozent. Die hegemonialen Ansprüche Brasiliens in Südamerika sind mit dieser Abhängigkeit schwer zu verwirklichen.
„Wer Krähen aufzieht, dem hacken sie bald die Augen aus“, meint Igor Gielow, ein Kommentator der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo. Er kritisiert Lulas Außenpolitik, die bislang sowohl Chávez als auch Morales gegenüber sehr freundlich gesinnt war. Tatsächlich versucht Lula die brasilianische Macht zu stärken, indem er sich als Vermittler zwischen den USA und der Troika Chávez, Morales und Castro darstellt. Nun aber fällt der ALBA-Block Lula in den Rücken, wie Gielow meint. „Das hat nichts mit verletztem Nationalstolz zu tun, sondern damit, geopolitische Realitäten anzuerkennen. Brasilien hat die Kontrolle in der Beziehung zu jenen benachbarten Staatsführern verloren, die es durch die Unterstützung überhaupt erst möglich gemacht hat“, schreibt Gielow. Ob sich die „Bolivienkrise“, wie die bolivianische Nationalisierung des Gases in brasilianischen Tageszeitungen genannt wird, auf die im Oktober stattfindenden Präsidentschaftswahlen auswirkt, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.
In den Verhandlungen setzt Staatspräsident Lula auf freundliche Verständigung mit Morales und Chávez. Die zukünftigen Preise für das bolivianische Gas müssten noch auf „demokratische Weise“ diskutiert werden, meinte Lula auf dem Gipfel in Puerto Iguazú mit Blick auf die bevorstehenden Verhandlungen. Eine Krise der regionalen Beziehungen wollte keiner der Anwesenden auf dem Gipfel wahrnehmen. Die Entscheidung Boliviens zur Nationalisierung sei das Recht eines souveränen Staates, hieß es. Außerdem wollten die Staatschefs an der geplanten Pipeline von Venezuela nach Argentinien festhalten. „Keiner der Präsidenten hier wird eine Entscheidung treffen, die die Integration Südamerikas und des Mercosur behindert“, sagte Lula. Wie diese Integration genau aussehen soll und ob sie noch funktioniert, wenn die Interessen der Staaten kollidieren, ließ er offen.

Good Cop, bad Cop

Wesentlich vehementer verteidigt dagegen der Präsident von Petrobras, José Sergio Gabrielli, die Interessen des Unternehmens, dem er vorsteht. Die Nationalisierung des bolivianischen Gases kritisierte er als „unilateralen“ und „unfreundlichen“ Akt, der zu „dramatischen Situationen“ führen könne. Er versprach in der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo eine „starke Reaktion“. Inzwischen hat Petrobras zwar die Forderung Boliviens akzeptiert, künftig 82 Prozent an Steuern und Abgaben für das Gas zu bezahlen. Doch kündigte das Unternehmen an, über den Endpreis des Gases noch hart verhandeln zu wollen. Auch verlangte Gabrielli eine „gerechte Entschädigung“ für die Verstaatlichung der zwei von Petrobras in Bolivien betriebenen Raffinerien. Brasiliens Anspruch auf die Führungsrolle auf dem Subkontinent ist jedenfalls in Frage gestellt.
Eindeutig gestärkt hingegen wird Hugo Chávez. Mit Morales hat er einen Verbündeten gefunden, der zwar keine Wirtschaftsmacht repräsentiert, mit dem er aber zusammen beinahe die gesamten Erdgasreserven Südamerikas kontrolliert. Chávez schickte bereits IngenieurInnen zur Unterstützung der staatlichen Erdölfirma Boliviens YPFB. Inzwischen arbeiten venezolanische Ingenieure an den Raffinerien, welche von der staatseigenen, brasilianischen Erdölfirma Petrobras aufgebaut worden waren. Das staatliche Erdölunternehmen Venezuelas PDVSA kündigte bereits an, massiv in den Gassektor in Bolivien zu investieren. Gönnerhaft verlangt das Unternehmen im Gegenzug nur fünf Prozent der Gewinne.
Obwohl PDVSA damit keine wirtschaftlichen Gewinne anstrebt, liegt diese Kooperation im Interesse Venezuelas. Schließlich handelt es sich um eine Investition in die Integrationspläne von Chávez. Völlig außen vor stehen indes die USA. Die vom US-Außenministerium angestrebte Isolation des venezolanischen Präsidenten rückt in immer weitere Ferne.

