Zwischen Krebs und Hoffnung

Die berüchtigten Ultras aus der Nordkurve des Traditions-Fußballclubs Universitario Deporte reimen wunderschöne Spottgesänge für ihre Gegner, doch mit Literaturkenntnissen glänzten sie bislang nicht. Umso überraschter zeigte sich der Nobelpreisträger und bekennende Universitario-Fan Mario Vargas Llosa, als er ausgerechnet bei einem Stadionbesuch als „Stolz Perus“ gefeiert wurde. Umgekehrt ist der Schriftsteller zurzeit eher weniger stolz auf seine Landsleute. Denn deren Abstimmungsverhalten bei Wahlen treibt ihn fast zur Verzweiflung.
Es begann im Jahre 1990. Damals besaßen die PeruanerInnen die einmalige Chance, ihn selbst, Vargas Llosa, den international angesehenen Schriftsteller, zum Präsidenten zu küren. Stattdessen entschieden sie sich für den völlig unbekannten Alberto Fujimori. Für einen Kandidaten, der heute wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen, Amtsanmaßung und Korruption im Gefängnis sitzt. Im Jahr 2006 hielt sich Vargas Llosa nach eigenem Bekunden die Nase zu, als er seine Stimme bei der Stichwahl für das Präsidentenamt dem Kandidaten Alan García gab. García hatte das Land nämlich schon von 1985 bis 1990 regiert und damals eine verheerende Bilanz hinterlassen: Über 7.000 Prozent Inflation und einen schmutzigen Krieg gegen die Maoisten vom Leuchtenden Pfad mit tausenden Toten pro Jahr. Trotzdem war García für Vargas Llosa 2006 das kleinere Übel. Denn die Alternative wäre der Linksnationalist Ollanta Humala gewesen, den der Schriftsteller in den Fußstapfen von Hugo Chávez wähnte.
Die Stichwahl am 5. Juni 2011 bestreiten wie fünf Jahre zuvor genau jene Kandidaten, die in Vargas Llosas Präferenz an letzter Stelle lagen. Ollanta Humala ist wieder dabei und trifft nun auf Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Präsidenten Alberto Fujimori. In seiner ersten Reaktion sprach der Schriftsteller von einer Wahl zwischen Krebs und Aids im Endstadium, doch dann rang er sich in der spanischen Zeitung El País eine Wahlempfehlung ab: „Ohne Freude und mit vielen Befürchtungen werde ich Ollanta Humala wählen. Und ich rufe alle demokratischen Peruaner dazu auf, dasselbe zu tun!“ Er könne nicht, so argumentierte Vargas Llosa weiter, die Tochter eines ehemals regierenden Mörders und Diebs wählen, der dem peruanischen Staat sechs Milliarden US-Dollar stahl.
Ob 1990, 2006 oder heute. Wahlergebnisse sind in Peru schwer vorauszusagen. Im gesamten letzten Jahr galt Luís Castañeda, bis Oktober 2010 amtierender Bürgermeister Limas, als haushoher Favorit für die Präsidentschaftswahlen im April dieses Jahres. Doch gegen Ende seiner Amtszeit – möglicherweise wegen seiner Verstrickung in Korruptionsskandale – begann sein Stern zu sinken. Ab Januar 2011 führte überraschend Ex-Präsident Alejandro Toledo die Umfragen an, kurz vor dem Wahltermin brach auch er ein. Dafür legten mit Ollanta Humala und Pedro Pablo Kuczynski zwei Kandidaten zu, die Anfang des Jahres noch im einstelligen Bereich lagen. Nur Keiko Fujimori hielt während sämtlicher Umfragen konstant einen Anteil um die 20 Prozent.
Am Ende trickste sich die gemäßigte Rechte selbst aus: Ihre drei Hoffnungen – Kuczynski, Toledo und Castañeda – nahmen sich gegenseitig die Stimmen ab. Jeder dieser drei Kandidaten hätte den Umfragen zufolge sowohl eine Stichwahl gegen Ollanta Humala als auch gegen Keiko Fujimori gewonnen. Nun bemühen sich die drei Verlierer, wenigstens eine gemeinsame Fraktion im Kongress zu bilden. Auf eine Wahlempfehlung für den 5. Juni wollen sie sich jedoch nicht festlegen, obwohl beispielsweise Pedro Pablo Kuczynski keinen Hehl daraus macht, dass er eine Präsidentin Keiko Fujimori vorzieht. Er steht damit nicht allein.
Um Keiko Fujimori hat sich eine unheilige Allianz gebildet, der ein Kardinal und der Präsident angehören. Kardinal José Luís Cipriani, schon immer fest an der Seite Alberto Fujimoris, predigt gegen Vargas Llosa als ehemaligen Anhänger Fidel Castros und verdammt dessen Wahlempfehlung. Präsident Alan García ergreift eindeutig Partei für Keiko Fujimori, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bietet. Ebenso offen schlagen sich eine Reihe wichtiger Tageszeitungen vom Expreso bis zum Comercio auf die Seite Fujimoris. Die Fernsehkanäle América TV und Canal N setzten unlängst angesehene Nachrichtenredakteure vor die Tür, als diese sich weigerten, der vorgegebenen Redaktionslinie in ihren Sendungen zu folgen. Diese bestand darin, Keiko Fujimori zu unterstützen und Ollanta Humala stärker aufs Korn zu nehmen. Das jedenfalls erklärten die betroffenen Redakteure gegenüber der spanischen Zeitung El Mundo.
