KORRUPTE VERBINDUNG

IIRSA Sur, besser bekannt als Interocéanica Sur, heißt die Autobahn, die derzeit im Zentrum des Skandals in Peru steht. Sie verbindet die Häfen von Peru mit West-Brasilien. Während der Bauzeit vervierfachten sich die Baukosten des größten Projekts von Odebrecht in Peru. Nun, 12 Jahre nach Baubeginn, kommen Informationen ans Tageslicht, die vieles erklären.

Fertiggestellt wurde die Straße 2010, während der Regierungszeit von Alan Garcia. Der Bau begann allerdings früher, unter der Regierung von Alejandro Toledo. Im Jahr 2005 versprach Toledo, dass die Straße den Handel mit Brasilien und damit die Wirtschaft des Südens stärken werde. Zusammen mit dem damaligen brasilianischen Präsidenten Inácio Lula Da Silva initiierte er das Projekt.

Es ist fraglioch, ob die Vergabe an Odebrecht rechtens war.

Die erste große Entscheidung für das Projekt fiel, als der heutige Präsident Perus, Pedro Pablo Kuczynski, als Premier unter Toledo der zweitwichtigste Mann in der Regierung war. Den Zuschlag für den Bau der Abschnitte drei und vier von IIRSA Sur erhielt Odebrecht. Damals wurde das Unternehmen bereits verdächtigt, sich an korrupten Machenschaften zu beteiligen, auch ein Ordnungsgeld wurde verhängt. Aus diesem Grund ist es fraglich, ob die Vergabe an Odebrecht überhaupt rechtens war: In Peru gibt es ein Gesetz, nach dem Unternehmen, die bereits einmal eine Ordnungsstrafe erhalten haben, an keiner öffentlichen Ausschreibung teilnehmen dürfen.

Doch das Gesetz wurde geändert, so dass es für Odebrecht möglich wurde, den Auftrag zu erhalten. Kuczynski unterzeichnete alle Gesetzesänderungen und ermöglichte damit die Teilnahme Odebrechts an der Ausschreibung. Letztlich erschien das Angebot Odebrechts auch nicht schlecht: So versprach das Unternehmen, dass der Bau des Abschnitts vier der Straße nur 224 Millionen US-Dollar kosten würde, ein ausgesprochen günstiger Preis für eine Überlandstraße, die durch so schwieriges Terrain führt. Am Ende nahm der peruanische Staat das Angebot an. Der Abschnitt kostete schließlich 998 Millionen US-Dollar, mehr als das Vierfache der ursprünglich kalkulierten Kosten.

Erst jetzt klärt sich langsam, warum Toledo ein so starkes Interesse hatte, diese Überlandstraßen zu bauen: Durch das Projekt wollte er seine Zustimmungswerte im Süden des Landes erhöhen. Und letztlich sind wohl nicht unerhebliche Beträge der Mehrkosten direkt an ihn geflossen: 20 Millionen US-Dollar Schmiergeld soll Toledo von Odebrecht erhalten haben. Wegen dieser Anschuldigungen wird der ehemalige Staatschef mittlerweile per internationalem Haftbefehl gesucht, vermutlich hält er sich in den USA auf.

Seine persönlichen Ziele hat Toledo mit dem Bau erreicht, das Ziel der Überlandstraße dagegen nicht. Der Handel zwischen Brasilien und Peru wurde durch die Straße, die durch nur schwach besiedelte Gebiete im Amazonasregenwald führt, nur wenig gefördert. Es gibt zwar durchaus Nachfrage nach peruanischen Produkten, umgekehrt jedoch kaum. Zudem sind die Transportkosten per LKW über die relativ schmale Verbindung, die vom amazonischen Tiefland über die Anden an die Küste führt, viel zu teuer. Trotz der großspurigen Versprechen von Alejandro Toledo von 2005 werden etwa 90 Prozent des Handels weiter auf dem Seeweg abgewickelt. Genutzt hat der Bau vor allem Toledo – und Odebrecht.

 

„EINMAL AUSLÄNDERIN, IMMER AUSLÄNDERIN“

Donnerstagnachmittag in einem Café im mondänen Berlin-Schöneberg. Esther Andradi isst noch ein Stück Kuchen, bevor das Gespräch losgeht. Die Journalistin und Schriftstellerin ist seit Jahrzehnten in den Metropolen Lima, Berlin und Buenos Aires zu Hause, doch aufgewachsen ist die argentinische Schriftstellerin auf dem Land. Etwas mehr als 2.000 Einwohner*innen zählt ihr Geburtsort Atavila, von dem aus sie zum Studium der Kommunikationswissenschaft nach Rosario ging. Noch vor dem Militärputsch zog sie 1975 nach Lima und arbeitete als Journalistin. Entstanden ist in diesen, von der politischen Gewalt geprägten Jahren, auch ihr erstes Buch Ser mujer en el Perú („Frau sein in Peru“), das sie zusammen mit der Dichterin und Feministin Ana María Portugal veröffentlichte – ein Pionierwerk zu diesem Zeitpunkt.

Das Thema Frausein bildet eine der Hauptachsen, an denen entlang Esther ihre Werke ausrichtet: „Wenn eine Frau erzählt, tut sie das immer auch mit ihrem Körper und aus der alltäglichen Erfahrung heraus, eine Frau zu sein. Deshalb schreibe ich auch als Frau, mit allem, was ich gelernt, genossen und verloren habe. Ich empfinde es fast wie meine Pflicht, eine Ausdrucksweise zu finden, die für alle Frauen gültig ist … Zum Beispiel gefällt es mir, dass ‚die Macht’ im Deutschen feminin ist, während el poder im Spanischen maskulin ist. Aber das hilft wahrscheinlich nichts.“ Amüsiert von ihrer Beobachtung hat Esther den Satz lachend zu Ende geführt, um ernst fortzufahren: „Der Sexismus existiert einfach in der Gesellschaft. Solange sich am Sexismus in der Gesellschaft nichts ändert, wird er in der Sprache und überall sein.“

Mit der Art und Weise, wie Esther mit dem Thema Sexismus und Frausein umgeht, scheint sie einen Nerv zu treffen. Wegen ihres Buchs Tanta vida (Buenos Aires, 1998) – von der Literaturwissenschaftlerin Gina Canepa als „femizentrischer Anti-Roman“ bezeichnet – werde sie immer wieder zu Konferenzen eingeladen, wie zuletzt nach Lausanne. Sie produziere keine Best-, sondern Longseller, konstatiert die Schriftstellerin scherzhaft. Esther ist im Leben und im Schreiben aber nicht nur eine Frau, und wird immer eine bleiben, sondern auch die permanente Ausländerin. Und seit sie zum ersten Mal fortging, auch in ihrem Heimatland. Denn: „Einmal Ausländerin, immer Ausländerin.“ Es ist das alte Sprichwort vom Kommunisten, das Esther für sich umgemünzt hat. „Man ist immer an der Peripherie verortet. Dabei ist es ein sehr interessanter Ort, das nicht vollständige Dazugehören zur Heimat“, sagt sie. Ihr Freund Sebald habe darin bestens mit ihr übereingestimmt. Der Allgäuer Schriftsteller W.G. Sebald, der 2001 in England verstarb, blieb literarisch, genauso wie die Argentinierin, bis zuletzt in seiner Muttersprache zu Hause.

Das persönliche Fremdsein hat großen Einfluss auf Esthers Umgang mit der Sprache. Während wir uns auf Spanisch unterhalten, kommt sie nicht ohne ein paar deutsche Wörter aus: „Es ist eine ständige ‚Auseinandersetzung’, wie ihr auf Deutsch zu sagen pflegt, eine ständige Konfrontation damit, wie ich mich ausdrücke. Sowieso glaube ich, ist das Vermeiden von ‚Selbstverständlichkeiten’ genau das, was Literatur ausmacht. Nur wenn man in einer anderen Sprache lebt, ist das Bewusstsein dafür noch größer. Nicht, dass man ständig übersetzen würde, aber man spürt diesen permanenten Drang, den Bedeutungen auf den Grund zu gehen.“ 1982 ließ sich Esther in Westberlin nieder. Doch schon in Peru sei sie als Ausländerin aufgefallen und immer wieder gefragt worden, wie lange sie denn bleibe, als sei sie eine Touristin: „Bis dahin hatte ich im Glauben gelebt, dass die spanische Sprache eine Gemeinsamkeit sei. Das ist sie zwar in vielen Dingen, aber nicht im Alltag. Meine Umgangssprache war immer absolut argentinisch.“

Ihre erste Erfahrung des Fremdseins habe sie deshalb schon in Peru gemacht, sagt Esther. Bis heute trügen manche ihrer Texte eine „peruanische Patina“. Einen ihrer Texte hat sie mit dem spanischen Wort für Artischocke alcachofa betitelt, was – abgesehen vom Inhalt – an sich schon eine Provokation sei: „In Argentinien sagt man alcaucil. Mir gefällt alcachofa aber besser. Auch in anderen Texten kommt so etwas vor. Ich weiß genau, warum ich diese Wörter gewählt habe. Man könnte es auch die Distanzierung von der eigenen Muttersprache nennen.“ Geradezu ins Schwärmen gerät die Schriftstellerin, wenn sie über die deutsche Sprache mit ihrem überreichen Vokabular zu sprechen kommt. Es sei daher ein Privileg, hier zu sein. Die Annahme, dass es heutzutage nichts Besonderes mehr sei, wenn Autor*innen einer anderen Muttersprache auf deutsch schreiben, wie zuletzt mit der Einstellung des Adalbert-von-Chamisso-Preises suggeriert wurde, findet allerdings nicht ihre Zustimmung.
2003, als Esther nach sieben Jahren in Buenos Aires erneut nach Berlin kam, erntete sie teilweise Verwunderung darüber, dass sie noch nicht auf Deutsch schrieb. Auf diese offensichtliche Ignoranz antwortete sie mit der Anthologie Vivir en otra lengua („Leben in einer anderen Sprache“), die Porträts und Erzähltexte spanischsprachiger Autor*innen in verschiedenen Ländern Europas enthält. Zwar sei das Phänomen an sich kein neues, aber ihr sei es eben nicht um die viel besprochene Exilliteratur, sondern um diejenigen gegangen, die aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in ihrem Heimatland leben. Mit der ursprünglichen Idee, einen „Kanon iberoamerikanischer Autoren im Lande Humboldts“ zu schaffen, hatte sie im Jahr 2007 in Deutschland vergeblich nach Interessierten gesucht. Ein argentinischer Verleger habe sich hingegen hellauf begeistert gezeigt und ihr Konzept von Deutschland auf Europa ausgeweitet.

Das veröffentlichte Buch kam gut an. Die 1. Ausgabe ist vergriffen, eine zweite erschien 2010 in Spanien. „Das muss mit dem Denken im jeweiligen Land zu tun haben. Argentinien ist sehr nach außen orientiert. Deutschland dagegen war zu diesem Zeitpunkt immer noch viel mehr auf seine deutsche Literatur konzentriert. Jetzt gerade erst beginnt man sich mit Projekten wie ‚Stadtsprachen’ in Berlin für die anderssprachigen Autoren zu interessieren. Dabei kämpfen wir schon seit Jahren um Aufmerksamkeit.“ Die periphere Perspektive tritt auch in Esthers auffallendem Interesse für die deutsche Literatur außerhalb des Kanons zutage: „Seit ich hier lebe, interessiert mich die deutsche Literatur, von der man nicht erwartet, dass sie zur deutschen Literatur gehört.“ Eine der Autor*innen, die dür diese Überraschung steht ist May Ayim, die sie 1991 bei einem Symposium kennenlernte. Nach deren Selbstmord wenige Jahre später übersetzte Esther die Gedichte der Afrodeutschen ins Spanische. „Sie kommt weder aus einer anderen Sprache noch aus einer anderen Kultur, da sie in der deutschen Kultur erzogen wurde. Sie fand erst spät heraus, dass ihr Vater aus Ghana stammte und traf sich mit ihm. Aber seine afrikanischen Wurzeln waren nicht ihre eigenen. May Ayim war hier geboren, aber wegen ihrer Hautfarbe wurde sie ständig gefragt: ‚Woher kommst du? Wie lange bleibst du? Wann gehst du wieder?’ Von dieser Zerrissenheit sprach May Ayim in ihren Gedichten auf eine wunderbare Weise.“

Von Esther selbst wurden bislang nur wenige Bücher ins Deutsche übersetzt, neben Erzählungen in Anthologien die zweisprachige Miniaturen-Sammlung Sobre vivientes – Über Lebende. Gerade scheint sich das aber zu ändern. Eine deutsche Version des Romans Berlín es un cuento (deutscher Titel: „Die Erfindung Berlins“) ist in Arbeit, während das Buch Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel schon Ende letzten Jahres erschien. Bei der dafür zu treffenden Auswahl aus den Texten, die sie zwischen 1983 und 2014 fast monatlich für Zeitungen und Zeitschriften in Peru, Argentinien und Mexiko schrieb, sei ihr bewusst geworden, wie sehr sich nicht nur sie selbst, sondern die Stadt und das tägliche Leben verändert hätten, erzählt Esther. Und erinnert sich, wie sich das Vorhaben Politikkorrespondentin zu werden, bald nach ihrer Ankunft zerschlug, da Westberlin in den 80er Jahren politisch völlig uninteressant war: „Die Politik spielte sich damals in Paris ab, mit etwas Glück in Moskau, mit noch mehr Glück in Bonn, und mit noch viel mehr Glück in – wie es damals hieß – ‚Berlin Hauptstadt der DDR’. Das war, glaube ich, mein Glück. Denn sonst hätte ich nie diese Art des Schreibens entwickelt.“

Mit all den subjektiven Beschreibungen, humorvollen Schattierungen und manchem erhellenden Gedanken lässt sich anhand von Mein Berlin nachvollziehen, wie eine Argentinierin über drei Jahrzehnte hinweg einem lateinamerikanischen Lesepublikum die geteilte und wiedervereinte Stadt vermittelt hat: Ein Schiff namens „Amor“, Fahrraddemonstrant*innen, Tschernobyl und natürlich der Mauerfall haben hier ihren Platz, von Rosa Luxemburg über Prag als Zentrum Europas bis hin zum aufflammenden Rassismus Anfang der 90er Jahre ist die Rede. Und wie es so kommt, bringt Esther das Buch zurück zur Politik: Bei einer Lesung in einem Frauentreffpunkt in Treptow-Köpenick –„Tiefste DDR“ – sah sie sich überwältigt vom Ausdruck des heftigen Grolls, den die Thematik ihrer Texte hervorgerufen hatte: „Die Kritik war überhaupt nicht gegen mich gerichtet, aber ich fühlte die absolute Enttäuschung dieser Frauen. Sie sagten: ‚Wir haben auch viel gearbeitet, um die DDR aufzubauen, und plötzlich gab es dieses Land nicht mehr. Keine Arbeit, keine Kita. Wir sind überhaupt nichts wert.’“ Die Unsichtbarkeit dieses schwelenden Unmuts unter den Menschen, der kaum Räume findet, sich zu äußern, sieht Esther als Gefahr an. „In den 90er Jahren erzielten die Republikaner bis zu 20 Prozent der Stimmen (höchstes Ergebnis 1992: 12,8 Prozent in Neukölln, 14,4 Prozent in Wedding; Anm. der Red.), dann flaute es von selbst wieder ab. Trotzdem darf man mit bestimmten Dingen nicht leichtfertig umgehen. Uns wird gesagt, Deutschland stehe finanziell so gut da wie noch nie. Aber wofür wird das Geld ausgegeben? Das wird nicht gesagt.“
Und wofür würde sie es ausgeben? Keine Frage, für die Schulen.

 

“DAS KINO AUS LIMA HAT MICH WÜTEND GEMACHT”

Álvaro Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)


Zum Einstieg folgende Frage: Warum machen Sie eigentlich Filme?
Diego Sarmiento: Jeder Künstler sucht einen Weg, seine Emotionen auszudrücken. In unserem Fall ist es ein glücklicher Zufall gewesen, dass wir beide das hier tun, und wir ergänzen uns dabei irgendwie gegenseitig. Ich glaube, dass wir glücklich sind mit dem, was wir machen, und diese Art von Festivals lässt die Inspiration
und die Lust aufs Filmemachen wachsen. Es ist wie Nahrung für die Seele und den Geist.

Woher kam die Idee für Ihren aktuellen Film?
DS: Vor fünf Jahren haben wir einen Workshop über Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche im peruanischen Amazonasgebiet gemacht und sind fast ein ganzes Jahr dort geblieben. Durch diesen Workshop lernten wir viele Menschen kennen und eben dadurch entstand unser Kurzfilm Hijos de la Tierra (Kinder der Erde), der 2014 in der Berlinale-Sektion ‚Generation‘ lief. Die Kinder, die in diesem Kurzfilm zu sehen waren, stellten uns ihre Familien vor und so kamen wir zu einigen der Protagonisten des Dokumentarfilms Rio Verde. Außerdem leben wir teils in Cusco und teils im Amazonasgebiet und haben innerhalb der letzten fünf Jahre viele Reisen gemacht. Aus dem ganzen Material ist der Film eigentlich in der Postproduktion entstanden. Álvaro hat zusammen mit unseren Videoeditoren im Schnitt den Film als Ganzes ermöglicht. Diese Phase hat sehr lange gedauert.

Was bedeutet der Titel Die Zeit der Yakurunas?
Álvaro Sarmiento: Es ist ein metaphorischer Titel. Die Yakurunas sind eigentlich Unterwassermenschen
aus einer Legende in Amazonien, aber dieser Film handelt nicht von Menschen, die unter Wasser leben, sondern von denen, die in der Nähe oder am Rande des Flusses leben. Es ist also ein poetischer Titel auf
Quechua, der uns gefallen hat, und gleichzeitig eine weitverbreitete Legende aus Amazonien mit hohem repräsentativen Wert. Daher haben wir uns für diesen Titel entschieden.