Mehr als leere Worte

Für Josephina Palattao hat sich die lange Anreise gelohnt. „33 Stunden war ich unterwegs“, sagt die Aktivistin des philippinischen Netzwerks Freedom from Debt Coalition, als sie mit Tausenden im Zentrum von Mexiko-Stadt gegen die Wasserprivatisierung demonstriert. „Die globale Bewegung blickt nach Lateinamerika, denn hier gibt es die meisten erfolgreichen Basisinitiativen.“ Die Erfahrungen aus Argentinien, Uruguay oder Bolivien möchte Palattao „mitnehmen und zu Hause diskutieren.“
Anlässlich des Weltwasserforums, das die Wasserlobby alle drei Jahre mit erheblichem Aufwand ausrichtet, bündelten sich die Debatten um das „Blaue Gold“ Mitte März in der mexikanischen Metropole. Basisgruppen trafen sich vorzugsweise zu Parallelveranstaltungen. Vor einem „Lateinamerikanischen Wassertribunal“ wurden 13 Konfliktfälle verhandelt, zum Beispiel die Privatisierung der Wasserversorgung in Bolivien.

Vom Aktivisten zum Minister
Der „Wasserkrieg“ von Cochabamba, mit dem sich die Bevölkerung bereits 2000 erfolgreich gegen den US-Multi Bechtel zu Wehr setzte, gilt bis heute als Fanal für WasseraktivistInnen in aller Welt. In La Paz und im angrenzenden El Alto hatten die Weltbank und weitere internationale Kreditgeber schon drei Jahre zuvor den Verkauf der städtischen Wasserwerke an ein privates Konsortium durchgesetzt, das der französischen Konzern Suez anführte. Doch die Ergebnisse waren mager: Trotz deutlich gestiegener Tarife blieben allein in El Alto 200.000 Menschen ohne Wasseranschluss. Im Tauziehen zwischen den Stadtteilkomitees aus El Alto und Suez zeigten indigene Protestbewegungen ihre Stärke: Im Januar 2005 zwangen sie Boliviens Regierung dazu, den Rückzug von Suez einzuleiten. Ein Jahr später, gleich nach seiner Amtseinführung als erster indigener Staatschef Boliviens, ernannte Evo Morales den damaligen Sprecher der Stadtteilinitiativen zum Wasserminister.
In Mexiko wurde Abel Mamani zum wohl meist beachteten Politiker: Der zierliche Mann mit den indigenen Gesichtszügen demonstrierte, beteiligte sich am Alternativforum „zur Verteidigung des Wassers“ ebenso wie an der Ministerkonferenz auf dem „offiziellen“ Forum, gab Pressekonferenzen und unzählige Interviews. Zusammen mit seinem venezolanischen Kollegen stellte er den Antrag, das Menschenrecht auf Wasser in die Ministererklärung aufzunehmen. Eine weitere Forderung von sozialen Bewegungen griff er ebenfalls auf: Wasser dürfe nicht Gegenstand von Freihandelsverträgen und von Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation sein, heißt es in dem Zusatz zur Ministererklärung, der auch noch von Kuba und Uruguay unterschrieben wurde.

