Alle Jahre wieder

Zum Weltuntergang am 21. Dezember dieses Jahres werden die Außerirdischen ihr irdisches Quartier im Berg des südfranzösischen Bugarach verlassen und die reisewilligen Menschen mit auf ihren Trip zu neuem Leben in die unendlichen Weiten des Weltenraums nehmen. Die Unterkünfte in dem Dorf sind bereits ausgebucht. Ein extremes Beispiel für die apokalyptische Stimmung, die die Esoterikszene seit geraumer Zeit umtreibt. Grundlage dafür ist die Vollendung eines großen Zyklus des Mayakalenders zur Wintersonnenwende 2012. Über den gesamten amerikanischen Doppelkontinent werden sich besonders an archäologischen Stätten Esoteriker_innen, aber auch indigene Gruppen einfinden und das Ende eines Zeitalters und die Geburt einer neuen Sonne feiern. Von den Tälern der Atacama-Wüste in Nordchile über Machu Pichu in Peru bis nach Teotihuacan in Zentralmexiko wird dieses Datum festlich mit Musik und Tänzen, Gebeten und Gesängen begangen werden. Weiß gekleidete Pilger_innen aus aller Welt werden sich in den Tagen um die Wintersonnenwende an ausgewählten energetischen Orten einfinden, um dort vor den Pyramiden allerlei Rituale zu vollziehen und sich mit kosmischer Energie aufzuladen. Die Hände gen Himmel ein paar Worte Maya zu rezitieren erhöht die Wahrscheinlichkeit erhört zu werden, von wem auch immer. Wenn tausende weißgekleideter Menschen vor der Pyramide des Kukulkan in Chichen Itza die Arme heben und das Mayawort für Sonne K’iin in einem langgezogenen Summen anstimmen, dann ist das eine Erfahrung, die unter die Haut geht. So geschehen zur Tag- und Nachtgleiche bereits Mitte der 90er Jahre. Zur letzten Jahrtausendwende hatte der Besucherstrom zu den Pyramidenstätten der vorspanischen Kulturen einen neuen Höhepunkt erreicht. Zur Wintersonnenwende dieses Jahres wird ein neuer Besucher_innenrekord erwartet.
In Chichen Itza Yukatan wird vor der Pyramide des Kukulkan am 21. Dezember 2012 die Rückkehr der gefiederten Schlange erwartet. Sie war als Kulturbringerin einer der wichtigsten Götter des vorspanischen Mittelamerikas, ein göttlicher Priesterfürst in Chichen Itza. Nachdem er entmachtet worden war entschwand er nach Osten übers Meer, nicht ohne vorher seine glorreiche Rückkehr anzukündigen. Und so tauchen in Yukatan zunehmend langhaarige und eigenwillig gekleidete Menschen auf, mehr oder weniger unter Einfluss von begehrten psychoaktiven Stoffen, die sich für eine Verkörperung dieses vorspanischen Gottes halten.
Maßgeblich beigetragen zum esoterischen Hype um die Maya hatte die Veröffentlichung des Buches Der Maya Faktor im Jahr 1987, in dem der Autor José Argüelles die klassischen Maya aus der Zeit zwischen 300 n. Chr. bis 900 n. Chr. als galaktische Maya bezeichnete und ihnen tiefe Einsichten in die jenseitige Welt zuschrieb. Seitdem hat das Interesse an den vorspanischen Kulturen zugenommen und jedes Jahr treffen sich mehr Menschen zu astronomisch relevanten Daten an vorspanischen Pyramiden, um Sonne, Mond und Sterne zu preisen.
Noch vor einigen Jahren war in Südmexiko von diesem Datum keine Rede und das Kalendersystem der vorspanischen Maya war der indigenen Bevölkerung fast gänzlich unbekannt. Das hat sich zunehmend geändert, und seitdem das Jahr 2012 begonnen hat, ist das Datum in aller Munde. Die Maya von Yukatan leben zwar nach dem gregorianischen Kalender, praktizieren aber eine rituelle Praxis, die auf vorspanische Wurzeln zurückgeht. Nun wird dieses Datum in ihre rituelle Praxis integriert, wie Don Antonio Ximenez Mukul, Maya-Priester aus Maní beschreibt: „Wir werden auf die Isla Mujers fahren und dort an der Karibikküste dieses Datum begehen und die Neue Sonne Tumben K‘iin begrüßen“. Er ist der indigene Priester der ökumenischen Gruppe (Grupo Ecumenico de Teologia India Mayense), der auch Maya aus Guatemala und Tzotzil- und Tzeltalmaya aus Chiapas angehören, wie auch befreiungstheologisch orientierte katholische Priester.
Im Kalendersystem der klassischen Maya sind mehrere Zyklen miteinander verknüpft: Das Sonnenjahr mit zirka 365 Tagen – Haab genannt – wurde in 18 Monate à 20 Tage und einen zusätzlichen Monat von fünf Tagen unterteilt. Erstaunlicherweise weist auch unsere gelebte Jahreszeit des Gregorianischen Kalenders einen Zeitraum am Ende des Jahres von fünf Tagen auf, der gemeinhin als „Zwischen den Jahren“ bezeichnet wird. Bei den Maya hatte dieser kurze Monat von fünf Tagen den Namen Uayeb und einen unglücksbringenden Charakter, so dass, wie in kolonialen Quellen beschrieben, die Maya-Bevölkerung in dieser Zeit ungern das Haus verließ. Neben dem Sonnenjahr der Maya gab es den Orakel- und Horoskopkalender Tsolk‘iin mit 260 Tagen. Tsol heißt auf Maya aufreihen, abzählen und K‘iin bedeutet Tag. In diesem Zyklus wurden 13 Ziffern mit 20 Tageszeichen kombiniert, so dass nach 260 Tagen die Ausgangskombination wieder erreicht wurde. Mit dem Geburtsdatum im Tsolk‘iin bestimmten die Priester in der vorspanischen Vergangenheit und bestimmen die heutigen Ajq‘ij die individuellen Eigenschaften eines Kindes. Das ist plausibel, wenn mit den 260 Tagen die Zeit einer Schwangerschaft vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zur Geburt beschrieben wird.
Neben den vorspanischen Büchern der Maya sind heute zahlreiche Kalenderdaten in Stein gehauen überliefert. In diesen Inschriften kombinierten die absolutistischen Gott-Könige der Maya weltliche und diesseitige Ereignisse mit kosmischen Daten. Die Geburt von Jaguar-Schlange II. aus Palenque wurde zu Legitimationszwecken mit der Konjunktion von Mond, Mars, Jupiter und Saturn assoziiert und so seine Abstammung von den himmlischen Göttern legitimiert. Dafür wurde das eigentliche Geburtsdatum in den Inschriften auf den Tag der Planetenkonjuktion verschoben. Diese Inschriften beginnen mit einem Zeitpunkt, der von einem mythischen Nulldatum aus berechnet wurde, entsprechend unserem „nach Christi Geburt“. Im Gregorianischen Kalender fällt das mythische Nulldatum der Maya auf den 13. oder 11. August 3114 vor Christus. Von diesem Nulldatum aus gerechnet endet am 21. oder 23. Dezember 2012 der 13te große Zyklus eines Baktun.
Bis heute ist nur eine in Stein gehauene Inschrift bekannt, die sich auf das Datum 21.12.2012 bezieht. Es ist das Monument Nr.6 aus der archäologischen Tempelstadt Tortuguero in Mexiko. Sie beschreibt die Ankunft einer königlichen oder göttlichen Person mit dem Titel Bolon Yokte‘ Ku‘. Leider – oder sollte man sagen glücklicherweise – ist der Teil mit den Informationen zur Person Bolon Yokte‘ Ku‘ so stark beschädigt, dass den esoterischen Interpretationen freier Lauf gelassen werden kann. Bolon ist die Mayazahl Neun, und neun Schichten hatte die Unterwelt der vorspanischen Maya. Kannten die Maya also neun apokalyptische Reiter?
„Die zahlreichen Hurrikans der letzten Zeit, so viele und so starke hat es früher nicht gegeben“, sagt Don Antonio etwas nachdenklich. In der ökumenischen Gruppe, der er angehört, schaffen die Mitglieder als Reaktion auf gesellschaftliche Marginalisierung und Umweltzerstörung ein Pan-Mayabewusstsein, eine spirituelle Antwort zur gnadenlosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

Musik machen gegen den Hirnräuber

Draußen vor dem Gemeindehaus von Caacupé riecht es nach Grillfleisch und Feuer. Blauer Dunst hängt über der Villa 21-24, einem der Armenviertel von Buenos Aires. Aus den Häusern, die wie Schachteln übereinander gestapelt sind, dringen Cumbia-Klänge und Gesprächsfetzen. Drinnen im Hof des Kirchenhauses spielen ein paar Jugendliche Volleyball, mit einem quer gespannten Seil als Netz. „Wären sie nicht hier, würden sie jetzt Paco rauchen“, sagt Padre Toto. Er ist der Priester der Gemeinde Caacupé. Und er kennt den Paco. Seit dreizehn Jahren lebt er Tür an Tür mit ihm.
Der Paco, das ist Pasta Básica de Cocaina, Kokain-Basispaste, in Europa als Crack bekannt. Die südamerikanische Version der Droge kostet nicht viel, ein paar Pesos die Pfeifenfüllung. Denn sie ist mit Kerosin oder Putzmitteln gestreckt, oder mit gemahlenen Glassplittern. Wenn kein Tabak da ist, wird sie mit Stahlwolle geraucht, in einer kleinen Pfeife aus Korken, Blechdosen oder Aluminiumrohren, oder mit Marihuana gemischt. Der Rausch dauert nicht länger als ein paar Minuten, dafür ist das Herunterkommen umso härter: Depressionen und schmerzhafte Krämpfe wegen der giftigen Substanzen in dem Stoff. Nur der nächste Trip macht den Kater erträglich. Der Paco verursacht schwere Organ- und vor allem Hirnschäden. Er zerstört das gesamte Nervensystem. Doch die meisten Junkies sterben an Unterernährung, denn sie spüren keinen Hunger mehr. Und selbst wenn, sie könnten sich nichts zu essen kaufen, weil das Geld für den Stoff draufgeht. Die Abhängigen verkaufen ihre Kleidung und beklauen erst ihre eigenen Familien, dann andere, um die 100 bis 300 Dosen am Tag bezahlen zu können, die sie brauchen. Die Porteños wechseln die Straßenseite, wenn ihnen ein auffällig dünner Jugendlicher entgegenkommt, vor allem, wenn er dunkle Haut hat. Der latente Rassismus in Argentinien wird durch den Paco manifest.
Nach der Wirtschaftskrise 2001, sagt Padre Toto, sei der Konsum in den Villas Miserias enorm gestiegen. In einigen von ihnen leben heute doppelt so viele Menschen als noch im Jahr 2000. Trotz aller populistischen Worte: Die Ärmsten haben vom „argentinischen Wirtschaftswunder“ wenig gemerkt. Und das bewährteste Mittel gegen das Gefühl der Macht- und Perspektivlosigkeit ist immer noch der Rausch.
Padre Toto ist einer von denen, die den Sisyphuskampf gegen den Paco aufgenommen haben. In Jeans und Turnschuhen sitzt er in seinem Büro. Die Tür zum Hof, auf dem die Jungen Volleyball spielen, steht offen. An der Wand hängt neben dem Kreuz eine Karikatur von Padre Toto als Fußballspieler, gegenüber ein bunter Sombrero. Er bietet Mate an, während er über seine Arbeit berichtet. Über die Initiativen, die die Jugendlichen von der Straße und damit aus den Fängen des Paco holen sollen: eine weiterführende Schule, eine Berufsschule, Fußballgruppen, Gemeinschaftskantinen, Nachhilfeunterricht, eine Pfadfindergruppe, eine Musikschule. Etwa 1.000 Jugendliche, meint er, könnten sie damit erreichen. In der Villa 21-24 wohnen mehr als 45.000 Menschen, fast die Hälfte davon ist unter 30 Jahren alt. Wie viel die Prävention bringt, das sei schwer zu sagen, meint Padre Toto: „Es gibt kein Vorher-Nachher-Foto.“
Wegen restriktiver Gesetze zur Einfuhr von Chemikalien in Peru und Bolivien, die den Drogenhandel schwächen sollten, haben sich die Produktionsstätten nach Argentinien, Uruguay und Brasilien verlagert. Jetzt ist die Mafia direkt vor der Haustür und kann ihre Waren ohne größere Umwege an die Leute bringen. In den Villas Miserias von Buenos Aires wohnen Konsument_innen, Produzent_innen und Dealer_innen in unmittelbarer Nachbarschaft. Rund die Hälfte der jugendlichen Villa-Bewohner_innen, so wird geschätzt, raucht den ladrón de cerebros, wie sie ihn nennen, den Hirnräuber.
Die Villas von Buenos Aires sind Nicht-Orte. Kein Mittelschichts-Argentinier setzt seinen Fuß hier hinein. Auch nicht die Polizei. Bei googlemaps sind die Armenviertel weiße Flecken auf der Landkarte, und genauso werden sie von der Regierung behandelt. 2009 prangerte Padre Totos Vorgänger, Padre Pepe, das Drogenproblem in den Villas erstmals öffentlich an. Von der Regierung forderte er ein aktiveres Vorgehen. Kurz darauf erhielt er Morddrohungen von der Mafia. Heute lebt er ein paar tausend Kilometer weit weg im Norden Argentiniens. Padre Toto stellt bloß fest: „Wir sind keine Konkurrenz für den Paco.“ Über Probleme mit der Mafia mag er nicht reden.
Camila und Miriam proben heute für einen besonderen Anlass: Camila feiert bald ihren 15. Geburtstag, sie ist Quinceañera, in Lateinamerika ein symbolisches Alter für den Eintritt ins Erwachsenenleben. Es wird eine große Party geben, in einem Pavillon auf einem extra dafür angemieteten Grundstück, erzählt sie freudestrahlend, und natürlich werden sie und ihre dreizehnjährige Schwester vorsingen. Seit drei Jahren nehmen die beiden Gesangsunterricht in der Musikschule. Doch seit einem Jahr wohnen sie nicht mehr in der Villa. Eines Tages im Morgengrauen bekam die Familie Besuch von bewaffneten Schlägertypen, die ihnen mit Konsequenzen drohten, sollte der ältere Bruder tatsächlich aussteigen. Aussteigen aus dem Drogenhandel, das war damit gemeint. Meistens bedarf es keiner Drohungen. Die Jugendlichen in der Villa haben die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit, Kartonsammeln oder Drogen verticken. Letzteres ist bei weitem am lukrativsten, die Mafia zahlt gut. Von einem Tag auf den anderen zog Camilas Familie um. Der Bruder wurde dank der Kirche zum Entzug aufs Land geschickt – auch das ist Teil des Drogenpräventionsprogramms von Caacupé. Dort hat er Arbeit gefunden und eine Freundin, erzählt Camila, und die beiden kommen jetzt zu ihrem Geburtstagsfest. Santiago, der Lehrer, kommt herein und die Gesangsstunde fängt an. Begleitet von einem verstimmten Klavier üben Camila und Miriam die schwierigsten Parts der Lieder wieder und wieder. Es ist kühl im Klassenzimmer, es gibt keine Heizung. Während die Sonne untergeht, belebt sich die Straße draußen, die Cumbia-Klänge werden lauter. Ein Auto fährt vorbei, ein schwarzer, glänzender Mercedes, der hier in diesem Viertel wie von einem anderen Stern wirkt. Doch die Villeros gucken dem Auto nicht einmal hinterher. Die Mafia gehört zum Alltag.
Bei der kleinen Kapelle Jesus vive sind die Straßen eng, vom letzten Regen verschlammt und viel dunkler als beim großen, hell erleuchteten Gemeindehaus. Trotzdem spielen ein paar Dutzend Kinder Fußball, Erwachsene sitzen vor ihren Häusern und unterhalten sich. „Als wir hier vor ein paar Jahren anfingen, war es noch viel schlimmer“, erzählt Santiago, der Gesangslehrer und Gründer der Musikschule. „Noch viel marginalisierter und gefährlicher.“ Dann wurde die kleine Kapelle eröffnet, das gehörte zum Konzept des Padre Pepe: „öffentliche Räume schaffen, an denen sich die Menschen treffen können.“ Mit einem kleinen Chor begann Santiago damals. Er wuchs schnell: Jugendliche kamen, weil das Singen die Langeweile vertrieb, und sie brachten ihre kleinen Geschwister mit, damit die Mutter zu Hause ihre Ruhe habe. Die Tür zum Kirchenraum ist heute verschlossen, doch im Hinterhaus brennt Licht. Zwei Frauen sind am Aufräumen. „Cómo va? Wie gehts?“, fragt Santiago. „Schlecht, Professor, siehst du nicht?“, sagt Esther. „Schau, die Decke, die ist seit dem Sturm von neulich völlig marode, die kann jeden Moment einfallen, aber es würde 5.000 Pesos kosten, sie wieder zu reparieren. Wir können im Kirchenraum keine Gottesdienste mehr machen, das ist viel zu gefährlich!“
Aus Platzmangel zog der Chor in das größere Gemeindehaus. Dort gab es die nötigen Räume, Klassenzimmer für die verschiedenen Bildungsangebote. Nach und nach fand Santiago mehr Lehrer, und bald konnte er auch Klavier- und Gitarrenunterricht anbieten, Trommeln und Blasinstrumente. Auch eine Band gibt es. Die Musikschule ist kein Pflichtprogramm für die etwa 60 Schüler_innen zwischen fünf und 24 Jahren. Da ist keine ehrgeizige Mutter dahinter, die meint, es würde ihrem Sprössling gut tun, ein Instrument zu lernen. Die Schüler kommen freiwillig. Und manchmal auch auf eigene Faust. So wie die zehnjährige Bianca, die mit ihrer gelben Puppe im Arm plötzlich die Tür zum Klassenzimmer aufmacht und sich neben Santiago auf die Klavierbank setzt. Später wechselt sie ohne ein Wort zu sagen in den Keyboardunterricht nebenan, zu Jazmín, die hinterher begeistert auf Santiago einredet. Er solle die Mutter unbedingt dazu bewegen, Bianca regelmäßig zu bringen, sie habe ein erstaunliches Talent. Ob das was nützen wird, ist fraglich. Bianca ist allein hier, stellt sich heraus. Santiago muss sie nach dem Unterricht nach Hause fahren, damit sie nicht allein durch die dunklen Gassen läuft. Die Eltern kümmern sich offensichtlich nicht darum. „Drogenhändler, bestimmt“, sagt Santiago, auf deutsch, damit sie es nicht versteht. Er hat zwei Jahre Musik in Karlsruhe studiert.
Auf dem Rückweg zum Gemeindehaus erzählt er von einem kleinen Jungen, der von seinem Vater missbraucht wurde. Als die Mutter sich endlich dazu durchringen konnte, dem Priester davon zu erzählen, war die Familie am nächsten Tag verschwunden. Vermutlich auf dem Weg zurück nach Paraguay. Was tut man, um solche Geschichten auszuhalten? „Beten“, sagt Santiago. „Reden, mit den anderen, mit Padre Toto.“ Auch Jazmín erzählt verstörende Geschichten. „Letztes Jahr“, sagt die 25jährige Klavierlehrerin, „sahen wir aus dem Haus gegenüber eine Frau auf die Straße laufen, vermutlich eine Prostituierte, mit durchgeschnittener Kehle. Sie blutete wie ein Schwein. Doch da kam kein Krankenwagen, die trauen sich hier nicht rein. Höchstens mit einer Eskorte von vier Streifenwagen, aber wenn grad keine verfügbar sind, dann kommen sie eben nicht.“ Sie erzählt von einem Schüler, dessen Vater mit neun Schüssen im Körper tot in seinem Wagen gefunden wurde. Von dem Mädchen, das von ihrem Vater missbraucht wird, und der Mutter, die nichts dagegen tun kann. Dann sagt sie erschrocken: „Ich höre mich ziemlich abgebrüht an, oder?“ Und fügt entschuldigend hinzu: „Man gewöhnt sich daran, irgendwie.“ Jazmín kommt aus La Boca, einem anderen „marginalisierten“ Stadtteil von Buenos Aires. Sie kennt die Welt ihrer Schüler_innen. „Das Musikstudium hat mir Spaß gemacht, aber mich nicht ausgefüllt“, sagt sie. „Die Arbeit hier, die schafft das.“ Momentan studiert sie Soziologie, weil sie ein Werkzeug brauchte, wie sie sagt, mit dem sie diesen heftigen Geschichten begegnen kann. Wie die meisten der acht Lehrer, die außer Santiago alle nicht viel älter sind als sie, arbeitet sie ehrenamtlich in Caacupé. Santiago würde sie gerne bezahlen, aber dazu fehlt das Geld.
Die Musikschule ist Teil eines größeren Projekts, das von Padre Pepe gegründet wurde. Hogar de Cristo heißt es, und es zielt darauf ab, die Paco-Abhängigen wieder zurück zu holen in die Gesellschaft. „Der Paco ist das blutigste Gesicht der Ausgrenzung“, hat Padre Pepe einmal gesagt. In verschiedenen Stadtteilzentren werden die Abhängigen psychologisch und medizinisch versorgt. Und wenn sie soweit sind, werden sie zum Entzug auf kleine Farmen auf dem Land geschickt. „Den Sinn des Lebens wiederfinden“, so beschreibt Fabiola, worum es für die Abhängigen geht. Sie arbeitet als Freiwillige im Zentrum Padre Carlos Mugica in der Villa 31. Dort und auch in anderen Villas wurde das Programm von Padre Pepe übernommen. Und dort wie überall gibt es kaum Geld. Die Kirche gibt ein bisschen, das meiste kommt von privaten Spendern. Doch ohne die Kirche wäre gar nichts da. Dann könnte nicht einmal denen geholfen werden, die immerhin noch die Kraft haben, auf einen Ausweg zu hoffen.
Während die Musiklehrer auf Santiago warten, der oben noch die letzten Instrumente wegschließt, beendet Padre Toto nebenan in der Kapelle die tägliche Messe. Seine weiße Soutane hat er schon ausgezogen, als er herauskommt. Nun trägt er wieder Jeans und T-Shirt. „Alles gut, Schwester?“, fragt er, und gibt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange. „Ja“, sage ich. Aber das Lächeln will mir nicht so richtig gelingen.