Sie haben Lima zugunsten von Cusco und dem Regenwald schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Was hat Sie dazu bewogen?
ÁS: Unser erster Dokumentarfilm über die Region von La Oroya war wie eine Rückkehr zu unseren Wurzeln, weil unsere Mutter aus der Stadt Huancayo kommt. Unsere Großeltern kommen aus Cerro de Pasco und unser zweiter Dokumentarfilm war eben über Cerro de Pasco. Es ist also eine Familiensache: eine Rückkehr zu
unseren Wurzeln, zu unserem Zuhause durch das Filmemachen und das Zeigen der Realität dieser Regionen. Außerdem identifiziere ich mich nicht mit dem Kino, das in Lima produziert wird, eben wegen der Qualität der dortigen Filme, der Nicht-Repräsentation der indigenen Bevölkerung oder ihrem Erscheinen als die ewigen
Diener, Hausmädchen und Ähnliches. Das hat mich immer wütend gemacht. Ich habe mein Studium an der Universidad de Lima abgebrochen und bin nach Brasilien gegangen, um dort vier Jahre lang Film zu studieren. Dort habe ich gelernt, was cine indígena (indigener Film) ist. Ich habe meine Abschlussarbeit über die NGO
Video nas Aldeias geschrieben, eine Organisation, die seit 25 Jahren indigenen Völkern das Filmemachen beibringt, sowohl theoretisch wie auch technisch. Ich kam dann aus Brasilien mit dem Wunsch und der Entschlossenheit zurück, diese Art von Kino zu machen.

Diego Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)

Das Thema der indigenen Gemeinschaften kommt nicht oft in die Medien und ist auch nicht wirklich präsent als künstlerisches Motiv in Peru. Was möchten Sie mit Ihrem Interesse an den Indigenen Perus erreichen?
DS: Das hängt von der jeweiligen Produktion ab. Es ist nicht so, dass wir mit all unseren Projekten das gleiche Ziel erreichen wollen, aber indem wir sie zeigen, möchten wir die indigene Kultur wieder aufwerten und verbreiten.
ÁS: Wenngleich unsere vorherigen Produktionen in Peru wenig gesehen wurden, glaube ich, dass es doch ein Publikum gibt, das sich für diese kulturelle Produktion interessiert. Das Interesse an einem Dokumentarfilm bedeutet, dass der Zuschauer etwas lernen möchte. Diese Art von Filmen hat eine lehrreiche Funktion. Was
Río Verde betrifft: Dieser Film würde in Peru zwischen fünf- und zehntausend Zuschauer im Kino erreichen. Aber was Filmfestivals angeht, könnte dieser Film sicher auf 50 Festivals gezeigt werden, eben wie unsere Kurzfilme, die bislang auf 30-40 Festivals gezeigt wurden. Angenommen, pro Festival würden 1.000 Menschen den Film sehen, dann würden wir durch die ganzen Festivals 50.000 Zuschauer weltweit erreichen. Das ist eine bedeutende Zahl, obwohl sie neben den Zahlen eines Blockbusters klein erscheint. Die Leute interessiert schon diese Art von Themen, die wir präsentieren, und ich glaube, damit sind wir alle glücklich.

In Río Verde versuchen Sie, das Zeitgefühl der Menschen des Amazonas zu vermitteln, um eine Distanz durch diesen ethnographischen Blickwinkel zu klassischen Dokumentarfilmen zu schaffen. Haben Sie nicht die Befürchtung, damit ein größeres Publikum zu verschrecken?
ÁS: Mich interessiert das Autorenkino. Es ist auf jeden Fall für ein eingeschränkteres Publikum gedacht, eines, das Filme über Kulturen mag, das sogenannte ‚World Cinema‘. Zum Beispiel gibt es Menschen, die es genießen, die thailändische oder vietnamesische Gastronomie durch einen Film kennenzulernen. Es gibt durchaus Leute, die sehr kleine Filme genießen. Wir zielen auf dieses Publikum, das andere, wenig
erkundete Teile der Welt durch Filme entdecken möchte. Río Verde ist auf keinen Fall ein kommerzieller
Film, wir appellieren nicht an das große Publikum. Es ist ein Film, der einem Gemälde ähnelt, indem wir dadurch unsere eigene künstlerische Sensibilität zum Ausdruck bringen. Derjenige, der dies genießt, ist stets willkommen!
DS: So, wie es Animations-, Fiktions-, und Genre-Kino gibt, glauben wir, dass es auch indigenes
Arthouse-Kino, indigenes Fiktionskino, indigenes Animationskino und von Indigenen selbst gemachtes Kino geben könnte. Indigenes Kino muss nicht immer Protest-Kino gegen etwas sein, es kann auch etwas Künstlerischeres sein. Das ist es, was wir verbreiten wollen, eine Palette von verschiedenen Arten des indigenen Kinos.

Welche konkrete Vorteile hat Ihnen die Berlinale gebracht?
DS: Auf der einen Seite ist es im Bereich des Vertriebs sehr wichtig, die Weltpremiere bei der Berlinale zu haben. Dadurch wird es einfacher, einen Film auf andere Festivals zu bringen. Bei einem so großen Festival entwickelt sich ab der Premiere eine Art Netzwerk. In wirtschaftlicher Hinsicht bringt es nicht unbedingt Vorteile.

Wenn wir jetzt von der internationalen auf die nationale Ebene zurückgehen, stellt sich die Frage: Kann man in Peru von einem Vollzeitjob als Filmemacher*in leben?
DS: Alles ist möglich. Das hängt vom Lebensstandard ab, den jeder erreichen möchte. Zurzeit sind wir tatsächlich zu 100 Prozent mit unseren Produktionen ausgelastet.
ÁS: Ich glaube, dass man tatsächlich vom Filmemachen leben kann. Wir leben davon, aber auf eine sehr bescheidene Art und Weise. Leider gewinnen wir nicht immer die Preise, die von der peruanischen Regierung ausgeschrieben werden. Es gibt sehr viel Konkurrenz und die Jurys interessieren sich zum Teil einfach nicht
für das, was wir machen, obwohl wir uns international bereits einen Namen gemacht haben. Aber klar ist: Mit oder ohne Geld, wir werden weiter unsere Filme machen.

Jetzt, wo der peruanische Schauspieler und Filmregisseur Salvador del Solar zum Kulturminister
ernannt wurde: Meinen Sie, dass Peru dadurch einem neuen Filmgesetz einen Schritt näher gekommen ist?
DS: Ich denke, dass wir noch näher sein könnten. Es ist ein politisches und schwieriges Thema. Denn manchmal hängt das Kulturministerium vom Wirtschaftsministerium und anderen Organen ab. Es mag sein, dass da seinerseits Bereitschaft besteht, aber auf jeden Fall wird für so etwas die Stärke des filmischen Gremiums, die Stärke der kleinen Filmindustrie in Peru, benötigt. Es hängt nicht nur von Salvador ab. Nichtsdestotrotz ist jetzt ein neues Filmgesetz durchaus möglicher als früher. Was dabei aber nicht vergessen werden darf ist, dass alle Künste gefördert und besser gefördert werden sollten. Es ist die Gesamtheit und nicht nur die Filmindustrie, die das Land repräsentiert. Jetzt gerade vertreten wir in gewisser Weise unser Land und es ist natürlich wie ein großes Geschenk, Teil der Berlinale sein zu können, aber das ist nicht unser endgültiges Ziel. Es sollte mehr Förderungen geben. Zum Beispiel haben wir den DAFO-Preis (eine Auszeichnung der peruanischen Regierung, Anm. d. Red.) gewonnen und die staatliche Agentur Promperu hat die Flugtickets für die Regisseure bezahlt – leider nur die der Regisseure, denn wir hätten auch gerne zumindest unseren Videoeditoren mitgebracht – aber es ist traurig, diese Leistungen mit denen anderer lateinamerikanischer Staaten zu vergleichen. Die Botschaften kümmern sich um das ganze Team, sie helfen ihnen in wirtschaftlicher
Hinsicht, es ist schon ganz schön teuer, aus Südamerika hierher zu kommen. Ich glaube, dass zumindest unsere Botschaft sich in dieser Hinsicht etwas mehr Mühe geben sollte.

Welche Projekte verfolgen Sie in der nächsten Zeit?
DS: Wir würden nur ungern viele Details verraten, aber jetzt gerade sind wir in der Endphase des Dokumentarfilms Sembradoras de Vida (Säerinnen des Lebens), der durch einen Fonds des Kulturministeriums im Jahr 2014 möglich gemacht wurde und parallel dazu haben wir stets mehrere Ideen und Kurzfilmprojekte, denen wir nachgehen.
ÁS: Unsere Produktionen werden immer auf eine sehr handwerkliche, familiäre Art gemacht. Das ist unser Stil. Ähnlich, wie wenn man ein handgemachtes Produkt kauft. Zum Beispiel stehe ich auf, frühstücke und schneide dann im eigenen Heim. Ich brauche also keine Superproduktion im Rücken, um voranzukommen.

KONTINENTALES BEBEN

Leviathan – das biblische Monster aus den Tiefen des Meeres: Einen besseren Namen für die Untersuchungsoperation hätten sich die Ermittler*innen kaum ausdenken können. Am 18. Februar dieses Jahres begann die brasilianische Bundespolizei erneut, Büros und Privatwohnungen von Politiker*innen zu untersuchen. Diesmal ging es um Schmiergeldzahlungen des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht im Zusammenhang mit dem Bau des umstrittenen Projekts Belo Monte. Das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt am Xingu-Fluss mitten in Amazonien wird von Kritiker*innen als „Belo Monstro“ – „Schönes Monster“ – bezeichnet. Und tatsächlich liegt das Bauwerk im Flusslauf des Xingu wie ein gestrandetes Meeresungeheuer.

Nach Aussagen der Ermittler*innen sollen ein Prozent der etwa 8,5 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten des Baus in die Kassen von Parteien geflossen sein. Um welche Parteien es sich handelte, wurde nicht erwähnt. Vermutlich handelt es sich aber um die rechtskonservative PMDB, der der aktuelle Präsident Michel Temer angehört, und um die linke Arbeiterpartei PT, an deren Vorgängerregierung Temer als Vizepräsident ebenfalls beteiligt war.

Leviathan ist die jüngste Ermittlung, die aus der Operation Lava Jato – deutsch für „Autowaschanlage“ – erwachsen ist. Lava Jato begann vor zwei Jahren und elf Monaten und brachte schon einigen Politiker*innen massive Probleme — wie im Fall des ehemaligen Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral. Unter anderem weil er Bestechungsgelder von Odebrecht im Zusammenhang mit der Renovierung des Fußballstadiums Maracanã angenommen hat, sitzt Cabral derzeit im Gefängnis. Die öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen trugen auch zur umstrittenen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff bei, obwohl ihr bislang keine Beteiligung an den kriminellen Machenschaften nachgewiesen werden konnte. Zunächst ging es bei Lava Jato nur um die Veruntreuung von Geldern des staatlichen brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras für die Wahlkampfkassen von brasilianische Parteien. Doch je weiter die Ermittler*innen bohrten, desto mehr kam zum Vorschein. Schnell ging es auch um den Baukonzern Odebrecht und der Skandal zog  internationale Kreise.
Da die Schmiergeldzahlungen unter anderem über die Schweiz und die USA liefen, klagten die beiden Länder vor einem New Yorker Gericht gegen Odebrecht. Im vergangenen Dezember stimmte das Unternehmen einer Strafe von 3,5 Milliarden Dollar zu, der höchsten Summe, die je in solch einem Fall gezahlt wurde. Odebrecht hatte vor  Gericht zugegeben, in den Jahren von 2001 bis 2014 etwa 788 Millionen US-Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Lateinamerikas und Afrikas gezahlt zu haben, um an öffentliche Aufträge zu kommen. Seitdem kommen die Ermittlungen nicht mehr zur Ruhe.

In der Dominikanischen Republik wurden die Büroräume von Odebrecht durchsucht. In Venezuela fror die Justiz Ende Februar die Konten des Unternehmens ein, auch hier hatten Militärs Büroräume durchsucht. Der Präsident Panamas, Juan Carlos Varela, soll ebenfalls Bestechungsgelder der Firma entgegengenommen haben. In Kolumbien wurde der ehemalige Vizeminister für Transportwesen, Gabriel García Morales, verhaftet, weil er gegen Schmiergelder den Auftrag für den Bau einer Überlandstraße an Odebrecht vergeben haben soll.
Viele Politiker*innen versuchen, die Odebrecht-Aussagen zu nutzen, um ihren politischen Gegner*innen zu schaden. In Ecuador, wo am 21. Februar die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfand, versuchte die Opposition die Anschuldigungen gegen die Regierung zu verwenden, um dem Kandidaten von Präsident Rafael Correa zu schaden. In Venezuela, wo die Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung sich in den letzten Monaten massiv zugespitzt hatten, versucht die Regierung den Skandal für sich zu nutzen. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro hatte Mitte Februar erklärt: „Ein Gouverneur hat Geld von Odebrecht angenommen und dafür wird er ins Gefängnis gehen!“ Die Anschuldigungen gingen in Richtung des Oppositionsführers und Gouverneurs des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, der die Vorwürfe von sich wies.

Tatsächlich erstrecken sich die Vorwürfe über alle politischen Lager hinweg. Offenbar zahlte Odebrecht in die Wahlkampfkassen sowohl linker als auch rechter Politiker*innen, um danach eine Bevorzugung bei der Vergabe von Aufträgen zu erhalten. In Argentinien gibt es Hinweise, dass Odebrecht korrupte Verbindungen sowohl zu den linken Ex-Präsidenten Néstor und Cristina Kirchner als auch zum rechten Präsidenten Marcelo Macri unterhielt.
Der spektakulärste Fall des Odebrecht-Skandals ist sicher Peru. Praktisch alle Präsidenten, die das Land von 2001 bis 2016 regiert haben, sollen von Odebrecht bestochen worden sein. Gegen den Ex-Präsidenten Alejandro Toledo (2001-2006) ist ein internationaler Haftbefehl ausgesetzt, er soll 20 Millionen Dollar erhalten haben und dafür den Auftrag für den Bau der „Interozeanischen Straße Süd“ zwischen Peru und Brasilien an Odebrecht vergeben haben. Toledos derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.

Um das ganze Ausmaß des Skandals zu erfassen, wollen die Staatsanwaltschaften der betroffenen Länder bei den Ermittlungen zusammenarbeiten. Am 18. und 19. Februar trafen sich in Brasília Generalstaatsanwält*innen aus 15 Ländern, mehrheitlich aus Lateinamerika und Afrika, um sich über ihren jeweiligen Untersuchungsstand auszutauschen. Zehn Staaten unterschrieben ein Abkommen, das unter anderem internationale Ermittler*innenteams vorsieht. Es ist die größte internationale juristische Kooperation, die je zu einem Korruptionsfall  in Lateinamerika stattfand.

Die Zusammenarbeit wird wohl auch nötig werden, denn das komplizierte Netz von Odebrechts Zahlungen zu entflechten, wird eine schwierige Aufgabe. Mehrere Briefkastenfirmen und Banken in Steuerparadiesen waren dabei involviert. Das Unternehmen ging so weit, eine Bank auf Antigua und Barbados aufzukaufen, um Zahlungen abzuwickeln. Die panamaischen Behörden ermitteln in diesem Zusammenhang auch gegen die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca, die schon bei der Veröffentlichung der Panama Papers eine Hauptrolle spielte.
Als Hauptplaner dieses kriminellen Netzwerks wird der Firmenchef und Gründererbe, Marcelo Odebrecht selbst, angesehen. Im vergangenen Jahr ist er in Brasilien zu 19 Jahren Haft wegen Bestechung, Geldwäsche und anderer Delikte verurteilt worden. Durch seine Kooperation mit der Justiz wird er seine Strafe vermutlich halbieren können, zudem wird wohl ein Teil in offenen Vollzug umgewandelt. Insgesamt haben 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht im Rahmen von Kronzeug*innenregelungen ausgesagt. Mehrere Medien warnen davor, die Anschuldigungen der Ex-Odebrecht Manager*innen zu ernst zu nehmen: Schließlich beschuldigten da Kriminelle andere, um ihre eigene Haut zu retten.

Bislang unterliegen die Aussagen der Ex-Manager*innen noch der Geheimhaltung, da es um laufende Ermittlungen geht. Nur tröpfchenweise kommen Gerüchte zutage. Viele Politiker*innen – insbesondere die von den Anschuldigungen betroffenen – verlangen nun, dass die Geheimhaltung aufgehoben wird: Die kleinen Nadelstiche schaden mehr, als die Explosion einer großen Bombe. Vor allem können sie wohl besser an ihrer Verteidigung arbeiten, wenn sie wissen, was ihnen vorgeworfen wird.

Die Opposition in Brasilien glaubt, dass die Regierung nun bei ihrer Verteidigung gegen ein drohendes Odebrechtbeben ein gutes Stück vorangekommen ist. Am 22. Februar wurde Alexandre de Moraes als neues Mitglied des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Michel Temer hat den ehemaligen Justizminister und Ex-Mitglied der PMDB als Nachfolger für den im Januar tödlich verunglückten obersten Richter Teori Zavasci bestimmt (siehe LN 512). Zavasci war für die Beurteilung der Aussagen der 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht zuständig. Nun glauben Regierungskritiker*innen, dass die Regierung mit Moraes einen Vertrauensmann in das Gericht gehievt hat, um der politischen Klasse die Schlinge aus dem Hals zu ziehen. Andererseits sind die Ermittlungen und Enthüllungen bereits so fortgeschritten, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass die alten Eliten so korrupt weiter regieren können wie bisher. In der Dominikanischen Republik gab es im Januar bereits Massenproteste, die ein Ende der Straflosigkeit in dem Korruptionsskandal verlangten.