Steter Tropfen
höhlt den Stein
Dass seinem Vorstoß nur ein symbolischer Erfolg beschieden war, nahm Mamani gelassen: „Vor vier, fünf Jahren war das Menschenrecht auf Wasser kaum ein Thema – jetzt steht es auf der Tagesordnung“, sagte der 39-Jährige. „Von Parlamentariern und Bürgermeistern bekamen wir viel Zuspruch. In den großen Reden führen alle das Wort ‚Menschenrecht’ im Munde, das habe ich in Mexiko bestimmt hundert Mal gehört. Warum taucht es nicht in der Ministererklärung auf? Anscheinend befürchten manche Regierungen, dass sie dann ihrer Verantwortung nachkommen und die Gemeinschaften dabei unterstützen müssten, an sauberes Wasser zu kommen.“ Einen Durchbruch erzielten Mamani und sein Team in Mexiko bei ihren Treffen mit der Weltbank: Kredite für einen öffentlichen Wasserbetrieb in La Paz und El Alto soll es jetzt doch geben, auch wenn private Firmen außen vor bleiben. Genau an diesem Punkt hatte sich letztes Jahr ein heftiger Streit zwischen den WasseraktivistInnen und deutschen Entwicklungsagenturen entzündet, die in der Wasserpolitik Boliviens eine Schlüsselrolle spielen. Die Experten der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beharrten auf einem „gemischten“ Betrieb für La Paz/El Alto und auf einem umstrittenen AG-Modell für Kleinstädte und ländliche Regionen. Doch mit Morales’ Wahlsieg hat sich das Blatt gewendet: Die lästigen KritikerInnen aus Cochabamba und El Alto sitzen nun in der Regierung. „Auch die Deutschen bewegen sich“, stellt Vizeminister René Orellana zufrieden fest. Mit Suez verhandelt Abel Mamani über die Übergangsmodalitäten hin zu einem öffentlichem Wasserbetrieb „mit sozialer Kontrolle.“ In Mexiko teilten ihm die französischen Wasser-Manager mit, sie seien an einer „gütlichen Einigung“ interessiert. Während Suez rund 25 Millionen US-Dollar Entschädigung verlangt, pocht Bolivien auf einen symbolischen Kaufpreis. Auch anderswo müssen sich europäische Wasserfirmen aus der Wasserversorgung zurückziehen: So in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires und im benachbarten Uruguay, wo seit einer Volksabstimmung im Oktober 2004 Wasser als Menschenrecht und Allgemeingut Verfassungsrang hat. Die schwierigste Aufgabe steht den Wasserkämpfern allerdings noch bevor: Effiziente Betriebe in öffentlicher Hand aufzubauen.

Die Mauer muss her

Als José Jalit Gonzalez in Veracruz von dem Zug absprang, wünschte er sich geradezu, dass die Polizei ihn festnehmen würde. Drei Tage hatte er sich an dem Eisengestänge der Güterwagen festgeklammert und gegen den Schlaf gekämpft. Seine Kleider waren zerrissen, die Schuhe hatte er verloren. Der 22-Jährige dachte an sein Zuhause in Nicaragua, die kleine Rinderfarm seines Vaters, die er einen Monat vorher verlassen hatte, um auszuwandern. Tausende von Dollar hatte er an die Fluchthelfer bezahlt, die ihn in die mexikanische Hafenstadt verfrachtet hatten, von der aus er mit Bussen zur US-Grenze weiterreisen wollte. Als die Polizei ihn in Puebla mit seinem falschen Visum verhaftete, versuchte José gar nicht mehr zu fliehen. Er war zu erschöpft.