Bisher hat diese Unterstützung nicht gefruchtet: Anfang Mai lag Keiko Fujimori in Umfragen vier Prozentpunkte hinter Ollanta Humala. Doch der Vorsprung Humalas schmilzt und ein großer Teil der WählerInnen hat sich noch nicht entschieden. Fest steht auch: Humala ist der einzige Kandidat, gegen den Keiko Fujimori eine echte Chance besitzt, weil sie bei dieser Konstellation auf die Stimmen der gesamten Rechten hoffen kann. Sie muss jedoch weitere Wählerschichten hinzugewinnen. Deswegen präsentiert sich vor der Stichwahl eine neue Keiko Fujimori. Während sie ihren Vater vor dem ersten Wahlgang noch zum besten peruanischen Präsidenten aller Zeiten ausgerufen hatte, bittet sie nun plötzlich für „einzelne Delikte und Exzesse“ während der Regierung ihres Vaters um Verzeihung. Und kaum zu glauben: Dieselbe Kandidatin, die niemals zuvor einen Zweifel daran ließ, dass sie ihren Vater als Präsidentin aus dem Gefängnis befreien würde, deutet jetzt sogar in diesem Punkt einen Sinneswandel an. Das glauben ihr allerdings nicht einmal die eigenen WählerInnen.
Keiko Fujimori, die nach der Trennung ihrer Eltern als First Lady jahrelang das Regime ihres Vaters repräsentierte, wird wissen, von welchen „einzelnen Exzessen“ sie redet. Vielleicht vom grandiosen Wahlbetrug im Jahr 2000. Vielleicht von den systematischen Erpressungen und Bestechungen, mit denen Alberto Fujimori sich als Präsident die Medien, die Justiz und das Parlament gefügig machte. Vielleicht aber auch von der Ermordung der 16 Gäste einer Grillfeier im Hauptstadtviertel Barrios Altos im November 1991, die Keikos Vater als Auftraggeber einer Todesschwadron veranlasste. Womöglich hatte Keiko auch ein paar Delikte im Kopf, aufgrund derer Alberto Fujimori laut Transparency International den siebten Platz in der Rangliste der korruptesten Staatspräsidenten aller Zeiten belegt.
Die WählerInnen haben entschieden, aber der Einzug Keiko Fujimoris in die Stichwahl bleibt peinlich für das Land. Ebenso wie das Ergebnis der Parlamentswahlen: Keiko Fujimoris Liste Fuerza 2011 zieht als zweitstärkste Fraktion in den Kongress ein. Und die mit Abstand meisten Stimmen aller Abgeordneten erhielt der Diktatorensprössling Kenji Fujimori, Keikos Bruder, der sich in diversen Videos im Internet als unreifer Flegel präsentiert. Gewählt wurden ferner zahlreiche ehemalige (kriminelle) Mitstreiter und Helfershelfer Alberto Fujimoris wie Martha Chávez, Luz Salgado oder Martha Hildebrandt, die sämtliche Verbrechen ihres Herrn und Meisters seit 20 Jahren gegen alle Angriffe verteidigen.
Als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft erkor sich Keiko den Opus-Dei-Mann Rafael Rey Rey aus, einen der übelsten Scharfmacher gegen die Arbeit der peruanischen Wahrheitskommission, die sich um die Aufklärung der Verbrechen im Krieg der Armee gegen den Leuchtenden Pfad bemühte. Der Kandidat für die zweite Vizepräsidentschaft heißt Jaime Yoshiyama und ist ein früherer Ministerpräsident Alberto Fujimoris. Yoshiyama war in diverse Korruptionsskandale des Regimes verstrickt und wurde wegen der Teilnahme am so genannten „Selbstputsch“ Fujimoris im Jahr 1992, der Massenverhaftungen und die Auflösung des Kongresses zur Folge hatte, rechtskräftig zu vier Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Wer die Fäden am Kabinettstisch einer gewählten und völlig unerfahrenen Präsidentin Fujimori ziehen würde, ist damit klar: Vater Alberto – sofern seine Gesundheit es zulässt – und seine ehemaligen Gefolgsleute. Jene 23 Prozent der WählerInnen, die am 10. April ihr Kreuz neben dem großen „K“ platzierten, das für „Keiko“ steht, stimmten im Grunde für Alberto Fujimori. Der Name Fujimori steht – zu Recht oder zu Unrecht – immer noch für das Ende des Bürgerkriegs mit dem Leuchtenden Pfad und das Ende von Wirtschaftschaos und Inflation unter der ersten Regierung García.
Sicherlich bietet auch Ollanta Humala Angriffsflächen. Es ist nicht ganz geklärt, ob der ehemalige Oberst der peruanischen Armee während des Bürgerkriegs in Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verstrickt war. Dubios ist auch die frühere Mitgliedschaft Humalas in einer politischen Bewegung, die sozialistisches Gedankengut mit rassistischen und nationalistischen Ideen vermischte und extrem schwulenfeindlich auftrat. Doch Ollanta Humala hat sich inzwischen deutlich davon distanziert. Zu den Abgeordneten seines aktuellen Wahlbündnisses zählen renommierte Parlamentarier wie der Sozialist Javier Díez Canseco oder der Soziologe Nicolás Lynch, der bereits unter Toledo Bildungsminister war.
Präsident Alan García sorgte sich fünf Jahre lang fast nur um Investitionen und Wirtschaftswachstum. Nun ist es an der Zeit, dass dieses Wachstum – durchschnittlich 7,5 Prozent pro Jahr während Garcías Amtsperiode – in den unteren Bevölkerungsschichten ankommt. Dafür hat sich Ollanta Humala mehr als alle anderen KandidatInnen im Wahlkampf eingesetzt. Vargas Llosa konnte er mit der Aussage beruhigen, er wolle dem Weg Lulas und nicht dem von Hugo Chávez folgen.
Ollanta Humala steht für die Hoffnung von Millionen PeruanerInnen auf eine Zukunft ohne Armut. Die Wahl am 5. Juni ist für diese Menschen eher eine Wahl zwischen Krebs und Hoffnung denn zwischen Krebs und Aids. Mario Vargas Llosa, dem großer Respekt für seinen Wahlaufruf gebührt, argumentiert da anders: Wer Ollanta Humala wählt, verhindert, dass die Gefängnistore geöffnet und Dutzende Betrüger und Mörder der Fujimori-Diktatur herausgelassen werden, um Peru erneut zu regieren.

Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 10. April 2011:
Ollanta Humala 31,7 Prozent // Keiko Fujimori 23,6 Prozent // Pedro Pablo Kuczynski 18,5 Prozent // Alejandro Toledo 15,6 Prozent // Luís Castañeda 9,8 Prozent // Alle anderen KandidatInnen erhielten zusammen weniger als ein Prozent.

Sitzverteilung im Kongress:
Gana Perú (Bündnis von Ollanta Humala) 24,7 Prozent // Fuerza 2011 (Liste Keiko Fujimoris) 23,0 Prozent // Perú Posible (Liste Alejandro Toledos) 14,9 Prozent // Alianza para el Gran Cambio (Liste Pedro Pablo Kuczynskis) 14,8 Prozent // Solidaridad Nacional (Liste Luís Castañedas) 10,3 Prozent // Apra (Partei des Präsidenten Alan García) 6,3 Prozent // Alle anderen Parteien scheiterten an der Fünfprozentklausel.

Wirtschaftsförderung auf Kosten der Menschenrechte

„Mit einem Land, das Gewerkschaftsrechte mit Füßen tritt, in dem ein bewaffneter Konflikt herrscht, enge Verstrickungen zwischen Paramilitärs und der Regierung bestehen und Vertreibungen in großem Stil an der Tagesordnung sind, darf kein Freihandelsabkommen geschlossen werden.“ In diesem Punkt sind María del Pilar Silva, Mitglied des Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo, und Nohora Tovar, Vizepräsidentin der Metaller-Gewerkschaft Fetramecol, unmissverständlich. Die beiden Kolumbianerinnen waren im März im Rahmen einer europaweiten Speakers Tour auch in Deutschland, um Politik und Zivilgesellschaft auf die befürchteten sozialen, wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Folgen des Abkommens aufmerksam zu machen.
María del Pilar Silva ist überzeugt, dass nur die multinationalen Unternehmen und Eliten aus Politik und Wirtschaft von der Umsetzung des Abkommens profitieren werden. „Die Bevölkerung hingegen wird darunter zu leiden haben. Wir gehen davon aus, dass es zu einer weiteren Zerschlagung der Gewerkschaften und einem zunehmenden Verlust der Rechte von indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden kommt“, betont sie. Die Anwältin befürchtet außerdem, dass der soziale und bewaffnete Konflikt verschärft wird.
Durch den Abbau von Handelsbeschränkungen und die Verbesserung der Rechtslage für InvestorInnen sollen vor allem Investitionen im Bergbau, Agrar- und Energiesektor gefördert werden – Wirtschaftszweige, die bereits in der Vergangenheit vielfach zu sozialen und Landkonflikten geführt haben. „In Kolumbien existieren bereits jetzt mehr als fünf Millionen von Paramilitärs und Armee vertriebene Binnenflüchtlinge, das heißt neun Prozent der KolumbianerInnen sind Opfer von Vertreibungen. Ein Großteil von ihnen lebte zuvor auf Gebieten, die von wirtschaftlichem Interesse für die genannten Industriezweige sind“, so María del Pilar Silva. Die Konkurrenz um Besitz und Bewirtschaftung von Land war seit jeher ein Faktor, der den Konflikt angeheizt hat. Regionen von strategischem wirtschaftlichen Interesse sind vom bewaffneten Konflikt und massiven Menschenrechtsverletzungen am stärksten betroffen. Die für eine Ausweitung der Bergbau- und Exportlandwirtschaft benötigten Flächen liegen häufig auf den Territorien indigener und afrokolumbianischer Gemeinschaften. „Von den derzeit 33 Bergbaudistrikten befinden sich 16 auf indigenen Territorien“, so María del Pilar Silva. Sie befürchtet, dass das Freihandelsabkommen daher zu einer Zunahme der Vertreibungen und der bewaffneten Konflikte führen wird.
Doch nicht nur um die Situation der ländlichen Gemeinschaften machen die Kolumbianerinnen sich Sorgen. Nohora Tovar geht davon aus, dass mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens auch die Lage der Gewerkschafts- und Arbeitsrechte weiter verschärft wird. Kolumbien ist für GewerkschafterInnen das gefährlichste Land der Welt. Alleine im letzten Jahr wurden 51 GewerkschafterInnen getötet. In den ersten drei Monaten diesen Jahres sind bereits elf Gewerkschaftsmorde zu verzeichnen. 98 Prozent dieser Verbrechen blieben straflos. „In Kolumbien herrscht auch unter dem neuen Präsidenten Santos eine antigewerkschaftliche Politik”, betont Nohora Tovar. Streikrecht und Versammlungsrecht würden systematisch missachtet. „Wer sich gewerkschaftlich betätigt, wird oft umgehend entlassen”, erklärt die Gewerkschafterin. Streiks und Proteste würden von den Streitkräften mit Repression beantwortet. Auf die inzwischen 39 Verwarnungen durch die Internationale Arbeitsorganisation ILO habe die Regierung nicht reagiert.
Nohora Tovar befürchtet außerdem eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen durch das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens. Bereits jetzt seien knapp 60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im informellen Sektor tätig, nur 39 Prozent der Beschäftigten krankenversichert. „Viele ausländische Investoren lagern Jobs in sog. Cooperativas de Trabajo Asociado, also Pseudo-Kooperativen aus, in denen die Bezahlung unter dem Mindestlohn liegt”, erklärt sie. Arbeitskleidung, Werkzeug und Sozialversicherungsbeiträge müssten von den Beschäftigten selbst bezahlt werden. Zudem fördere das Freihandelsabkommen die Ausweitung von Wirtschaftsbereichen, in denen ohnehin prekäre Arbeitsbedingungen herrschen, wie Bergbau, der Anbau von Palmöl, Bananen oder Zuckerrohr.
Auf die von der EU-Kommission viel beschworenen Menschenrechts- und Sozialklauseln des Abkommens geben María del Pilar Silva und Nohora Tovar nicht viel. Diese stellen keine verbindlichen Regeln auf und sind mit keinerlei effektiven Sanktionsmechanismen versehen. Dass das Abkommen wegen Menschenrechtsverstößen ausgesetzt werden könnte, hält Nohora Tovar für utopisch. Dazu kam es bislang auch nicht, obwohl das derzeit noch geltende Zollpräferenzabkommen GSP+ stärkere Menschenrechts- und Arbeitsstandards enthält.
In den bestehenden wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen der EU und Kolumbien sehen María del Pilar Silva und Nohora Tovar eine große Gefahr. „Die kolumbianische Industrie und Landwirtschaft sind schlicht nicht wettbewerbsfähig gegenüber der EU“, so Nohora Tovar. Kleine und mittelständische Unternehmen würden durch das Abkommen in den Ruin getrieben. Viele Menschen wären somit vom Verlust ihrer Arbeit bedroht, ob neue Arbeitsplätze entstünden und wenn ja, zu welchen Bedingungen, sei fragwürdig.
Auch mit der hochsubventionierten Landwirtschaft der EU können kolumbianische Kleinbäuerinnen und -bauern nicht mithalten. María del Pilar Silva führt als Beispiel den Milchsektor an: „Laut der FAO stellt Milch eines der wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte in Kolumbien dar“. Dieser Sektor laufe nun jedoch Gefahr, durch das Freihandelsabkommen ruiniert zu werden. Milch werde im Gegensatz zur EU nämlich hauptsächlich in kleinbäuerlicher Landwirtschaft produziert. Staatliche Subventionen existieren nicht. Mehr als 400.000 kolumbianische Familien, die Milch produzieren, würden durch Freihandelsabkommen in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet.
So sind die beiden Kolumbianerinnen davon überzeugt, dass durch das Inkrafttreten des Abkommens Armut und Ungleichheit zunehmen werden. „Die soziale Kluft wird sich weiter vergrößern, in einem Land, das bereits jetzt durch enorme Ungleichheit gekennzeichnet ist. Kolumbien verfügt über eine enorme Ressourcenvielfalt, dennoch lebt über die Hälfte der Menschen in Armut“, betont María del Pilar Silva. Durch das Abkommen würden multinationale Unternehmen und Großgrundbesitzer profitieren und weiter an Einfluss gewinnen, während die Bevölkerung das Nachsehen hat, ist auch Nohora Tovar überzeugt.
Vom kolumbianischen Kongress sei nicht zu erwarten, dass er gegen das Handelsabkommen mit der EU votiert. „Er besteht zu einem Großteil aus Abgeordneten, die aus Unternehmerfamilien stammen und zu der kleinen Elite gehören, die von einem Freihandelsabkommen profitieren werden“, erklärt María del Pilar Silva. Auch wenn die Proteste der kolumbianische Zivilgesellschaft immer stärker werden, sind sie noch eher verhalten, verglichen mit dem Widerstand, der gegen das geplante Freihandelsabkommen mit den USA geleistet wurde. Das mag daran liegen, dass die EU in Kolumbien ein positiveres Bild besitzt und eher mit Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechten als mit knallharten Wirtschaftsinteressen in Verbindung gebracht wird.
Daher richten María del Pilar Silva und Nohora Tovar ihre Hoffnung auf die Unterstützung der Politik und Zivilgesellschaft in Europa, um die Ratifizierung des Abkommens zu verhindern.