Vielleicht hat der Fall des Bauriesen also positive Folgen für die Region. In einen Kommentar für die brasilianische Zeitung Estadão schrieb der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ironisch, man müsse vielleicht in ein paar Jahren ein Denkmal für Odebrecht errichten: Schließlich hätten die Aussagen der Manager*innen das in Lateinamerika so virulente System Korruption zu Fall gebracht.
Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob der Odebrecht-Skandal wirklich zu tiefgreifenden politischen Veränderungen führt. Aber der Skandal zeigt deutlich, wie die lateinamerikanischen Demokratien von finanziell potenten Privatinteressen untergraben werden.

Der peruanische Anthropologe und Amazonienexperte Alberto Chirif weist darauf hin, dass viele Bauprojekte, an denen Odebrecht und geschmierte Politiker*innen verdient haben, womöglich nur aufgrund der korrupten Machenschaften beschlossen wurden. Als Beispiel nennt er die erwähnte Interozeanische Straße-Süd in Peru. Als das Projekt 2005 beschlossen wurde, hieß es, es würde den Handel zwischen Brasilien und Peru beleben. Doch sechs Jahre nach der Eröffnung der Straße sieht die Realität anders aus: Kaum ein brasilianisches Unternehmen nutzt die relativ schmale Straße, die mehr als 5.000 Höhenmeter überwindet. Das Projekt war ein absoluter Fehlschlag. In einem Kommentar für das Nachrichtenportal SERVINDI schreibt Chirif, dass dies den politischen Entscheidungsträgern um Präsident Toledo schon vorher klar war. Sie hätten bewusst gelogen, weil sie von Odebrecht geschmiert wurden: „Das eigentliche Ziel, das mit der Straße erreicht werden sollte, war allein ihr Bau.“ Laut Chirif ging es von Anfang an nur darum, öffentliche Gelder zu privatisieren. Die beteiligten Politiker*innen machten sich zu Kompliz*innen, da ihre eigenen Wahlerfolge von den Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns abhingen.

Und auch beim Bau des „Schönen Monsters“ Belo Monte mag eine ähnliche Motivation eine Rolle gespielt haben. Gegen den Bau sind insgesamt 25 Klagen anhängig, zahlreiche Gesetze zum Schutz von indigenen Gemeinschaften und der Umwelt wurden missachtet. Doch der Bau wurde immer wieder von der Exekutive mit dem Verweis auf „nationale Interessen“ gegen die Judikative durchgesetzt. Das Ausmaß der Schmiergeldzahlungen wirft nun die Frage in den Raum, in wessen Interesse die Regierung damals agierte: in dem der Bevölkerung oder in dem der beteiligten Konzerne?

OFFENER BRIEF DER SHUAR

shuar_cidhEin Shuar-Vertreter vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte / Foto: CIDH (CC BY 2.0)

An meine Shuar-Brüder, an die Indigenen des Amazonasbeckens und der Anden, an die Männer und Frauen aus Ecuador und der Welt.

Wie viele von Euch wissen, waren die vergangenen Tage sehr gefährlich für unsere Leute. Und die Gefahr ist noch nicht vorbei. Das ist vermutlich erst der Anfang einer großen territorialen Auseinandersetzung, die die nationale Regierung gegen die Shuar Arutam eingeleitet hat.

Unser Urwald wurde mit Tränen, Angst und Blut befleckt. Die Pfade, die wir in Frieden begingen, sind unsicher und gefährlich geworden. Es ist nun fast 30 Jahre her, dass die Ecuadorianer uns als Helden des Cenepa (Krieg um die Landesgrenze mit Peru Anm. d. Red.) anerkannten, als die Verteidiger von Ecuador, dem Land, dem wir angehören.

Nun ist es an der Zeit, dass die Leute aus unserem eigenen Mund erfahren, wer wir sind. Viele haben in unserem Namen gesprochen, ohne uns zu fragen: die Regierung, Politiker, soziale Aktivisten – manche mit guten, manche mit schlechten Absichten.

Wir sind hier geboren, in diesem riesigen Urwald, der die Cordillera del Cóndor und die Flüsse Zamora und Santiago umfasst. Stacheldraht und Privatbesitz kannten wir nicht. Bis der Staat unser Land zu Brachland erklärte und seine Besiedelung organisierte, mit dieser Überzeugung und Selbstlegitimierung, die allen Siedlern zueigen ist. Als die Siedler dann kamen, haben wir sie freundlich empfangen, weil wir wussten, dass sie arme, hart arbeitende Leute sind, die nur eine Chance für sich und ihr Leben suchen. Ganze Landstriche gehörten uns von einem Tag auf den anderen nicht mehr, weil Besitztitel auf die Namen von Leuten ausgestellt worden waren, die wir zum Teil nicht einmal kannten.

In den 60er Jahren mussten wir die Interprovinzielle Shuar-Vereinigung FICSH gründen, die wir bis heute als unsere Mutter betrachten, damit der Staat endlich anerkannte, was immer unseres gewesen war: das Territorium, unsere Lebensräume und unsere Kultur. Erst in den 80er Jahren wurden dann Gemeinschaftstitel auf unser Land ausgestellt. Wir erhielten nicht nur aufgrund des Cenepa-Kriegs Anerkennung, sondern auch weil wir diese jahrtausendealten, riesenhaften Wälder erhalten hatten, in Frieden und zum Schutz der Landesgrenze.

Im Jahr 2000 bereiste eine Gruppe von Shuar-Anführern dieses Land und gründete das Shuar Arutam Territorium, so wie die Verfassung es vorschrieb. Das war nicht einfach; es gab hunderte von Versammlungen und Diskussionen, bis sich schließlich sechs Verbände mit ihren 48 Gemeinden zusammentaten, um so ein zusammenhängendes Territorium von 230.000 Hektar in der Provinz Morona Santiago an der Grenze zu Peru zu schaffen.

„Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben  worden.“


Die FICSH eröffnete uns ihr Pilotprojekt, innerhalb des ecuadorianischen Staates eine neue Form indigener Selbstregierung auszuprobieren, eine Art Spezialregime in den Grenzen dieses Shuar-Gebiets. Im Jahr 2003 entwickelten wir unseren Lebensplan, der das Rückgrat unserer Organisation darstellt. Er ist der Kompass, der uns die Richtung weist, der uns sagt, welche Flüsse wir befahren können und wo wir unsere Nase besser heraushalten. Unser Lebensplan behandelt grundlegende Fragen wie Gesundheit, Bildung, den Erhalt und die Kontrolle des Waldes und seiner Ressourcen, Wirtschaft und Umweltschutz. Wir sind praktisch die einzige Gruppe des Landes, die ihr Territorium nach Kategorien nachhaltiger Nutzung eingeteilt hat. 120.000 Hektar haben wir zum strikten Schutzgebiet erklärt, zum Nutzen aller Ecuadorianer.

Im Jahr 2006 wurden wir vom Entwicklungsrat der Nationalitäten und Völker Ecuadors CODENPE als Shuar Arutam Volk legalisiert. Zwei Jahre später unterzeichneten wir einen Vertrag mit der Regierung, um unseren Wald 20 Jahre lang in perfektem Zustand zu erhalten und dafür Zuschüsse zu bekommen, die uns helfen würden, unseren Lebensplan umzusetzen. Dieser Vertrag heißt Socio Bosque – Waldpartner.

Im Jahr 2014 haben wir unseren Lebensplan aktualisiert. Einmal mehr sprach sich unsere Generalversammlung dagegen aus, dass innerhalb unseres Gebiets Bergbau im mittleren oder industriellen Maßstab betrieben wird. Wir haben zu Präsident Correa gesagt: Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm.  Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.

In dieser Situation brach der Konflikt von Nankins aus. Schon seit dem Jahr 2008 bieten wir der Nationalregierung einen institutionalisierten Dialog an, doch trotz all unserer Bemühungen ist es uns nicht gelungen, im Rahmen des plurinationalen Staates ein ernsthaftes, ehrliches, aufrichtiges Gespräch auf Augenhöhe herzustellen. Das ist der Grund für das mangelnde Verständnis und die Fehlinterpretationen der Bedürfnisse der Shuar.

Im Namen eines „nationalen Interesses“, und indem die Vorfälle in Nankints zum Einzelfall erklärt werden, ignoriert die Regierung andere Rechte und Dinge, die laut Verfassung ebenfalls im nationalen Interesse liegen sollten: die Plurikulturalität und der Naturschutz. In Nankints benimmt sich die revolutionäre Regierung wie jeder x-beliebige Kolonisator und vergisst sogar die internationalen Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen ist.

Das Problem liegt nicht in dem Stück Land um Nankints, das wir mit den Siedlern teilen. Von dem die Leute glauben, dass es niemals den Shuar gehört hat. Es lag außerhalb unserer Vorstellungswelt, dass einmal ein Bergbauunternehmen einfach das Land unserer Vorfahren vom Staat und von ein paar Siedlern kaufen könnte. Die Regierung ist vergesslich, und da sie viele Medien besitzt, um sich Gehör zu veschaffen, setzt sie ihre eigenen Wahrheiten durch. Unser Gebiet umfasst nicht nur Nankints. Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben worden. Die gesamten Flussläufe des Zamora und des Santiago wurden an den Klein-Bergbau konzessioniert. Und ein riesiges Wasserkraftwerk ist im Begriff, gebaut zu werden. Unsere Frage lautet: Wo sollen wir Eurer Ansicht nach leben?

„Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben?“


Aus diesem Grund haben wir vor neun Jahren dem Unternehmen gesagt, es soll unser Land verlassen, und uns Nankints zurückgeholt. Neun Jahre später hat irgendjemand den Präsidenten manipuliert, damit er uns gewaltsam vertreibt, noch bevor er abtritt. Weil wir uns das nicht gefallen lassen, kommt es zu Gewalt. Sie haben uns die Schuld für die Tragödie mit dem ermordeten Polizisten gegeben, aber wir haben keinerlei Befehl ausgegeben, jemanden umzubringen. Die Regierung hingegen schickt, anstatt mit uns zu sprechen, tausende von Polizisten und Militärs in unsere Häuser, auf unser Land, terrorisiert und bedroht unsere Kinder. Soweit ich weiß, ist keiner von uns Scharfschütze, noch besitzen wir Feuerwaffen, die einen Polizeihelm durchschlagen würden. Warum ermitteln sie nicht gründlich, bevor sie uns verfolgen, bevor sie Haftbefehle für all unsere Familienväter ausstellen? Warum verkünden sie bei uns den Ausnahmezustand, anstatt mit uns zu reden um zu ermitteln, um die Gewalt zu stoppen, um den dunklen Kräften die Türen zu verschließen? Warum dringen sie in unsere Häuser ein? Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben? Die Antwort, die wir erhalten, ist, dass wir angesichts des nationalen Interesses nur eine Handvoll folkloristischer und terroristischer Indios sind und nicht verstehen, was Buen Vivir bedeutet. Und schon gar nicht Sumak Kawsay oder das Projekt der Bürgerrevolution.

In diesem ersten Kommuniqué aus den Wäldern der Cordillera del Cóndor sagen wir tausend Familien Euch, dass wir es unter keinen Umständen zulassen werden, dass die Gewalt und die Macht der Regierung unser Haus, Dein Haus, das Haus der Welt zerstört.

Präsident Rafael Correa muss ein Klima des Friedens schaffen, seine Truppen zurückziehen, den Ausnahmezustand in unserer Provinz aufheben sowie die Haftbefehle gegen unsere Anführer und Angehörigen. Der einzig richtige Weg, um diesen Weg der Zerstörung zu beenden – der einzelne Shuar zu isolierten Widerstandsaktionen treibt, um ihr Gebiet zurückzuerobern –, ist der Dialog, der Respekt, das gegenseitige Verständnis.

Wir fordern alle Bewohner Ecuadors und Morona Santiagos auf, sich unserer Forderung nach Frieden, der Beendigung der Gewalt und einem ernsthaften Dialog mit der Regierung anzuschließen; einem Dialog, der unser Leben als Ureinwohner respektiert.

BERLINALE – NUR NOCH GROßES KINO?

Der Reiz eines bedeutenden Filmfestivals besteht auf den ersten Blick aus den großen Momenten. Stars auf dem roten Teppich, große Gefühle auf der Leinwand, Namen von Schauspieler*innen, und Regisseur*innen mit Wiedererkennungswert begründen den internationalen Ruf eines Festivals. Auch die Berlinale kann sich deshalb selbstverständlich nicht alleine auf ihr Markenzeichen des „politischsten aller großen Filmfestivals“ verlassen und muss mit großen Namen aufwarten.

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Foto: Rodrigo Migliorin

Und das, soviel kann man schon vor Beginn der 67. Ausgabe verraten, ist diesmal hervorragend geglückt: Catherine Deneuve, Aki Kaurismäki, Ethan Hawke, Bruno Ganz, Geoffrey Rush, Robert Pattinson, Sienna Miller, Alex de las Iglesias und Ewan Mc Gregor (zu sehen im zweiten Teil von „Trainspotting“) sind nur eine kleine Auswahl der Filmgrößen, die sich rund um den Berlinale-Palast am Potsdamer Platz die Klinke in die Hand geben werden. Positive Schlagzeilen sind also garantiert.
Interessant ist ein Festival wie die Berlinale für viele aber auch deshalb, weil es die Möglichkeit bietet, in der kurzen Zeit von 10 Tagen einen Ausschnitt von künstlerischen Perspektiven und filmischen Abbildungen aus der ganzen Welt zu erhaschen. Ein Stempel, eine Vergleichsmöglichkeit davon, was Menschen, die die Realität beobachten und sie festzuhalten versuchen, bewegt. Sind sich Fragen, Standpunkte und künstlerische Herangehensweise rund um den Globus ähnlich oder driften sie auseinander? Ein Kriterium für die Auswahl von Festivalfilmen sollte deshalb sein, ein möglichst großes Potpourri verschiedener Realitäten anzubieten. Über Lateinamerika sagte der Sänger Manu Chao diesbezüglich einmal, um es kennenzulernen, bräuchte man mindestens zwei Leben.

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Foto: Rodrigo Migliorin

Und die Filmauswahl der Berlinale in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass die Regisseur*innen des Subkontinents die Kunst beherrschen, die unterschiedlichen Facetten ihrer Umgebung auf die Leinwand zu bringen. Auch dieses Jahr kann man sich deshalb auf die 21 Lang- und neun Kurzfilme sowie die drei Dokus über lateinamerikanische Künstler*innen freuen, die auf dem Festival zu sehen sein werden. Allerdings sticht ins Auge, dass die Auswahl geographisch sehr stark fokussiert ist.  Über die Hälfte der Filme stammt aus Brasilien (acht Lang-, drei Kurzfilme) und Argentinien (fünf/drei). Ansonsten sind nur noch Mexiko (vier/zwei), Chile (drei/-), Peru (ein/-), Kuba (ein/-) und Kolumbien (ein/ein) vertreten. Ob es nur am mangelnden Angebot liegt oder die auch im Independent-Bereich einflussreichen Filmgroßindustrien aus Brasilien und Argentinien ihre Produktionen einfach geschickter zu platzieren wissen, lässt sich aus der Ferne nur schwer beurteilen. Fakt ist, dass es auch 2017 wieder einige weiße Flecken auf der Berlinale-Landkarte Lateinamerikas gibt: Aus Zentralamerika ist  kein  einziger Beitrag vertreten, auch der Andenraum spielt diesmal fast keine Rolle. Das soll und wird den Genuss der anderen Filme natürlich nicht schmälern. Aber um die Welt (filmisch) verstehen zu können, wäre es schön, auch Eindrücke aus diesen Regionen etwas deutlicher wahrzunehmen – wenngleich sie vielleicht nicht den gleichen Glanz und Glamour versprechen, wie eine Fortsetzung von Trainspotting.

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Lateinamerikanische Filme auf der Berlinale

Wettbewerb: Zwei lateinamerikanische Produktionen haben es in den Wettbewerb geschafft. Joaquím (Brasilien) von Regisseur Marcelo Gomes ist ein Biopic über den brasilianischen Nationalhelden Tiradentes, der für die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal und die Abschaffung der Sklaverei kämpfte. In Una mujer fantástica (Chile) wird die transsexuelle Kellnerin Marina vom Tod ihres Freundes aus der Bahn geworfen. Bereits 2013 nahm der Regisseur und Wahl-Berliner Sebastián Lelio mit Gloria am Wettbewerb teil. Die Darstellerin Paulina García gewann damals einen silbernen Bären als beste Darstellerin.

Berlinale Special: Últimos Dias en La Habana (Kuba) verfolgt die Beziehung zwischen dem introvertierten Miguel und dem extrovertierten Diego, der HIV-positiv ist. Die Dokumentation La libertad del Diablo (Mexiko) gibt Menschen, die vom Drogenkrieg in Mexiko betroffen sind, eine Stimme.

Panorama: Gleich vier brasilianische Filme finden sich in der Arthouse/Autor*innenkino-Abteilung der Berlinale wieder. Como nossos pais befasst sich mit den alltäglichen Existenzlügen einer Familie in São Paulo. Pendular erforscht die Beziehung zwischen einer Tanzkünstlerin und einem Bildhauers anhand von deren kreativen Schaffens. Vazante spielt im Jahr 1821 und befasst sich mit den Macht- und Geschlechterverhältnissen auf der Farm des Sklaven- und Viehhändlers Antonio im brasilianischen Hinterland. Die Dokumentation No intenso agora ist eine essayistische Collage verschiedener weltweiter Umbruchsbewegungen der 1960er Jahre. Eine weitere Dokumentation kommt aus Chile: In El pacto de Adriana entdeckt Regisseurin Lissette Orozco, dass ihre Lieblingstante unter Augusto Pinochet für den chilenischen Geheimdienst DINA gearbeitet hat. Nicht von lateinamerikanischen Regisseur*innen, aber mit lateinamerikanischen Künstlerinnen als Protagonistinnen sind die Dokumentationen Tania Libre über die kubanische Dissidentin und Performancekünstlerin Tania Bruguera, die sich 2018 um die kubanische Präsidentschaft bewerben möchte sowie Chavela über das Leben der legendären mexikanischen Sängerin Chavela Vargas.