Krieg bei Kerzenschein und aufgeschlitzte Hunde

Die persönlichen Schicksale der unterschiedlichen Protagonist_innen vermitteln ein Bild vom Peru und Lima des 20. Jahrhunderts und einer durch Militärdiktatur und Bürgerkrieg gezeichneten Gesellschaft bis hin zur Gegenwart. So begegnen wir einem jungen Mann mit Namen el Pintor (der Maler), der sein Kunststudium abgebrochen hat, um sein Leben einer kleinen Gruppe von Aufständischen zu widmen. In der Nacht des 28. Juli 1979 wird der Leser Zeuge des „ersten revolutionären Akts“, bei welchem Straßenhunde aufgeschlitzt werden, um sie, mit wütenden Slogans versehen, von Laternen baumeln zu lassen. Mit einfachen und präzisen Beschreibungen führt der Autor den rohen Fanatismus und die Wut vor Augen, lässt aber auch die Ängste des jungen Malers und seiner Mitstreiter_innen spüren. Vor dem Versagen, vor dem Fremdbestimmten, vor dem eigenen Land und Handeln. Klar blinkt in dieser Geschichte der Bezug zur Ära der linken Guerillagruppe Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) auf, die ab 1980 bürgerkriegsähnliche Zustände in Peru auslöste.
In der Erzählung Krieg bei Kerzenschein treffen wir auf den ehemaligen Guerillero Fernando, der trotz seines innigen Wunsches nach Normalität ständig von seiner politischen Vergangenheit heimgesucht wird. Gerade diese persönlichen Konflikte, die stets in gewissem Maße politisch geprägt sind, verleihen der Kurzprosa eine einnehmende Spannung. Dabei berühren vor allem die kleinen Momente, die den Kampf ums Leben und Überleben veranschaulichen. Zum Beispiel República und Grau erzählt vom zehnjährigen Maico, den sein Vater in Begleitung eines Blinden zum Betteln schickt und der den ganzen Tag an einer vielbefahrenen Kreuzung verbringen muss. Mit seiner anfänglich noch kindlichen Neugier und einem wachsamen Interesse erkennt er schnell die rauen Spielregeln, mit denen er auf seine ganz eigene Art und Weise umzugehen lernt.
In allen Erzählungen besteht ein Bezug zur Stadt Lima, die die Figur Óskar Uribe, der einen Artikel über die komischen Gestalten der Großstadt schreiben soll, in einem anderen Licht zu sehen beginnt: „Clowns. Nachdem ich begonnen hatte sie zu suchen, fand ich sie überall. Sie strukturierten für mich die Stadt (…). Sie kamen meiner Stimmung entgegen, verwandelten sie (…).” Und so sind alle Figuren der Erzählungen vielleicht selbst Clowns, die durch erzwungene Lügen ihr wahres Gesicht hinter einer Maske verbergen, zur Schau gestellt werden oder sich vor der ernüchternden Wirklichkeit verstecken.
Daniel Alarcón, der 1977 in Lima geboren wurde, verbrachte seine Kindheit ab dem dritten Lebensjahr in Birmingham (Alabama/USA). Mit 24 Jahren ging er nach Lima, um in einem Slum Fotografie zu unterrichten. Dort fand er die Inspirationen für seine Erzählungen. Er ist Mitherausgeber der in Lima erscheinenden Literaturzeitschrift Etiqueta Negra. Für seinen Debütroman Lost City Radio gewann er 2009 den internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin.

Daniel Alarcón // Stadt der Clowns. Erzählungen // Aus dem Englischen von Friederike Meltendorf // Verlag Klaus Wagenbach // Berlin 2012 // 192 Seiten // 18,90 Euro // www.wagenbach.de

Keine Kontaktaufnahme, bitte

Wie ist die Situation von unkontaktierten Indigenen im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet?
José Carlos Meirelles: Im Bundesstaat Acre an der Grenze zu Peru gibt es auf der brasilianischen Seite bereits verschiedene demarkierte, also staatlich anerkannte, indigene Territorien, auch von einigen unkontaktierten Gruppen. Auf peruanischer Seite sind die indigenen Gebiete ebenfalls als permanente Schutzgebiete ausgewiesen. Nun ist es so, dass in diesem Gebiet in den letzten Jahren auf peruanischer Seite ständig illegale Akteure eindringen: Holzfirmen, die ohne Genehmigung Mahagoni schlagen, und mehrere tausend illegale Goldwäscher. Durch die internationale Finanzkrise hat sich der Goldpreis fast verdreifacht – deshalb gibt es einen enormen Run auf das Gold. Und der peruanische Staat hat Konzessionen für die Ausbeutung von Erdöl und Erdgas fast überall in Amazonien erteilt, einschließlich für Territorien von kontaktierten und unkontaktierten Indigenen. Um das Bild zu vervollständigen: die Großproduktion von Kokain in Peru bewegt sich von den Kordilleren in diese Region an der Grenze zu Brasilien. Das alles hat die nichtkontaktierten Indigenen in die Migration geführt. Einige siedeln auf das brasilianische Territorium über.

Haben die Regierungen schon offiziell auf die Forderung nach einer binationalen Schutzzone reagiert?
JCM: Bis jetzt hat die peruanische Regierung noch nicht offiziell zu der Kampagne Stellung bezogen. Und dies, obwohl die indigenen Gruppen in Peru, die sich auch für die Unkontaktierten engagieren, ihre Regierung ständig unter Druck setzen, damit sie die ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Gruppen und andere unterzeichnete internationale Abkommen respektiert. Die Realität sieht durch die Menge an vorhandenem Mahagoni und Gold aber anders aus. Außerdem sind sie mit der Produktion von Kokain verbunden. Sie werden dazu benutzt, das Drogengeld zu waschen, es ist also sehr viel Geld im Spiel. Heute ist Peru der größte Produzent von Kokain weltweit, es hat Kolumbien überrundet. Der Gewinn aus der Kokainproduktion entspricht fast dem Bruttoinlandsprodukt von Peru, sie haben genauso viel Geld wie der Staat, sie sind ein Staat im Staat.

Wie viele indigene Gruppen leben in dem peruanisch-brasilianischen Grenzgebiet?
JCM: Auf der brasilianischen Seite wissen wir es genau: es sind vier unkontaktierte indigene Gruppen. Drei dieser Gruppen leben von der Landwirtschaft. Vom Umfang der Landwirtschaft können wir herleiten, wie viele Menschen es ungefähr sein müssen. Da sie mit niemandem Handel treiben, pflanzen sie nur das an, was sie essen. In allen vier Gruppen müssten ungefähr 800 Menschen leben, vielleicht auch nur 600, irgendwo dazwischen. Die vierte Gruppe sind Jäger und Sammler, da können wir es nicht schätzen. Auf der peruanischen Seite gehen wir von fünf bis sechs Gruppen aus. Ganz grob würde ich sagen, dass 2.000 unkontaktierte Indigene in der Region leben. Und dann gibt es noch 10.000 kontaktierte Indigene, die auch das Land nutzen. Aber es gibt viel mehr illegale Eindringlinge, rund 40.000.

Leben nur noch im Amazonasbecken unkontaktierte Gruppen?
JCM: In ganz Brasilien gibt es mit Sicherheit 30 isolierte Gruppen, denn diese wurden schon genau untersucht, ohne sie zu kontaktieren. Und es gibt Berichte über weitere 40 unkontaktierte Gruppen, die man verifizieren müsste.

Warum sollen isoliert lebende Indigene nicht kontaktiert werden?
JCM: Ich will das in wenigen Worten erklären. Von 1910, als der SPI, die Vorgängerorganisation der FUNAI, gegründet wurde, bis 1988, als die aktuelle Verfassung in Kraft trat, war die brasilianische Politik gegenüber Unkontaktierten folgende: die Grenze der Ausbeutung der Naturreserven schritt voran und wenn sie auf unkontaktierte Indigene gestoßen sind, dann haben sie zu diesen Kontakt aufgenommen. Zwischen 1987 und 1989 trafen sich verschiedene Leute, die mit Indigenen arbeiteten und stellten fest, dass es nur negative Geschichten über Kontaktaufnahmen gibt. Auch ich könnte keine positive Geschichte über die Kontaktaufnahmen erzählen, die ich gemacht habe. Wir haben dann eine Evaluation der registrierten, offiziellen Kontaktaufnahmen des brasilianischen Staates gemacht: binnen eines Jahres nach dem Kontakt waren in allen Fällen zwei Drittel der Kontaktierten gestorben.

Ist das vor allem auf Krankheiten zurückzuführen?
JCM: So ist es. Die unkontaktierten indigenen Gruppen haben keine Antikörper gegen Grippe, Masern oder Tuberkulose, also sterben sie daran. Ich niese einmal in einem isolierten Dorf und innerhalb von drei Tagen sind alle tot.Was haben wir also gemacht? Wenn ein Mitarbeiter der FUNAI heute isolierte Gruppen entdeckt, bestimmt er möglichst genau, wo ihr Territorium liegt, ohne sie zu kontaktieren. Anschließend präsentiert er die Ergebnisse dem brasilianischen Staat, dieser demarkiert das Gebiet, schützt es und zieht sich danach zurück. Die Möglichkeit der Kontaktaufnahme liegt dann bei den Indigenen. An dem Tag, an dem sie beschließen, uns zu zivilisieren, werden sie das tun [lacht]. Das ist die heutige Politik des brasilianischen Staates: er erkennt die Gruppen an, ohne sie kennenzulernen. Das war früher anders. Es gab also einen Paradigmenwechsel.

Sie würden also sagen, dass alle bisher unkontaktierten Indigenen freiwillig auf den Kontakt verzichten? In Europa ist unsere Vorstellung von isolierten Gruppen, dass sie gar nicht wissen, dass es „die Zivilisation“ gibt.
JCM: Alle indigenen Gruppen in Amazonien – und vermutlich auf der ganzen Welt – hatten eines Tages Kontakt mit uns. Als die Gummi-Industrie um 1900 in den Bundesstaat Acre kam, erschienen bald, so um 1905, die ersten Berichte über isolierte Gruppen. Diese Indigenen kennen uns schon sehr lange. Als sie uns zum ersten Mal trafen, versuchten sie, Kontakt aufzunehmen. Aber wenn ich dich zum ersten Mal zu Hause besuche und du auf mich schießt, werde ich dich sicher nie wieder besuchen!
Artur Figueira de Meirelles: Die indigenen Gruppen sind nicht gezwungen sich zu isolieren, sie wollen das so. Die Möglichkeit der Kontaktaufnahme liegt bei ihnen. Ihre Geschichte wird nicht schriftlich, sondern mündlich vom Vater an den Sohn weitergegeben, und so wird auch überliefert: „Vorsicht mit diesem Volk dort, sie töten uns.“
JCM: Dennoch nutzen sie die Vorzüge der Zivilisation. Wenn wir Luftaufnahmen von ihren Dörfern betrachten, sehen wir, dass sie Metalläxte benutzen, Macheten, und Kochtöpfe aus Metall. Wie kommen sie an diese Gerätschaften? Sie lassen sie irgendwo mitgehen. Sie hatten Steinäxte, Macheten aus Holz und Keramiktöpfe. Plötzlich taucht in ihrer Region ein Volk auf – wir – das Metalläxte besitzt, die tatsächlich Bäume fällen können, eine Machete, die sehr gut schneidet und magische Kochtöpfe, die auf die Erde fallen und nicht zerbrechen. Sie sind Menschen wie wir: wer will heute noch mit einer mechanischen Schreibmaschine schreiben? Niemand! Die Indigenen sind da nicht anders als wir! Sie wollen diese Dinge gern nutzen, nur möchten sie keinen Kontakt mit uns! Kulturen sind nicht statisch. Niemand will eine Glasglocke über diese indigenen Gemeinschaften stülpen und sie ins Museum verfrachten. Kulturen sind dynamisch, sie verändern sich, auch die indigenen Gemeinschaften. Selbst die Unkontaktierten.

2008 gab es den Vorwurf, dass Sie und die FUNAI bei einer gemeinsamen Kampagne mit „Survival International“ falsche Tatsachen verbreitet hätten – wie sehen Sie diese Vorwürfe heute?
JCM: Wir haben die unkontaktierten Indigenen viele Jahre lang geschützt und niemals hat irgendjemand auch nur ein einziges Foto gesehen. Aber als 2006 die Holzfäller, Goldschürfer und Kokainproduzenten einfielen, sagte der letzte peruanische Präsident Alan Garcia öffentlich, dass es in dieser Region keine einzige isoliert lebende indigene Gruppe gäbe. Dass dies ein Traum verrückter Umweltaktivisten sei. In Brasilien gab es zu der Zeit in anderen Regionen ebenfalls Probleme, verschiedene unkontaktierte Gruppen anerkennen zu lassen. Wir haben uns dann zusammengesetzt und gedacht, dass es an der Zeit wäre, einige dieser Fotos zu veröffentlichen. Denn diese indigenen Gruppen existieren! Als die Nachricht dann bei den Medien ankam – mein Gott – es hat nur noch gefehlt, dass mein Telefon geschmolzen wäre …

In einem Video sagen Sie, dass die unkontaktieren Indigen die letzen freien Völker dieser Erde seien. Ist das nicht eine Idealisierung?
JCM: Nun leben die Menschen, die Sie in dem Video gesehen haben, nicht ein bisschen anders als Sie? Ich weiß, dass es früher einen Wald gab, der sich von Russland bis Portugal erstreckte – wo ist er geblieben? Die Indigenen entdeckten eine Form des Lebens, die ein bisschen mehr mit dem Ort harmoniert, an dem sie leben. Ich würde aber auch nicht sagen, dass sie besser oder schlechter sind als wir. Sie haben sich einfach für eine andere Art zu leben entschieden. Und ich persönlich glaube, dass sie freier sind als wir. Ich habe seit 20 Jahren indigene Freunde und das Fundamentalste was sie mich gelehrt haben, ist folgendes: Sie wollten mich niemals verändern. Sie haben mich so akzeptiert, wie ich bin. Wir schaffen es nicht, dasselbe mit ihnen zu machen. Oder wie es einmal ein Journalist, dessen Namen ich leider gerade vergessen habe, formulierte: „Wir beurteilen Indigene immer nach dem, was sie nicht haben. Und niemals nach dem, was sie haben.“

Kasten:

José Carlos Meirelles und Artur Figueira de Meirelles

José Carlos Meirelles arbeitete 40 Jahre als Spezialist für in Isolation lebende oder kürzlich kontaktierte Indigene, in der brasilianischen Behörde FUNAI, deren Aufgabe der Schutz der indigenen Bevölkerung ist. Zurzeit beraten er und sein Sohn, Artur Figueira de Meirelles, die Regierung des Bundesstaates Acre zu indigenen Fragen. Ende Mai 2012 reisten sie auf Einladung der GfbV durch Europa, um auf die für indigene Gruppen besonders kritische Situation im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet aufmerksam zu machen.