Coyoten in der Wüste

Silvia Mercedes Rosa hatte schon eine längere Reise hinter sich, als sie in der Wüste von Arizona vor dem Güterwaggon stand, mit dem sie die letzte Etappe zurücklegen sollte. Sie blickte auf die Ladefläche. Sie war bis oben hin voll mit Kisten, die zur Decke kaum eine Armlänge Platz ließen. „Steig endlich ein, passiert schon nichts“, herrschte sie der „Coyote“ an. So werden die FluchthelferInnen genannt, die lateinamerikanische AuswandererInnen über die Grenze zwischen Mexiko und den USA schmuggeln. Silvia dachte an die Geschichten, die sie gehört hatte von EmigrantInnen, die in solchen Waggons erstickt waren. Doch sie dachte auch an den Weg, den sie zurückgelegt hatte. Sie hatte den Grenzfluss Rio Bravo auf einem Autoreifen überquert und war zehn Tage durch die Wüste in Arizona marschiert. Sie hatte einen Honduraner verdursten sehen. Es gab kein Zurück. Sie zwängte sich zwischen die Kisten. Sie hörte das Stöhnen der Mitreisenden. Mit einem trockenem Knall fiel die Tür zu.
Niemand kennt die genaue Zahl derer, die wie Silvia und José pro Jahr heimlich die Grenze ins vermeintliche Paradies überqueren wollen. 400.000 AuswandererInnen aus Lateinamerika hat die US-Grenzpolizei im Jahr 2005 festgenommen und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Wer es trotz der ständig schärfer werdenden Kontrollen schafft, hat meist einen Weg des Schreckens hinter sich. Für MittelamerikanerInnen beginnt dieser an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Die US-Migrationsbehörden haben ihre Kontrollen sozusagen um ein Land nach vorne verlegt, die mexikanischen Grenzposten im Bundesstaat Chiapas werden von US-GeheimdienstbeamtInnen unterstützt – und überwacht. Die eigentlichen Herren des Grenzgebietes jedoch sind die Maras, Jugendbanden, die in Mittelamerika Angst und Schrecken verbreiten und ganze Landstriche terrorisieren. Man erkennt sie an ihren Tätowierungen. Sie sind meist schwer bewaffnet, stehen unter Drogen und gehen mit äußerster Brutalität vor. Vor allem die Zugstrecke vom Bundesstaat Chiapas nach Veracruz sei fest in der Hand der Maras, berichtet die mexikanische Tageszeitung La Jornada. Wenn der Zug langsam fährt, springen die Tätowierten auf und rauben die MigrantInnen aus. Wer sich wehrt, wird vom Zug gestoßen. Viele sterben unter den Rädern oder werden grausam verstümmelt. José Jalit Gonzalez berichtet, wie er an der Strecke zwei abgetrennte Füße sah, die noch in den Schuhen steckten.
Geschätzte elf Millionen Menschen haben es trotz alledem ohne Papiere in die USA geschafft. Nach Recherchen der New Yorker Nichtregierungsorganisation Pew Hispanic Center sind zwei Drittel von ihnen Latin@s. Für konservative Republikaner im US-Kongress eindeutig zu viele. Die so genannten Social Conservatives sehen die Wirtschaft und die Sicherheit des Landes durch die Einwanderung bedroht. Sie behaupten, dass die illegal Eingewanderten den Einheimischen die Billigjobs wegnähmen.