Forum: In der experimentellen Forum-Sektion ist Argentinien mit Cuatreros, einer Annäherung an Zeit und Lebensumstände des „argentinischen Robin Hood“ Isidro Velázquez (Siehe Rezension auf S. 52) und der argentinisch/kolumbianischen Co-Produktion Adiós entusiasmo vertreten, in der vier Geschwister ihre Mutter in ihrer Wohnung einsperren. Die chilenisch-mexikanische Dokumentation Casa Roshell zeigt einen ungewöhnlichen Ort in Mexico City, an dem Männer lernen, sich in Frauen zu verwandeln. Rifle ist ein moderner Western aus Süd-Brasilien, in der ein Ex-Soldat einen Kleinbauern vor Großgrundbesitzern schützen soll. Rio Verde: El tiempo de los Yakurunas ist eine Dokumentation über das Leben einer indigenen Gemeinschaft im peruanischen Amazonasgebiet. Der deutsche Beitrag Dieste mit Bezug zu Uruguay untersucht die Bauwerke des mehrfach ausgezeichneten uruguayischen Architekten Eladio Dieste.

Generation: Auch bei den häufig sehr sehenswerten Beiträgen aus der Jugendfilmreihe der Berlinale ist Brasilien gleich dreifach vertreten. In As duas Irenes entdeckt die 13-jährige Irene, dass ihr Vater eine Tochter von einer anderen Frau hat, die ebenfalls Irene heißt und genauso alt ist wie sie. In Não devore meu coração verliebt sich der 13-jährige Joca in die Guaraní Basano und gerät dadurch in Konflikte um Landraub und kulturelle Identität an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay. Mulher do pai erzählt die Geschichte der Jugendlichen Nalu, die sich nach dem Tod des Großvaters um ihren blinden Vater kümmern muss. Der argentinische Beitrag Primero enero zeigt das schwierige Verhältnis zwischen dem kleinen Valentino und seinem Vater, der sich scheiden lassen will. Ebenfalls aus Argentinien kommt Soldado, in dem ein junger Mann 30 Jahre nach der Militärdiktatur in der argentinischen Armee erwachsen werden möchte. Schließlich gehen die Geschwister Dylan und Andrea in der mexikanischen Produktion Tesoros auf die Suche nach einem Piratenschatz, finden am Ende jedoch etwas viel Wertvolleres.

Retroperspektive: Die Berlinale zeigt eine restaurierte Fassung des mexikanischen Klassikers Canoa von 1975, in der eine Gruppe junger Mitarbeiter der Universität Puebla im Dorf San Miguel Canoa für Kommunisten gehalten und von einem wütenden Lynchmob der Bewohner*innen angegriffen wird (siehe Rezension S. 54)

Kurzfilme: Vênus – Filó, a Fadinha Lésbica (Brasilien, Panorama); Centauro (Argentinien); Ensueño en la pradera (Mexiko); Estás vendo coisas (Brasilien); Fuera de temporada (Argentinien); Libélula (Mexiko, Generation); La prima sueca (Argentinien, Generation); The jungle knows you better than you do (Kolumbien; Generation); Em busca da terra sem males (Brasilien, Generation)

In dieser Ausgabe erscheinen zwei Filmrezensionen, die von der Redaktion bereits vor Beginn des Festivals gesehen werden konnten. Weitere Rezensionen lateinamerikanischer Filme  werden wir während der Berlinale  fortlaufend auf unserer Homepage (www.lateinamerika-nachrichten.de) veröffentlichen.

// FALSCHE MITTEL, FALSCHER ZWECK

Sofort waren die Spekulationen da. Nachdem Teori Zavascki, Richter des brasilianischen Obersten Gerichts, am 19. Januar mit einem Kleinflugzeug tödlich verunglückt war, verbreiteten Tausende in den sozialen Medien die Ansicht, dass das kein Unfall gewesen sein könne. Schließlich hatte sich der Jurist viele Feinde gemacht.
Teori Zavascki war zuständig für den Fall „Lava Jato“ (Autowaschanlage), der Untersuchung zum Korruptionsskandal um das staatliche Erdölunternehmen Petrobras und große Baufirmen. Die Unternehmen hatten illegal die Wahlkampagnen verschiedener brasilianischer Parteien mitfinanziert; dafür bekamen sie öffentliche Aufträge. Zavascki war kurz davor, über die Kronzeug*innenregelungen mit 77 ehemaligen Manager*innen des Bauriesen Odebrecht zu entscheiden. Neue Enthüllungen über korrupte Politiker*innen um den Präsidenten Michel Temer waren zu erwarten. Nun werden weitere Ergebnisse noch monatelang auf sich warten lassen.
Dies spornte die Fantasie vieler Brasilianer*innen zu verschwörungstheoretischen Überlegungen an: Sollte Zavascki aus dem Weg geräumt werden, um der politischen Elite die Schlinge vom Hals zu nehmen? Inzwischen hat die Vorsitzende des Obersten Gerichts, Cármen Lúcia, den Assistenzrichtern von Teori Zavascki grünes Licht gegeben, mit den Untersuchungen fortzufahren. Sollte Zavaski ermordet worden sein, um eine Person von ihren Gnaden auf seine Position zu hieven, hätten die mutmaßlichen Verschwörer*innen ihr Ziel jedenfalls nicht erreicht.

Doch auch international hat die Korruption um Odebrecht Kreise gezogen: Im vergangenen Dezember hat sich Odebrecht mit einem US-Gericht auf eine Strafzahlung von 3,5 Mrd. US-Dollar wegen Korruption und Geldwäsche geeinigt. Das ist die höchste Summe, die für so einen Fall je gezahlt wurde. Über zwei Jahrzehnte soll das Unternehmen in zwölf Ländern Politiker*innen über Briefkastenfirmen bezahlt haben, um an millionenschwere Bauaufträge für Straßen- und Staudammprojekte wie beim brasilianischen Damm Belo Monte zu kommen. Zusätzlich wird Odebrecht ungefähr 2,26 Milliarden Euro Strafzahlungen in den jeweiligen Ländern leisten.
Und dem Bau-Multi geht es weiter an den Kragen: In der Dominikanischen Republik durchsuchten Polizist*innen Odebrechts Büroräume. Panama und Kolumbien kündigten an, das Unternehmen künftig von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen. Perus Präsident Pedro Pablo Kusczynksi erklärte: „Odebrecht muss seine Projekte in Peru verkaufen und das Land verlassen, auch wenn einige sehr gut sind, um Straßen und Elektrizität bereit zu stellen. Nur leider gibt es das Problem der Korruption, Odebrecht muss gehen, es ist vorbei.“

Diese Aussage ist jedoch so typisch wie unzureichend: Die Empörung richtet sich gegen unethische Politiker*innen und Unternehmer*innen. Doch die Projekte selbst werden nicht kritisiert, sondern sogar gelobt. Der uruguayische Soziologe und Ökologe Eduardo Gudynas machte deswegen jüngst in einer Studie auf die „intime Verbindung von Extraktivismus und Korruption“ aufmerksam. Viele Infrastrukturprojekte, die Kuczynski so lobt, wären ohne Korruption gar nicht möglich. Hauptsächlich profitieren die Bauunternehmen und extraktive Industrien wie Bergbau, Erdöl- und Agrarindustrie von ihnen. Die Projekte von Odebrecht und anderen wurden durchgesetzt, trotz ihrer enormen negative Konsequenzen für Bevölkerung und Umwelt, wie Mirtha Vázquez von der peruanischen Sozial- und Umweltorganisation Grufides in einem Artikel erinnert: „Die sozialen und Umweltkosten solcher Projekte spielten in der Vergangenheit keine Rolle. Es war egal, wie viele Leute vertrieben wurden und ohne Zugang zu Land und Wasser blieben, ob die Flüsse zerstört werden. All dies wurde durch die Korruption möglich gemacht.“ Das Problem bei der Korruption sind also nicht nur ein paar Unternehmer*innen und Politiker*innen, die sich bereichern. Das Problem ist, dass die Interessen einiger weniger als das Interesse der Allgemeinheit ausgegeben werden.

DAS PRINZIP DES KLEINEREN ÜBELS

Peru hat viele Tage der Anspannung hinter sich. Am 5. Juni gingen die Präsidentschaftswahlen in die zweite Runde – eine Stichwahl zwischen der rechtspopulistischen Keiko Fujimori und dem liberalen Technokraten Pedro Pablo Kuczynski, der in Peru in der Vergangenheit schon die Posten als Wirtschafts- und Premierminister inne hatte. Die Hochrechnungen am Wahltag sahen Kuczynski mit seiner Partei Peruanos Por el Kambio (PPK) mit etwa einem Prozent vor der Kandidatin Fujimori von der Partei Fuerza Popular – zu feiern wagte bei solch einem knappen Vorsprung jedoch niemand.
Vier Tage lang blieb die Situation unklar und mit der wachsenden Unsicherheit kam auch die Angst vor einem Wahlbetrug auf – und zwar auf beiden Seiten. Am 9. Juni gab die Nationale Wahlorganisation (ONPE) schließlich die Ergebnisse bekannt, die den Sieg von Kuczynski mit knappen 50,12 Prozent bestätigten – gegen 49,88 Prozent der Stimmen für Keiko Fujimori.
Das Erstaunliche daran: Noch zehn Tage vor den Wahlen hatte Keiko Fujimori bei allen Umfragen vorne gelegen, während Kuczynski eine Niederlage vorausgesagt wurde. Was auf den ersten Blick wie ein plötzliches Erstarken der PPK aussieht, ist aber aller Wahrscheinlichkeit nicht der Partei als solcher zuzurechnen. „Die Ergebnisse der Stichwahl stellen weniger einen Triumph des Kandidaten Kuczynski, als vielmehr einen Sieg der Kampagne ‚Nein zu Keiko‘ dar“, so die Einschätzung des Journalisten und Wirtschaftswissenschaftlers Augusto Álvarez Rodrich in der Zeitung La República.
Keiko Fujimori ist die Tochter von Alberto Fujimori, der von 1990 bis 2000 als Präsident von Peru amtierte und extrem autoritär unter Missachtung der Menschenrechte regierte. Für viele Peruaner*innen symbolisiert Keiko Fujimori die Fortsetzung des autoritären Regimes – von Mitte bis Links gibt es daher eine geschlossene Ablehnung gegen alle Politiker*innen der Familie Fujimori.
Kuczynski hat diese Stimmung vor der anstehenden Stichwahl für sich zu nutzen gewusst. „Ich möchte Präsident von Peru sein, um die Demokratie zu verteidigen”, sagte er im zweiten Fernsehduell, das Ende Mai zwischen ihm und Fujimori stattfand. „Ich glaube an die Freiheit und ich bin überzeugt, dass diese Freiheit in Peru extrem gefährdet ist. Deshalb möchte ich alle Peruaner, egal welcher politischen Überzeugung, dazu aufrufen, die Freiheit zu verteidigen und die Rückkehr der Diktatur, der Korruption und der Lügen mit unseren Stimmen zu verhindern. Bürger, jetzt oder nie. Bis zum letzten Tisch, bis zur letzten Wahlstimme, es lebe Peru!“. Mit diesen Worten hatte Kuzcynski sich erfolgreich als Antifujimorist und als Demokrat positioniert, was denn auch der Schlüssel zu höheren Umfragewerten war. Wähler*innen von links und aus der Mitte konnte Kuzcynski für sich gewinnen, sofern sie gegen Fujimori waren. Auch hatte Kuczynski es geschafft, sich glaubhaft als Bekämpfer der Korruption zu präsentieren.
Fujimori hatte sich besonders mit zwei Fällen in der Öffentlichkeit unbeliebt gemacht. Zum einen wird der Generalsekretär und Hauptfinanzier der Wahlkampagne von Keiko Fujimori, Joaquín Ramírez, offenbar von der US-amerikanische Drogenfahndung DEA gesucht – wegen möglicher Verbindungen zum Drogenhandel und Verwicklung in Geldwäsche. Das behauptet zumindest der peruanische Ex-Pilot Jesús Vásquez. Zum anderen besteht der Verdacht, dass José Chlimper, der unter Fujimori als Vizepräsident kandidierte und die Kampagne ihrer Partei anführt, einem Fernsehsender eine gefälschte Audio-Datei zukommen lassen habe, auf der angeblich derselbe Jesús Vásquez gesteht, dass die Anschuldigungen gegen Ramírez falsch seien.
Dieser versuchte Betrug, zusammen mit den Beschuldigungen gegen Ramírez und gegen andere Mitglieder der Fuerza Popular, von denen sich Keiko Fuijimori bis heute nicht klar distanziert hat, dürfte viele ihrer Anhänger*innen und Sympathisant*innen abgeschreckt haben. Das war wiederum entscheidend für die Stärkung der anti-fujimoristischen Bewegung, der sich Kuczynski am Ende seiner Wahlkampagne anzunähern vermochte.
Aber auch die formale Unterstützung in letzter Minute von Seiten der peruanischen Linken war entscheidend für den plötzlichen Stimmungswechsel unter den Wähler*innen. Die Kandidatin des linken Parteienbündnisses Frente Amplio („Breite Front“), Verónika Mendoza, verpasste in der ersten Wahlrunde als Dritte knapp die Stichwahl. Für den zweiten Wahlgang rief sie ihre Anhänger*innen überraschend dazu auf, Kuczynski zu wählen „um dem Fujimorismus den Weg zu versperren, der heute eng mit Korruption und Drogenhandel verbunden ist.“
Durch diesen Aufruf, der auch auf Quechua über  diverse lokale Radios ausgestrahlt wurde, konnte Verónika Mendoza die Bevölkerung im Süden des Landes erreichen, die eigentlich gegen Kuyzynski und vor allem das von ihm repräsentierte Wirtschaftsmodell ist. Der Süden hatte in der ersten Runde großenteils Mendoza gewählt. Ihr Aufruf dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, Wähler*innen für Kuzcynski zu gewinnen, die andernfalls ungültige oder leere Wahlzettel bei der Stichwahl abgegeben hätten.
Der Anti-Fujimorismus stellte das ganze Land unter Spannung. Bezeichnend dafür war eine nationale und internationale Großkundgebung am 31. Mai, die von dem Kollektiv „Nein zu Keiko“ organisiert wurde. Eine große Demonstration fand unter anderem auf dem Platz Dos de Mayo in Lima statt: Mehr als 70.000 Menschen nahmen teil, unter ihnen Politiker*innen, Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen, unabhängige Aktivist*innen, Angehörige der Opfer des Regimes von Alberto Fujimori, soziale Bewegungen, öffentliche Personen, Journalist*innen und Studierende. Obwohl bei dieser Demonstration nicht dazu aufgerufen wurde, Kuczynski zu wählen, gab es eine klare Ablehnung der Wahlenthaltung. Dadurch wurden indirekt viele noch unentschiedene Anti-Fujimorist*innen überzeugt, den Ökonomen und ehemaligen Minister zu wählen.
„Der Anti-Fujimorismus stabilisiert sich als ein großer Akteur des politischen Lebens“, schreibt auch der Historiker Antonio Zapata mit Anspielung auf die peruanischen Wahlen im Jahr 2011, wo es zu einem ähnlichen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Keiko Fujimori und dem damaligen Kandidaten Ollanta Humala gab, bei dem die rechtspopulistische Kandidatin ebenso verloren hatte. Damals hatte es eine ähnliche Bewegung gegen sie gegeben, die das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst hatte.
Die Partei Fujimoris ist damit dauerhaft in eine schwierige Situation geraten. Für den Historiker und Sozialwissenschaftler Nelson Manrique werden sich „die Spannungen zuspitzen, die den Fujimorismus zerreißen“, so seine Einschätzung. Tatsächlich trägt Keiko Fujimoris Partei auch intern viele Konflikte aus. Ihr Vater Alberto Fujimori hat zum Beispiel wiederholt seine Unzufriedenheit mit der Wahlstrategie seiner Tochter gezeigt. Hinzu kommt ein Machtstreit zwischen ihr und ihrem Bruder Kenji darüber, wer die Partei anführt.
Vom Tisch ist das Erbe Alberto Fujimoris damit aber noch lange nicht. Mit 73 von insgesamt 130 Kongressmitgliedern stellt die Partei Fuerza Popular die absolute Mehrheit im Kongress und kann Kuczynskis Regierung in vielen Punkten blockieren. Keiko Fujimori hat außerdem eine starke Opposition angekündigt. Es bleibt offen, ob das in Form von Boykott passiert, oder ob es doch ein Stück weit Kooperationen geben wird, etwa in wirtschaftlichen Fragen, bei denen Fujimori und Kuczynski sich gar nicht so uneinig sind. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, dass die Fuerza Popular, die – wie Kuzcynski – den internationalen Markt für Bergbau-Investitionen öffnen will, Interesse daran hat, dass dieses Modell während der PPK-Regierung funktioniert, da sie im Falle eines Scheiterns keine Chance hätten, die nächsten Wahlen zu gewinnen.
Sie könnten aber auch die Taktik einschlagen, die nun an die Macht kommende Kuczynski-Regierung zu destabilisieren. „Wir wissen schon, wem der Kongress gehört“, sagte Pedro Spadaro, Vorsitzender von Fujimoris Partei Fuerza Popular, in einem Anfall von Überheblichkeit. Dieser Vorgeschmack auf möglicherweise Kommendes deutet eher auf eine autoritär und anmaßend agierende Fraktion hin.
Ein Fragezeichen ist die peruanische Linke mit der Fraktion der Frente Amplio. Einerseits war ihr Aufruf entscheidend für den Wahlsieg des zukünftigen Präsidenten: andererseits bedeutete diese Unterstützung in letzter Minute aber noch lange keinen Pakt mit Kuczynski. Die Frente Amplio hat nun also die Hände frei, um als echte Opposition zu handeln, die „die Logik der neoliberalen Akkumulation hinterfragt, die von beiden Präsidentschaftskandidaten repräsentiert wird“, wie Manrique hofft, und die „eine inklusive Politik fordert, ein Zurückholen unserer Kulturen und unserer Identität, und die sich mit jeder Form von Diskriminierung auseinandersetzt, indem sie radikale Änderungen fordert.“
Eine Koalition mit Kuczynski schloss Verónika Mendoza indes aus. Sie stellte klar, dass ihre 20 Kongressmitglieder eine wachsame Opposition stellen würden, die aber jene Projekte der Regierung unterstützen werden, die mit dem Programm der Fraktion vereinbar sind. Wenn die Frente Amplio sich Chancen auf die Präsidentschaft ab 2021 eröffnen will, wird ihre Arbeit im Kongress von zentraler Bedeutung sein. Dafür muss die Fraktion geschlossen und zusammen bleiben, und ihre politische Linie beibehalten, mit der sie sich als dritte politische Kraft in Peru stabilisiert hat – als progressive Linke: inklusiv, offen zum Dialog, dezentralistisch, interkulturell und respektvoll gegenüber Menschenrechten und  Umwelt. Es wird aber auch nötig sein, die mehr als acht Millionen Anhänger*innen von Fujimori zu verstehen und auf sie einzugehen, anstatt sie zu verteufeln.
Kuzcynski wird seine Amtszeit indessen in einem besonderen Kontext antreten. Für Sinesio López, Sozialwissenschaftler von der Katholischen Universität Lima, wird sich mit dem Wahlsieg Kuczynskis in Peru eine geteilte Regierung etablieren: Eine Partei stellt den Präsidenten, die andere Partei stellt die Mehrheit im Kongress. Angesichts diesem möglichen Problem der „Unregierbarkeit“ hält López es für wahrscheinlich, dass Kuczynski „die Konfrontation vermeiden und eine Politik der Einigung in mehrere Richtungen verfolgen wird: Einigungen mit dem Fujimorismus, was das wirtschaftliche Modell angeht, und Abkommen mit der Mitte und der Linken, was die Sozialpolitik und den Kampf gegen Korruption oder für Freiheit und Menschenrechte angeht.“ Das waren auch die ersten Worte Kuczynskis als gewählter Präsident. In einer Rede nach dem Wahlsieg stellte er klar, dass er eine Politik des Dialogs mit allen politischen Kräften im Land etablieren wolle.
Die Herausforderung, vor der der neue Präsident somit steht, ist groß: Ein Land regieren, das polarisiert ist zwischen einem starken Fujimorismus  im Kongress, und einem starken Anti-Fujimorismus, für den die Menschen auf die Straße gehen und der sowohl in der politischen Mitte als auch bei der Linken sehr präsent ist. Er wird daher zeigen müssen, mit beiden Seiten auf ausgeglichene Art und Weise verhandeln zu können. Das ist aber nicht einfach. Wird Kuczynski zum Beispiel mit den Fujimorist*innen über die Freilassung des Ex-Präsidenten verhandeln, der seit Jahren im Gefängnis ist? Als ihm die Frage gestellt wurde, antwortete Kuczynski, dass er Fujimori nicht begnadigen würde, ließ aber die Möglichkeit eines Hausarrests statt einer Gefängnisstrafe offen. Dabei darf er aber auch nicht vergessen, dass es der starke Antifujimorismus war, der ihn überhaupt in den Regierungspalast gebracht hat. Für diese Bewegung ist es inakzeptabel, den Ex-Präsidenten aus dem Gefängnis zu lassen.
Für Salomón Lerner Febres, ehemaliger Präsident der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, ist einer der wichtigen Faktoren, dass die neue Regierung ihre Versprechen in Sachen Menschenrechte einhält. Das heißt, dass nicht nur alle Arten der Diskriminierung bekämpft werden, sondern auch ein Plan der Personensuche von Verschwundenen aufgestellt wird. Der „Plan Integral de Reparaciones“ für die Opfer der Gewaltperiode, die Peru zwischen 1980 und 2000 erlebt hat, müsse weitergeführt werden, so Lerner. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass nach einem Null-Toleranz-Prinzip mit Korruption verfahren wird. Das Gesetzesprojekt des „zivilen Todes“ für Korrupte müsste daher weitergeführt werden, sowie die Unverjährbarkeit für Korruptionsdelikte.
Und schließlich müsste ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Wirtschaftspolitik Kuczynskis, die ausländische Investitionen besonders im Bergbau fördern will, und dem Schutz der Umwelt, zu dem sie sich verpflichtet hat, sowie der Einhaltung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die die Befragung indigener Völker bei allem, was auf ihren Territorien stattfinden soll, vorschreibt.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Kuczynski in der Vergangenheit sein öffentliches Amt als Minister dazu genutzt hat, den transnationalen Firmen große Vorteile zu bescheren – zum Nachteil der peruanischen Bevölkerung. Bekannt ist unter anderem der auf Kuczynski lastende Vorwurf, er habe der International Petroleum Company geholfen, aus dem peruanischen Finanzsystem 115 Millionen US-Dollar herauzuziehen, als er 1968 Geschäftsführer der Zentralbank war. Außerdem wurde er 2001 als Berater der Firma Hunt Oil eingestellt, im selben Jahr also, in dem er sein Amt als Wirtschaftsminister antrat. Als Minister soll er dem Unternehmen ein Preiszugeständnis für das Erdgasfeld (lote) Nr. 56 gewährt haben. Zudem hatte er auch maßgebliche Gesetzesänderungen unterstützt, die Hunt Oil ermöglichten, die Produktion des Erdgasfeldes Nr. 88 zu exportieren, was die Deckung des nationalen Gasbedarfs gefährdete.
Kuczynski bestreitet diese Vorwürfe bis heute. Viele befürchten, dass er transnationalen Unternehmen Vorteile einräumen wird. Seine öffentlich gezeigte Geringschätzung der andinen und indigenen Völker lassen jedenfalls Jahre der sozialen und ökologischen Konflikte befürchten, deren Preis menschliche Leben sein könnten, wie es in Bagua, Tía María oder Conga der Fall war. Man solle ihn nicht als „kleineres Übel“ wählen, hatte Kuczynski noch gesagt, sondern als Vorteil für das ganze Land. Wie das mit seiner industrienahen Position vereinbar ist, wird sich in den kommenden fünf Jahren zeigen.