// DOSSIER: EXTRAKTIVISMUS IN LATEINAMERIKA

 

Foto: Olmo Calvo Rodríguez von der argentinischen Kooperative Sub [Cooperativa de fotógrafos]
(Download des gesamten Dossiers)

Die Ausbeutung von Rohstoffen ist für Lateinamerika nichts Neues. Seit der Kolonisation wurde der Kontinent geplündert, die Gewinne flossen in den globalen Norden. Für die lokale Bevölkerung blieben hingegen Armut, Krankheiten und Umweltschäden. Die Geschichte der hemmungslosen Ausbeutung hat der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano in seinem 1971 erschienenen Standardwerk Die offenen Adern Lateinamerikas eindrücklich geschildert.

Seit ein paar Jahren nun wird nun unter dem Stichwort „Neuer Extraktivismus“ wieder zunehmend über die negativen Folgen der Rohstoffförderung debattiert. Extraktivismus bedeutet in diesem Zusammenhang eine auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für den Export ausgerichtete Entwicklungsstrategie. Die Koordinaten haben sich allerdings verschoben. Denn heute erhöhen in vielen Ländern Lateinamerikas (Mitte)-Linksregierungen die staatliche Kontrolle über die Rohstoffe. Dabei ist die globale Bedeutung Lateinamerikas in diesem Bereich deutlich gestiegen. Lag dessen Anteil am weltweiten Bergbau 1990 zum Beispiel noch bei zwölf Prozent, so betrug er 2009 bereits 35 Prozent. Eine offen neoliberale Bergbaupolitik verfolgen nur noch wenige Länder in Lateinamerika, darunter Chile und Kolumbien.

In Ländern wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador müssen transnationale Konzerne heute deutlich höhere Abgaben entrichten. Mit dem Geld werden unter anderem Sozialausgaben gesteigert, was vielerorts zu einem deutlichen Rückgang der Armut und einer Verbesserung des Zugangs zu Bildung und Gesundheitseinrichtungen geführt hat. Bolivien und Ecuador haben als gesellschaftliches Ziel in ihren neuen Verfassungen die Verwirklichung des „guten“ oder „erfüllten Lebens” (buen vivir) formuliert, das auf indigenen Wertvorstellungen basiert. Ecuador hat sogar Rechte der Natur in der Verfassung festgeschrieben. Doch jenseits von öko-sozialistischen Diskursen hat sich an der Fixierung auf Rohstoffexporte nichts geändert. Im Gegenteil nimmt deren Bedeutung als Devisenquelle mit steigenden Staatsausgaben zu.

Der Uruguayer Eduardo Gudynas vom Lateinamerikanischen Zentrum für Sozialökologie (CLAES) charakterisiert die neuen Rohstoffpolitiken der progressiven Regierungen als „Neo-Extraktivismus” und hat damit in Lateinamerika eine Debatte über die Nachhaltigkeit des extraktiven Wirtschaftsmodells ausgelöst. Das Neue am Neo-Extraktivismus ist dabei – laut Gudynas – in erster Linie die größere staatliche Kontrolle über die Einnahmen aus den extraktiven Industrien. Die Ausbeutung der Rohstoffe werde durch die gerechtere Verteilung der Gelder wiederum stärker legitimiert und Kritik daran politisch marginalisiert. Anstatt an der Überzeugung festzuhalten, dass möglichst viele Einnahmen aus dem Rohstoffsektor abgeschöpft werden müssten, fordert Gudynas zum Nachdenken über Alternativen auf. In der Debatte um eine Überwindung des Extraktivismus geht es ihm dabei nicht darum, künftig sämtliche Rohstoffförderung zu unterbinden, wohl aber deutlich einzuschränken. Da der Weg zu einer post-extraktivistischen Ära langwierig sei, müssten Übergange eingeleitet werden, zu denen zunächst auch eine Erhöhung der Kontrolle über die extraktiven Industrien gehöre, wie sie etwa in Venezuela und Bolivien stattgefunden hat. Dabei stellt Gudynas auch den herrschenden Entwicklungsbegriff und dessen Linearität radikal in Frage. Statt einer „alternativen Entwicklung“ müssten „Alternativen zu Entwicklung“ diskutiert werden.

Bei aller schlüssigen Kritik am Extraktivismus darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass sich die progressiven, von einer breiten Bevölkerungsmehrheit demokratisch legitimierten Regierungen in einem realpolitischen Umfeld und dem ständigen Kampf um Souveränität befinden. Zwar hat es in der Geschichte Lateinamerikas immer wieder Verstaatlichungen (und teilweise Reprivatisierungen) von rohstofffördernden Industrien gegeben. Mit einer derart weitgehenden Rückkehr des Staates bei gleichzeitigem Anziehen der Rohstoffpreise, wie in den letzten Jahren, hatte in den 1990er Jahren jedoch kaum jemand gerechnet. In Folge der Schuldenkrise der 1980er Jahre war den meisten lateinamerikanischen Staaten von Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) als Bedingung für den Erhalt von Krediten eine Deregulierung der Wirtschaft und Verschlankung des Staates auferlegt worden. Dazu gehörte auch die Privatisierung des Bergbausektors. Ein neoliberales Investitionsklima sowie eine schwache Arbeits- und Umweltgesetzgebung zogen transnationale Bergbaukonzerne an.

Seit den letzten Jahren aber kontrollieren viele Staaten in Lateinamerika die Rohstoffförderung wieder stärker. Dabei steht außer Frage, dass, wenn schon Rohstoffe gefördert werden, die Einnahmen aus dem Geschäft der (marginalisierten) Bevölkerung zu Gute kommen sollten und nicht transnationalen Unternehmen. In vielen Fällen haben die Einnahmen aus dem Rohstoff-Export in links regierten Länder erst den Horizont für eine eigenständige Politik geöffnet, die nicht von den Weisungen der einzelnen Industriestaaten oder des IWF abhängig ist. Sollten neoliberale Kräfte in der Region wieder hegemonial werden, würde die Rohstoff-Politik weder ökologischer noch sozialer ausfallen. Die Gewinne wanderten schlicht wieder mehr in die Taschen der Privatwirtschaft. Die stärkere (sozial-) staatliche Kontrolle über die Rohstoffe stellt also durchaus einen ersten Fortschritt dar – längerfristig praktikabel ist die Fokussierung auf den Rohstoffexport dennoch nicht. In ganz Lateinamerika nehmen die sozioökologischen Konflikte mit Anwohner_innen von Bergbau-Projekten drastisch zu. Gegner_innen der Rohstoffförderung werden als Sympathisant_innen der rechten Opposition diffamiert und teilweise kriminalisiert. Das extraktivistische Modell zieht die Vertreibung von Menschen, die Zerstörung von Ökosystemen und landwirtschaftlichen Nutzflächen sowie die Verschmutzung von Wasservorräten nach sich. Der in einigen Ländern diskursiv gewünschte Übergang zu einer produktiven nicht-kapitalistischen Wirtschaftsweise, scheint durch den Extraktivismus nicht befördert, sondern umgekehrt behindert zu werden.

Mit dem Dossier Verbohrte Entwicklung werfen die Lateinamerika Nachrichten und das FDCL einen Blick auf die aktuelle Situation des Extraktivismus in Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Förderung mineralischer und fossiler Rohstoffe. Zunächst führt Eduardo Gudynas in die Diskussion um den Neuen Extraktivismus ein. Martin Ling erläutert am Beispiel des venezolanischen Erdöls die Schwierigkeiten eines Landes, dessen Wirtschaft überwiegend von nur einem Rohstoff abhängt. Anhand von Texten über Bolivien, Ecuador und Brasilien thematisieren Thilo F. Papacek, Ximeña Montaño und Christian Russau jeweils beispielhaft die Rohstoffpolitik der (Mitte-) Linksregierungen. Als Beispiel für eine strikt neoliberale Rohstoffpolitik beschreibt Alke Jenss anschließend, was es bedeutet, dass die kolumbianische Regierung den Bergbau zur „Lokomotive“ für die Exportwirtschaft erklärt hat. David Rojas-Kienzle zeigt am Beispiel des chilenischen Kupfers auf, dass die Geschichte von Verstaatlichungen im Rohstoffsektor keineswegs erst in den letzten Jahren begonnen hat. Im Interview geht der peruanische Bergbau-Experte und ehemaliger Vize-Umweltminister unter der aktuellen Regierung Humala, José de Echave, auf die zunehmenden Konflikte rund um den Extraktivismus in Peru ein. Als ehemaliges Kabinettsmitglied erläutert er die Schlüsselmomente, in denen die Regierung Humala sich vom erklärten Ziel einer anderen Rohstoffpolitik abwendete. Ronald Köpke beschreibt anschließend, wie der Kleinbergbau gegenüber dem industriellen Großbergbau benachteiligt wird, obwohl daran deutlich mehr Menschen finanziell partizipieren. Punktuell konnte der zunehmende Widerstand gegen die industrielle Rohstoffförderung bereits Erfolge verzeichnen, die über die bloße Aufschiebung einzelner Projekte hinausgehen und tatsächlich den Extraktivismus in Frage stellen. In Argentinien verabschiedete der Kongress im Oktober 2010 ein Gesetz zum Schutz der Gletscher, das die Ausbeutung von Rohstoffen in festgelegten Gebieten untersagt und einen Rückschlag für die Lobby-Arbeit großer Bergbaukonzerne darstellt. Ebenso verhält es sich mit dem im November 2010 beschlossenen Verbot aller neuen Projekte des offenen Metall-Tagebaus in Costa Rica als erstem Land in Lateinamerika. Antje Krüger und Markus Plate behandeln die beiden Fälle jeweils in ihren Artikeln.

Bei aller Kritik an den Regierungen, Konzernen oder Schwellenländern sollte indes eines klar sein: Ohne eine nachhaltige Senkung des Rohstoffkonsums im globalen Norden werden Übergänge zu post-extraktivistischen Modellen kaum möglich sein. Das auf fortwährendem Wachstum basierendes Wirtschaftsmodell kann aufgrund der Begrenztheit der meisten Rohstoffe sowie der vielfältigen Krisen des globalisierten Kapitalismus (Ernährungs-, Klima-, Energie- und Finanzkrise) nur radikal in Frage gestellt werden.

Alte Wege verlassen

Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhalte zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahlversprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerbasis sowie entgegen der Empfehlungen von Fachleuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der Linken, und verbündet sich stattdessen mit konservativen und wirtschaftsnahen Kreisen.
Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokulturen in der Landwirtschaft sowie andere Formen von Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateinamerikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Venezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen schwerwiegende soziale und ökologische Konsequenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoffpreisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von 2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau massiv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen, mehr als das aller Andenstaaten zusammen.
Die globale Gesamtsituation macht die exportorientierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem einträglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt, warum das Kapital sich vielerorts dem Primärsektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförderung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konservative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die Wirtschaft des Landes anschieben soll.
So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung des Extraktivismus in ganz Lateinamerika feststellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen, die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer Förderstätten und die Förderung bisher ungenutzter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argentinien. Bodenerkundungen finden in immer entlegeneren und schwerer zugänglichen Gebieten sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik-Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Monokulturen werden auf riesige Flächen ausgeweitet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstofflieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonialzeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt diese Funktion immer wieder in abgewandelter Form zurück. Geändert haben sich nur die Gründe, mit denen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich konservative oder neoliberale Regierungen auf alte Konzepte von der Rolle des Marktes und von ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“ von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoffausbeutung doch unlängst noch kritisiert.
Die Regierungslinke hat jedoch einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn reformiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirtschaftswachstum und Wählerbindung.
Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich deutlich von vorhergehenden Regierungen unterscheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeichnen konnten, insbesondere im Kampf gegen die Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Rohstoffexporte finanziert wurden und den hohen Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue Extraktivismus der progressiven Regierungen geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staatlichen Präsenz einher, beispielsweise durch nationale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhere Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialprogramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht über monatliche Transferzahlungen hinausgehen. Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige Zahlungen beschränken.
Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökonomien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig klein geredet oder abgestritten. Diese Situation macht den Ausbruch von sozialen Protesten gegen den Extraktivismus verständlich. Die Konfliktlagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kontinuität der Ausbeutung von Natur und des ökonomischen Wachstums ist dermaßen deutlich, dass selbst linke Präsident_innen sich über soziale und ökologische Forderungen lustig machen, Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen attackieren. Man solle den Reichtum der Natur des Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen sie, sondern diesen Trend sogar verstärken.
Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt, einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesamten Planeten befriedigen könnten. Ökologische Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos, mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respektiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden, wird behauptet, diese könnten technisch gelöst werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Gewinne würden die sozialen und ökologischen Schäden wettmachen. Die massenweise Förderung von Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaftlichen Wohlstand und steigenden Konsum in den urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den Städten gibt es riesige Einkaufszentren und marginalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heute in vorher ungekanntem Ausmaß.
Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Ländern Debatten über den Ausstieg aus der Abhängigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Miteinbezogen wird darin der veränderte politische Kontext. In den Debatten kommt die Forderung auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungskonzepte enthalten sein, als auch der politische Diskurs der progressiven Regierungen eine neue Richtung einschlagen muss, der bisher Extraktivismus als notwendig für die Armutsbekämpfung darstellt. In einem Transitionsprozess werden post-extraktivistische Strategien als Alternativen zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt. Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt werden, um die schwerwiegendsten Auswirkungen von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern. Dazu gehören beispielsweise die Schließung besonders umweltschädlicher Förderstätten oder die Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Notwendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbarmachung der ökonomischen Kosten von sozialen und ökologischen Schäden. Ökologische und ökonomische, soziale und politische Maßnahmen werden miteinander verknüpft, um die Fokussierung auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgreifende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maßnahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten verbunden werden, um den Ausstieg aus dem gegenwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen.

„Aus Umbau wurde Kontinuität“

Seit Monaten halten zwei massive Bergbaukonflikte Peru in Atem. Sowohl bei den Protesten gegen das Projekt Conga, das den Ausbau einer Goldmine in Cajamarca vorsieht, als auch bei dem Konflikt um die Kupfermine Tintaya im Verwaltungsbezirk Espinar, waren Tote zu beklagen. Zeichnen sich Lösungen für die beiden Konflikte ab?
Eher nicht, denn der Regierung scheint nicht klar zu sein, welche Tragweite diese Proteste haben. Es fehlt an klaren Analysen, warum es zu immer mehr und deutlich massiveren Protesten und Konflikten in Peru kommt. Exemplarisch für dieses Unvermögen steht die Tatsache, dass angesichts der Proteste gegen das Bergbauprojekt Conga zweimal das Kabinett ausgewechselt wurde. Ich denke, dass es weder eine vernünftige Analyse noch eine Strategie und auch keine politisch relevanten Persönlichkeiten gibt, die nach Kompromissen suchen und den Dialog führen. Die Regierung reagiert, sie agiert nicht, um grundsätzliche Probleme zu lösen.

Mit der Wahl von Präsident Ollanta Humala im vergangenen Jahr waren viele Hoffnungen verbunden, beispielsweise, dass der Bergbau mit der Landwirtschaft vereinbar sein müsse. Humala selbst hat die Bedeutung dessen mehrfach betont. Ein Großteil der betroffenen Landbevölkerung bezeichnet ihn inzwischen als Lügner. Zu Recht?
Ollanta Humala hatte viele Hoffnungen geweckt und angekündigt, die Interessen der Bauern, der Gemeinden und auch deren Zugang zum Wasser zu garantieren. Doch einmal im Amt hat sich die Situation schnell und entscheidend verändert. Anfangs gab es noch den politischen Willen ein Bündel von Reformen durchzuführen, die den peruanischen Staat und das Umweltministerium zu einer ernsthaften Autorität im Lande gemacht hätte.
Doch mit dem Aufkommen der ersten Konflikte, vor allem dem Projekt Conga in Cajamarca, aber auch anderen, nahm die Bereitschaft ab, den Wandel in der Umwelt- und Bergbaupolitik des Landes einzuleiten. Aus der Regierung des Umbaus, der Transformation, wurde die Regierung der Kontinuität, des Stillstands.

Da Sie diese Phase quasi hautnah als Vizeminister im Kabinett miterlebt haben – gibt es einen Punkt, wo der Wille zu Reformen den Präsidenten verlassen hat?
Ja, es gibt verschiedene Schlüsselmomente. Im ökonomischen Bereich war die Nominierung von Wirtschaftsminister José Miguel Castilla ein wichtiger Schritt. Dieser war bereits unter Alan García [neoliberal ausgerichteter Ex-Präsident, Anm. d. Red.] im Wirtschaftsministerium einer der Vizeminister und steht für die Kontinuität einer Wirtschaftspolitik, die sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert hat. Auch die Bestätigung von Julio Velarde als Zentralbankchef war ein Zeichen in diese Richtung, das sicherlich auch potentielle Investoren beruhigen sollte.
Im Umweltbereich wurde hingegen erst im November klar, wohin es gehen soll. Damals kam der Präsident von einer Tagung aus Hawaii zurück und musste feststellen, dass die Proteste zugenommen hatten.

Wie reagierte Humala?
Sehr überraschend: Er entzog uns im Umweltministerium den Rückhalt für die anlaufenden Reformen und entschied, zentrale Funktionen des Umweltministeriums dem Ministerrat direkt zu unterstellen. So entstand faktisch ein zweites Umweltministerium, eine Parallelstruktur, und dort sollten fortan auch die Umweltgutachten ausgewertet werden – eben auch jenes zum Projekt Conga. Für mich war das der Wendepunkt und ich bin von meinem Posten zurückgetreten. Wenig später folgte dann das ganze Kabinett, angeführt von Salomon Lerner [dem damaligen Ministerpräsidenten, Anm. d. Red.].