KASTEN: Das EU-Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru, das im Mai 2010 unterzeichnet wurde, enthält Regelungen über weitreichende Liberalisierungen in vielen Bereichen wie Investitionen, öffentliche Beschaffungsmärkte, Industriegüter und Landwirtschaft. Von vielen Organisationen wird, neben der mangelnden Berücksichtigung der wirtschaftlichen Asymmetrien im Abkommen, kritisiert, dass soziale Konflikte geschürt und die regionale Integration der Andenländer gefährdet werden. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Einschränkung der Möglichkeiten für Kolumbien oder Peru in Zukunft nachhaltigere Entwicklungsstrategien zu fördern sowie Umwelt- oder Sozialstandards zu erhöhen. Dies wird durch die Investitionsschutzbestimmungen deutlich erschwert. Schließlich wird in Zusammenhang mit den weit reichenden Regelungen zum geistigen Eigentum befürchtet, dass diese den freien Zugang zu Medikamenten und Saatgut erschweren und Biopiraterie Vorschub leisten könnten. Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus den Andenländern und Europa (über 200 Organisationen) gaben deshalb eine gemeinsame Erklärung heraus, in der sie die Nichtratifizierung der ausgehandelten Vereinbarungen fordern: www2.weed-online.org/uploads/nein_zur_ratifizierung_ftas_la_februar2011.pdf
Damit es in Kraft treten kann, muss das Abkommen in alle Amtssprachen der EU übersetzt und anschließend vom EU-Parlament sowie dem kolumbianischen und peruanischen Kongress ratifiziert werden. Ob auch die 27 EU-Mitgliedsstaaten das Abkommen ratifizieren müssen, ist indes noch nicht endgültig entschieden. Verschiedene Rechtsgutachten deuten jedoch darauf hin. Die EU-Kommission hat allerdings noch nicht offiziell bekanntgegeben, ob sie das Abkommen als gemischtes (was die Zustimmung der EU Mitgliedsstaaten erforderlich machen würde) oder als reines Handelsabkommen (was lediglich die Ratifizierung durch das EU-Parlament voraussetzen würde) einschätzt. Sollte das Abkommen die Ratifizierung aller Mitgliedsstaaten erfordern, würde dies vermutlich mehrere Jahre dauern. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass die EU-Kommission vorschlagen wird, das Abkommen vorläufig umzusetzen. Mit einem (vorläufigen oder endgültigen) Inkrafttreten wird frühestens in der ersten Jahreshälfte 2012 gerechnet.

Abgeschaltet wird nicht

„50 Atomkraftwerke bis zum Jahre 2050 können wir in Brasilien bauen“, hatte Brasiliens Minister für Bergbau und Energie, Edison Lobão, noch im Jahre 2008 bekräftigt. Auch nach der Atomkatastrophe in Fukushima sieht der Minister in Brasília keinen Anlaß, seine Vorstellungen grundsätzlich zu überdenken. Doch angesichts vermehrter kritischer Berichterstattung in der brasilianischen Tagespresse ordnete Lobão weitere Sicherheitsüberprüfungen an, um die beiden in der Nähe von Rio de Janeiro befindlichen Atomkraftwerke, Angra 1 und Angra 2, zu überprüfen. Nachdem die Zeitung Correio Braziliense Mitte März aufgedeckt hatte, dass Angra 2 seit Inbetriebnahme vor zehn Jahren ohne Betriebsgenehmigung durch Umweltbehörde und die Nuklearbehörde CNEN läuft, wachte auch der brasilianische Kongress auf und ordnete weitere Untersuchungen an.
In Brasilien laufen bisher zwei Meiler, mit Angra 3 wird seit Ende 2008 ein weiterer gebaut. Es ist vor allem die küstennahe Lage, die den Atomkomplex der drei Meiler, Almirante Álvaro Alberto in Angra dos Reis im Bundestaat Rio de Janeiro so gefährlich machen. Die Atomanlagen liegen am Strand, der „Itaorna“, also „fauler Stein“, heißt. Hinzu kommen die konservativen Berechnungen des Weltklimarates IPCC, wonach der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um 18 bis 59 cm ansteigen soll. Die Bedrohung für den Zwischenlagerstandort und das Atomkraftwerk am Strand des „faulen Steins“ ist somit leicht nachzuvollziehen. Die Region ist erdbebengefährdet. Auch wenn eine Tsunamigefahr dort weniger gegeben ist, besteht die Gefahr von schweren Überschwemmungen durch Stürme oder Schlammlawinen von den Hängen bei schweren Gewittern. Die Schlammkatastrophe in der Bergregion von Rio de Janeiro im Januar dieses Jahres gab davon beredtes Zeugnis.
Nun will die Regierung nachbessern: Die bei einem GAU einzige mögliche Fluchtstraße, die BR 101, wird ausgebessert und soll gegen die wiederkehrenden Erdrutsche besser gesichert werden. Im Falle eines Atomunfalls würde allerdings bei ungünstiger Windrichtung dieser einzige Fluchtweg genau im Windschatten des Fall-outs liegen. Zudem sollen nun zwei neue Piers neben der Anlage entstehen, welche die Evakuierung per Schiff gewährleisten sollen.
Grundsätzlich reagiert die Regierung Dilma Rousseff auf die langsam aufkommenden Atomfragen der Presse mit den üblichen Argumenten: Die Erdbeben- und Tsunamigefährdung in Brasilien sei geringer als in Japan, heißt es. Die seismische Aktivität der Region um die Reaktoren hätte im April 2008 bei dem Erdbeben mit einer Stärke von 5,2 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Zudem seien die Reaktoren anderer Bauart als in Japan, durch einen Stahlmantel geschützt und gegen Flugzeugabstürze gesichert. Die Sicherheitsbestimmungen seien viel schärfer, als sie für das größtannehmbare Vorkommnis notwendig wären. So wird für Brasiliens Politikerkaste an dem Ausbau der Atomenergie nicht gerüttelt.
Auch andernorts in Lateinamerika sieht die Regierung strahlend der Zukunft entgegen. Mitte März unterzeichneten Chile und die USA in Santiago ein Abkommen zur Nuklearkooperation. Erst vor Kurzem hatte das südamerikanische Land ein ähnliches Abkommen mit Frankreich geschlossen. Chiles Außenminister, Alfredo Moreno, erklärte angesichts der Unterzeichnung der Vereinbarung mit den USA, das Abkommen ziele auf „wissenschaftliche Kooperation“ und Ausbildung chilenischer TechnikerInnen, weniger auf den Bau von Atomanlagen. Mit Blick auf die extreme Erdbebengefährdung Chiles verwies selbst Ex-Präsident Ricardo Lagos auf die „schwierigen Bedingungen“ im Land, die Atomkraftwerke „unmöglich“ machten. Umweltgruppen verurteilten das Abkommen scharf und bezeichneten es als „dumm“. Dies vor allem vor dem Hintergrund des letztjährigen Erdbebens der Stärke 8,8 auf der Richterskala. RegierungsvertreterInnen verwiesen dennoch gleichsam unisono auf die „Energielücke“ und die Abhängigkeiten bei der Energieversorgung von fossilen Brennstoffen aus Argentinien oder Bolivien.
Argentiniens Regierung unter Cristina Fernández de Kirchner hält ebenso unbeirrt an der Fertigstellung des dritten Atomkraftwerks in Argentinien, Atucha 2, fest und sprach gar schon von Atucha 3. Die Atucha-Werke gehen ebenso wie Angra 2 und 3 in Brasilien jeweils auf Kooperationsabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland aus den 1970er Jahren zurück, auf dessen Basis die damalige Siemens/KWU die Meiler konstruierte und bauen ließ.
Auch Mexiko will an der Atomenergie festhalten. Dazu werden in Regierungskreisen laut der Zeitung El Universal drei Szenarien diskutiert: zwei, sechs oder gar zehn neue Atomkraftwerke sollen bis zum Jahre 2028 gebaut werden.
Hingegen hat sich der peruanische Präsident Alan García angesichts der Atomkatastrophe von Fukushima deutlich gegen die Nutzung von Atomenergie in seinem Land ausgesprochen. Aufgrund der vorhandenen Ressourcen Wasser, Gas und Öl könne Peru „für hundert Jahre oder mehr frei von dieser Bedrohung“ bleiben, sagte García. Dies gelte umso mehr, weil Peru ein erdbebengefährdetes Land sei. In Venezuela erklärte Präsident Hugo Chávez die Atomkraftwerkspläne seines Landes für beendet. Als Grund für die Entscheidung gab er die Nuklearkatastrophe in Japan an. „Es gibt keinen Zweifel, dass diese Geschehnisse die Pläne zur Entwicklung der Atomkraft weltweit stark beeinflussen“, zitierte die staatliche venezolanische Nachrichtenagentur AVN den Präsidenten. Erst im vergangenen Jahr hatten die Präsidenten von Venezuela und Russland, Hugo Chávez und Dmitri Medwedew, einen Vertrag über den Bau eines Atomkraftwerks in Venezuela unterzeichnet.