LAND UNTER IN PERU

Erst kam gar kein Regen, dann hörte er nicht mehr auf und hinterließ in großen Teilen des Landes verheerende Überschwemmungen und Erdrutsche. Die Carretera Central, eine der wichtigsten Verkehrsadern Perus, die aus der Hauptstadt Lima in den Osten des Landes führt, blieb tagelang gesperrt, weil der parallel strömende Río Rimac die Straße einfach überflutet hatte. Auch in der Provinz Huarochiri, etwa 80 Kilometer östlich von Lima, lief nichts mehr. Nach zwei Erdrutschen blockierten Schlamm und Steine den Verkehr. Hunderte von Lastwagen mit landwirtschaftlichen Produkten, Busse und Autos steckten fest. Die Verkehrsbehörde SUTRAN empfahl Umleitungen von bis zu 450 Kilometern.
Tausende Verkehrsteilnehmer*innen mussten auf den Straßen ausharren. Die Nachrichtenagentur ANDINA berichtete von Personen, die Schwächeanfälle und Dehydrierungen erlitten. Freiwillige Helfer*innen des Gesundheitsministeriums behandelten die Betroffenen, einige wurden ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht. Die Zeitung El Comercio berichtete von Reisenden, die ausstiegen und teilweise mit kleinen Kindern auf den Armen stundenlang liefen, um den nächsten Ort zu erreichen.
Die starken Regenfälle sorgten auch in anderen Teilen des Landes für dramatische Situationen. Mindestens 15 Regionen Perus sind betroffen. In der Stadt Puerto Maldonado wurden hunderte Häuser zerstört, viele Familien mussten in Notunterkünfte ziehen. In Puno, an der Grenze zu Bolivien, waren mehrere Flüsse über die Ufer getreten. Häuser und Schulen wurden beschädigt, Wege unpassierbar. 17 ländliche Gemeinden verloren ihre gesamte Ernte. „Die Felder waren unsere Lebensgrundlage“, klagte ein Bauer aus Puno, dessen Ackerflächen unter der Flut verschwanden. „Wie soll ich jetzt meine Familie ernähren?“
In Piura und Tumbes, im Norden des Landes, verwandelten sintflutartige Regenfälle von bis zu zwölf Stunden die Straßen in Flüsse. Mehrere Häuser stürzten ein. Auch Arequipa und Cusco sind betroffen, Erdrutsche brachten Häuser zum Einsturz, der Regen ließ Flüsse über die Ufer treten. Nach Regierungsangaben starben insgesamt mehr als zehn Menschen, Zehntausende sind betroffen, Tausende Häuser eingestürzt oder unbewohnbar geworden.
Das Nationale Institut für Zivilschutz (INDECI) bemühte sich, schnellstmöglich Wege freizuräumen und Menschen zu befreien, die von den Fluten eingeschlossen worden waren. Keine leichte Aufgabe: „Das ist der erste kritische Punkt, an dem wir im Moment arbeiten. Wir sind an einer Brücke, die eigentlich den Zugang zu den Bewohnern in höheren Gebieten ermöglicht, aber diese ist nach der Schlammlawine völlig unzugänglich. Das ganze Geröll hat die Brücke blockiert“, sagte ein Mitarbeiter. Der noch amtierende Präsident Ollanta Humala inspizierte die Aufräumarbeiten auf der Carretera Central nach den Erdrutschen von einem Helikopter aus. Begleitet wurde er vom Verteidigungsminister Jakke Valakivi, der die Arbeit des Militärs überprüfte, das in Huarochirí mit schweren Maschinen die logistische Unterstützung übernahm und die Reisenden versorgte, die auf den Straßen festsaßen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Peru von heftigen Überflutungen getroffen wird. Starke Regenfälle sind in den Monaten Dezember bis März im Hochland und im Regenwald üblich. Allerdings blieb der Regen ab Dezember in vielen Regionen des Landes aus. In Puno wurde wegen der Dürre im Januar der Notzustand ausgerufen. 40 bis 60% der Ernte seien verloren, sagte das regionale Landwirtschaftsamt von Puno vor dem großen Regen. Dann kam der Regen und zerstörte den Rest.
Meteorologen betrachten die derzeitigen Klimaerscheinungen als Folge des natürlichen Klimaphänomens El Niño, bei dem sich die Meeresoberfläche am Äquator deutlich erwärmt. Je nach Region können dann heftige Regenfälle oder Dürren entstehen. Die peruanischen Behörden hatten bereits im vergangenen Jahr gewarnt, dass El Niño in diesem Jahr besonders heftig ausfallen würde, die Weltorganisation für Meteorologie sprach sogar vom stärksten El Niño seit 15 Jahren. Im Laufe der Monaten schwächten die Behörden die Prognosen jedoch immer weiter ab, bis man zuletzt nur noch von „moderaten“ Folgen sprach.
Der Nationale Dienst für Meteorologie und Hydrologie (SENAMHI) empfiehlt den peruanischen Behörden seit Jahren, sich entsprechend auf die jährlich niedergehenden Wassermassen einzustellen und Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Diese blieben aus der Sicht des Landwirtschaftsministers Juan Manuel Benites und des Ministers für Wohnungsbau-, Bau- und Sanitärwesen, Francisco Dumler, aber trotz aller Warnungen auch in diesem Jahr aus. „Viele Städte an der Küste wie Piura oder Tumbes waren nicht auf den Regen vorbereitet“, sagte Dumler. Die Stadt- und Regionalverwaltungen hätte verstärkt in Entwässerungssysteme investieren müssen, aber dies sei nicht geschehen. Nach Angaben der unabhängigen Beobachtungsstelle für Infrastruktur IPT seien im ersten Halbjahr 2015 die öffentlichen Investitionen der Lokalregierungen in Infrastrukturmaßnahmen um 30% und die der Regionalregierungen um 10% gesunken.
Dabei hatte die Regierung bereits im Voraus angekündigt, angesichts des drohenden El Niño zusätzliche Gelder bereitzustellen. Ihr zufolge überwies das Wirtschaftsministerium bereits 2014 mehrere Hundert Millionen Soles (mind. 25 Millionen €, Anm. d Red.) für die Prävention und angemessene Vorbereitung auf die Katastrophensituation an den Transportsektor sowie an die Regional- und Lokalregierungen. Ein Jahr später sei die Summe sogar noch erhöht worden. Laut José Gálvez, dem stellvertretenden Koordinator des peruanischen Gemeindeverbandes AMPE, ist bei den Stadtverwaltungen allerdings nichts von diesem Geld eingetroffen. Dafür sind seiner Meinung nach die schwachen regionalen Regierungen verantwortlich. Das Geld werde zwar theoretisch zugeteilt, komme aber in der Praxis oft nicht dort an, wo es hin soll, bestätigte Victor Fuentes vom Peruanischen Wirtschaftsinstitut IPE.
Insbesondere die Städte im Norden, die von den Regenfällen besonders stark betroffen sind, haben aus den Lektionen der vergangenen Jahre wenig gelernt, schrieb die Zeitung El Comercio. Als im Februar 1998 die Stadt Trujillo in den Fluten versank und Leichen und Särge durch die Straßen schwappten, weil die Wassermassen Gräber auf einem Friedhof freigelegt hatten, hätte dies einen Wendepunkt im Umgang mit den wiederkehrenden Naturkatastrophen markieren können. Damals hatten die Regenfälle, Überflutungen und Erdrutsche fast 500 Menschen das Leben gekostet und Schäden in Millionenhöhe verursacht.
„Wir haben nicht viel dazugelernt“, sagte Gilberto Romero, Vertreter des Zentrums für Erforschung und Prävention von Katastrophen (PREDES). „Städtische Gebiete wachsen weiter wie bisher durch illegale und unkontrollierte Landnahmen an den unsichersten Orten“. Er glaubt, die Menschen seien heute noch verwundbarer als früher. Das sind keine guten Voraussetzungen für den nächsten Niño.

Wie David gegen Goliath

Máxima Acuña de Chaupe wirkt mit ihren 1,50 Metern Körpergröße, dem Mittelscheitel und den langen Zöpfen, wie sie die indigenen Frauen im Andenhochland tragen, auf den ersten Blick eher mädchenhaft. Der Eindruck täuscht. Ihrem Namen – Máxima, die Größte – wird sie mehr als gerecht. Denn seit bald vier Jahren kämpft die zierliche Bäuerin aus der Region Cajamarca im Norden Perus gegen die peruanische Bergbaufirma Yanacocha, die das Land kaufen will, auf dem Máxima mit ihrer siebenköpfigen Familie lebt. Ein Rechtsstreit, der sinnbildlich für den Schulterschluss von Regierung und Unternehmen steht und die fehlenden Rechte der Zivilbevölkerung.

Deshalb ist Máxima Acuña in den letzten Jahren zum Symbol für den Widerstand gegen die skrupellosen Methoden bei der Goldförderung in Peru durch internationale Unternehmen, Armee und Nationalstaat geworden.
Vor vier Jahren begann der Streit um das Land, auf dem Máxima lebt. Denn sie sitzt buchstäblich auf einem Berg von Gold. Das Bergbauunternehmen Yanacocha hatte auf dem Andenhochplateau der peruanischen Region Cajamarca bereits 5.400 Hektar Land an der Blauen Lagune rund um das Dorf Sorochuco aufgekauft. Auch die vier Hektar Grundbesitz Acuñas wurden für die Erweiterung der 260 Quadratkilometer großen Yanacocha-Mine – der größten Goldmine Lateinamerikas und der zweitgrößten weltweit – gebraucht. Aber Máxima Acuña lehnte das Kaufangebot des US-Konzerns Newmont Mining ab. Sie lebt, wie 60 Prozent der Bevölkerung in dieser Gegend, vom Landbau. Kartoffeln, Yuca, Weizen und Hafer wachsen auf dem fruchtbaren Boden, das restliche Land nutzt sie als Weide für das Vieh. „Ich bin in Sorochuco geboren und aufgewachsen“, sagt sie, „ich habe mein Land in der Hoffnung gekauft, mein ganzes Leben dort zu verbringen“. Also blieb sie. Yanacocha ließ sich das nicht gefallen. Bald tauchte Minenpersonal auf, unterstützt von Polizisten in Uniform. Es gab Morddrohungen, Prügel, ihr Vieh verschwand oder wurde getötet. Der Angriff auf die Landwirtschaft der Bäuerin wurde nicht geahndet. Im Gegenteil: Obwohl Máxima, anders als die Minengesellschaft, eine Besitzurkunde über ihr Land in den Händen hält, verklagte Yanacocha sie des Landfriedensbruchs.

 

Zerstörter Berg. Leben im Schatten des Tagebaus (Foto: David Vollrath)

 

Seit 19 Jahren betreibt Yanacocha Goldabbau im Tagebau in Cajamarca. Nachhaltige Entwicklung ist dabei nicht gerade eine Spezialität des Unternehmens. Ständig steht es unter der Kritik seitens Menschenrechts- und Umweltorganisationen. Auch das geplante Conga-Projekt zur Erweiterung der Mine hätte massive Eingriffe in die Umwelt zur Folge: Bergseen würden verschwinden, riesige Landflächen vernichtet, Wasser verseucht und die Lebensgrundlage von Menschen und Tieren bedroht. Das Gold wird mit einem Zyanid-Wasser-Gemisch gelöst, wofür pro Stunde 250.000 Liter Wasser benötigt werden. Das hat zur Folge, dass es in der Landeshauptstadt Cajamarca pro Tag nur noch zwölf bis 14 Stunden Leitungswasser gibt. Gleichzeitig werden Schwermetalle wie Arsen, Kadmium und Blei freigesetzt. Laut Untersuchungen, die nach 20 Jahren Minenbetrieb vor Kurzem erstmals durchgeführt wurden, haben die rund 200.000 Einwohner*innen Cajamarcas über Jahre hinweg verseuchtes Wasser getrunken.