Ist das Modell des Extraktivismus in Peru an seine Grenzen gestoßen?
Nun gut, die peruanische Regierung hat sich für ein Wirtschaftsmodell entschieden, das auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fußt. Aber das ist ein Phänomen, welches in ganz Lateinamerika zu beobachten ist. Alle Regierungen, egal welcher politischen Couleur, stützen sich auf den Extraktivismus. Natürlich gibt es Unterschiede. In Peru und Kolumbien ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen großer internationaler Konzerne, in Bolivien, Venezuela, Ecuador und auch zu großen Teilen in Brasilien ist es der Staat, der bei der Förderung der Rohstoffe die zentrale Rolle spielt. In allen Ländern gibt es allerdings soziale Probleme und Widerstände gegen die Vernichtung von Schutzgebieten wie derzeit das Beispiel des umstrittenen Straßenbaus durch den TIPPNIS-Nationalpark in Bolivien zeigt.
In Peru ist der Bergbau für rund 60 Prozent der Exporte verantwortlich, sorgt aber nur für rund 100.000 Arbeitsplätze. Trotzdem und obwohl er Arbeitsplätze in der Landwirtschaft gefährdet, soll er weiter ausgebaut werden, wenn es nach der Regierung in Lima geht. So gibt es mehrere Großprojekte, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden sollen, obwohl der Widerstand zunimmt.

Humala hatte sich im Wahlkampf für die Entwicklung eines Flächennutzungsplans ausgesprochen, um die Konzessionierung von sensiblen Flächen durch den Bergbau zu regulieren. Warum ist von einem derartigen Plan, den Sie im Umweltministerium gefördert haben, nichts mehr zu hören?
Das ist ein zentrales Thema, das in den letzten Monaten unter den Tisch gefallen ist, obwohl die Konzessionierung für den Bergbau immer wieder für Konflikte sorgt. Der Hauptgrund dafür ist, dass keine Gebiete von der Konzessionierung ausgenommen sind und die Bevölkerung erst gar nicht eingeweiht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Zudem gibt es viele Konzerne, die sich Konzessionen für die Zukunft gesichert haben und Bergbauprojekte auf Basis dieser vorbereiten; sie haben kein Interesse an einem Flächennutzungsplan. So steigt der Anteil der Flächen, auf die Konzessionen vergeben sind, stetig an, oft ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung. Für die Debatte über die Frage, wo Bergbau stattfinden darf und wo eben nicht, wäre ein Flächennutzungsplan das richtige Instrument. Wir brauchen klare Strukturen und es ist sinnvoll eine ganze Reihe von Gebieten zu No-Go-Areas für den Bergbau zu erklären. Aus meiner Perspektive gibt es jedoch kaum politischen Willen diese Diskussion zu führen.

In der Region von Huancabamba, im Norden Perus, wehrt sich die lokale Bevölkerung gegen die Ansiedlung einer Kupfermine. In einem selbst durchgeführten Referendum hat sie deutlich gemacht hat, dass sie auf nachhaltige Landwirtschaftskonzepte setzt. Ist das ein Beispiel, das Schule machen könnte?
Ja, durchaus. Bereits 2002 führte ein Referendum zum Ende eines Goldbergbauprojekts in Tambogrande. Aber auch in Guatemala und Argentinien hat sich das Instrument genauso wie in Peru, in Tía María 2009 und Huancabamba 2007, bewährt. Auch in der Region von Cajamarca, wo das Bergbauprojekt Conga geplant ist, ist über ein Referendum diskutiert worden, aber die peruanischen Gesetze sehen dieses Instrument nicht vor. Dabei könnten Referenden eine Alternative nicht nur für Peru, sondern für ganz Lateinamerika darstellen. Es ist schließlich nötig, neue Mechanismen für die Partizipation der lokalen Bevölkerung zu entwickeln.

Welche Lektionen können internationale Investoren aus den Konflikten von Conga und Tintaya lernen?
Es ist klar, dass die Bergbauunternehmen nicht mehr den Bergbau wie vor zwanzig Jahren durchziehen können. Die lokale Bevölkerung stellt Ansprüche und vier Bergseen auszuradieren ist auch in Peru keine kleine Sache mehr. Früher war das möglich, denn der Bergbau ist von oben durchgesetzt, quasi verordnet worden. Heute ist die Zerstörung von vier Lagunen ein Attentat auf die Gemeinden und deren Grundrechte. Die Parameter haben sich verschoben und wir leben in einer Welt, die von der Klimakatastrophe bedroht ist, die längst spürbar ist.

In Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas, sucht man sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Peru. Was kann eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit für Peru bringen und welche Bedeutung kann sie für die Abbauregionen haben?
Das Problem dieser Partnerschaften ist, dass sie nicht auf Augenhöhe stattfinden und auch nicht unbedingt die nachhaltige Entwicklung des betreffenden Landes im Blick haben. Diese Partnerschaften und auch die Freihandelsabkommen auf multilateraler und bilateraler Ebene gehorchen einem Wachstumsimperativ. Verträge wie das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Peru, welches auch ein Thema beim Besuch von Präsident Humala im Juni in Berlin war, verhindern faktisch, dass Staaten wie Peru ihre Umweltschutzbestimmungen verbessern, weil sie die Investitionsbedingungen verändern. Das ist aber in vielen Verträgen untersagt und von den Konzernen faktisch auch einklagbar. Das ist ein gravierendes Problem, da die Umweltschutzbestimmungen in Peru und anderswo erst am Entstehen sind und dringend erweitert werden müssen, wie die zunehmende Zahl von Konflikten zeigt. Ich denke, dass die Rohstoffpartnerschaften der gleichen Logik folgen.

Kasten:

José de Echave
arbeitet für die regierungskritische Sozial- und Umweltorganisation CooperAcción. Der 54-jährige Ökonom war Vize-Umweltminister unter Präsident Ollanta Humala, dessen Mitte-Links-Bündnis seit Juli 2011 regiert. Ende November 2011 trat de Echave aus Protest gegen die Regierungspolitik zurück.

Im Schatten der Industrie

Im April dieses Jahres wandte sich der kolumbianische Senator Jorge Enrique Robledo in einem offenen Brief an Präsident Juan Manuel Santos. Robledo beklagt, dass es offizielle Politik sei, dass transnationale Bergbauunternehmen, trotz der Umweltschäden die sie hinterlassen, und obwohl sie ihre Abgaben und Steuern nicht ordentlich entrichten, mittlerweile den größten Teil der Schürfrechte in Kolumbien kontrollieren. Gleichzeitig unternehme die Regierung alles, um den Kleinbergbau zu behindern und zu kriminalisieren. Robledos Kritik träfe ebenso auf die anderen Andenländer zu.
Kleinbergbau bezeichnet ein komplexes Gebilde unterschiedlicher Schürf- und Anreicherungspraktiken sowie Organisationsformen und gehört vornehmlich zur „Informellen Ökonomie“. Er ist arbeitsintensiv und bietet Einkommensmöglichkeiten; Kleinbergbau basiert in der Regel auf den Aktivitäten von Kleinstunternehmen, Familien, selbständigen Bergleuten und selten auf freier Lohnarbeit. Kleinbergbau reicht vom klassischen Tunnelbergbau in seinen vielfältigen Formen (maschinell oder nicht-maschinell) bis hin zu Mineraliensammler_innen und Goldwäscherei, sowohl in traditioneller Form als auch unter massivem Maschineneinsatz (Pumpen, Flösse, Schlauchanlagen). 90 Prozent aller vom Bergbau abhängigen Familien in den Andenländern leben vom Kleinbergbau in seinen unterschiedlichsten Formen (siehe Kasten).
Seit dem 19. Jahrhundert haben sich Bergbaugemeinden kaum verändert: Gewalt, Drogen und Prostitution bestimmen das Bild; es besteht ein ausgesprochen hohes Risiko für Frauen und Minderjährige für die schlimmsten Formen der Ausbeutung. Ein weiteres Problem sind lokale Händler in den Gemeinden, oft kontrolliert durch organisierte Banden oder Paramilitärs, die niedrige lokale Preise unter dem Börsenpreis an die Bergleute bezahlen und innerhalb bewohnter Ortschaften Quecksilber „verbrennen“, eine höchst gesundheitsgefährdende Praxis.
Der Tunnelbergbau, den wir zum Beispiel noch im Nariño (Kolumbien), im Sub-Medio (Peru) oder in Zamora oder Porto Bello (Ecuador) finden, enstand oftmals im Zuge des industriellen Bergbaus Seit Ende der 1960er Jahre gingen die Renditen der Edelmetallförderung durch fallende Weltmarktpreise zurück. Viele transnationale Unternehmen ließen Tunnelbergwerke ruhen, die durch sogenannte informelle Bergleute seit Ende der 1970er Jahre „still“ besetzt wurden. Kleinbergbau begann dort vor allem mit Mineraliensammler_innen auf den Abraumhalden und zunehmend durch Übernahme des Tunnelbergbaus. Im kleinen Stil lohnte sich etwa die Goldgewinnung zur Existenzerhaltung.
Obwohl in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten viele Millionen Menschen und ihre Familien zunehmend vom Kleinbergbau abhängig sind, steht diese Entwicklung nur bedingt in einem Zusammenhang mit steigenden Börsenpreisen für Edelmetalle oder mit dem Extraktivismus als Entwicklungsmodell. Erfahrungen der internationalen Assoziation für verantwortungsbewussten Bergbau (ARM) zeigen auf, dass zumindest die hohen Preise für Edelmetalle weitgehend an den Kleinbergleuten vorbeigehen. Die Mineralienpreise, die an lokalen Kleinbergbau bezahlt werden, und die Preise für Werkzeug, Diesel, Ausrüstung, Chemie und Kleinmaschinen sind im nahezu gleichen Verhältnis gestiegen. Zentraler Parameter ist dabei die Entwicklung des Ölpreises, der sich im Verhältnis zum Goldpreis exakt parallel nach oben entwickelt hat. Das Hauptproblem des Kleinbergbaus ist jedoch vor allem die rechtliche Formalisierung seitens der Politik, die parallel zur Begünstigung der Bergbauindustrie zu einer immer höheren Barriere wird.
Seit multinationale Unternehmen Konzessionen horten (Concession Grabbing), wachsen die Gemeinden von Kleinbergleuten vor allem in Räumen, in denen sie „illegal“ die ruhenden Konzessionen der Industrie ausbeuten. Dies führt zu schweren Konflikten zwischen der Industrie mit umliegenden Gemeinden, Umwelt und Landwirtschaft, aber auch mit dem Kleinbergbau.
In Fällen, in denen die Ausbeutung von Konzessionen ein gutes Geschäft verspricht oder neue ertragreiche Konzessionen erworben werden können, wird Druck auf Gemeinden, Landbesitzer_innen, aber auch auf Kleinbergleute ausgeübt, um Konzessionen in deren Gebieten zu erlangen und gegebenenfalls auszubeuten. Das ist etwa der Fall in den afro-kolumbianischen Gemeinden des Chocó in Kolumbien, wo dies mit relativ viel Geld oder direkter Korruption geschieht. Die Industrie hat auch nie vor Vertreibung zurückgeschreckt, wobei sie sich vor allem in Kolumbien in der Vergangenheit wiederholt der Paramilitärs bedient hat, ohne die der Extraktivismus in Kolumbien in der heutigen Form gar nicht denkbar wäre.
Im Chocó, im kolumbianischen Cauca, im peruanischen Madre de Diós oder im brasilianischen Río Branco gilt allerdings das Gleiche für mafiöse Netzwerke von Kleinbergleuten, die mit schweren Maschinen und Flössen vordringen, lokale Goldwäschergemeinden bedrohen, sich ihrer Schürf-
rechte bedienen und dafür auch paramilitärische Gewalt einsetzen.
Ende der 1990er Jahre entstanden in der Auseinandersetzung mit der Industrie und den lokalen Behörden, die Kleinbergleute zu kriminalisieren versuchten, im Sub-Medio in Peru große Organisationen von Kleinbergleuten als Ergebnis des Kampfes um Formalisierung und Legalisierung. In einigen Fällen wurde erreicht, sich legal zu etablieren, die Schürfrechte zu sichern und sich zu formellen Unternehmen in Händen der Kleinbergbauleute zu entwickeln.
Heute hat Tunnelbergbau kaum noch etwas mit industriellem Großbergbau zu tun. Während Kleinbergbau existenzsichernd und arbeitsintensiv ist, trägt die Industrie schlicht ganze Berge ab und verwandelt Landschaften in Baggerwüsten.
Dabei ist wichtig festzuhalten, dass die Industrie insgesamt nur einen sehr kleinen Teil ihrer Konzessionen tatsächlich ausbeutet. So nutzt etwa der britisch-australische Bergbau-Gigant Rio Tinto weniger als fünf Prozent seiner Konzessionen aus, der Rest ist spekulatives Kapital.
Da nach den meisten Bergbaugesetzen Konzessionen nicht über mehrere Jahre ruhen dürfen, stellt die Industrie einen Riesenapparat bereit, um die Bergbauministerien zu bearbeiten und Schürf-rechte beständig zu erneuern. Das ist ein natürliches Einfallstor für Korruption, bei dem Gelder an lokale Funktionäre fließen, die dafür Sorge tragen, dass im Zweifelsfall dem Kleinbergbau Schürf-rechte verwehrt werden. Auch werden erhebliche Mittel eingesetzt, um Lobbyarbeit zur Verabschiedung von begünstigenden Bergbaugesetzen zu betreiben. Gleichzeitig stellt die Formalisierung von Kleinbergbau durch Schürfabgaben (Regalías) und Steuergesetze, Genehmigungsverfahren, Teilgenehmigungsverfahren für Anreicherungsanlagen, Landerwerb usw. eine enorme Barriere dar. In unterschiedlichen Etappen wird dabei bei den Bergbau-, Umwelt-, Steuer- und Lokalbehörden die Hand aufgehalten und ohne Rechtsbeistand ist nicht weiterzukommen. Kleinbergleute und ihre Familien ohne Organisation können sich nie und nimmer diesem Prozess aussetzen. Der größte Teil des Sektors verbleibt deshalb in der Informalität, vor allem dort, wo Bergbau nur eine kurzfristige Aktivität und/oder die wirtschaftlichen Vorteile einer Formalisierung unter den gegebenen Voraussetzungen sehr begrenzt sind. Durch dieses Nadelöhr zu schlüpfen ist – neben der Organisierung – der entscheidende Schritt, den Kleinbergbau nachhaltiger zu machen.
Die Politik der verschiedenen nationalen Regierungen begünstigt die Industrie, kriminalisiert und behindert aber den Kleinbergbau im Prozess der Formalisierung. So erkennt das Bergbaugesetz Kolumbiens Kleinbergbau überhaupt nicht an, sondern verwendet den Begriff „illegaler Bergbau“. Die Bemühungen, im peruanischen Bergbaukodex von 2002 erstmalig Kleinbergbau formell anzuerkennen (unter der Regierung von Präsident Alejandro Toledo), wurden durch die Dekrete gegen den informellen Bergbau 2012 zunichte gemacht und lassen ein gefährliches Vakuum entstehen. Dies zeigt das Beispiel in der peruanischen Amazonasregion Madre de Dios, wo die legale Handhabe mit oder in dem Sektor zu arbeiten durch Dekrete zerstört wurde. Verbesserungen im Kleinbergbau können nur durchgesetzt werden, wenn die formelle Anerkennung eine gesetzliche Grundlage bietet, auf der in Richtung von verbesserten Umweltpraktiken, Sicherheit und Gesundheit und des Schutzes von Frauen und Minderjährigen gearbeitet werden kann.

Kasten:

Die unterschiedlichen Formen des Kleinbergbaus

• Formelle Kleinunternehmen mit und ohne Beschäftigte (andere Selbständige und wenige Lohnarbeiter_innen, die in Mineralien bezahlt werden);
• selbständige Bergleute, oder Gruppen von selbständigen Bergleuten, die unabhängig agieren mit und ohne Lohnarbeiter_innen;
• einzelne Familien, die die Mineralien unter sich aufteilen;
• Informelle Kleinstunternehmen, die beispielsweise Gold anreichern (zermahlen, amalgamieren, schmelzen etc.);
• Mineralsucher_innen auf Abraumhalden (vorwiegend Frauen, die Mineralien auflesen und amalgamieren oder als freies Roh-Gold verkaufen);
• Formelle semi-industrielle Kleinunternehmen, die Zyanid-Laugen-Verfahren semi-industriell organisieren;
• Kooperativen oder Aktiengesellschaften von Kleinbergleuten, die als Konzessionshalter_innen fungieren für Andere;
• Kooperativen oder Aktiengesellschaften von Kleinbergleuten, die sich im Bergbau und in der Anreicherung betätigen und Gold vermarkten;
• Indigene oder afro-lateinamerikanische Gemeinden, die Schürfrechte an der Oberfläche besitzen und Konzessionen verhandeln können nach Sondergesetzgebungen (Puna (Jujuy)/ Argentinien, Chocó/ Kolumbien).