Politik in der Krise

Walter Palacios war Studentenführer, Gründungsmitglied und Anführer der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR). Er ist einer der wenigen Überlebenden des bewaffneten Kampfes, den die MIR 1965 in den peruanischen Anden um Cuzco und Junin führte. Im Jahre 1992, während der Fujimori-Diktatur, setzte sich Walter Palacios ins Exil nach Mexiko ab. Dort lebte er bis 2002 als politischer Flüchtling. Als er nach Peru zurückkehrte, wurde er verhaftet. Wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA) saß er bis 2006 im Hochsicherheitsgefängnis Castro Castro in Lima. Nach seiner Entlassung setzte Walter Palacios seine politische Arbeit fort. Aktuell sammelt, systematisiert und analysiert er Dokumente und Zeugenaussagen der revolutionären peruanischen Linken der 1960er Jahre, die er in einem Buch zusammenstellen möchte.

Sie zählen zu den Veteranen der revolutionären Linken. Was waren wichtige Momente in ihrem politischen Leben?

Ich bin seit fast 60 Jahren politisch aktiv, also seit meiner frühen Jugend. In dieser langen Zeit hatte ich die Gelegenheit, viele Ereignisse in meinem Land und international zu erleben. Es ist nicht leicht für mich aufzuzeigen, was die wichtigsten Momente waren, aber ich versuche, einige zusammenzufassen: Ich lernte mit Luís de la Puente Uceda einen revolutionären peruanischen Anführer kennen. Er war mein Vorbild. Mit ihm gründeten wir 1959 die Bewegung der Revolutionären Linken MIR, er war unser Generalsekretär und Oberster Kommandant. 1965 fiel er an der Guerilla-Front in den Bergen von Cusco. Ein anderes Ereignis, das ich miterlebte, war der Triumph der kubanischen Revolution 1959. Ich lernte mit Fidel und Ché Guevara zwei ihrer wichtigsten Anführer kennen, ich erlebte den heroischen Kampf und Sieg des vietnamesischen Volkes und ich sprach mit Ho Chi Minh. Dem gegenüber stehen schwierige, traurige und schmerzhafte Erlebnisse wie der Tod von Genossen, Revolutionären und sozialen Kämpfern, erlittene Niederlagen oder das Verschwinden des sozialistischen Lagers.

Was waren die Visionen der MIR in den 1960er Jahren?

In meinem Land litt die große Mehrheit der Bevölkerung unter der Ausbeutung der herrschenden Klassen, die unsere Naturreichtümer dem ausländischen Kapital übergaben. Die Bauern waren abhängig vom Großgrundbesitz, die Rechte der Arbeiter wurden mit Füßen getreten. In dieser Situation entstand die MIR. Wir wollten auf revolutionäre Weise für soziale Gerechtigkeit und Sozialismus kämpfen. Die Gründung der MIR war auch eine Kritik an den traditionellen Parteien der Linken. Wir sahen uns als guevaristische lateinamerikanische Organisation, die sich nicht blindlings zu einem der internationalen Pole des sozialistischen Lagers bekannte. Diese Pole waren in jenen Jahren Moskau und Peking.

Wie ist die Situation der heutigen Linken in Peru? Es heißt, sie sei sehr zersplittert. Welche sind die wichtigsten Akteure?

Die repräsentative Politik befindet sich in meinem Land in einer Krise. Die Parteien sind geschwächt, es mangelt ihnen an neuen Führerungsfiguren. Davon ist auch die Linke betroffen. Sie ist in verschiedene Organisationen aufgeteilt, es fehlt ihr an Ansehen. Einige Organisationen sind verschwunden, andere versuchen jedes Mal dann aktiv zu werden, wenn Präsidentschafts- und Kongresswahlen anstehen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die sich links und progressiv nennen und sich Ollanta Humala, dem Anführer der Nationalistischen Partei, angeschlossen haben. Er ist ein Ex-Militär und präsentiert sich als Opposition zur peruanischen Rechten. Aber es gibt auch eine wichtige soziale Bewegung, die radikal die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Alan García und deren Korruption zurückweist. Das drückt sich in Mobilisierungen und Kämpfen auf dem Land, in den Regionen und im Inneren des Landes aus.