„Wir tun alles, um Umweltbelastungen zu vermeiden“, versichert der Yanacocha-Betreiber, „wir halten uns an die Gesetze“. Die Gesetze werden allerdings immer mehr zu Gunsten der freien Wirtschaft formuliert. Erst im vergangenen Sommer unterschrieb der peruanische Präsident Ollanta Humala ein neues Umweltgesetz, mit dem die Strafen bei Umweltvergehen deutlich reduziert werden. Umweltverträglichkeitsprüfungen sind nun innerhalb von 45 Tagen abzuschließen – einer lächerlich kurzen Zeit – und Bergbau und Erdölproduktion auch in Naturschutzgebieten erlaubt.

2011 versuchte Yanacocha, eine Straße durch das Land Máximas zu bauen. Die Bäuerin zeigte das Unternehmen an, aber der Staatsanwalt legte die Geschichte direkt ad acta. Im Sommer desselben Jahres verschafften sich Sicherheitsbeamte Yanacochas mit Unterstützung der Polizei gewaltsam Zutritt zu Máximas Hof. Die Beamten schlugen und misshandelten die Familie. Máxima wehrte sich gegen die Enteignung ihres Landes, erstattete Anzeige und ging vor Gericht. Aber das Oberste Gericht in Cajamarca gab am 5. August 2014 der Firma Yanacocha recht. Máxima, ihr Ehemann Jaime, ihre Tochter Ysidora und Schwiegersohn Elías Chavez wurden zu zwei Jahren und acht Monaten Bewährungsstrafe und einer Entschädigung von 5.500 Soles (etwa 1.500 Euro) an den Minenkonzern verurteilt. Die Anwältin der Familie, Mirtha Vásquez, legte dagegen Berufung ein. Bis heute hält die 44-jährige Máxima trotz aller Drohungen Stellung auf ihrem Grundstück, einer Insel inmitten von Yanacocha-Land. Es ist ein Kampf wie die Gallier gegen die Römer, wie David gegen Goliath.

Das Urteil gegen die Familie Chaupe löste in der peruanischen und lateinamerikanischen Öffentlichkeit große Betroffenheit aus, aber auch viel Sympathie für die Verurteilten. In den sozialen Netzwerken häufen sich die Solidaritätsbekundungen, es gibt Demonstrationen in der Hauptstadt, offene Briefe an die Regierung und generell viel Rückhalt aus der Bevölkerung. Máxima Acuña ist zum Symbol des Widerstands gegen die Praktiken der Goldkonzerne in Peru geworden. „Ja zum Wasser! Nein zum Gold!“ lautet der Slogan der Protestbewegung, der auch auf dem Alternativgipfel zur Weltklimakonferenz, der jüngst in Lima stattgefunden hat, zu hören war (siehe LN 487). Máxima bezeichnet sich selbst als „Beschützerin des Wassers“. „Wasser bedeutet Leben“, sagt sie, „das können wir nicht einfach an ein Unternehmen verkaufen“.

Die Macht der Akteur*innen ist in Peru sehr ungleich verteilt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker zeigte Ende 2013 zusammen mit peruanischen Organisationen auf, wie Rohstofffirmen mit meist unter Verschluss gehaltenen Verträgen jederzeit Einsätze der Nationalpolizei gegen die Bevölkerung beantragen können. Die Rohstofffirmen unterstützen die Einsätze finanziell, materiell und logistisch. Staatliche und wirtschaftliche Interessen verbünden sich damit gegen die Interessen der lokalen Bevölkerung.

Gegen Widerstand aus der Zivilbevölkerung geht die Regierung dagegen hart vor. Bereits 2004 hatte es wegen der Umweltbelastungen durch den offenen Tagebau heftige Protestdemonstrationen gegeben, woraufhin Newmont – mit Buenaventura und der Weltbank größter Aktionär der Mine – erklärte, dass es vorläufig keine weiteren Erkundungen in der Region geben würde. Im Sommer 2012 rief die Bevölkerung Cajamarcas zu einem Generalstreik auf. Der Präsident Ollanta Humala verhängte daraufhin den Ausnahmezustand über drei Provinzen und ließ die Demonstrationen gewaltsam unterdrücken. Fünf Menschen wurden von der Polizei erschossen, Dutzende verletzt oder willkürlich verhaftet. In den vergangenen drei Jahren wurden bei Demonstrationen insgesamt 41 Menschen erschossen. Das peruanische Gesetz aber sichert Polizist*innen, die im Dienst Zivilist*innen erschießen, Straffreiheit zu.

 

Bedrohte Mutter Erde. Die Bäuerin Máxima Acuña de Chaupe ist Perus Symbolfigur im Widerstand gegen den Raubbau an der Natur. Der Künstler Roberto Lopez hat dieses Portrait von Maxima gemalt. Er stellt sie, vom Kampf gegen Yanacocha und Co gezeichnet, wesentlich älter dar.

Die Unterdrückung des Widerstands macht auch vor politischen Vertreter*innen keinen Halt. Der Gouverneur der Provinz Cajamarca, Gregorio Santos, ein deklarierter Gegner des Goldabbaus in der praktizierten Form, wurde seit 2011 von der Zentralregierung mit 38 Anzeigen konfrontiert. Im Juni 2014 verurteilte das Gericht Santos zu 14 Monaten Untersuchungshaft. Und sogar in der Berichterstattung diktieren die Unternehmen, unterstützt durch die Regierung, die Spielregeln. Mitte Februar wurde der Journalistin Martha Meier Miró Quesada von der Tageszeitung El Comercio gekündigt, weil sie in einer Kolumne allzu kritisch über die Machenschaften Yanacochas und seine Übergriffe gegen die Familie Chaupe berichtet hatte. Der ehemalige Antikorruptionsbeauftragte des Landes, Julio Arbizu, warnte, dass die Zensur und der Rauswurf der Journalistin deutlich zeige, wie die Tageszeitung nach ökonomischen Interessen handele und nicht im Sinne der Pressefreiheit.

Nach Monaten von Verhandlungen nahm Máximas Geschichte dagegen Ende letzten Jahres eine positive Wendung: Das Höchste Gericht in Cajamarca sprach sie kurz vor Weihnachten frei. Aber die Freude über diese Nachricht währte nicht lang. Am 3. Februar 2015 betraten Sicherheitskräfte der Firma Yanacocha und der peruanischen Spezialeinheit DINOES das Grundstück der Familie Chaupe und zerstörten einen Anbau ihres Hauses. Als Grund nannten sie die ungeklärte Rechtslage. Einige Tage später errichteten Mitarbeiter*innen Yanacochas in Sichtweite der Familie ein Alpaca-Gehege – „als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung“ – und installierten rundherum eine Reihe von Überwachungskameras. Dass es dem Unternehmen vor allem um die Überwachung der Familie geht, liegt auf der Hand.

Angesichts dieses Szenarios wird Máxima weiterkämpfen. „Mein Schweiß steckt in jedem Zentimeter Land“, sagt sie. Das werde sie sich nicht von Yanacocha wegnehmen lassen. „Die Behörden können sagen, was sie wollen, ich werde mein Land nicht weggeben“, bekräftigt die Bäuerin. Sie beklagt, dass das Unternehmen Yanacocha nie auf sie direkt zugekommen sei, um mit ihr zu sprechen oder zu verhandeln. Vieles erfahre sie erst durch die Medien und vieles davon seien schlichte Unwahrheiten. Unterstützung erfährt sie vor allem aus der Zivilbevölkerung und durch die peruanische Nichtregierungsorganisation Grufides in Cajamarca, bei der auch die Anwältin der Familie, Mirtha Vásquez, arbeitet. „Todos somos Máxima, wir alle sind Máxima“, heißt es im Blog der NGO. Die Hoffnung, dass sich die Hartnäckigkeit der kleinen großen Máxima am Ende auszahlen wird, bleibt bestehen. Es wäre ihr zu wünschen.

Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.

„Lasst uns das System verändern, nicht das Klima”

„El pueblo unido, jamás sera vencido“ („Das einige Volk wird nie besiegt werden“) – Laut und bunt, mit Trommeln, Tanz und Gesang zieht der Demonstrationszug zur Verteidigung der Mutter Erde durch Lima. Endpunkt ist die nach Perus historischem Befreier benannte Plaza San Martín. Hier soll heute die Mutter Erde befreit werden, von den drohenden Folgen des Klimawandels und dem dafür verantwortlichen Kapitalismus.
Der Himmel über Lima spannt sich weit und blau über der anwesenden Menschenmenge. 5.000 sind zusammengekommen, um an der Gran Marcha, dem Protestmarsch im Zentrum der peruanischen Hauptstadt, teilzunehmen. Der Marsch ist das Herzstück des viertägigen „Gipfel der Völker“, der vom 8. bis 11. Dezember in Lima parallel zur offiziellen UN-Klimakonferenz (COP20) stattfand und auf die Dringlichkeit des globalen Klimaschutzes aufmerksam machen soll. Auf Postern und Plakaten ziehen Evo Morales, Ché Guevara und Máxima Acuna vorüber. Acuna ist eine heldenhafte Bäuerin aus der Region Cajamarca, wo dem Landgrabbing durch ein Megabergbauprojekt Widerstand geleistet wird. „Es nuestro clima, no tu negocio – la tierra no se vende, la tierra se defende“, fordern die Teilnehmenden lautstark: Unser Klima ist nicht dein Geschäft – die Erde wird nicht verkauft, sondern verteidigt. Eine Gruppe von Bäuerinnen aus Puno singt „Wir sind ein Fluss, nicht nur bloße Tropfen“ und andere tragen vor sich ein Plakat mit der Aufschrift „Aus einem Samen wächst ein Wald“. Viele regionale Gruppen aus den peruanischen Provinzen sind angereist, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Wir müssen Zeichen setzen“, sagt eine junge Frau aus der peruanischen Amazonasregion, „auf der offiziellen Klimakonferenz geschieht ja nichts“. Eine Gruppe von Studierenden, bunt bemalt und als Blumen verkleidet, legt auf der Plaza San Martín ihr Plakat auf den Boden. Die Aufschrift: „Sie wollten uns unter die Erde bringen, aber sie wussten nicht, dass wir Samenkörner sind.“
Die große Stärke des Parallelgipfels liegt darin, die unterschiedlichen Gruppierungen, sozialen Bewegungen und NGOs zusammenzubringen. „Hier müssen wir uns vereinigen und mit einer Stimme sprechen. Nur dann können wir wirklich etwas verändern“, sagt Johanna aus Frankreich, die angereist ist, um für Proteste in Paris nächstes Jahr zu mobilisieren, wo der COP21 stattfinden wird, die nächste entscheidende UN-Klimakonferenz.
Seit 2005 gibt es den Cumbre de los Pueblos in Lateinamerika. Die fast jährlich stattfindende Veranstaltung hat zum Ziel, zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen zusammenzubringen, auf soziale und ökologische Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen und – ähnlich wie beim Weltsozialforum – den Neoliberalismus mit seinen Unterdrückungsmechanismen anzuprangern. In diesem Jahr geht es um den Klimawandel, für den das aktuelle neoliberale, auf ständiges Wachstum ausgerichtete Entwicklungsmodell als Hauptursache verantwortlich gemacht wird. „Lasst uns das System verändern, nicht das Klima!“ lautet daher die nicht zu überhörende Parole. Die auf der Weltklimakonferenz diskutierten Möglichkeiten von Schutzstrategien angesichts des Klimawandels halten die Organisator*innen des Parallelgipfels für nicht ausreichend. Eine Green Economy und die Privatisierung der natürlichen Ressourcen der Erde mit dem Zweck, sie als Waren auf den Markt zu bringen, kritisieren sie als eine gefährliche Entwicklung. Die Teilnehmer*innen fordern wirkliche Lösungen für das Problem des Klimawandels. Auf dem Gipfel werden daher konkrete Alternativen zum System des Neoliberalismus und Kapitalismus so wie Postextraktivismus, Buen Vivir, Ernährungssouveränität und Klimagerechtigkeit diskutiert.
Peru ist eines der vom Klimawandel am stärksten betroffenen Länder. Die bäuerliche und indigene Landbevölkerung spürt die Veränderungen am härtesten. „Eine ehrliche Anpassung an die durch den Klimawandel verursachte Lage wäre die konsequente Unterstützung der familiären Landwirtschaft und der Ernährungssouveränität“, so eine Kleinbäuerin aus der Region Ancash. In Peru zeigt sich die Regierung allerdings alles andere als unterstützend für die Belange der Landbevölkerung. Der Bergbausektor wird gestärkt, die Landrechte werden unterminiert.
„Es lebe die Mutter Erde!“ steht auf einem Schild, getragen von zwei Bäuerinnen aus der Sierra – der Andenregion. In der andinen Lebenswelt nimmt die Pachamama, die Mutter Erde, eine zentrale Rolle ein. Die Erde gibt alles, was die Menschen zum Leben brauchen: Land, Wasser, Nahrung. Auf einer begleitenden Agrarausstellung lassen sich die Schätze der Erde mit den Händen greifen, wie verschiedenste Mais- und Quinoa-Sorten. Die Pachamama gilt als unantastbar. Umso härter trifft es gerade die ländliche Bevölkerung Perus, mitansehen zu müssen, wie transnationale Unternehmen mit der Zustimmung von Regierungen das Land ausbeuten.
Während einer Paneldiskussion spricht Lourdes Huanca, Vorsitzende von FENMUCARINAP, einer peruanischen Frauenrechtsorganisation. „Der Bergbau zerstört unser Leben auf dem Land und das Leben der Frauen. Wir sind hier auf dem Gipfel, um mehr Allianzen mit anderen sozialen Bewegungen zu knüpfen“. Lourdes Huanca ist eine charismatische Frau mit rundem Gesicht, buntem Hut und funkelndem Blick. Sie weiß wofür und wie sie kämpft: „Mit Prinzipien und Überzeugung gegen die Ausbeutung unseres Landes und gegen die Kriminalisierung von sozialen Protesten“. Sie fordert mehr Rechte für Bäuerinnen, das Recht auf Ernährungssouveränität und auf ein würdiges Leben auf dem Lande.
Als der Alternativgipfel am Montagabend mit einer Zeremonie und Ehrung der Madre Tierra begann und mit einigen Worten der Bürgermeisterin von Lima, Susana Villarán, eröffnet wurde, konnte man bereits erahnen, dass die nächsten Tage ereignisreich, aber auch friedlich ablaufen würden. Die Stimmung im Parque de la Exposición, wo der Alternativgipfel in den darauffolgenden Tagen stattfindet, ist heiter. Das liegt möglicherweise nicht nur am frühsommerlichen Wetter, sondern vielleicht auch an dem bisher recht konstruktiv verlaufenden COP 20, der weniger Zündstoff bietet als auf vergangenen Klimakonferenzen in Warschau oder Kopenhagen.
„Wir sind alle hier, um für mehr Klimagerechtigkeit zu kämpfen“, sagt Marco, ein Aktivist aus Lima. Im Hintergrund protestiert eine Gruppe gegen die umstrittene Erweiterung der Goldmine Yanacocha in der Region Cajamarca. Künstler*innen, Aktivist*innen und Passant*innen sind hier versammelt. T-Shirts werden bedruckt und große Fahrräder zusammengebaut. Vor einem Brunnen wird mit Reis und Früchten ein Bild von einem Baum ausgelegt. Währenddessen finden in den verschiedenen Zelten und Räumen Vorträge statt, es gibt Foren, Workshops und Musik. Alberto Acosta aus Ecuador (ehemaliger Minister für Energie und Bergbau) und Eduardo Gudynas (Professor) aus Uruguay diskutieren über eine postextraktivistische Gesellschaft. Im Pressezelt überträgt Radio Cumbre Live-Interviews mit Anwesenden aus Politik und sozialen Bewegungen. Erst spricht Nicaraguas Umweltminister Augusto César Flores Fonseca, dann folgt ein Gespräch mit einer peruanischen NGO über die Gefahren des Fracking im Amazonas-Gebiet. Nebenan tippen Blogger*innen und Presseleute in ihre Laptops, fotografieren und notieren.
Der Gipfel bietet einen von Regierungen und dem Privatsektor unabhängigen Raum für Dialog und Aktionen der sozialen Bewegungen und der indigenen Völker, die hier ihre Erfahrungen, Probleme und Vorschläge zum Vorgehen gegen den Klimawandel austauschen. Das gemeinsame Ziel ist, Druck auf die Entscheidungsträger des COP20 auszuüben, darauf hinzuarbeiten, dass die Kritik und Stimmen der Zivilgesellschaft in den offiziellen Verhandlungen der Konferenz berücksichtigt werden.
Es ist ein wichtiger Moment, die Gelegenheit, Stimmen der unterschiedlichen Gruppierungen in Peru bzw. ganz aus Lateinamerika und darüberhinaus zu vereinen. Das ist nicht einfach. Gerade im Gastgeberland sind die sozialen Gegenbewegungen stark fragmentiert. So gilt es, starke Allianzen zu schließen, die auch nach dem Gipfel Bestand haben können im gemeinsamen Kampf um Rechte und den Erhalt der Madre Tierra. Auf dem Parallelgipfel manifestiert sich der Wille nach Veränderung, die Überzeugung, dass eine andere Welt möglich ist. Die Teilnehmer*innen eint das Bewusstsein, auf die gegebene „eine Welt“ aufpassen zu müssen, da sonst die Folgen der Ausbeutung und Zerstörung irgendwann nicht mehr aufzuhalten sind. Auch nicht mit gutgemeinten Klimakonferenzen.