Der Ex-Hoffnungsträger

„Was ist wichtiger, Wasser oder Gold?“ – diese Frage stellte Ollanta Humala auf einer Wahlkampfveranstaltung in Cajamarca. „Wasser“ war die einstimmige Antwort. „Genau, denn Gold kann man nicht trinken“ gab sich der Präsidentschaftsanwärter verständnisvoll.
Mit dem Versprechen, die Bedürfnisse von Bevölkerung und Umwelt vor die Gewinninteressen von Bergbaufirmen zu stellen, traf Humala die Sorgen vieler Menschen. Als er am 5. Juni des vergangenen Jahres zum Präsidenten Perus gewählt wurde, waren es die ärmeren Bevölkerungsschichten in den zentralen und südlichen Hochlandregionen, die ihm in der Stichwahl gegen Diktatorentochter Keiko Fujimori zum Sieg verhalfen. Vorgängerpräsident Alan García hatte, ebenso wie vor ihm Alejandro Toledo, das von Exdiktator Alberto Fujimori eingeführte neoliberale Wirtschaftsmodell weiter forciert.
Trotz extremen Rohstoffausverkaufs und kontinuierlich wachsender Wirtschaft hatte sich die Lebenssituation auf dem Land kaum verbessert. In manchen Regionen, wie etwa in Cajamarca, sahen Menschen sogar ihre Lebensgrundlage durch die Ausweitung des Bergbaus gefährdet. „Wir haben Erfahrung mit dem Bergbau. Er bedeutet Rückschritt und Armut. Er hinterlässt uns in der Misere und wir haben keine Zukunft“ beklagt der cajamarquinische Bergbauaktivist Oscar Ortiz. Humalas Regierungsbündnis versprach nicht weniger als die „Große Transformation“ im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich. Dies weckte die Hoffnung auf einen wirklichen Kurswechsel.
In gleichem Maße schürte diese Aussicht auch die Ängste der traditionellen Elite. Vertreter_innen der Wirtschaft und der limeñischen Oberschicht riefen hysterisch zur Stimmabgabe für die Diktatorentochter auf. Szenarien von Chaos und wirtschaftlichem Niedergang wurden über beinahe alle großen Medien verbreitet. Als Humalas Sieg feststand, sanken die Kurse an der peruanischen Börse so rapide, dass der Handel zwischenzeitlich ausgesetzt wurde.
Ein knappes Jahr nach Regierungsantritt hat sich der Wind gedreht. Die Wirtschaftspresse feiert Humalas „vernünftige Politik“ und sogar García ist voll des Lobes. Ein Jahr zuvor hatte er sich noch geweigert, das Amt formell an seinen Nachfolger zu übergeben. Hat die Regierung es also geschafft, die Interessen der Wirtschaft und der marginalisierten Landbevölkerung unter einen Hut zu bringen?
Die Zahlen und Fakten sprechen dagegen. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos Apoyo zeigt, dass die Regierung ihre höchsten Zustimmungswerte unter den Angehörigen der städtischen Oberschicht erreicht. Unzufriedenheit herrscht hingegen auf dem Land sowie in den niedrigsten Einkommensschichten. Eine Entwicklung, die zahlreiche Mitglieder von Humalas Wahlallianz Gana Perú (Peru gewinnt) kritisch sehen. Im Laufe der letzten Monate distanzierten sich immer mehr der ehemaligen Unterstützer_innen.
„Die Regierung ist einem Weg gefolgt, der sie immer weiter von den Zielen der ‚Großen Transformation‘ entfernt hat“, konstatiert Verónika Mendoza. Sie war Gründungsmitglied von Humalas Partei, der Nationalistischen Partei Perus (PNP) und saß für das Regierungsbündnis Gana Perú im Kongress. Als Reaktion auf das harte Vorgehen gegen Antibergbauproteste war sie zurückgetreten. Auch Javier Diez Canseco, ein bekannter Soziologe und linker Intellektueller, hat die Fraktion der Wahlallianz verlassen und beklagt starke Defizite. Anstatt eine partizipative Demokratie zu fördern und die Bevölkerungsmehrheit mit mehr Rechten auszustatten, würde sie ihre Politik autoritär und ohne soziale Legitimität durchsetzen.
Ein „politisches Massaker“, wie es der renommierte peruanische Wirtschaftswissenschaftler Oscar Ugarteche ausdrückt, markierte den Rechtsruck. Im Dezember 2011 trat Premierminister Salomón Lerner zurück. Auslöser war der Konflikt um das Projekt „Minas Conga“ in Cajamarca (siehe LN 451 und 454). Die US-amerikanische Newmont Mining Corporation will dort den Gold- und Kupferabbau ausweiten, was die Wasserreservoirs vor Ort gefährdet. Die Bevölkerung fürchtet um ihre Lebensgrundlage, da nicht nur ihr Trinkwasser sondern auch die Landwirtschaft auf dem Spiel steht. Obwohl Humala den Gegner_innen im Wahlkampf seine Unterstützung zugesichert hat, setzt er sich als Präsident für die Durchführung des Projektes ein. Er und der damalige Innenminister Oscar Valdés verhängten als Reaktion auf Proteste den Notstand über die Region und schränkten damit die Grundrechte der Bevölkerung massiv ein. Lerner hatte weiterhin auf Dialog gesetzt und passte damit nicht mehr zur Regierungslinie. Mit ihm wurden zehn Minister ausgewechselt, darunter alle, die als fortschrittlich und linksgerichtet galten.
Besonders bezeichnend für die Richtung des neuen Kabinetts ist jedoch die Ernennung des vorherigen Innenministers Valdés zum Premierminister. Valdés ist wie Humala pensionierter Militärangehöriger und bekennt sich offen dazu, „Fujimoris Pragmatismus“ zu bewundern. Er war bereits als Innenminister die treibende Kraft, konfrontativ gegen soziale Proteste vorzugehen und Aktivist_innen als „Extremisten“ zu kriminalisieren. Seine Ernennung verstehen viele als Zeichen der Militarisierung. „Ein Jahr nach der Wahl haben wir in Peru ein mafiöses und gewalttätiges Regime, das sich nicht viel von dem Fujimoris unterscheidet“ beklagt etwa der Ökonom Ugarteche in einem offenen Brief, betitelt mit „Adiós Humala“.
Tatsächlich ist die soziale Bilanz der Regierung verheerend. In einem Jahr kamen 18 Menschen bei der Niederschlagung von Protesten ums Leben. Über mehrere Regionen des Landes wurde der Notstand verhängt. Aktivist_innen wurden festgenommen und teilweise zu drastischen Haftstrafen verurteilt. „Die Repression als automatische Reaktion auf Forderungen der Bevölkerung ruft nur noch mehr Widerstand hervor. „Das führt in einen Teufelskreis“ befürchtet die zurückgetretene Abgeordnete Mendoza.
Diesen Teufelskreis wollte Humala eigentlich durchbrechen. Tatsächlich verabschiedete die neue Regierung als erste Amtshandlung das Gesetz zur vorherigen Konsultation indigener Völker. Humalas Amtsvorgänger García hatte sich noch geweigert, aus Angst es würde potentielle Investor_innen fernhalten. Orientiert an der ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Völker sollen den Indigenen damit mehr Rechte bei der Planung von Großprojekten auf ihrem Territorium eingeräumt werden. Dieser positive erste Eindruck von Humalas Regierung wurde jedoch dadurch getrübt, dass sie im Nachhinein Änderungen in den Gesetzestext einfügte. Zudem legt das Gesetz in seiner aktuellen Form nicht fest, wann die Betroffenen befragt werden müssen. Ein Vetorecht ist ebenfalls nicht vorgesehen. So liegt die endgültige Entscheidung über die Durchführung der Projekte weiterhin allein bei der Regierung.
Auch bei Sozialprogrammen tat sich etwas. Der Mindestlohn wurde erhöht, eine Rente für Bedürftige ab 65 eingeführt und eine Steuer auf Gewinne aus dem Bergbau erlassen. So positiv diese Signale im Sinne von Inklusion und sozialer Gerechtigkeit sind, die „Große Transformation“ ist es nicht. Abgesehen von diesen bescheidenen Umverteilungsmaßnahmen hat sich am neoliberalen Wirtschaftsmodell wenig geändert. Dabei müsste sich Humala der Probleme wohl bewusst sein, immerhin war in seinem Wahlprogramm die Rede vom „neoliberalen Modell, das die soziale Ungleichheit verstärkt, die natürlichen Ressourcen verschlingt, Legalität und Demokratie beschädigt und keinerlei Entwicklung erzeugt“. Dennoch warb er jüngst auf einer Europatournee für die Ratifizierung eines Freihandelsabkommens mit der EU. Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen kritisieren, dass in diesem weder auf wirtschaftliche Asymmetrien noch auf Menschenrechte und Umweltverträglichkeit Rücksicht genommen wird. Eine Ansicht, die der Präsident vor der Wahl noch teilte.
Wie konnte Humala vom linken Hoffnungsträger zum autoritären Liebling der konservativen Eliten werden? Schon vor der Wahl hatte die Wahlallianz Zugeständnisse an das konservative Lager gemacht, um Stimmen für die Stichwahl zu sammeln. Über die Gründe für den weiteren Rechtsschwenk wird in Peru viel spekuliert. Der zurückgetretene Kongressabgeordnete Diez Canseco vermutet den Druck der traditionellen Machtgruppen aus Wirtschaft, Medien und Militär. „Schon am Tag nach der Wahl haben sie begonnen, sich Raum in der Regierung zu verschaffen. Die Verfechter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik auf Autopilot haben sich in Schlüsselpositionen gebracht und die politische Initiative ergriffen“.
Wenn auch einige Stellschrauben in der Sozialpolitik gedreht wurden, schließt sich die Regierung Humalas damit allzu harmonisch ihren Vorgängerinnen an. Dabei bleiben diejenigen auf der Strecke, die in Peru von jeher marginalisiert wurden. Humala hatte in ihnen die Hoffnung geweckt, dass ihre Interessen endlich nicht mehr den Wirtschaftsinteressen einer fernen Elite in Lima oder dem Ausland untergeordnet würden. „Die Millionen von Peruanern, die für Gana Perú und gegen den Neoliberalismus und Fujimorismus gestimmt haben, forderten eine neue politische Richtung. Diese Peruanerinnen und Peruaner werden von der Regierung weder gehört noch repräsentiert“, erklärt Mendoza.
Besonders gravierend scheint die Unfähigkeit der Regierung, soziale Konflikte friedlich zu lösen. Davon werden in Peru aktuell 243 gezählt, mehr als zur Regierungszeit Garcías, so die Ombudsstelle zur Überwachung der Bürgerrechte. Die Aussichten für die von Humala angekündigte „soziale Inklusion“ stehen demnach schlecht. Die Regierung hat das in sie gelegte Vertrauen nach einem Jahr Amtszeit verspielt. So erklärt José Rivera, ein Bergbauaktivist aus der Provinz Piura: „Wir wollten Ollanta Humala eine Chance geben, weil er angeboten hatte uns zu verteidigen. Leider müssen wir feststellen, dass er uns verraten hat.“

Selbstbestimmung oder Barbarei

Die deutschen Medien verwenden das Schlagwort „indigenes Recht“ in jüngster Zeit zunehmend als Aufhänger für skandalträchtige Radiofeatures, Zeitungsartikel oder Videos. Bolivien scheint sich für solche Reportagen in besonders prägnanter Weise zu eignen. Da versieht der Zeit-Autor Ulrich Ladurner einen Artikel zum Thema mit dem Titel „Wo man Diebe verbrennt“. Er stellt die Frage, ob die formal-rechtliche Gleichstellung der staatlichen Rechtsordnung mit indigenen Rechtssystemen in Bolivien in eine „Barbarei“ münden wird – vergleichbar mit der Terrorherrschaft der Taliban im pakistanischen Swat Tal. Unhinterfragt erweckt der Text den Eindruck, indigene Rechtsausübung wäre quasi eine Form von Lynchjustiz. Oder das Deutschlandradio berichtet von einem bolivianischen Verfassungsrichter, der unter Zuhilfenahme von Koka-Blättern höchstrichterliche Urteile trifft. Titel: „Bolivianischer Richter urteilt mit Hilfe von Koka-Blättern.“ Die Radionachricht sieht von jeglicher Kontextualisierung der Information ab, hat aber noch genug Platz für den despektierlichen Beisatz, wonach Koka-Blätter dem Richter nebenbei auch helfen „mit Pflanzen, Bergen und Flüssen zu kommunizieren“. Angesichts dieser oft oberflächlichen und vorurteilsbeladenen Berichterstattung ist es nicht nur angebracht, sondern höchste Zeit, sich etwas rationaler und fundierter mit der Frage auseinanderzusetzen, worum es eigentlich geht, wenn wir von indigener Justiz in Lateinamerika reden.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Ausübung indigenen Rechts ein international anerkanntes und zunehmend auch in nationalen Verfassungen verankertes Kollektivrecht indigener Völker darstellt. Auf Protestmärschen, Dialogforen und Verfassunggebenden Versammlungen machten Vertreter_innen indigener Bevölkerungen in den vergangenen Jahrzehnten ihre Forderungen nach Selbstbestimmung laut. In Bezug auf indigene Bevölkerungsgruppen beinhaltet das Konzept der Selbstbestimmung die Möglichkeit, innerhalb der existierenden Staaten gemäß eigenen Vorstellungen von Entwicklung zu leben und sich als Gruppe selbst zu regulieren. Dazu gehört die Aufrechterhaltung eigener Formen kultureller, sozialer, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Organisation. Auf internationaler Ebene flossen diese Forderungen in das 1991 in Kraft getretene Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein, wo es unter anderem heißt:

Art. 8.1. Bei der Anwendung der innerstaatlichen Gesetzgebung auf die betreffenden Völker sind deren Bräuche oder deren Gewohnheitsrecht gebührend zu berücksichtigen.
Art. 8.2. Diese Völker müssen das Recht haben, ihre Bräuche und Einrichtungen zu bewahren, soweit diese mit den durch die innerstaatliche Rechtsordnung festgelegten Grundrechten oder mit den international anerkannten Menschenrechten nicht unvereinbar sind.

Die inhaltlich weiter gehende, 2007 verabschiedete Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker bestätigt das Recht auf eigene Rechtsinstitutionen gleich zweifach. An seiner Formulierung waren deutlich mehr Repräsentant_innen indigener Gruppen involviert als an der vorangegangenen ILO Konvention,

Art. 5 Indigene Völker haben das Recht, ihre eigenen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen zu bewahren und zu stärken, während sie gleichzeitig das Recht behalten, uneingeschränkt am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Staates teilzunehmen, sofern sie dies wünschen.
Art. 34 Indigene Völker haben das Recht, ihre institutionellen Strukturen und ihre Bräuche, Spiritualität, Traditionen, Verfahren, Praktiken und, wo es sie gibt, Rechtssysteme oder Rechtsgewohnheiten im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen zu fördern, weiterzuentwickeln und zu bewahren.

Die meisten lateinamerikanischen Staaten gehören sowohl zu den Unterzeichnerinnen des rechtlich bindenden ILO Übereinkommens 169, als auch zu den Ländern, die sich bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung für die Annahme der Erklärung von 2007 ausgesprochen haben. Entsprechend haben viele dieser Staaten indigenen Bevölkerungsgruppen, die auf ihrem Territorium ansässig sind, im Zuge von Verfassungsreformen das Recht auf die Ausübung eigener Justiz zugesichert. Dazu gehören zum Beispiel Brasilien, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Mexico, Nicaragua, Paraguay, Peru und Venezuela. Ähnlich wie in den internationalen Normen werden der Ausübung dieses Rechts jedoch Schranken gesetzt, meist durch eine Klausel, wonach diese Praktiken nicht gegen ihre nationalen Verfassung oder die Menschenrechte verstoßen dürfen.

Ein wesentlicher Aspekt im Hinblick auf indigene Justiz bezieht sich auf die Tatsache, dass es sich hierbei keinesfalls um eine homogene Praxis über alle Regionen und indigenen Bevölkerungsgruppen hinweg handelt, sondern vielmehr um eine äußerst vielfältige „Rechtslandschaft“. Rechtsanthropolog_innen in Lateinamerika betonen, dass nicht einmal eine indigene Gruppe (zum Beispiel die Mapuche in Chile) mit einem einheitlichem Rechtssystem gleichgesetzt werden darf. Die Normen und Verfahren einer lokalen Gemeinde können sich durchaus von den entsprechenden Praktiken der Nachbargemeinde unterscheiden, selbst wenn beide ein und derselben Gruppe angehören. Das macht die Suche nach übergreifenden Charakteristiken natürlich nicht einfacher. Diese ist dennoch erforderlich, nicht zuletzt, um klarer abzugrenzen, wo indigene Justiz aufhört und Lynchjustiz, die die Medien oft mit indigenen Rechtspraktiken gleichsetzen, anfängt.

Die Suche nach Elementen, die in einer Vielzahl indigener Rechtssysteme präsent sind, führt zunächst einmal zu den Autoritäten, die die Kompetenz haben, Recht auszuüben. Diese Funktion wird in indigenen Gemeinden nicht von einer beliebigen Person oder einer sich spontan versammelnden Gruppe von Anwohner_innen ausgeübt (wie bei Fällen der Lynchjustiz üblich). In der Regel übertragen Gemeinden diese Kompetenz an spezielle Gemeindemitglieder, wobei die konkreten Verfahren jeweils stark variieren. In einigen Gemeinden ist etwa die Ernennung erfahrener Personen in einen Ältestenrat üblich. Andernorts wählt die Gemeinde Mitglieder, die ein gesellschaftlich und moralisch vorbildliches Verhalten aufweisen, auf bestimmte Zeit in das Amt der Rechtsautorität.

Konflikte, die an indigene Rechtsautoritäten herangetragen werden, beziehen sich typischerweise auf Fragen des Landbesitzes, die Nutzung von natürlichen Ressourcen wie kollektivem Weideland oder Wasser, den Diebstahl von Vieh oder Sachgegenständen oder den Schaden, der durch Vieh auf benachbarten Feldern angerichtet wird. Auch Streitigkeiten zwischen Nachbar_innen und familiäre Konflikte wie Erbstreitigkeiten oder häusliche Gewalt sind Themen. Gelegentlich müssen sich Rechtsautoritäten aber auch mit übersinnlichen Phänomenen wie der Hexerei auseinandersetzen.

Während sich Lynchjustiz an spontanen Willkürakten einer aufgebrachten Menschenmenge festmachen lässt, folgt indigene Justiz Regeln und Verfahren, die meist zwar nicht in einem „Gesetzbuch“ niedergeschrieben, aber dennoch allen Gemeindemitgliedern bekannt sind. Die Verfahren umfassen verschiedene Phasen: Der Auftakt eines rechtlichen Verfahrens besteht oftmals darin, dass die zuständige Rechtsautorität einer Gemeinde von einem Problem oder Konflikt erfährt. Sie wird zunächst versuchen, alle beteiligten Konfliktparteien anzuhören und danach wichtige Details des Falls zu klären. Dies kann durch die Befragung von Zeug_innen, die Einholung von Unterlagen oder die Begehung relevanter (Tat-)Orte geschehen. Im Anschluss bemüht sich die Rechtsautorität um eine mögliche Lösung des Konflikts, wobei sie den Rat von Ältesten oder erfahrenen Gemeindemitgliedern hinzuziehen kann. Oftmals werden die Konfliktparteien selbst dazu aufgefordert, Lösungen vorzuschlagen oder Übereinkünfte zu treffen.