Wie charakterisieren Sie die Bewegung Land und Freiheit mit ihrem Anführer, dem Ex-Priester Marco Arana? Ist sie Teil der Linken?

Marco Arana wurde vor allem bekannt durch seine Anklagen gegen große ausländische Bergbaugesellschaften im Bezirk Cajamarca, die sich über die Rechte der Bevölkerung, der Arbeiter und den Umweltschutz hinwegsetzen. Seine Parteigänger nennen Marco Arana den Ökologen der Armen. Vor kurzem erhielt er den Aachener Friedenspreis in der BRD. Tierra y Libertad kann man als linke Bewegung bezeichnen. Sie wollten an den Wahlen teilnehmen, haben ihr Ziel jedoch vorerst nicht erreicht.

Wie sind die Perspektiven der Linken bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen am 10. April dieses Jahres und welche Rolle spielt dabei Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori?

Die Linke beteiligt sich, aufgeteilt in drei oder vier Listen, an den Wahlen. Sie hat im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas keine guten Chancen. Momentan führt Ex-Präsident Alejandro Toledo vom rechten Zentrum bei den Wahlumfragen. Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori (nach aktuellen Umfragen: an zweiter bis vierter Stelle, Kopf an Kopf mit Alejandro Toledo, Luís Castañeda und Ollanta Humala, die Red.), will ihren Vater aus dem Gefängnis befreien. Das ist nicht akzeptabel. Wahrscheinlich wird es zu einer zweiten Wahlrunde der beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen kommen. Aufgrund der Millionen–Wahlkampagne Keiko Fujimoris und der anderen rechten Parteien besteht die Gefahr, dass Keiko Fujimori in die Stichwahl einzieht.

Wie viele politische Gefangene des MRTA gibt es derzeit? Was wissen Sie über ihre Situation und die Situation der Ex-Gefangenen?

Erinnern wir uns, dass ein Kommando der MRTA im Jahr 1996 – als die Fujimori-Diktatur am stabilsten war – die Residenz des japanischen Botschafters besetzte und die Freilassung von 480 Gefangenen forderte. Diese Operation scheiterte, und das MRTA-Kommando wurde bei der Erstürmung der Botschaftsresidenz durch das peruanische Militär liquidiert. In den letzten Jahren wurden die Gerichtsurteile gegen die politischen Gefangenen aus der Zeit der Fujimori-Diktatur revidiert, viele Gefangene kamen im Laufe der Jahre frei. Heute sitzen in den verschiedenen Gefängnissen meines Landes noch etwa 40 politische Gefangene des MRTA. Es ist mir wichtig, speziell auf die Situation von Jaime Ramirez Pedraza hinzuweisen, der sich in einem sehr kritischen Gesundheitszustand befindet. Er leidet an einer seltenen neuro-degenerativen Krankheit und ist schwer behindert. Wir wollen bei der peruanischen Regierung eine Haftbefreiung aus humanitären Gründen erreichen und benötigen dafür dringend internationale Solidarität. Jaime könnte im Ausland eine geeignete Therapie erhalten. Andere Gefangene sind frei gekommen und integrieren sich ins Familienleben aber auch ins politische Leben. Sie beteiligen sich an den Wahlen auf der Liste „Despertar Nacional“ („Nationales Erwachen“).

Häufig gestellte Fragen

Welche Änderungen der Verfassung sah Zelaya vor?

Manuel Zelaya hatte sich dazu nie konkret geäußert. Details sollte erst die Verfassunggebende Versammlung erarbeiten. Zelaya sagte aber, er wolle die Bevölkerung stärker an politischen Prozessen beteiligen. Dazu plante er, am 28. Juni 2009 die BürgerInnen in einer nicht bindenden Meinungsumfrage zu konsultieren. Sie sollten darüber entscheiden, ob bei den kommenden Wahlen gleichzeitig ein Referendum zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung stattfinden sollte.
Zelaya forderte einen „sozialistischen Liberalismus“, damit „alle Vorteile des Systems dorthin kommen, wo sie am meisten benötigt werden: zu den Frauen, den Männern, den Kinder, den Bauern, den Produzenten!“ Zelayas Gegner behaupteten, er wolle mit der Volksbefragung und dem darauf folgenden Referendum lediglich seine Wiederwahl erreichen und Honduras in eine Diktatur verwandeln.

Hätte sich Zeleya nach einem erfolgreichen Referendum wiederwählen lassen können?

Nein. Das Referendum, das im Falle der Zustimmung der Bevölkerung gemeinsam mit den Wahlen am 29. November 2009 hätte stattfinden sollen, hätte zunächst eine Verfassunggebende Versammlung einberufen. Diese hätte dann in den Monaten darauf die Aufgabe gehabt, eine neue Verfassung zu erarbeiten.
Brisant dabei ist, dass der honduranische Kongress Mitte Januar 2011 eine Änderung des Artikel 5 der Verfassung vorgenommen hat. Dadurch werden Referenden bezüglich der Wiederwahl des Präsidenten möglich gemacht.

Wer steckt hinter dem Putsch?

Die Verhaftung und Außerlandesbringung Zelayas wurde von Militärs unter Führung von General Romeo Vásquez Velásquez durchgeführt. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof die Verhaftung Zelayas angeordnet, da ihm aufgrund der geplanten Volksbefragung von der Opposition und der Oligarchie des Landes ein Verfassungsbruch vorgeworfen wurde. Schon in den Monaten zuvor hatten die von den Eliten kontrollierten Medien gegen Zelayas linksgerichteten politischen Kurs gewettert. Auch die USA müssen frühzeitig von dem Vorhaben eines Staatsstreiches gewusst haben, denn die PutschistInnen nutzten den US-Militärstützpunkt Palmerola bei Comayagua, um Zelaya auszufliegen.
Am Tag des Putsches wurde im Parlament die Fälschung eines Rücktrittsschreibens Zelayas verlesen sowie Telefonnetz und Rundfunk abgeschaltet. Kurz nach dem Putsch meldete sich auch der honduranische Kardinal und Vorsitzende von Caritas International, Óscar Andrés Rodríguez, zu Wort. Er rechtfertigte die Absetzung Zelayas und vertrat die Meinung, Venezuelas Präsident Hugo Chávez wolle durch Zelaya Kommunismus in Honduras einführen. Ähnlicher Meinung waren auch honduranische Unternehmerverbände, konservative US-Politiker und die FDP-nahe Friedrich-Naumann Stiftung, die in Tegucigalpa ein Regionalbüro unterhält.

Wurden die für den Putsch verantwortlichen Personen in irgendeiner Weise sanktioniert?