Wasser ernten mit den Berggeistern

„Die Wissenschaftler sagen, es liegt daran, dass die Erde immer wärmer wird. Ich glaube, es liegt daran, dass wir uns mit der Bibel in der Hand von den Apus, unseren Geistern, abgewendet haben“, fasst Marcos Mejia Vilca seine Sicht über den Grund des Klimawandels zusammen. Dann nimmt er getrocknete Koka-Blätter und frische Nelken und lässt sie vorsichtig in ein Wasserloch gleiten. Die Opfergabe in 4300 Meter Höhe soll den Apu des Wasserrückhaltebeckens Tapacchocha milde stimmen und dafür sorgen, dass er den Bauern und Bäuerinnen auch in Zukunft Wasser für ihre kargen Weiden schickt.
Peru ist eines der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder. Vom 1. bis 12. Dezember fand in der Hauptstadt Lima die 20. Weltklimakonferenz statt. Umweltschützer*innen hoffen, dass die 194 Vertragsstaaten sich dort auf die Grundzüge eines neuen Klimaabkommens einigen, das in diesem Jahr beim Gipfel in Paris beschlossen werden soll. Marcos Mejia Vilca kann nicht so lange warten. Der Mann, dem die Apus im Traum erschienen sind, spricht lieber direkt mit den Geistern.
„Früher war die Hitze nicht so heiß und die Kälte nicht so kalt. Es regnete mehr, wir wussten genau, wann die Wolken Wasser bringen, und der Hagel zerstörte nicht unsere Ernten. Eis und Schnee auf den Bergen speisten die Bäche. Aber heute ist das Wetter verrückt. Es wird immer schwieriger, hier zu überleben“, sagt der Mann, der sich noch an den steten Wechsel von Regen- und Trockenzeiten erinnern kann. Der maestro del agua (Wassermeister) sagt, er sei 60 Jahre alt, auch wenn sein von der grimmigen Kälte und der erbarmungslosen Sonne gegerbtes Gesicht auch das eines Achtzigjährigen sein könnte.
Vilca hat gelernt zu den Apus zu sprechen, karge Felder an steilen Hängen zu bestellen und Alpakas, Lamas, Schafe und Ziegen auf kargen Gebirgswiesen zu hüten. Um trotz des Klimawandels in den Anden überleben zu können, unterstützte die seit 20 Jahren aktive, lokale Hilfsorganisation Bartolomé Aripaylla (ABA) ihn und sein Dorf, das Wasserrückhaltebecken Tapacchocha zu bauen. In Quechua, der Sprache der indigen Andenbewohner*innen, heißt Tapacchocha „Nest des Wassers“. Dieses und 70 weitere von ABA errichtete „Wassernester“ helfen jetzt, die vom „verrückten Wetter“ verdörrten Berghänge wieder in saftige Weiden und fruchtbare Äcker zu verwandeln. Auf diesen wächst das Andengetreide Quinoa, die aus dem Hochgebirge stammenden Kartoffeln, Erbsen, Bohnen und Zwiebeln. Wer in der dünnen Luft einen Gipfel besteigt, sieht, dass die Hänge, die vor einigen Jahren noch braun waren, jetzt unterhalb der silbrig glänzenden Wasseraugen wieder grün sind.
Die Kleinbauern und -bäuerinnen in den peruanischen Anden haben den Klimawandel nicht verursacht und können ihn nicht aufhalten, doch sie leiden besonders heftig unter ihm. Einige von ihnen haben im Radio gehört, „dass die Fabriken in den großen Ländern das Wetter verrückt gemacht haben“. Manche glauben, dass die vielen Erdbeben in den Anden die Erdachse und damit das Wetter aus dem Lot gebracht haben. Andere vermuten, dass sie mitverantwortlich dafür sind, dass mittlerweile weder Kalender noch die Blüte der Kakteen anzeigen können, wann es Zeit ist, die Saat auszubringen.
„Wahrscheinlich straft Gott die Menschen dafür, dass sie sich gegenseitig umgebracht haben“, vermutet Máxima Fernandes. Die 47-Jährige kann sich noch gut daran erinnern, dass zwischen 1980 und 1995 die maoistische Terrororganisation Leuchtender Pfad und die damalige Regierung Massaker unter den Andenbevölkerung anrichteten. Rund 70000 Menschen bezahlten den Terror mit ihrem Leben. In der armen Provinz Ayacucho, in der Máxima ihre Felder bestellt, gab es die meisten Opfer. „Hinzu kam, dass wir mit chemischem Dünger und Gift das Gleichgewicht der Natur durcheinander gebracht haben“, glaubt die Mutter von sieben Kindern. Als ihre Tochter Mariluz geboren wurde, geriet das Wetter aus dem Takt. So erinnert sich die Bäuerin. Mariluz ist heute 23 Jahre alt. Ob es die von Gott verhängte Strafe oder der vom Mensch verursachte Klimawandel ist – die Folgen sind die gleichen. Weniger Niederschlag und immer extremeres Wetter. Seitdem das Klima sich änderte, war die Landwirtschaft in über 3500 Meter Höhe ein steter Kampf ums Überleben, und von der Regierung in der fernen Hauptstadt Lima gab es kaum Unterstützung. Máxima drückt es so aus: „Wir waren vergessene Leute, und das Leben war nicht rosig.“
Doch mit einer Rückbesinnung auf jahrhundertealte, doch während des Bürgerkrieges verloren gegangener Weisheiten, unterstützt die Hilfsorganisation ABA die Bauern und Bäuerinnen mittlerweile bei der Anpassung an den Klimawandel. Eine der wiederentdeckten Techniken ist das „Säen und Ernten von Wasser“. Schon die Inkas verstanden Wasser als lebendige Materie, die man hervorlocken kann. Mit madres del agua (Mütter des Wassers) genannten Pflanzen, die das Wasser mit ihren langen und schwammartigen Wurzeln an die Oberfläche ziehen sollen, Terrassierungen, alten Saaten, ausgeklügelten Bewässerungstechniken, natürlichem Dünger und ABA gelingt es Máxima Fernandes mittlerweile wieder, sich und ihre Kinder von ihren Feldern zu ernähren. Doch Hilfsorganisationen wie ABA können nicht überall sein. In einem kleinen Dorf drei Geländewagen-Stunden nordöstlich der Touristenstadt Cusco sind sie nicht. Ohne die Unterstützung von Landwirtschaftsexpert*innen versucht Florencio Tunquipa Casilla dort seinem eineinhalb Hektar großen Feld auf 3800 Meter Höhe genug für sich und seine sechs Kinder abzuringen. Vor neun Monaten verlor er seine ganze Kartoffelernte durch scharfen Frost. Auch Casillas Vater und Großvater waren Bergbauern. Doch so eine eisige Kälte vor der Erntezeit haben sie nie erlebt. „Früher war es einfacher, hier zu leben. Heute macht das Wetter es fast unmöglich“, erzählt der verzweifelte Bauer vor einem eingestürzten Lehmhaus. Casilla kannte die Leute, die darin lebten. Weil die Ernten immer schlechter ausfielen, flohen sie vor einigen Jahren in die Stadt. Auch Casilla versuchte, sich dort durchzuschlagen, doch weil es in den peruanischen Städten mittlerweile Abertausende Klimaflüchtlinge gibt und der Bauer nur drei Jahre zur Schule ging, fand er kaum Arbeit. Nach acht Jahren kehrte er auf sein inzwischen noch stärker ausgedörrtes Feld zurück.
In Peru produzieren Kleinbauern und -bäuerinnen wie Casilla 80 Prozent der im Land konsumierten Nahrung. Wenn sie durch den Klimawandel immer weniger ernten, zerstört dies nicht nur ihre Existenz, sondern könnte langfristig auch die Ernährung der 30 Millionen Peruaner*innen gefährden. Noch befinden sich 70 Prozent aller tropischen Gletscher in Peru, doch die steigenden Temperaturen lassen sie immer schneller abschmelzen. Die Wasserversorgung des wüstenartigen Küstenstreifens, in dem fast zwei Drittel aller Peruaner*innen leben, wird so immer schwieriger. Zudem bedroht der Temperaturanstieg den ungewöhnlichen Reichtum an Pflanzen und Tieren im Land und macht schon heute viele Menschen krank. „Weil es immer weniger Wasser gibt, müssen wir oft dehydrierte und unter- oder mangelernährte Kinder behandeln“, sagt Luz Malpartida, Gesundheitsreferentin in der Andenprovinz Paucartambo.
Der ehemalige Umweltaktivist und jetzige Umweltminister Manuel Pulgar-Vidal versucht diesen gefährlichen Entwicklungen entgegenzuwirken, doch die in den letzten Jahren ins Straucheln geratene peruanische Wirtschaft macht seinen Job immer schwieriger. Der jahrelange Boom basierte vor allem auf der Ausbeutung von Bodenschätzen. Der schwächelnden Konjunktur versucht die Regierung jetzt unter anderem mit Absenkungen von Umweltstandards im Bergbau entgegenzutreten. Wirtschaftsschutz steht in Peru fast immer vor Umwelt- und Klimaschutz. Viele vermuten, dass der frustrierte Umweltminister deshalb nach der Klimakonferenz in Lima zurücktreten wird.
Zuvor nutzten jedoch über 80 im Netzwerk Grupo Perú COP20 zusammengeschlossene Gewerkschaftsverbände, Bauern- und Bäuerinnenorganisationen, kirchliche und indigene Gruppen sowie Umweltschutzbewegungen die größte Konferenz Perus, um Druck zu machen. Die Grupo fordert, dass alle Teilnehmerstaaten sich verpflichten, ihre Emissionen ab 2015 deutlich zu senken und die Industriestaaten als Hauptverursacher des Klimawandels ausreichende Mittel für Anpassungsprojekte in Entwicklungsländern zur Verfügung stellen.
Während bei Redaktionsschluss auf der Klimakonferenz noch um einen Kompromiss über die Grundzüge eines neuen Klimaschutzabkommens gerungen wird, gibt es auch ungeachtet der Ergebnisse viele pessimistische Stimmen. Juan Vaccari Chávez, Direktor des peruanischen Instituts für Entwicklung und Umwelt, glaubt nicht daran, dass durch die Mammutveranstaltung ein Durchbruch erzielt werden kann. „In Peru sind der Staat und die Regierung schwach und die Unternehmen stark – und viele Unternehmen wollen eine Ausbeutung der Natur ohne Rücksicht auf die Umwelt“, sagt der bekannte Aktivist. Und selbst wenn die Klimaschützer*innen am Ende der Konferenz auf dem Papier einige Erfolge vorzuweisen haben, bleibt Chávez skeptisch. Der Aktivist: „Von vorangegangen Klimakonferenzen wissen wir, dass ein großer Unterschied besteht zwischen dem, was beschlossen und dem, was umgesetzt wird.“
Geisterbeschwörer Marcos Mejia Vilca weiß nicht, was auf vorangegangenen Konferenzen beschlossen und was davon umgesetzt wurde. Doch auch er verlässt sich lieber auf seine Apus und die Wasserrückhaltebecken als auf Verträge und Lippenbekenntnisse.

Bergbau mit Clowns

Munteres Zirpen und Zwitschern erklingen als Geräuschkulisse in der von subtropischem Nebelwald umgebenen Gemeinde Peñaherrera. An diesem Tag mischen sich die Klänge jedoch mit Bachatas aus Musikvideos, die auf einer Bühne ausgestrahlt werden, welche das staatliche Bergbauunternehmen ENAMI aufgebaut hat. ENAMI möchte im offenen Tagebau die geschätzten 2,2 Millionen Tonnen Kupfer aus der Intag-Region nordwestlich der Hauptstadt Quito fördern. „Gemeinsam mit der Gemeinde” so das Motto, weswegen das Bergbauunternehmen Peñaherrera mit sogenannter ecuadorianischer Kultur bespaßt: Clowns, Musikvideos und Filme. Nicht zufällig fällt die Werbeveranstaltung auf den Tag, an dem auch die asamblea zusammenkommt, die Bürger*innenversammlung des Gemeinderats. Dieses Mal soll die asamblea auch den Haushalt 2015 für die Gemeinde Peñaherrera verabschieden. Zu den etwa alle drei Monate stattfindenden basisdemokratischen Versammlungen können alle Bewohner*innen der Dörfer Peñaherreras kommen und ihre Politik mitgestalten.
Die Stimmung auf der asamblea ist angespannt, die beiden Lager haben sich jeweils auf einer Seite der Tribünen der Sport- und Veranstaltungshalle verteilt. Bei den Wahlen im Februar 2014 hat die Kandidatin der Regierungspartei Alianza País (AP), Margarita Espín, den Vorsitz des Gemeinderats knapp gewonnen. Ihr Vorgänger, Gustavo León vom Wahlbündnis Vivir Bien – Ally Kawsay, ist nun Vizepräsident des Gemeinderats. Die Anhänger*innen von Vivir Bien sind gegen den Bergbau in der Intag-Region. Espín hat die Wahl mit dem Versprechen von Wandel und Arbeit gewonnen – Arbeitsplätze, die der Bergbau bringen soll. María Augusta León, Ehefrau von Gustavo León, regt sich über den Ablauf der asamblea auf: „Der Haushalt wurde gar nicht richtig diskutiert und die Präsidentin war so darauf bedacht, die asamblea mittags zu beenden, dass sie am Ende nicht mal hat abstimmen lassen”. Nachmittags ist schließlich das Programm von ENAMI vorgesehen, das die AP-Politikerin dann auch lobend ankündigt. Interessantes Detail: Espíns Ehemann arbeitet für die ENAMI.
Das staatliche Bergbauunternehmen soll das durchführen, was seit Mitte der 1990er Jahre durch die Bewohner*innen der Intag-Region verhindert wurde. Bereits zweimal ließen transnationale Unternehmen aufgrund des erbitterten Widerstands der Gemeinde von ihren Bergbauvorhaben ab. 2008 wurde im Zuge der neuen Verfassung schließlich das Bergbau-Mandat erlassen, wodurch alle vom ecuadorianischen Staat illegal vergebenen Konzessionen den Unternehmen entzogen wurden, so auch in der Intag-Region. Die damals gültige Verfassung von 1998 schrieb vor, dass die betroffene Bevölkerung vorab konsultiert werden muss, was nicht geschehen war.
Die neue Verfassung beinhaltet diese Vorgabe nicht, hingegen legt sie fest, dass alle strategischen Sektoren Staatseigentum sind. Die strategischen Sektoren sollen zur Entwicklung Ecuadors beitragen: Die seit Jahrzehnten andauernde Erdölförderung wird ausgeweitet und nun soll Ecuador auch ein Bergbau-Land werden, weshalb der Staat mit fünf Mega-Projekten den industriellen Großbergbau in Ecuador einführen will. Dafür wurde auch die staatliche Bergbaufirma ENAMI gegründet. Sie hat Anfang Mai mit der Explorations-Phase des Bergbauprojektes Llurimagua in der Kordillere Toisán begonnen, die die Intag-Region säumt. Diese ist Teil des Naturreservats Cotacachi Cayapas und beherbergt eine hohe Artenvielfal, das Tal soll nun durch fast 5000 Hektar Tagebau durchrissen werden. Die beiden vergebenen Konzessionen gelten für die Gemeinden García Moreno und Peñaherrera. Zur Durchführung des Projektes hat ENAMI ein Abkommen mit dem chilenischen staatlichen Bergbauunternehmen Codelco abgeschlossen. „ENAMI ist eine Firma auf dem Papier, die keinen einzigen Bohrer besitzt, sondern Veranstaltungen mit Clowns organisiert, so wie heute“, meint Gustavo León. Die Aufgabe des ecuadorianischen Bergbauunternehmens bestehe darin, Abkommen mit ausländischen Minenfirmen zu schließen, so wie in der Intag-Region mit Codelco. Da die Region für ihren Widerstand bekannt ist, erschien es der Regierung Correa zu Beginn der Explorationsphase angemessen, gemeinsam mit den Mitarbeiter*innen ENAMIs Anfang Mai drei Hundertschaften Polizei in die umliegenden Gemeinden einmarschieren zu lassen. Die Bürger*innen haben sich in all den Jahren nicht nur widersetzt, sondern ihr eigenes alternatives Entwicklungsmodell aufgebaut. In Peñaherrera gehören dazu vor allem Ökotourismus und Biolandwirtschaft, deren Erlöse in soziale Projekte fließen. Den Projektträger*innen ist bewusst, dass dieses Alternativmodell sich mit Bergbau schlecht vereinbaren lässt, deswegen unterstützen auch sie den Kampf gegen Llurimagua, dem die Behörden mit verstärkter Repression begegnen. So nahm die Polizei nach Rangeleien bei Protesten Javier Ramírez fest, den Bürgermeister des Dorfs Junín, das vom Projekt Llurimagua am meisten betroffen ist. Seither ist er in Haft. Unter dem Vorwurf der Sabotage, der Rebellion oder des Terrorismus können Aktivist*innen in Ecuador bis zu zwölf Jahre Haft drohen. Gustavo León sieht in der zunehmenden Kriminalisierung des Protests auch einen Grund dafür, dass der offene Widerstand in der Gemeinde nachgelassen hat: „Die Leute kennen den Fall von Javier Ramírez und haben Angst, ihr Recht auf Information, eine eigene Meinung und Widerstand einzufordern”.
Doch warum gibt es nach Jahren des Widerstandes und dem Aufbau von Alternativen nun immer mehr Befürworter*innen der Ausbeutung des Kupfers? In Peñaherrera sitzt Espín nach der Bürger*innenversammlung auf dem Platz, auf dem die Bühne aufgebaut ist und schaut einigen Männern beim Volleyball-Spielen zu. „Wir glauben an die Regierung Rafael Correas. Jetzt haben wir eine staatliche Firma, der Bergbau ist nicht mehr für transnationale Konzerne, sondern er ist für uns. Die Erlöse gehen in unser Bildungs- und Gesundheitswesen”, zeigt sich die AP-Politikerin überzeugt. Deswegen wollten die Leute nun den Bergbau, es handele sich um kein transnationales Unternehmen und es würde Arbeitsplätze für sie geben. Espín will, dass die Emigrierten nach Intag zurückkehren und für ENAMI arbeiten. „ENAMI steht für verantwortungsvollen Umgang mit Umwelt und Mensch, sieh nur die Veranstaltung heute. Die Umweltauswirkungen betreffen nur die knapp 5000 Hektar des Tagebaus und ENAMI wird sich um die Abfälle und Abwässer kümmern”, meint die Präsidentin des Gemeinderats und verweist auf die erteilte Umweltlizenz. In der vier Jahre andauernden Explorationsphase sei auch Zeit, Ingenieur*innen aus der Intag-Zone auszubilden, aber auch alle anderen erwarte Arbeit, als Wächter*innen und Haushälter*innen zum Beispiel. Sie sei gar nicht per se für den Bergbau, alles hinge von den Ergebnissen der Explorationsphase ab, und bisher gäbe es keine Probleme. Sie sehe sich in der Verantwortung, dass es ein nachhaltiges Bergbauprojekt wird.
„Wenn der verantwortungsvolle Bergbau existiert, sagt uns, wo auf dieser Welt, damit wir uns das ansehen können und der verantwortungsvollen Bergbau hier implementiert wird“, widerspricht Bergbau-Gegner Gustavo León. Seine Haltung begründet León mit den Gefahren, die der Bergbau für seine Gemeinde berge: „Sie können uns nicht beweisen, dass Wasser und Luft nicht verschmutzt werden. Das Wasser, von dem unsere Gemeinde lebt, kommt aus dem oberen Teil der Toisán-Kordillere“. Natürlich sei die Gemeinde besorgt, dass es im Zuge des Bergbaus, unten verschmutzt ankommen wird. León spricht von Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der Umweltlizenz, zum Beispiel seien Werte aus anderen Regionen herangezogen worden. Noch größer seien jedoch die sozialen Gefahren. In Bergbaugebieten gibt es Immigration, aber nicht von denen, die vorher emigriert sind, sondern von Arbeiter*innen aus anderen Regionen. Prostitution, Frauenhandel, Militarisierung und soziale Konflikte sind oft Folgen. In der Intag-Zone selbst müssten vier Gemeinden umgesiedelt werden. An das Versprechen der Arbeitsplätze für die Bewohner*innen der Intag-Region glaubt León nicht. Es werde Technologie genutzt, für die man nur wenige, gut ausgebildete Personen benötige. Und die vielen Personen, die von der Landwirtschaft im dichtesten Umkreis des Bergbauprojekts leben, verlören ihre Arbeit. Sie hätten hier in der Intag-Region schon ein Beispiel dafür: Bei dem Zement-Bergbauprojekt Selva Alegra habe die betroffene Gemeinde nicht profitiert. In der Region wurde aber auch eine weitere Gefahr für die Landwirtschaft beobachtet. Durch Großprojekte, bei welchen höhere Löhne gezahlt werden, verteuert sich die Arbeitskraft und niemand ist mehr bereit, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Andere Arbeit gibt es dann für wenig Qualifizierte trotzdem nicht.
Der Konflikt in der Intag-Region ist exemplarisch für den Umgang mit dem Ressourcenreichtum in Ecuador seit der Amtsübernahme von Präsident Rafael Correa im Jahr 2007. Der Regierungsdiskurs verlautet, dass der Extraktivismus notwendig sei für die Entwicklung Ecuadors und aus den Einnahmen Infrastruktur, Sozialsysteme und Sozialausgaben finanziert würden. Die signifikante Reduktion der Armutsquote in den letzten sechs Jahren wird als Erfolg dafür angeführt. Definitiv ist es ein Erfolg, dass sich die Lebensbedingungen für viele Menschen verbessert haben. In den Städten hat sich beispielsweise eine Mittelschicht herausgebildet, die von dieser Politik profitiert und nun auch fleißig konsumieren kann. Allerdings bleibt diese „Entwicklung” dem auf Extraktivismus beruhenden kapitalistischen Entwicklungsmodell verhaftet, das von der Regierung des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ als alternativlos dargestellt wird. Die in den letzten Jahren relativ hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt begünstigen dieses Modell, es bleibt die Frage, wovon die Sozialausgaben finanziert werden, sobald diese Preise sinken oder sich auf lange Sicht die Rohstoffvorkommen erschöpfen. Oder welche Einkommensquellen künftige Generationen finden werden, wenn große Teile des kleinen, megadiversen Ecuadors aufgrund der Umweltfolgen des Extraktivismus verwüstet sind.
In der Intag-Region ist der Konflikt noch nicht endgültig entschieden. Zwar hat die letzte asamblea des Bezirks Cotacachi (nächst höhere Verwaltungsebene nach den Gemeinden, zu der auch die Intag-Region gehört; Anm. d. Red), deren Bürgermeister vom Wahlbündnis Vivir Bien ist, gegen den Bergbau ausgesprochen. Doch bindend ist das Votum nicht, da der Bergbau laut der offiziellen Diktion von nationalem Interesse ist und somit der Bundesregierung alleinige Entscheidungsgewalt obliegt. Aber mit dem öffentlichen Druck wollen die Bergbaugegner*innen weiter machen. Auch auf lokaler Ebene haben sie eine Strategie: Sich gut informieren, wissen was passiert und die Informationen verbreiten. Gustavo León erzählt davon, dass Personen aus der Intag-Region in Bergbaugebiete in Chile und Peru gefahren sind, um andere Erfahrungen kennenzulernen: „Dort haben wir gesehen, dass die vom Bergbau betroffenen Gemeinden die Ärmsten geblieben sind und unter Umweltverschmutzungen leiden”.
Dabei gibt es neben den bereits geschilderten Alternativen noch weitere: Ein Projekt von neun kleinen kommunalen Wasserkraftwerken. Ein Bündnis aus dem zivilgesellschaftlichen Consorcio Toisán und lokalen Regierungen haben 2007 die Initiative Ecoenergia Hidrointag – Cotacachi ins Leben gerufen. Inzwischen haben sie das Kapital für das erste Projekt. Die umweltgerechten Wasserkraftwerke sollen eine nicht-extraktivistische lokale Ökonomie fördern. Im Besitz und unter der Kontrolle der Gemeinden sollen die Einkünfte aus dem Stromverkauf in die lokale Entwicklung investiert werden. Auch in Nangulví, Teil von Peñaherrera, ist ein kleines Wasserkraftwerk geplant.
Am Abend wird die ENAMI-Bühne zusammengeräumt und es schallt nur noch Tecnocumbia-Musik von auf dem Platz verteilten Grüppchen durch die Nacht. Zumindest für diesen Abend ist die Präsenz des Bergbaus nicht mehr vor aller Augen. Gespräche über die Bürger*innenversammlung vermischen sich mit Alltagsgesprächen und Feiertagsplanungen für den Tag der Toten.