Akte der Lynchjustiz lassen der Suche nach alternativen Lösungsvorschlägen keinen Raum. Die Dynamik der aufgebrachten Masse zielt in der Regel einzig auf die Vergeltung des (vermeintlichen) Rechtsverstoßes durch Tötung, oder zumindest die Absicht der Tötung der Beschuldigten ab, und dies oftmals in einer brutalen und unmenschlichen Art, die der Folter nahekommt. Im Vergleich dazu zielen Sanktionen oder Resolutionen indigener Rechtsautoritäten darauf ab, den entstandenen Schaden wieder gut zu machen und so das aus den Fugen geratene Gleichgewicht in der Gemeinde wiederherzustellen. Personen, die einen Schaden angerichtet haben, sollen über ihr Fehlverhalten reflektieren, den Schaden kompensieren, aber auch die Chance erhalten, sich in die Gemeinschaft zu reintegrieren. Sanktionen werden nicht pauschal ausgesprochen, sondern richten sich nach dem Grad des begangenen Rechtsverstoßes. Zu den typischen Sanktionen im indigenen Recht gehören etwa ein öffentliches Gelöbnis der Verhaltensänderung, die Wiedergutmachung eines Schadens durch Gemeindearbeit, Vergütung in Geld oder anderen materiellen Sachleistungen oder körperliche Strafen. Dies können Bäder im kalten Wasser, aber auch Peitschenschläge mit Brennnesseln oder Viehriemen sein. Gerade letztere rufen häufig Kritiker_innen auf den Plan, die solche physischen Strafen als Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit oder als Folter interpretieren. Expert_innen im indigenen Recht argumentieren hingegen, dass diese Praktiken weder darauf abzielen, die Person ihrer Würde zu berauben, noch die Gesundheit der Person ernsthaft aus Spiel zu setzen. Vielmehr heben sie den Aspekt der spirituellen Reinigung der Person hervor, bei welcher der physische Schmerz Teil des Besinnungsprozesses ist.

Zu weiteren wichtigen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Lynchjustiz und indigener Jusitz zählt einmal die Tatsache, dass in vielen indigenen Gemeinden die Möglichkeit besteht, sich an eine höhere Instanz zu wenden, etwa die Dachorganisation der ethnischen Gruppe. Diese kann ein Urteil überprüfen und revidieren, wenn sich dieses erste Urteil als fehlerhaft erweist. Zum zweiten können bei indigener Justiz Wiederholungstäter_innen beziehungsweise Personen, die ihre Strafauflagen nicht erfüllen, durch erneute Rechtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Oftmals hat das zur Folge, dass die Sanktionen verschärft werden oder mit der Übergabe des Falls an die staatliche Justiz gedroht wird. Im Übrigen orientieren sich auch sehr weit abgelegene indigene Gemeinden zunehmend an den nationalen Normen ihrer Staaten, weshalb Sanktionen wie die Todesstrafe, die früher in einigen Regionen durchaus bei besonders schweren Vergehen angewandt wurde, in den wenigsten Gemeinden noch zum Repertoire der Rechtsausübung gehört. Stattdessen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der überwiegenden Mehrheit indigener Gemeinden der Ausstoß aus der Gemeinde, und damit der Verlust der Gemeinderechte und des unmittelbaren sozialen Netzes, zur härtesten Strafe entwickelt.

Ein Punkt, bei dem die Grenzen zwischen Lynchjustiz und indigenem Recht schon eher fließend werden, ist die Frage nach den Orten oder Schauplätzen, an denen diese praktiziert werden. Wo die sozialen Netze einer Gemeinde noch dicht und die eigenen Organisationsstrukturen gut aufgestellt sind, finden wir häufig auch eine effektiv funktionierende und von den Bewohner_innen respektierte Verwaltung der eigenen Justiz vor. Allerdings sind viele ländliche Gemeinden längst von temporärer oder dauerhafter Migration gekennzeichnet. Die jüngere Generation sucht nach besseren Ausbildungsmöglichkeiten in Städten und viele Familien haben neben ihrem Standbein auf dem Land und der dort betriebenen Landwirtschaft längst ein zweites Standbein in urbanen Zonen aufgestellt, um so ihre Einkommensquellen zu diversifizieren. Vor diesem Hintergrund wird es zunehmend schwieriger, stabile Strukturen der Selbstregulierung in ländlichen Gemeinden aufrechtzuerhalten. In Regionen, in denen eigene Organisationsstrukturen geschwächt oder abhanden gekommen sind, aber ebenso in semiurbanen Zonen und städtischen Peripherien, ist Lynchjustiz daher eher anzutreffen. So wie auf dem Land, ist auch in diesen Zonen die Präsenz von Polizei und anderen Ordnungskräften minimal. Diese können oftmals nur machtlos dabei zusehen, wenn Bürger_innen „die Justiz in ihre eigenen Hände“ nehmen.

Konstellationen wie die hier beschriebene, in denen staatliches Recht und indigene Justizformen nebeneinander existieren und sich teilweise überlappen, werden gemeinhin unter dem Stichwort Rechtspluralismus diskutiert. Diese Sphären sind freilich nicht voneinander abgeschottet, sondern stehen meist in unbequemen und konfliktträchtigen Beziehungen zueinander. Die Gewichtung, die Vereinbarkeit der normativen Inhalte, aber auch konkreten Zuständigkeiten für Personengruppen, Sachverhalte und geographische Regionen sind unklar.
Eine wichtige Härteprüfung für indigene Justiz in Lateinamerika bildete der mit dem Kolonialismus einhergehende Einzug kontinentaleuropäischer und christlich geprägter Werte und Ordnungsvorstellungen. Je nach den jeweiligen politischen und ökonomischen Interessenlagen der Herrschenden in bestimmten Regionen wurde indigenes Recht geduldet, gewaltsam unterdrückt oder schlicht ignoriert. Die Aufrechterhaltung indigener Rechtsvorstellungen beziehungsweise Versuche ihrer Neukonstituierung über alle Widrigkeiten hinweg, wird heute von indigenen Bevölkerungsgruppen als eine Form von Resistenz gegen jahrhundertelange Diskriminierung verstanden. Doch hat indigene Justiz nicht nur als kulturelle Praxis überlebt, weil sie von indigenen Gemeinden als legitimer Ausdruck ihrer Selbstbestimmung angesehen wird. Sie bildet auch eine effektive Alternative zum staatlichen Rechtssystem, das in Lateinamerika mit enormen Schwächen beladen ist – hohe Kosten, lange Wartezeiten, bürokratische Verfahren, unangemessene Ausstattung, geringe flächendeckende Präsenz, Korruption und Straflosigkeit – um nur einige zu nennen.

Ohne jeglichen Zweifel ist aber auch indigenes Recht nicht frei von Problemen: Neben den bereits erwähnten körperlichen Strafen, die bisweilen schwer mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sind, sind auch diese Systeme nicht vor Missbrauch der handelnden Autoritäten gefeilt. Weil die Ausübung von Recht in den Händen eines Nachbarn beziehungsweise einer Nachbarin oder gar eines Familienmitglieds liegt, kann von Neutralität gegenüber den Konfliktparteien keine Rede sein. Daneben ist indigene Justiz vielerorts eine männlich dominiere Sphäre, die dazu führt, dass sich Frauen seltener mit ihren Problemen an die Rechtsautoritäten wenden, und wenn sie dies doch tun, sie sich oft mit völlig unangemessenen Urteilen konfrontiert sehen. So kann es durchaus vorkommen, dass die sexuelle Vergewaltigung einer Minderjährigen durch die Abgabe zweier Kühe oder eine Heirat mit dem Vergewaltiger beglichen wird.

Zugleich darf nicht übersehen werden, dass indigene Rechtsordnungen nicht fix und unveränderbar sind, sondern sich vielmehr im Laufe der Zeit weiter entwickelten. Sie passten sich an neu in den Gemeinden auftretende Konflikte und Gegebenheiten an. Dabei eigneten sich die jeweils handelnden Akteure auch Elemente aus dem kolonialen und republikanischen Recht an und verwendeten diese nicht zuletzt zur Legitimierung der eigenen Autorität nach innen und nach außen. Insofern besteht zumindest Grund zu der Annahme, dass indigene Rechtsautoritäten auch heute in der Lage sein sollten, Normgehalte jüngeren Datums in ihre eigene Praxis zu übersetzen, sofern sie zu der Überzeugung gelangen, dass diese dem Gemeinwohl aller dienen könnten.
Mit der rechtlichen Anerkennung indigenen Rechts in vielen lateinamerikanischen Staaten ist ein erster wichtiger Schritt zum Dialog zwischen den verschiedenen Rechtskulturen getan worden. Das klassische Nationalstaatsmodell, das dem Staat ein Monopol auf die Rechtsausübung zusicherte, wurde damit zumindest formell überwunden. Nun aber müssen weitere Schritte folgen. Staatliche Institutionen müssen sich für die Aufnahme normativer Wertvorstellungen indigener Herkunft öffnen. Wichtige Rahmengesetzgebungen wie die nationalen Strafgesetzbücher sollten im Hinblick auf die neue Rechtswirklichkeit reformiert werden. Curricula der Rechtsfakultäten sollten um das Thema indigener Justiz angereichert werden. Bei staatlichen Rechtsverfahren, in denen indigene Personen involviert sind, sollte die Hinzuziehung indigener Rechtsautoritäten oder Rechtsanthropolog_innen Standard werden. Die Koordination zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen sollte zumindest in ihren Grundzügen klar geregelt werden. (Das entsprechende Gesetz in Bolivien ist zwar das erste seiner Art, lässt aber zu viel Raum für Kritik und offene Fragen). Staatlichen und indigenen Rechtsautoritäten sollten Räume für Austausch und die Formulierung von Übereinkünften gegeben werden. Auch indigene Autoritäten sollten sich nicht vor der Verantwortung scheuen, sich auf diesen interkulturellen Dialog einzulassen. Es ist notwendig, dass sie sich über nationale und internationale Rechtsstandards informieren und Veränderungen der eigenen Rechtspraxis dort einleiten, wo die gängigen Normen, Verfahren und Sanktionen nicht mehr zeitgemäß erscheinen und Rechte schwächerer Gemeindemitglieder beeinträchtigen. Und wenn die Medien auch nur einen Teil der Energie und Ressourcen, die sie bislang in die skandalisierte Berichterstattung zu indigener Justiz eingesetzt haben, fortan in einen der eben genannten Bereiche investieren würden, wäre schon viel getan.

 

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Verdrängtes ans Licht bringen

Der dunkle Saal im alteingesessenen Kino Capitol in der Fußgängerzone von Guatemala Stadt ist bis auf den letzten seiner 300 Plätze belegt. Über die Leinwand flimmert ein Schwarzweißfilm. Eine bulgarische Berglandschaft gibt mit einigen prominent platzierten Kunstpalmen die mittelamerika­nischen Kulissen. „Mit Männern wie Ihnen werden wir in null Komma nichts Guatemala befreien“, tönt es in deutscher Sprache. Nur manchmal fallen ein paar spanische Kraftausdrücke, die in den Untertiteln nicht übersetzt werden müssen.
In Das Grüne Ungeheuer, einem DDR-Klassiker von 1962 nach dem Roman von Wolfgang Schreyer, gerät der deutsche Hauptdarsteller durch widrige Umstände an die vorderste Front des Kalten Krieges in Mittelamerika. Mit ihm erlebt das bunt gemischte Publikum im Cine Capitol nun in fünf abenteuerlichen Kapiteln den CIA-gesteuerten Sturz des guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Arbenz mit. Dieser hatte mit seinen beherzten Landreformen „das grüne Ungeheuer“ – die allmächtige United Fruit Company – gegen sich aufgebracht.
„Guatemala sieht sich im Spiegel“, urteilte Kolumnist Raúl de la Horra, einer der Podiumsgäste auf dem Festival. „Die Reflektion der eigenen Geschichte ist es, was wir in diesem Land so dringend brauchen.“ Zwei Tage später zeigt ein Dokumentarfilm die BRD-Perspektive der 1960er Jahre auf Guatemala. In „Jungfrau, Marx und Huracán“ gehen die Filmemacher der Frage nach, „ob Moskaus Saat nun auch in Guatemala wächst“.
In der NDR-Reportage preisen Angehörige der guatemaltekischen Elite und deutsche Kaffee­plantagen­besitzer den Putsch gegen Arbenz als Befreiungsschlag. Ein 36 Jahre anhaltender Bürgerkrieg und der Genozid an der Maya-Bevölkerung werden folgen. 200.000 Menschen wurden dabei umgebracht; weitere 50.000 verschwanden gewaltsam. Der Bericht der UNO-Wahrheits­kommission stellte Ende der 1990er Jahre fest, dass 83 Prozent der Opfer Indigene waren und 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee verübt wurden.
„16 Jahre nach Abschluss der Friedensverträge herrscht vielerorts noch immer Schweigen über die blutige Vergangenheit“, konstatiert Uli Stelzner, ein deutscher Filmemacher, der das Internationale Filmfestival in Guatemala initiierte. „Im letzten Jahr wurden die ersten Strafverfahren gegen Militärs eröffnet. Die guatemaltekische Justiz hat angefangen, sich zu bewegen. Nun ist es von fundamentaler Bedeutung, Druck in der Öffentlichkeit aufzubauen, damit dieser Prozess nicht zum Erliegen kommt.“
Uli Stelzner dreht seit fast 20 Jahren sozialkritische Filme in Guatemala (siehe LN 449). Eine enge Kooperation zwischen deutschen und guatemaltekischen Filmschaffenden ist entstanden. Diese gehen der „unbedingten Notwendigkeit“ nach, mit Dokumentarfilmen ein nichtkommerzielles Kino in dem kleinen mittelamerikanischen Land zu schaffen. Für Uli Stelzner war es dabei stets wichtig, als Filmemacher in Dialog mit der Bevölkerung zu treten. Mobile Vorführungen führten ihn in entlegenste Dörfer, um Diskussionen in die kriegsgeschädigten Gemeinden zu tragen.
Sein aufwendigstes Filmprojekt jedoch verlangte nach einem größeren Rahmen. In La Isla – Archive einer Tragödie werden die Zuschauer in die fensterlosen Räume der gefürchteten Folterstätte der guatemaltekischen Polizei geführt (siehe LN 433/434). Das Gebäude in der Peripherie der guatemaltekischen Hauptstadt konnte nie verortet werden. Bis es im Jahr 2005 überraschend durch eine Explosion der Öffentlichkeit zugänglich wurde – und mit ihm das bislang geheime Polizeiarchiv. Vor weißgetünchten Wänden lagerten dort vergilbte Aktenberge, insgesamt 80.000 Dokumente. „Nun gab es auf einmal minutiös geführte Aufzeichnungen über politische Morde, extralegale Festnahmen und Folter während des Krieges“, berichtet Stelzner.
Die kommerziellen guatemaltekischen Medien hätten jedoch kein Interesse daran, die Menschen darüber zu informieren. Die heutige Regierung von Ex-General Otto Pérez Molina, der als junger Offizier in das Massaker im Nebaj-Ixil-Dreieck verstrickt war, noch viel weniger. In La Isla zeigt ihn Archivmaterial inmitten hingerichteter Bauern stehend. „Mit dem Dokumentar­film haben viele erst erfahren, dass sie nun die Möglichkeit haben, nach verschwundenen Familien­angehörigen zu forschen.“ La Isla gab 2010 den Auftakt zum ersten Internationalen Filmfestival in Guatemala. Trotz Bombendrohung und Sabotage strömten 6.000 Menschen in den Kulturpalast, Symbol der vergangenen Militärdiktaturen. „Bilder wurden gezeigt, die lange verdrängt wurden.“
Drei Jahre später hat sich das Filmfestival vergrößert. Zehn Tage lang wurden bis Mitte Mai 17 Filme aus Lateinamerika und Europa gezeigt. Ihre Auswahl hat sich aus der Diskussion der letzten Jahre ergeben: Denn neben der ausstehenden Aufarbeitung der Vergangenheit ist die indigene Mehrheitsbevölkerung in Guatemala heute erneut Repression und Verfolgung ausgesetzt. Diesmal sind es multinationale Unternehmen, die mit Industrie-, Minen- und Staudammprojekten in die Gemeinden eindringen und dabei vom Militär geschützt werden. Filme aus Peru, Kolumbien und Österreich drehen sich um den weltweiten Ressourcenboom, der immer wieder auch indigene Territorien betrifft.
Eine Frau aus dem Publikum erhebt sich, um eine Wortmeldung zu machen. Ihre bestickte Bluse und der gewebte Rock weisen sie als Bewohnerin des Departamentos Sacatepeque aus. „Die Realität holt uns im Kinosaal ein. Bilder, wie wir sie hier auf der Leinwand sehen, waren heute auf den Titelseiten der Zeitungen.“ Sie verweist auf den dieser Tage ausgebrochenen Konflikt in Santa Cruz Barillas, im Hochland Westguatemalas. Dort sprachen sich in einer Volksbefragung knapp 50.000 Indigene gegen wirtschaftliche Großprojekte aus. Laut der von Guatemala ratifizierten ILO-Konvention 169 über Indigene Rechte gilt diese als rechtsverbindlich. Der Bau eines Hydroelektrizitätswerkes wurde trotzdem weiterverfolgt; der dagegen aufwallende Protest schließlich mit dem Einsatz des Militärs und der gezielten Festnahme von Aktivist_innen beantwortet.
Auch in der Vorführung am nächsten Morgen, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Oberstufen­schulen der Hauptstadt läuft, haben die Schüler_innen von Barillas gehört. Was dort genau vor sich geht, weiß jedoch keiner so recht zu sagen. Die kanadische Filmemacherin Stephanie Boyd ermuntert die anwesenden Schüler_innen, selbst zur Digitalkamera oder zum Handy zu greifen und ihr Leben und die Realität in ihrem Land zu dokumentieren. Die Jugendlichen in Schuluniform grinsen ein wenig verlegen und rutschen auf den kaminroten Kinosesseln herum.
Doch Stephanie Boyd lässt nicht locker: „Werdet wie Chasquis, die Laufboten der Inkas, und tragt Informationen von der Küste ins Hochland und zurück.“ Sie erzählt den 17-jährigen, wie sie und ihr Kameramann sich autodidaktisch die Filmproduktion beibrachten. Spezialeffekte drehen die beiden in ihrer Küche. Die in Peru lebende junge Frau ist mit ihrer Doku „Operation Teufel – ein Bergbau­konzern greift an“ seit zwei Jahren weltweit auf Filmfestivals präsent. Mehr jedoch als die eigene Filmproduktion liegt ihr die Weitergabe von technischem Know-How an Aktivist_innen am Herzen. „Ein Land ohne Dokumentarfilme ist wie eine Familie ohne Fotoalbum“, zitiert sie Patricio Guzmán, der den Aufstieg Salvador Allendes in Chile und den Putsch des Militärs filmte.
Auch am Abend strömen interessierte Kinobesucher_innen wieder die Treppen des alten Filmpalasts hinauf. Student_innen, Angehörige indigener Organisationen, Pensionär_innen, Pressevertrete_innen und internationale Freiwillige durchqueren die Ladenzeilen, wo neben Pizza, Telefonkarten und Parfüm auch Waffen und Munition feilgeboten werden. Aus dem Erdgeschoss dringt der Lärm von Spielautomaten und Musikboxen herauf.
An einem Abend stellt der international renommierte Journalist Hollman Morris seinen Film „Impunity – Straflosigkeit für Massenmorde in Kolumbien“ vor. Für seine kontinuierliche investigative Berichterstattung im Drogenkrieg bekam er im letzten Jahr den Nürnberger Menschenrechtspreis verliehen. Seit Jahren dokumentiert Morris politische Morde, Vertreibungen – und die Verstrickungen der Regierung in Paramilitarismus und Drogenhandel. Nicht ohne persönliche Konsequenzen: Der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe diffamierte ihn als „Komplize des Terrors“, manipuliertes Filmmaterial machte ihn zum Sprecher der FARC-Guerilla und die USA verweigerten ihm 2010 unter Terrorismus-Vorwurf die Einreise.
Doch Morris ist überzeugt: „Die Geschichte muss aus Sicht der Opfer erzählt werden, nicht der Täter.“ Der Dokumentarfilm gäbe in Lateinamerika den zum Schweigen gebrachten eine Stimme, fährt er fort. „Er ermöglicht es darüber hinaus, die Opfer von Kriegen und Diktaturen nicht nur in ihrer menschlichen Tragödie darzustellen. Er zeigt sie als Subjekte mit ihren Schmerzen und Traumata, aber auch mit ihren Rechten und ihrer Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Das Filmfestival neigt sich seinem Ende zu. Menschen strömen aus dem Kino. Währenddessen steckt die Vergangenheitsaufarbeitung in Guatemala weiter in den Kinderschuhen.