Nein. Zwar teilte der US-Botschafter Hugo Llorens einen Monat nach dem Putsch Washington mit, dass es „keinen Zweifel mehr daran (gibt), dass die Amtsübernahme durch Roberto Micheletti illegitim war.“ Er bezeichnete die Vorgänge als einen Putsch und widerlegte die Vorwürfe der PutschistInnen gegen Präsident Manuel Zelaya. Dennoch wurde Putschpräsident Roberto Micheletti der Status eines Abgeordneten auf Lebzeiten und damit ein lebenslanges Monatsgehalt, Immunität sowie Polizeischutz für sich und seine Familie zugesichert. Im März 2010 ernannte Porfirio Lobo den für den Putsch verantwortlichen General Romeo Vásquez Velásquez zum Präsidenten der nationalen Telefongesellschaft Hondutel. Die Putschregierung hatte noch vor der Amtseinführung von Porfirio Lobo damit begonnen, Amnestien für politische Straftaten zu erlassen.

Welche lateinamerikanischen Länder anerkennen die Putschregierung von Porfirio Lobo?

Anerkannt wird die Regierung von Porfirio Lobo bisher von Mexiko, Guatemala, Belize, El Salvador, Costa Rica, Panama, Kolumbien, Peru und Chile. Brasilien, Ecuador, Bolivien, Argentinien, Venezuela und Nicaragua haben die Regierung von Porfirio bisher nicht anerkannt. Weiterhin ist Honduras‘ Mitgliedschaft in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert.

Was macht Manuel Zelaya heute?

Manuel Zelaya lebt seit dem 27. Januar 2010 im Exil in der Dominikanischen Republik. Er ist Hauptkoordinator der Widerstandsbewegung und hofft auf eine baldige Rückkehr nach Honduras. Zelaya wurde von Hugo Chávez zudem die Leitung des „Politischen Rates“ von Petrocaribe übertragen.

Was fordert die Widerstandsbewegung?

Die Widerstandsbewegung fordert unter anderem die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. In der neuen Verfassung sollen die Prinzipien der partizipativen Demokratie etabliert werden. Weiter wird die Erneuerung des aktuellen Machtapparates, die Rückkehr Manuel Zelayas aus dem Exil und die Rücknahme neoliberaler Arbeitsgesetze gefordert.

// Ohne Meiler wär‘ geiler

Three-Mile-Island, Tschernobyl, Fukushima – Nicht mehr viele kommen beim Gedanken an Atomkraft so ins Träumen wie Brasiliens Minister für Bergbau und Energie, Edison Lobão: „50 Atomkraftwerke bis zum Jahre 2050 können wir in Brasilien bauen“, hatte der Minister noch im Jahre 2008 bekräftigt. Nur so könne Brasiliens wachsende Stromlücke geschlossen werden. Und für etliche in Brasiliens Regierungspartei heißt Entwicklung noch immer Staatsmacht Plus Elektrifizierung. Sei es mittels Staudamm oder Atom: Hauptsache groß und zentral. Und bei der Uranproduktion könne Brasilien laut Lobão angesichts der vermuteten immensen unerschlossenen Reserven bei Eigenversorgung und Export in die Weltliga aufsteigen.

Brasilien plant Großes. Dies auch nach dem GAU im japanischen Fukushima. Unbeirrt und allenfalls auf kritische Nachfrage der Presse werden zusätzliche Sicherheitsüberprüfungen angeordnet – an der grundsätzlichen Fahrtrichtung ändert sich aber nichts: Nichts ist demnach geiler als noch mehr Meiler. Die sollen dann als Smart-Variante auch die Atom-U-Boote antreiben, die das brasilianische Öl vor der Küste sichern sollen. Nie war Atomkraft rein zivil gedacht, die militärische Komponente war und ist immer präsent.

Auch Argentinien will mehr Atomkraft nutzen als bislang. Die Regierung Kirchner plant mit Atucha 3 das vierte AKW im Land. In Mexiko ist keine Debatte um Ausstieg erkennbar. Nur Venezuela und Peru erteilten der Atomenergie nun eine klare Absage. Chiles Präsident Piñera hingegen strahlt – und startet mit der kürzlich unterzeichneten Atomkooperation mit den USA in Sachen Brennstäben gerade erst richtig durch. Da gibt es für die Westinghouses und General Eletrics, die Mitsubishis, Rosatoms, Arevas und Siemens‘ dieser Welt eine Menge zu verdienen.

Da will natürlich auch die deutsche Bundesregierung nicht zurückstehen. Gegen die Stimmen der Opposition hat im März die Regierungsmehrheit im Bundestag einen Antrag auf Stopp der Hermesbürgschaften für Brasiliens drittes Atomkraftwerk, Angra 3, abgelehnt. So erhält Angra 3 – und damit Areva NP, an der Siemens noch einen Anteil hält – Exportkreditgarantien durch deutsche Steuergelder in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Ein stolzer Kreditrettungsschirm für das AKW im Risikogebiet, das obendrein seit Inbetriebnahme vor zehn Jahren nicht einmal die Betriebsgenehmigung seitens der Behörden vorzuweisen hat.

Der Ausbau der Atomenergie wird auch in Lateinamerika fortgesetzt werden. Trotz aller langsam aufkommender Debatten und erstarkender Proteste von Umweltgruppen, besorgter Menschen und Anzeichen kritischer öffentlicher Meinung. Fukushima mahnt – doch stecken zu viele Interessen hinter dem letztlich auch immer militärisch-industriellen Komplex der Atomkraft. In Lateinamerika, in Europa oder anderswo.
// Die LN-Redaktion

EDITORIAL DES HONDURAS-DOSSIERS:
Frauen, LehrerInnen, Queers, Kleinbauern und -bäuerinnen, Indigene und ArbeiterInnen wehrten sich vereinzelt gegen eine neoliberale, repressive Übermacht, die ihre Ordnung in Honduras durchsetzte. Unter Präsident Zelaya begannen diese Gruppen erstmals, über gemeinsame Forderungen nach einem anderen Honduras nachzudenken. In der Widerstandsbewegung gegen den Putsch gelangte die Bewegung zu einer gesellschaftlichen Bedeutung, der die PutschistInnen nur noch mit Gewalt Einhalt gebieten konnten. Heute sind sie sichtbar. Ihr Kampf forderte zahllose Opfer, und die Unterdrückung gegen die Bewegung dauert unvermindert an. Den Aufbruch sichtbar zu machen, haben auch wir uns zur Aufgabe gemacht. Eine zehnköpfige Delegation bereiste im Dezember 2010 Honduras, um diese Bewegung in ihrer Vielfalt kennen zu lernen. Wir sind nicht unbeteiligt. Die Ereignisse in Honduras geschehen in einer Konstellation internationaler Interessen. Dass die Regierungen der EU ein moralisch und politisch bankrottes Regime gegen einen enormen gesellschaftlichen Aufbruch verteidigt, löst ein Unbehagen aus, das über die Grenzen von Honduras hinausgeht. Sichtbares Ergebnis davon ist dieses Heft, das wir als Einladung verstehen.
Die Lateinamerika Nachrichten und die Honduras-Delegation 2010 freuen sich, dieses gemeinsam präsentieren zu können. Ebenfalls für die Verbreitung sorgen die Wiener Zeitschrift Lateinamerika Anders, das Münchner Info-Blatt des Ökumenischen Büros, und, so hoffen wir, Sie und ihr.
// Honduras-Delegation 2010 & LN-Redaktion