Korrekturen statt Revolution

Es war eine peinliche Blamage für die Demoskop_innen in Uruguay. Wiederholt hatten sie eine Niederlage des Linksbündnisses Frente Amplio („Breite Front“) und vier Prozentpunkte Vorsprung für die beiden konservativen Traditionsparteien der Blancos und Colorados bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober vorausgesagt. Es kam genau umgekehrt: 47,8 Prozent für die Frente Amplio, 30,9 Prozent für die Blancos, 12,9 Prozent für die Colorados.
Nicht nur in diesem Fall irrten die Umfrageinstitute. Schon als eine Mehrheit der Blanco-Partei den 41-jährigen Luis Lacalle Pou im Juni überraschend zum Präsidentschaftskandidaten wählten, wollten zahlreiche Umfragen glauben machen, der junge Senkrechtstarter habe vor allem in der jüngeren Generation ein Stein im Brett. Der 74-jährige Tabaré Vazquez erkor daraufhin den 52-jährigen Raúl Sendic zu seinem Vize. Der Sohn des gleichnamigen legendären Gründers der Stadtguerilla Tupamaros hat längst allen revolutionären Ideen abgeschworen. Doch entgegen den Politmythen von Analyst_innen und Demoskop_innen schnitt die Frente mit 58,8 Prozent bei den 18- bis 30-jährigen noch besser ab als im Gesamtergebnis. In der Hauptstadt Montevideo zog das Linksbündnis gar 71 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler_innen an. Für die Fehlprognosen der Umfrageinstitute könnte die veraltete Methodik, mit der einige arbeiten, verantwortlich sein. Oder – wie nicht wenige vermuten – der Versuch, „gezielt“ Stimmung und Wahlen zu beeinflussen.
Lange Gesichter waren folglich bei den beiden rechten Traditionsparteien zu sehen, blieben sie doch bei den jüngeren Wähler_innen hinter dem Gesamtergebnis ihrer jeweiligen Parteien zurück. Für den modern, dynamisch und liberal auftretenden Lacalle Pou stimmten nur schlappe 27,2 Prozent der jungen Wähler_innen! Mit einem Novum können die Blancos allerdings aufwarten: Ein evangelikaler Pastor zieht für sie ins Abgeordnetenhaus ein.
Dem Ex-Präsidenten (2005-2010) und Präsidentschaftskandidaten der Frente, Tabaré Vázquez dürfte der Sieg in der Stichwahl am 30. November gegen den enttäuschenden Lacalle Pou kaum zu nehmen sein. Da hilft auch die Unterstützung durch Pedro Bordaberry, den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen Colorado-Partei, nicht mehr. Bordaberry ist extrem geschwächt, denn er hat der Traditionspartei das zweitschlechteste Ergebnis in ihrer langen Geschichte beschert. Versteinert wirkte das Gesicht Bordaberrys in der Wahlnacht aber nicht nur, weil die Wähler_innen ihm und seiner Partei eine schallende Ohrfeige verpassten, sondern auch, weil er das von ihm vorangetriebene Plebiszit zur Senkung der Strafmündigkeit verloren hatte.
Wiederum entgegen den Umfragen der Demoskopen! Damit die Bevölkerung „in Frieden leben“ könne, wollte Bordaberry die Strafmündigkeit von 18 auf 16 Jahre senken, das heißt junge Straftäter_innen nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilen lassen. Für Mord sollten sie beispielsweise 30 Jahre statt wie bisher fünf Jahre hinter Gittern verschwinden. Gewaltverbrechen sind tatsächlich angestiegen. Doch 94 Prozent aller Delikte gehen auf das Konto von Erwachsenen.
Die Colorado-Partei hat wie andere Rechte und Reaktionäre in Südamerika „Öffentliche Sicherheit“ als zentrales Thema für sich gepachtet. Sie schüren ein Klima der Angst. Repression und weniger Rehabilitation ist zumeist ihre Antwort.
Mehr Sicherheit gebe es vor allem durch verbesserte Lebensbedingungen, hielt Tabaré Vázquez entgegen. In den bald zehn Jahren von Frente-Regierungen sind umfangreiche Sozialprogramme aufgelegt worden. Das zahlte sich aus: In ärmeren Vierteln glänzte das Bündnis mit teilweise hohen Stimmengewinnen. Unbestritten ist, dass die Armut deutlich gesenkt wurde. Offiziell von 34 auf 11 Prozent. Und das sei „gut so“, meint Gustavo Melazzi, Mitbegründer des Netzes linker Wirtschaftswissenschaftler_innen. Aber es handele sich „letztlich um Assistenzialismus“. Gefördert werden müsste eine industrielle Entwicklung, „die Qualitätsjobs schafft, mit entsprechenden Löhnen.“
Uruguay brauche deshalb Investitionen, betont immer wieder Danilo Astori, Wirtschaftsminister in der ersten Frente-Regierung und erneut heißer Kandidat auf dieses Amt: Die entsprechenden Investitionen könnten allerdings nur aus dem Ausland kommen, im eigenen Land gebe es nicht genügend Kapital. Geködert werden Auslandsinvestitionen mit großzügigen Subventionen, Steuerbefreiungen, Zollfreizonen und Investitionsschutzabkommen. Auch Melazzi lehnt Auslandskapital keineswegs ab. Es sollte aber „in Wirtschaftszweige investiert werden, an denen Uruguay interessiert ist, also im Rahmen eines nationalen Entwicklungsprogramms. Aber das existiert leider nicht.“
Früher verbanden Wähler_innen der linken Frente Amplio das Versprechen von cambio, Wandel, mit tiefgreifenden Wirtschaftsreformen. Nun ist stattdessen Kontinuität angesagt. Uruguay wird von Ratingagenturen und neoliberal gestimmten Medien mit Lob überhäuft. Sie attestieren dem kleinen Land „politische Reife“. Es habe, so Moodys, „Willen als auch Fähigkeit besessen, die konservative Wirtschaftspolitik beizubehalten“. Die Frente sei, so Melazzi, in dieser Frage zu einem unausgesprochenen Konsens mit der Rechten gelangt. Sie scheint sich mit sozialdemokratischen Korrekturen am Kapitalismus abgefunden zu haben – ohne sozialistische Zukunft vor Augen.
Das Linksbündnis hat allerdings nie Sozialismus zum Ziel erklärt. Wohl auch, weil sich in der Frente Amplio sehr unterschiedliche politische Kräfte zusammengefunden haben, von Sozialliberalen, christdemokratisch und sozialdemokratisch geprägten Reformer_innen über Kommunist_innen bis hin zur MPP, der Partei der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros. Aber die Parteienkoalition habe sich ursprünglich „für gewichtige Strukturreformen in der Wirtschaft ausgesprochen“, erinnert sich Melazzi, der am ersten Regierungsprogramm mitgewirkt hat. So beispielsweise „für einen Staat, der in die Wirtschaft eingreift.“ Anstatt poruzierende Industriekomplexe zu schaffen, seien aber Investor_innen gefördert worden, die vor allem mit Rohstoffen – wie beispielsweise Soja, Zellulose und Mineralien – Dollar im Ausland verdienen. „Damit verfestigt sich unsere Rolle als Rohstoffexporteur“, sagt Melazzi. Das wird sich auch unter Tabaré Vázquez nicht ändern. Die Umwelt spielt bei der Ausbeutung der Rohstoffe dagegen eine untergeordnete Rolle.
Die Verteidiger_innen der bisherigen Politik verweisen auf ununterbrochenes Wachstum (zeitweise beachtliche 5,8 Prozent), steigende Lebensqualität, auch auf dem Lande, und eine niedrige Arbeitslosigkeit, die um sechs Prozent pendelt. Doch rund 40 Prozent der Arbeiter_innen verdienen weniger als 14.000 Pesos (etwa 470 Euro) monatlich – in einem Land, das zu den teuersten Ländern in Lateinamerika zählt.
Was passiert, wenn das auf Wachstum basierende Modell Risse bekommt? Ohne Wachstum „könne man auch nichts verteilen“, ist der wohl künftige Wirtschaftsminister Astori überzeugt. Wie dann die von allen Parteien geforderte Reform des teilweise desolaten Bildungssystems finanzieren? Wie den jährlichen milliardenschweren Schuldendienst (4,2 Prozent des Bruttosozialprodukts) leisten ohne soziale Abstriche? Wie die weitgehend verschwiegene Ungleichheit mildern? Eine Untersuchung von uruguayischen Wirtschaftswissenschaftler_innen hat jüngst ergeben, dass sich Uruguays „Elite“ (ein Prozent der Bevölkerung) 14 Prozent der Gesamteinkommen einsteckt. Mehr als in Großbritannien (12,9 Prozent) und in der Schweiz (10,5 Prozent)! Umverteilen? Höhere oder neue Steuern, beispielsweise auf Supergewinne im Agrobusiness, lehnt Marktfundamentalist Astori ab. José „Pepe“ Mujica möchte zumindest darüber nachdenken.
Das letzte Wort hat sein künftiger Nachfolger. Tabaré Vázquez sei ein Mann, urteilt der angesehene Politologe Oscar Botinelli, der „auf Hierarchie und Unterordnung“ baue. Reibungsloses Regieren ist ihm allerdings nicht garantiert. Nicht etwa weil die linke Unidad Popular überraschend mit einem Abgeordneten ins Parlament einzieht. In ihr haben vor allem enttäuschte Frente-Wähler_innen eine neue politische Heimat gefunden, die die frühere antikapitalistische und antiimperialistische Fahne der Frente Amplio hochhalten. Widersprüche sind vielmehr von José „Pepe“ Mujica, dem bisherigen Präsidenten und künftigen Senator, zu erwarten. Seine MPP ist wieder als stärkste Gruppierung aus den Wahlen hervorgegangen, während Astoris Frente Liber Seregni erheblich Federn lassen musste. Die ersten verbalen Scharmützel zwischen Tabaré Vázquez und dem 79-jährigen Mujica gab es bereits vor den Wahlen. Zum Beispiel um das Marihuana-Gesetz, das Anbau, Verkauf und Konsum von Cannabis legalisiert.
Zündstoff bietet auch die Außenpolitik. Mujica trommelte für die Integration, für Brasiliens Führungsrolle auf dem Subkontinent, herzte den verstorbenen Präsidenten Venezuelas und Freund Hugo Chávez. Gleichzeitig tritt er vehement für eine Vollmitgliedschaft Uruguays in der Pazifik-Allianz, einem Kind Washingtons, ein. Alle Mitglieder – Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko – haben Freihandelsverträge mit den USA abgeschlossen. Die Allianz ist letztlich gegen die Vormachtstellung Brasiliens und den Einfluss Chinas auf dem Subkontinent gerichtet. Mujica schwant, dass Uruguay vor einem Dilemma steht, über das „aber keiner spricht“. Da würden Verträge zwischen Staaten abgeschlossen, um China auszubooten, aber „keiner sagt das“. China ist jedoch der wichtigste Handelspartner des kleinen Landes am Río de la Plata. Können wir etwa auf den Handel mit China verzichten? Sein wahrscheinlicher Nachfolger schielt eher nach Norden. Tabaré Vázquez überraschte vor einigen Monaten die frentistas mit einem Bekenntnis: Als es während seiner Amtszeit zu heftigen Unstimmigkeiten mit Argentinien wegen eines Zellulosewerkes am Grenzfluss kam, habe er über einen Hilferuf an die USA nachgedacht. Über bewaffneten Beistand gegen den Nachbarn. Starker Tobak für eingefleischte Antiimperialist_innen, die allerdings immer seltener in der Frente ihre Stimme erheben.

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