Los Cabitos und seine Opfer

Eines der Ziele der peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR) war die Aufklärung der Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die während des internen bewaffneten Konflikts von 1980 bis 2000 durch terroristische Organisationen und staatliche Einheiten begangen wurden. Die Verschwundenen sollten gefunden, die Verbrechen an der Bevölkerung aufgeklärt und die mutmaßlichen Täter soweit wie möglich identifiziert werden.
Die Kommission nahm zwischen 2001 und 2003 mehr als 17.000 Zeug_innenaussagen auf, die über die Grausamkeiten, die von subversiven Gruppen und Vertretern des Staates begangen worden waren, Auskunft gaben. Anlässlich der Zeremonie zur Übergabe des Abschlussberichts erklärte der Präsident der Kommission, Salomón Lerner: „In der Geschichte unseres Landes gab es mehr als einen schwierigen und leidvollen Augenblick. Aber mit Sicherheit verdient es keiner, derart mit dem Siegel der Scham und Schande versehen zu werden, wie der Ausschnitt der Geschichte, den wir jetzt gezwungen sind zu erzählen. Die Kommission hat eine Vielzahl von Verantwortlichen für Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen ermittelt, sie ermutigt die peruanische Gesellschaft zu verlangen, dass die Strafjustiz sofort handelt.”
Auch mutmaßliche Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen, die im Militärstützpunkt Los Cabitos Nr. 51 in Ayacucho begangen worden waren, konnte die Wahrheits- und Versöhnungskommission identifizieren. Unter Führung von Clemente Noel, ehemals politisch-militärischer Chef in Ayacucho, wurde dort Ende 1982 das erste politisch-militärische Kommando eingerichtet und eine „antisubversive Strategie“ umgesetzt. Die Kommission stellte fest, dass Mitglieder des Militärs, die im Stützpunkt Nr. 51 stationiert waren, sowie Angehörige der Einheit des Geheimdienstes, die als “La Casa Rosada” (Das Rosa Haus) bekannt war, zwischen 1983 und 1984 zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an der lokalen Bevölkerung befahlen, erlaubten und begingen.
Nach dem Abschlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission hat die Staatsanwaltschaft für Menschenrechte im Dezember 2004 Strafanzeige wegen Folter und gewaltsamem Verschwindenlassen erhoben. Im Januar 2005 eröffnete das Gericht das Verfahren gegen Clemente Noel und sechs weitere militärische Oberbefehlshaber. 2012 befindet sich der Prozess – „Caso Cabitos 83“ genannt – in seiner Endphase, die voraussichtlich von Mai 2012 bis etwa August 2013 dauern wird. Die bevorstehenden Anhörungen der Folteropfer und der Familienangehörigen von Verschwundenen wurden nach Ayacucho verlegt. Nach 29 Jahren warten die Zeug_innen ungeduldig darauf, vor der zuständigen Nationalen Strafkammer auszusagen. Sie wollen ihre Wahrheit erzählen – eine Wahrheit, die über viele Jahre verleugnet wurde.
Der „Caso Cabitos 83“ ist einer der bedeutendsten Fälle der peruanischen Justizgeschichte. Nie zuvor wurden in einem Verfahren so viele Menschenrechtsverletzungen, die über einen so langen Zeitraum begangen worden sind, verhandelt und mit über 100 Opfern so viele Zeug_innen angehört. Die Staatsanwaltschaft hat für jeden der Angeklagten 30 Jahre Haft gefordert. Laut den Sachverständigen wurden Hunderte von Menschen im Stützpunkt Los Cabitos inhaftiert. Wenige von ihnen hatten das Glück, lebend wieder herauszukommen. Einer von ihnen ist Edgar, der zu Hause festgenommen und nach Los Cabitos gebracht wurde. Er wurde gefoltert, damit er seine Zugehörigkeit zum Leuchtenden Pfad gestehe. „Sie bedrohten mich mit dem Tod. Ich sollte Verbindungen zum Terrorismus gestehen. Sie schlugen mich auf den Rücken und brachten mich nach Los Cabitos. Sie fesselten meine Hände und tauchten mich in einer Wanne mit Wasser unter. Sie folterten mich mit Elektroschocks und warfen mich einmal während des Fluges an einem Seil hängend aus einem Hubschrauber.”
Alcira, die im April 1983 in ihrem Haus festgenommen und nach Los Cabitos gebracht wurde, erzählt: „Sie verhüllten meinen Kopf mit einer Kapuze und brachten mich in einen Raum, in dem ich die Schreie von anderen Verhafteten hörte. Sie befahlen mir, mich auszuziehen, banden mir die Hände hinter dem Rücken zusammen und hängten mich an ihnen auf. Sie fragten mich, wen ich umgebracht hätte und welche Terroristen ich kennen würde. Sie schlugen mich mit ihren Fäusten am ganzen Körper und zerrten an meinen Schamlippen und Brüsten, bis ich das Bewusstsein verlor.”
Diejenigen, die es nicht schafften, Los Cabitos wieder zu verlassen, sind bis heute verschwunden. In der Regel begann das gewaltsame Verschwindenlassen mit einer Verhaftung durch Mitglieder der Sicherheitsdienste oder des Militärs. Die Verantwortlichen leugneten die Verhaftungen gegenüber den Angehörigen und der Staatsanwaltschaft.
Die Familienangehörigen der Opfer gründeten im September 1983 die erste Nationale Assoziation von Familienangehörigen von Entführten, Verhafteten und Verschwundenen in Peru (ANFASEP), der sich über 1.000 Menschen anschlossen. Celsa, Mitglied von ANFASEP und Mutter des bis heute verschwundenen Luis Alberto Barrientos Taco, berichtet vor dem Prozess: „Uniformierte Soldaten und Polizisten drangen mit Gewalt in mein Haus ein. Sie trugen große Waffen und waren maskiert. Sie richteten eine Waffe auf mich und fragten: ‚Wo sind Deine Söhne?‘ Danach gingen sie in die Zimmer und nahmen Luis Alberto mit. Sie verbanden ihm die Augen mit einer Windel, die sie auf der Wäscheleine fanden. Sie nahmen ihn mit und warfen ihn in ein Auto und fuhren Richtung Los Cabitos.”
Celsa, Edgar, Alcira und viele andere werden ihre Zeug_innenaussagen vor den Mitgliedern der Nationalen Strafkammer machen. Zum ersten Mal werden sie angehört werden. Sie werden ihre Wahrheit erzählen und fordern, dass die Verantwortlichen für Folter und Verschwindenlassen bestraft werden.
Um die Zeug_innen und Angehörigen zu unterstützen, haben sich in Ayacucho Mitglieder verschiedener Menschenrechtsorganisationen, um eine Begleitung durch den Prozess zu organisieren. In Absprache und enger Zusammenarbeit mit der Menschenrechtsorganisation APRODEH, welche die Zeug_innen und Angehörigen juristisch vertritt, werden diese vor, während und nach den Anhörungen durch regelmäßige Besuche von Freiwilligen begleitet sowie durch therapeutische Einzel- und Gruppensitzungen mit Psychologen betreut. Damit sollen die Zeug_innen und Familienangehörigen emotional gestärkt werden, um die Verhandlungen psychisch möglichst unbeschadet zu überstehen. Außerdem soll die Begleitung zu ihrem physischen Schutz beitragen. Beides sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass sie sich sicherer fühlen und sich bei den Anhörungen in ihren Aussagen nicht verunsichern und verwirren lassen. Anlass für dieses Projekt sind Erfahrungen mit anderen Anhörungen, bei denen Zeug_innen unter einer massiven Retraumatisierung litten. Zu Verfahren mit Begleitung äußerten sie sich dagegen positiv: „Wir haben uns besser gefühlt, denn wir waren nicht allein.“
Parallel zum Gerichtsverfahren begann die Suche nach geheimen Gräbern von Verschwundenen auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes La Hoyada des Stützpunktes Los Cabitos. Im Januar 2005 begannen die Exhumierungen, die bis 2011 andauerten. Während dieses Prozesses wurden Einzel- und Massengräber mit Knochen von 109 Personen gefunden. Bei 54 Personen handelt es sich um vollständige Skelette, bei den anderen um Knochenfragmente. Man fand ein Krematorium, einen Treibstofftank, Rohrleitungen und andere Technik zur Lagerung und zum Transport des Brennstoffes. Die Forensiker des Gerichtsmedizinischen Instituts der Staatsanwaltschaft in Ayacucho fanden heraus, dass die Mehrzahl der bei den Exhumierungen gefundenen Körper von Kindern und Jugendlichen stammten; sie waren bekleidet, ihr Gesicht war verhüllt und im Schädel hatten sie Einschusslöcher. Ebenso fand man Skelette von hochschwangeren Frauen. In der Nähe des Krematoriums fand sich eine Vielzahl von verbrannten und zum Teil karbonisierten Knochenfragmenten. Die Funde sind eindeutige Beweise für die Existenz des geheimen Friedhofs in La Hoyada und für die Verantwortung der damaligen Oberbefehlshaber an den schweren Menschenrechtsverletzungen, die dort begangen worden sind. Die Zeug_innen sprechen davon, dass mindestens 500 Menschen in La Hoyada verbrannt und beerdigt wurden.
Die Knochen der Exhumierten wurden bislang nicht identifiziert. Im Zuge des Beweisverfahrens stellte die Staatsanwaltschaft vom 11. bis 13. April 2012 in Ayacucho die Kleidungsstücke der 54 vollständigen Skelette aus. Etwa 270 Menschen kamen in der Hoffnung, Hinweise auf ihre verschwundenen Angehörigen zu finden. Jedoch konnte lediglich die Kleidung von acht Opfern identifiziert werden, von denen jedoch keines 1983 verschwand, und deren Tod deshalb nicht in den Prozess eingehen kann.
Seit Jahren setzen sich die Folteropfer und die Familienangehörigen der Verschwundenen, die in ANFASEP organisiert sind, mit Unterstützung des Menschenrechtsnetzwerkes in Ayacucho dafür ein, dass auf dem Exhumierungsgelände La Hoyada eine „Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der Gewalt“ errichtet wird. So soll dauerhaft an die Erlebnisse und Ereignisse während der zwei Jahrzehnte des internen Krieges erinnert und der Opfer gedacht werden. Die Forderung nach der Gedenkstätte entspringt aber auch der Erkenntnis, dass die Bevölkerung Ayacuchos wie auch die gesamte peruanische Bevölkerung ihre Vergangenheit aufarbeiten muss, um in Frieden zu leben. Die Erinnerung trägt dazu bei, das Erlebte und seine traumatischen Folgen zu überwinden und Perspektiven für die Zukunft aufzubauen.

„Der illegale Bergbau soll nun geahndet werden“

Der Bergbausektor in Peru produziert fortwährend negative Schlagzeilen – woran liegt das?
In Peru gibt es eine große Angst, Investitionen zu verlieren, da werden soziale und umweltpolitische Defizite in Kauf genommen.

Aber angesichts der großen Nachfrage und der hohen Investitionsvorhaben von mehr als 30 Milliarden US-Dollar hat die Regierung doch beste Chancen, den Sektor zu regulieren?
Genau das ist der Regierung aber nicht klar, sie weiß das einfach nicht. Zudem ist ein weiteres Problem, was unter dem Tisch verhandelt wird – ich meine die Korruption.

Auf der anderen Seite stehen diesen Interessen zunehmende Widerstände gegenüber. Die Bevölkerung wirft der Regierung immer öfter vor, zum Vorteil der Gesellschaften zu entscheiden und in deren Interesse zu agieren.
Wir sprechen immer von der Regierung, aber tatsächlich sind es Sektoren, das Bergbau-, das Gesundheits-, das Umweltministerium und so weiter. Da gibt es Widersprüche und auch Widerstände, aber reale Macht hat vor allem das Bergbauministerium.

Der Bergbau gilt als Lokomotive der ökonomischen Entwicklung Perus und er ist durchaus in der Lage, Geld für den Ausbau der Infrastruktur des Landes, für die Bildung und die Entwicklung der produktiven Basis zu generieren. Faktisch wird aber kaum in die Köpfe investiert…
Ja, das ist ein zentrales Problem, denn der Bergbau oder die Bergbauunternehmen investieren nur sehr selten in Bildungsprogramme. Die soziale Entwicklung steht nicht gerade im Fokus der Unternehmen.

Gleichwohl behaupten Unternehmen wie Yanacocha oder Xstrata, dass sie der ganzen Region Entwicklung bringen werden – ein Widerspruch?
Ja, aber letztlich ist es der peruanische Staat, der dirigieren und regulieren muss. Doch es fehlt am Konzept, um das Orchester der Bergbauunternehmen zu dirigieren. Das ist das Dilemma. Hier in Madre de Dios tut sich zumindest etwas. Im Februar wirkte der Staat noch recht konzeptionslos, heute, Mitte April, sieht es schon ein bisschen anders aus. Derzeit kristallisiert sich eine Linie der Kontinuität heraus, es gibt erstmals klar definierte Normen, die festlegen, was illegaler Bergbau ist. Das ist ein Fortschritt und erstmals wird genau definiert, unter welchen Bedingungen Bergbau möglich ist, in welchen Zonen er verboten ist, und dass man eine Lizenz braucht, um nach Gold zu schürfen. All das sind Neuerungen und es muss sich noch zeigen, ob sie das Papier wert sind, auf dem sie formuliert sind. Neu ist aber auch, dass der illegale Bergbau fortan geahndet wird, einen Straftatbestand erfüllt und dass die Polizei derzeit im Einsatz ist und illegale Bergbauaktivitäten unterbindet – durch die Zerstörung der Ausrüstung. Aber auch diejenigen, die den mineros das Material zur Verfügung stellen, machen sich fortan strafbar. Das gilt für den Tankwart, der Benzin liefert, für logistische Dienstleistungen und so fort aber auch für Funktionäre, die das erlauben oder dulden.

Klingt konsequent…
Ja, und es wird aufgeräumt mit sehr widersprüchlichen Normen und Bestimmungen, das ist ein wichtiger Schritt, und es ist klar, dass auf viele Delikte fortan Gefängnis steht. Neu ist auch, dass derzeit die neuen Bestimmungen durch die Präsenz von Polizei und Militär durchgesetzt werden. Derzeit vergeht kaum ein Tag, wo nicht der Polizeihubschrauber im Einsatz ist und illegale Goldschürfer hochnimmt. Dort geht es darum, den Bergbau zurückzudrängen und konsequent die Konzessionen zu überprüfen. Es werden Motoren, Pumpen, dragas – so werden die Schwimmbagger genannt – zerstört und Camps geräumt.

Wie reagieren die Bergleute, die werden wenig begeistert sein nach Jahren der Gesetzlosigkeit?
Es gibt zwei verschiedene Reaktionsmuster und so etwas hat es hier noch nie gegeben, denn das erste Mal, dass etwas vergleichbares passierte, war Ende 2010, als Umweltminister Antonio Brack Egg einige dragas in direkter Nähe des Naturreservats von Tambopata abräumen ließ. Damals reagierten die mineros damit, ihre Maschinen schnell zu verstecken. Das ist heute auch der Fall. Große Pumpen werden in Plastik verpackt und in den Flüssen versenkt. Heute ist es anders, denn die beiden Kontrahenten stehen sich wie im Krieg gegenüber. Die einen bergen die Motoren und die anderen verlieren ihre Arbeitsgrundlage. Derzeit herrscht so etwas wie ein Wettlauf zwischen Polizei und mineros – die einen wollen ihr Geräte in Sicherheit bringen, zum Beispiel in der Zone wo der Bergbau gestattet ist, die anderen wollen den Umzug verhindern. An diesem Punkt gibt es ein zusätzliches Problem. Die mineros dringen in Gebiete ein, wo Bauern ihre Parzellen haben, und ein weiterer Konflikt entsteht. Das ist die derzeitige Lage nach den Protesten, den Demon­strationen und dem Bergarbeiterstreik von Mitte März, wo drei mineros getötet wurden. Derzeit scheint die Strategie, Investitionen zu retten, Geräte zu bergen und zu sehen, wie es weitergeht – wie kann ich zu einer legalen Lizenz kommen, scheinen sich viele Unternehmen zu fragen.