Schlupflöcher stopfen

Deshalb wird derzeit in Washington über ein Gesetz gestritten, das die verbliebenen Schlupflöcher im Grenzzaun stopfen soll. Die befestigten Anlagen, der Berliner Mauer nicht unähnlich, sollen auf die gesamten 3.200 Kilometer Grenze ausgedehnt werden. Erwischte EinwandererInnen ohne Papiere sollen nicht zurück, sondern ins Gefängnis geschickt werden.
Im Herbst sind in den USA Gouverneurs- und Abgeordnetenwahlen, und die Republikaner bangen um die Stimmen ihrer konservativen Klientel. An der Grenze haben sich Bürgerwehren gebildet, die die Regierung der Untätigkeit bezichtigen. Die so genannten Minutemen machen in Texas und Arizona Jagd auf ImmigrantInnen.
Der Umgang mit Aufgegriffenen ist bereits jetzt so hart, dass die Aussenminister der zentralamerikanischen Staaten, Mexikos und Kolumbiens im Januar eine Protestadresse an die USA formulierten, ein ungewöhnlicher Schritt, denn normalerweise stehen die konservativen Regierungen dieser Länder treu zu Washington. Man solle die ImmigrantInnen nicht wie Kriminelle behandeln, es seien Menschen, die Familien hätten und nach einer besseren Zukunft suchten. Man solle sie nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen. Der Appell hatte jedoch nicht nur humanitäre Gründe. Mexikos angespannter Arbeitsmarkt etwa kann die eine Million junger Menschen nicht aufnehmen, die jährlich neu nach einem Job suchen. Noch schlimmer sieht es in den Staaten weiter südlich aus. Ein Viertel aller LateinamerikanerInnen lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. In Nicaragua, dem ärmsten Land spanischer Sprache, sind es sogar 80 Prozent. Im vergleichsweise reichen Costa Rica verdient eine Hausangestellte etwa 1700 Dollar im Jahr. Würde sie in die USA auswandern, könnte sie im Jahr 12.000 Dollar verdienen, so viel wie ein Rechtsanwalt in Chile und das Doppelte wie ein Taxifahrer in Uruguay. Selbst wenn sie keine Papiere hätte, könnten ihre Kinder in den USA zur Schule gehen, denn der staatliche Bildungsauftrag gilt dort auch für Illegale. Und sie könnte ihrer Familie Geld schicken. 45 Milliarden Dollar haben AuswandererInnen im Jahr 2005 nach Lateinamerika überwiesen. In Nicaragua ist das inzwischen die einzige Einnahmequelle für einen großen Teil der Bevölkerung. „Menschen sind unser wichtigstes Exportgut“, sagt der Journalist Douglas Carcache aus Managua, der ein Buch über die Auswanderung geschrieben hat.

Illegale Einwanderung amnestieren

Doch nicht nur in ihren Heimatländern, auch in den USA beleben die 50 Millionen dort lebenden Latin@s die Wirtschaft. Ihre Kaufkraft wird auf 700 Milliarden Dollar geschätzt. Zwei Millionen Betriebe hätten EinwandererInnen in den letzten Jahren gegründet, die 300 Milliarden Dollar im Jahr netto verdienten und anderthalb Millionen Jobs geschaffen hätten, meldet die hispanische Handelskammer in den USA. Wirtschaftsverbände weisen daraufhin, dass die nicaraguanischen Kindermädchen, mexikanischen ErntearbeiterInnen und honduranischen Müllfahrer gebraucht würden. Deswegen gibt es Bestrebungen liberaler Abgeordneter, illegale Einwanderung nachträglich zu amnestieren. Derzeit sind sie jedoch in der Minderheit.
Das beste Geschäft freilich machen die Schlepperbanden. Die US-Regierung schätzt ihre Einnahmen auf eine Milliarde Dollar im Jahr. Silvia Mercedes Rosa hatte ihrem „Coyoten“ 4500 Dollar gezahlt, die Ersparnisse eines Lebens. „Was sollte ich machen, ich muss vier Kinder ernähren, mein Mann ist arbeitslos“, sagt sie heute. Die 40-Jährige hoffte auf einen Job als Hausmädchen und wollte später ihre Familie nachholen. Als sie jedoch in der Wüste Arizonas in den Waggon kletterte, dachte sie, „ich werde meine Kinder nie wiedersehen“. Sie erinnert sich nicht, wie viel Zeit sie darin zubrachte, doch als die US-Migrationsbeamten den Waggon öffneten, war sie dem Ersticken nahe. Obwohl ihre Auswanderung damit gescheitert war, sei sie dankbar gewesen. „Die Posten haben mein Leben gerettet.“ In Abschiebehaft in San Antonio stellte sie fest, dass sie sogar Glück gehabt hatte. Die meisten Frauen, die mit ihr einsaßen, waren vergewaltigt worden, von den Coyoten, mexikanischen Grenzposten oder den Maras. Ärzte nahmen Reihenabtreibungen vor.
Fünf Monate nach ihrem Aufbruch in ein neues Leben ist Silvia Mercedes Rosa wieder in Nicaragua und verkauft nun abends Essen auf den Straßen von Leon. Es ist alles wie vorher. „Nur die 4500 Dollar sind weg“, sagt sie und weint.

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