Gibt es dafür ein Zeitfenster?
Ja, zwölf Monate hat das Ministerium für Bergbau und Energie in Lima festgelegt – aus meiner Sicht eine zu lang bemessene Übergangsfrist. Es ist ein Rückschritt und ich hätte eine Frist von maximal drei Monaten begrüßt.

Aber ist die Regierung denn überhaupt in der Lage, die nötige Armee- und Polizeipräsenz für diese zwölf Monate aufrecht zu erhalten – ist das nicht ein Kraftakt?
Die Infrastruktur existiert faktisch kaum und niemand ist darauf vorbereitet. Das sind zusätzliche Kosten und schließlich sind auch Beamte, Staatsanwälte und Experten im Einsatz. Finanziell wäre es vielleicht deutlich einfacher gewesen, den Ausnahmezustand über dem Departamento zu verhängen, denn dafür wären Finanzreserven vorhanden gewesen. So müssen alle Kosten für die Operationen durch Umschichtungen im Etat vorgenommen werden – das ist kompliziert. Die Regierung scheint Bedenken zu haben, den Ausnahmezustand zu verhängen, obwohl wir faktisch unter militärischer Präsenz leben.

Gibt es mittlerweile mineros, die abziehen?
Es gibt in Puerto Maldonado deutlich mehr Menschen, die rumstehen und abwarten. Rund um den Markt sind kleine Gruppen von Männern zu sehen, die zu dritt rumstehen. Man erkennt sie daran, dass sie oft von der Sonne verbrannt sind. Sie leiden unter Pilzerkrankungen an den Füßen und Händen durch die Arbeit im Wasser. Es gibt Tendenzen von Abwanderung, denn wenn es hier keine Arbeit gibt, dann gibt es vielleicht welche nahe von Cuzco oder oben in Puno – dort wird schließlich auch nach Gold gesucht. Es ist recht leicht, die Maschinen hin und her zu schieben.

Halten Sie die getroffenen Maßnahmen für ausreichend auf nationaler Ebene? Wird die Regierung die neue Leitlinie durchhalten?
Es gibt eine recht klare politische Linie, das ist positiv, aber noch ist nicht klar, ob der Staat als Staat sich wirklich in der Verantwortung sieht, denn es ist keine Sektorpolitik gefragt, wo ein Ministerium dem anderen den schwarzen Peter zuschiebt. Wir haben es mit einer großen Unbekannten zu tun – dem Thema der Korruption. Es gibt Gerüchte, dass auch Mitarbeiter aus dem Bergbauministerium beim Waschen des Goldes beteiligt sind – aus illegalem Gold wird so legales. Das ist ein Phänomen, welches auch beim Holzexport zu beobachten ist.

Da scheint Aufklärungsarbeit auch auf internationaler Ebene nötig.
Ja, denn kaum jemand weiß davon, wie hier gefördert wird und wie das Material auf den Markt kommt. So ist zum Beispiel der Vertrieb von Quecksilber und Zyaniden ein gutes Geschäft. Quecksilber kommt aus Spanien, aus Brasilien, aber auch aus Peru, denn die Goldmine Yanacocha ist auch ein großer Quecksilber-Produzent und vertreibt das Material landesweit. Das wird kaum kontrolliert.

Wie stellt sich die Situation der kleinen Assoziationen, der Genossenschaften dar?
Schwierig, denn die Signale sind widersprüchlich. Es gibt allerdings ein zunehmendes Interesse an sozialer Arbeit in der Region – zum Beispiel wird mehr und mehr Interesse gezeigt, mit den jungen Prostituierten zu arbeiten, die es in den Bergbaucamps gibt. Aber bisher gibt es kaum Aufnahmeeinrichtungen und keine Konzepte, wie die Präventionsarbeit aussehen könnte. Der Staat hat keine Aufnahmeeinrichtung, keine Heime, keine Frauenhäuser, keine Anlaufstellen. Die kirchlichen Häuser sind hingegen brechend voll.

Es gab doch Polizeiaktionen, wo mehrere Dutzend minderjährige Prostituierten aufgegriffen wurden?
Es gab eine Operation 2008 in Delta Uno, wo fast zweihundert Minderjährige aufgegriffen wurden. Aber auch im letzten Jahr gab es eine große Operation mit Polizeikräften aus Lima, wo mehrere Hundert Zwangsprostituierte aufgegriffen wurden. Die hiesigen Polizeikräfte habe da nicht das große Interesse.

Wie sieht es mit Alternativen aus?
Da gibt es zum Beispiel die kleinen Gruppen von Genossenschaften, die sich für den fairen Handel, für den Schutz der Umwelt und für alternative Technologien einsetzen. Dort gibt es in aller Regel keine sozialen Probleme und es sind vielleicht vier Organisation mit jeweils nicht mehr als einhundert Mitgliedern. Aus der Gruppe der kleinen alternativen Genossenschaften sind Vorschläge für Gesetze eingegangen, die den lokalen Bergbau hier durchaus verändern könnten.

Inwiefern?
Die Genossenschaften haben mittlerweile Kontakte in die Ministerien aufgebaut und plädieren für Pilotprojekte in der Region, um zu zeigen, dass auch ein anderes Goldschürfen möglich ist. Das sind neue Optionen und vielleicht wird die Regierung darauf eingehen.

Agieren die Leute der Genossenschaft mit Konzessionen?
Im Fall der Genossenschaft Apaylom, im Südosten Perus, sind es beispielsweise rund zwanzig Familien. Die meisten haben individuelle Konzessionen und sie arbeiten ausschließlich im Fluss, nicht an den Ufern und setzen kein großes Gerät ein. Sie sieben letztlich den Flusssand nach Gold durch, arbeiten nicht in der gegenüberliegenden Reserva, dem Naturschutzgebiet Tambopata, und passen auf, dass sich dort keine Eindringlinge breit machen. Obendrein gibt es in den Camps einen Gesundheitsposten und keine Bordelle, keine Trinkhallen und so weiter.

Gibt es Kontakte zu Fair Trade-Organisation?
Ja, auf einer Bergbau-Konferenz in Bonn haben wir Kontakte knüpfen können. Aber natürlich fehlt es noch an Technologie und auch an Organisation. Da gibt es noch viel zu tun, aber es ist ein Anfang und die Leute aus Apaylom sind sehr motiviert und wir wollen ihnen dabei helfen.

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César Ascorra
ist Biologe und leitet seit sieben Jahren die Caritas in Puerto Maldonado im Bundesstaat Madre de Dios im Südosten von Peru. Dort arbeitet er schwerpunktmäßig zu den ökologischen Problemen, die im Zusammenhang mit informellem Kleinbergbau zusammenhängen. Gleichzeitig setzt er sich für Projekte und neue Ansätze nachhaltiger Nutzung der natürlichen Ressourcen des Regenwaldes ein.

Tomás in der Erinnerung

Tomás Borge ist tot, eben berichten es die Nachrichtenagenturen. Das Schweigen nach der Meldung, dass er schwer erkrankt im Militärhospital von Managua lag, war beredte Ankündigung.
Das letzte Mal hatte ich Tomás beim Poesiefestival in Granada im Februar 2010 gesehen. Dort trafen wir uns auf der Straße und begrüßten uns. Nie ist es mir in den Sinn gekommen, ihn zu brüskieren, auch wenn die Trennung zwischen „Danielistas oder nicht“ uns in unterschiedliche Lager versetzt hatte. Doch vielleicht dachte ich nie, dass er sich in Wahrheit wirklich geändert hatte. Er war derselbe wie immer: derselbe Tomás, der irgendwie überlebte; derselbe Tomás, doch auch ein anderer, wie wir alle, die wir durch dieselben schweren Zeiten gegangen sind.
Uns alle hat es auf unterschiedliche Weise verändert. Jede(r) von uns hält auf „seine“ oder „ihre“ Weise an der Wahrheit oder der richtigen Ansicht fest. Wen die Geschichte freisprechen wird und wen nicht, wird sich erst noch zeigen müssen. Er hat nicht so lange gelebt, dass er es sehen konnte. Auch ich selbst werde es möglicherweise nicht mehr sehen. Was mir von Tomás bleibt, ist eine Erinnerung der Zuneigung. Nie konnte ich für ihn Verachtung oder Hass empfinden, noch mir das Recht nehmen, ihn zu schelten, denn im Grunde meines Herzens verstand ich sein Bedürfnis, nicht allein zu bleiben, der zu bleiben, der er in der FSLN war, auch wenn dies bedeutete, eine Figur zu werden, für die die Geschichte eine unbefriedigende Gegenwart mit den Verdiensten der Vergangenheit ausgleichen musste. Ich bin sicher, Tomás liebte die Idee der Revolution genauso wie jede(r) von uns, wir, die dafür lebten, sie zu machen und siegen zu sehen. Wer von uns kann schon sagen, dass er oder sie als Mensch das Ideal leben oder gar sein konnte, das er oder sie sich erträumt hatte?
Weil er ein politischer Führer und im Blickfeld der Öffentlichkeit war, wurden die Schwächen von Tomás vielleicht offensichtlicher; doch auch seine wundervollen Gesten wurden es. Er liebte es, sich mit Kunst und Poesie zu umgeben; er liebte die Dichter und Schriftsteller. Cortázar, Galeano, Gelman waren seine Helden. Und in seinem Haus hatte er Benedetti zu Gast und sogar Vargas Llosa, Graham Greene und Nélida Piñón. Tomás Borge wollte selbst Dichter, Schriftsteller sein. Da macht es nichts, dass er bei der Neuausgabe seiner Autobiografie „Mit rastloser Geduld“ die Geschichten seiner Freunde änderte, um ihnen abzusprechen, was er ihnen in seiner ruhmvollen Zeit zugestanden hatte. So war er eben: widersprüchlich. Weder ein gutes noch ein schlechtes Beispiel; ein Mann mit Leidenschaften und Schicksalsschlägen. Und so lebte er auch. Wie mein Freund Róger Pérez de la Rocha sagen würde, nutzlos, ihn „ins Reine schreiben“ zu wollen. Tomás war ein Mikrokosmos des nicaraguanischen Wesens, der Vergangenheit und der Gegenwart und des bisschen an Zukunft, das wir erreicht haben.
An einem 13. August geboren wie Fidel Castro, hatte Tomás das Sternzeichen Löwe. „Der Löwe geht nicht, er schreitet“, hieß es in einer Charakterisierung, die ich ihm einmal vorlas und dabei lachen musste, weil es ihn so gut beschrieb. Denn niemals vermochte er unauffällig zu sein; er fiel auf, koste es, was es wolle, und er mochte es, gesehen und erkannt zu werden und zu zeigen und klar zu machen, dass er ein besonderer Mann war, anders als die anderen. Sicher wird er irgendwann einmal geträumt haben, so ähnlich wie der Che zu sein. Sein Satz: „Unerbittlich im Kampf und großzügig im Sieg“, den er bei einem der ersten öffentlichen Auftritte der Nationalen Leitung der FSLN wenige Tage nach dem Sieg über die Diktatur sagte, klingt in der kollektiven Erinnerung wie der Satz von jemandem von der Größe des Che. Viele seiner treffenden Sätze begleiten uns und werden uns weiter begleiten, denn er besaß Inspiration und Leidenschaft. Wenn er auf dem Platz der Revolution sprach, begeisterte er die Menschen. Tomás war der große, mundtot gemachte Redner der Revolution; man verweigerte ihm die Rednertribüne, weil er sich von dort aus beliebt machen konnte und das war gefährlich für diejenigen, die Autorität wollten, doch nicht die einnehmende Persönlichkeit besaßen, um sie sich selbst zu schaffen. Und so kam es, dass Tomás mit der Zeit und dem schwierigen Ministerium, das er übernahm, als Figur immer mehr in den Hintergrund trat. Es war die Grausamkeit der Geschichte und seiner Genossen, ihm die Rolle des Unterdrückers zuzuweisen, während er doch als Wohltäter hätte glänzen können, als leidenschaftlicher Anführer herrlicher Ideen. Doch hörte er nie auf zu versuchen derjenige zu sein, der er gerne gewesen wäre. Er entwischte, so gut er konnte, durch das engmaschige Netz, das man ihm als Bremse umgelegt hatte, und zu seinen Freund_innen war er liebenswert und großzügig und auch verrückt, denn er hatte seine lustige Seite, besaß etwas von einem Kobold, von einem Lausejungen aus dem Stadtviertel; von einem, der sich leicht verliebt.
Am heutigen Tag, an dem sein Tod gemeldet wird, möchte ich sagen, wie sehr ich ihn geliebt habe, auch wenn ich sehr bedauerte, was mir damals wie eine Aufgabe seines ritterlichen Charakters erschien, seines natürlichen Widerspruchsgeistes. Doch steht es mir nicht zu, noch interessiert es mich, über ihn zu richten. Ich war seine Freundin und heute beweine ich seinen Tod als einer der vielen, vielen Menschen, die ihn geliebt haben.

Infokasten:

Tomás Borge
war Mitbegründer der FSLN (Sandinistische Befreiungsfront) und galt als eine der bedeutendsten historischen Persönlichkeiten der ehemaligen Guerrilla. Nach dem Sieg der Sandinist_innen 1979 übernahm er das Innenministerium. Zuletzt war er Botschafter Nicaraguas in Peru.

Gioconda Belli
Die nicaraguanische Schriftstellerin gehörte lange der FSLN an und beteiligte sich aktiv am Befreiungskampf gegen die Somoza-Diktatur und an der Sandinistischen Revolution. Inzwischen ist sie eine der schärfsten Kritikerinnen des autokratischen Führungsstils von Präsident Daniel Ortega. Ihr neuer Roman Die Republik der Frauen ist kürzlich bei Droemer-Knaur erschienen.

Schlusslicht Brasilien

Seit über 30 Jahren schreibt er Gedichte und veröffentlicht Bücher, darunter einen Lyrikband und zwei Humoresken. So begeht er in Belém, im amazonischen Bundesstaat Pará, seinen Ruhestand, beschäftigt sich mit Schöngeistigem und wartet laut eigenem Bekunden darauf, Gott seine Seele zu übergeben. Ein geruhsames Ausklingen eines langen Lebens sollte es werden – doch die Ruhe wurde gestört: Am 26. März dieses Jahres tauchten 80 überwiegend junge Leute vor seinem Haus auf und hielten Transparente hoch, die den ‚Dichter‘ Adriano Bessa Ferreira öffentlich als Denunziant im Dienste der Militärdiktatur outeten.
Wie ihm geschah es in den symbolträchtigen Iden des diesjährigen März in ganz Brasilien weiteren Gehilfen, Folterern und Mördern der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985). Hunderte von Jugendlichen organisierten nach argentinischem Vorbild einen sogenannten escracho: Ehemalige Folterer und Mörder der Militärdiktatur werden in ihren Wohnhäusern oder Büros aufgesucht und ihre Verbrechen öffentlich gemacht. Von Porto Alegre bis Belém, von São Paulo bis Belo Horizonte protestierten Jugendliche gegen die juristisch verbriefte Straflosigkeit der Mörder aus den anos de chumbos, der „bleiernen Zeit“. In Brasilien wurde bislang noch kein ehemaliges Mitglied des Militärs, des Geheimdienstes oder der Polizei wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur strafrechtlich verurteilt – dank des Amnestiegesetzes von 1979.
Weder die Regierung Lula (2003 bis 2010) noch die seit Anfang 2011 amtierende Präsidentin Dilma Rousseff haben bislang daran etwas geändert. Dabei waren die Erwartungen an Rousseff in dieser Frage groß: War Rousseff während der Militärdiktatur doch selbst politische Gefangene, insgesamt zwei Jahre lang inhaftiert und überdies 22 Tage lang gefoltert worden.

Doch was die Vergangenheitsbewältigung betrifft, ist Brasilien nach wie vor das Schlusslicht Lateinamerikas. Erst im September 2011 passierte das Gesetz zur Einrichtung einer Wahrheitskommission nach langen Verhandlungen den Kongress – 28 Jahre nach der Einberufung der Wahrheitskommission in Argentinien und 21 Jahre nach der in Chile. Im November wurde das Gesetz von der Präsidentin in Kraft gesetzt – seither passierte aber nichts. Nicht einmal die Mitglieder der Kommission hat Rousseff bislang benannt. Sollte sich das „Einknicken“ einer PT-Regierung vor den Militärs wiederholen? Denn bereits 2009 wollte Präsident Lula das Dritte Nationale Menschenrechtsprogramms PNDH-3 unterzeichnen, dessen Kernstück damals die Wahrheitskommission bildete. Die simple Rücktrittsdrohung des damaligen Verteidigungsministers Nelson Jobim und der Militärführer der drei Teilstreitkräfte reichten damals aus, um die Kommission vorerst zu verhindern.
Doch im März – zum 48. Jahrestag des Militärputsches von 1964 am 31. März – öffneten sich die Gräben zwischen Regierung und Militär wieder. Präsidentin Rousseff verbot jegliche Festakte an dem Tag durch die Militärs, worauf diese die Feiern aber schlichtweg auf den 29. März vorverlegten.

Auch in Chile waren bis zur Verhaftung Pinochets 1998 in London noch alljährliche öffentliche „Putsch-Gedenkfeiern“ möglich. „Die Erinnerung trägt dazu bei, das Erlebte und seine traumatischen Folgen zu überwinden und Perspektiven für die Zukunft aufzubauen“, so hoffnungsvoll schließt der Artikel über „Los Cabitos und seine Opfer“ in Peru in dieser Ausgabe, in dem es um Folter und Morde in einem Militärstützpunkt geht. Letztlich ist das Kräfteverhältnis der Akteur_innen entscheidend. Brasilien ist trotz der persönlichen Erfahrung Rousseffs von der für die Gesellschaft so bedeutsamen Aufarbeitung der Vergangenheit noch entfernt. Dennoch: Es tut sich was. Mehr und mehr werden Militärs von Bundesstaatsanwälten mit strafrechtlicher Finesse angeklagt, welche die Bestimmungen des Amnestiegesetzes zu umgehen wissen. Seit dem alten Rom wird vor den Iden des März gewarnt – in Zukunft könnte es die Folterer und Mörder aus der Zeit der Militärdiktatur also doch noch treffen.

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