Personalisiertes Politikverständnis

Die Beschäftigung mit sozialen Bewegungen in Lateinamerika ist seit einigen Jahren wieder en vogue. Gewissermaßen als Gegentendenz dazu konstatiert der Rostocker Politikwissenschaftler Nikolaus Werz nun ein „neues Interesse in Publizistik und Wissenschaft, nämlich Geschichte und Politik wieder stärker über den Lebenslauf des Einzelnen zu erschließen“.
Der von Werz herausgegebene Sammelband behandelt exemplarisch bedeutende PolitikerInnen von der Unabhängigkeit bis in die Gegenwart, mit Schwerpunkt im 20. Jahrhundert. Werz untergliedert dort zwischen Populisten, Revolutionären und Sozialisten, Reformern sowie Miltärdiktatoren, während er die Zeit ab Ende der 1980er Jahre in den Bereich „Gegenwart“ einordnet. Den so genannten Reformern, die Werz mit einem Hang dazu, deutsches Botschaftspersonal zu zitieren, größtenteils selbst porträtiert, werden dabei überwiegend positive politische Lebensleistungen attestiert. Zwar gelten deren Politiken heute in den meisten lateinamerikanischen Ländern als gescheitert, doch hätten „Sozial- oder christdemokratische Reformer, wie sie in Chile, Uruguay, Brasilien und mit Abstrichen auch in Peru regieren“ auf praktische Fragen „eher eine Antwort zu bieten als selbsternannte Revolutionäre und vollmundige Populisten“. Wenig überzeugend ist dabei, dass eine kritische Diskussion des wissenschaftlich unscharf umrissenen und meist in denunziatorischer Absicht gebrauchten Begriffs „Populismus“ ausbleibt und dieser an keiner Stelle des Buches definiert wird. Zwar bemerkt Werz in der Einleitung treffend, dass „der Begriff in Amerika nicht per se negativ besetzt“ ist. In dem Sammelband wird Populismus jedoch durchweg abwertend mit politischer Unseriösität gleichgesetzt.
Leider hängt auch die Bewertung der einzelnen PolitikerInnen in manchen Fällen zu stark von der politischen Meinung des Autors oder der Autorin ab. So liefert der in Caracas lehrende Friedrich Welsch mit seinem Porträt von Venezuelas Präsident Chávez ein Beispiel für die bis in die Wissenschaft hineinreichende Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft. Mit einer kruden Mischung aus Fakten, Ungenauigkeiten und teilweise eigenwillig interpretierten Zitaten und Zahlen entwirft er das Bild eines „Führers“ und seiner zu Autoritarismus neigenden Anhängerschaft. Letztlich sei Chávez „eine narzisstische Persönlichkeit“, bei der „mehrere Kriterien des DSM-IV-Standards dieser psychopathologischen Störung als gegeben betrachtet werden können“. Klassische Populisten wie der Argentinier Perón oder der Brasilianer Getúlio Vargas kommen in dem Buch weitaus positiver weg, obwohl sie trotz Massenmobilisierungen demokratisch weniger legitimiert waren. Dass es auch anders geht, zeigt Michael Zeuske mit seiner ausgewogenen Darstellung des kubanischen Alt-Revolutionärs Fidel Castro, die sowohl Errungenschaften als auch Versäumnisse und Fehlleistungen kritisch miteinbezieht.
Trotz der angesprochenen Mängel bietet der Sammelband einen interessanten Überblick und in den meisten Beiträgen solide Einführungen in das Leben ausgewählter PolitikerInnen. Bei dem Versuch, Geschichte und Politik über den Lebenslauf von Einzelnen zu erschließen, bleiben die Darstellungen notgedrungen selektiv und lückenhaft. Ergänzend zu anderen Perspektiven kann ein auf Einzelpersonen angelegter Sammelband aber durchaus zum Verständnis politischer Prozesse beitragen.

Nikolaus Werz (Hrsg.) // Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika // Vervuert Verlag // Frankfurt 2010 // 616 Seiten // 48 Euro

Die Ölpreis-Rallye

Juan Carlos Salvatierra muss in Zukunft mehr zahlen, um seinen Sport zu trainieren. Aber das war ihm in den letzten Wochen vermutlich egal. In La Paz fieberten alle mit ihm, dem erfolgreichsten bolivianischen Rallye-Dakar Teilnehmer aller Zeiten. Auf der Schlussetappe der Rallye, die im Januar in Argentinien und Chile stattfand, belegte er mit seinem Motorrad den 15. Platz. Der Benzinpreis wird ihn dabei kaum beschäftigt haben.
Anders sieht es für die Mehrzahl der BolivianerInnen aus. Pünktlich zu Weihnachten veröffentlichte Präsident Evo Morales das Dekret 748, das den Rohölpreis des Landes an den Weltmarkt anpasste. Dadurch steigerte sich der Preis der verschiedenen Treibstoffe – abhängig von Region und Art des Sprits – um 78 bis hin zu 99 Prozent. Dieser gasolinazo, wie die unbeliebte Maßnahme bald getauft wurde, kam völlig überraschend und provozierte umgehend Proteste. In El Alto errichteten erboste BürgerInnen Blockaden. Eine Mautstelle der Regierung wurde geplündert und in Brand gesteckt. Auch in anderen Städten kam es zu teilweise gewalttätigen Protesten. Diese gingen vor allem von den Bevölkerungsteilen aus, die eigentlich die Regierung Morales unterstützen. Die Proteste waren so stark, dass die Ölpreisanpassung letztlich politisch nicht durchführbar war. Kurz vor dem Jahreswechsel nahm der Präsident das Dekret zurück.
In den darauf folgenden Tagen beschuldigten Mitglieder der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) oppositionelle Gruppen, die Unruhen provoziert zu haben. Insbesondere die linke Partei Bewegung ohne Angst (MSM), der auch der amtierende Bürgermeister von La Paz angehört, war Zielscheibe der MAS-Beschuldigungen. Die MSM hatte die MAS bei den Präsidentschaftswahlen 2005 und beim Berufungsreferendum 2008 unterstützt, doch inzwischen befindet sie sich in Opposition. In einer Zeitungsanzeige wies die MSM die Anschuldigung der MAS, die Ausschreitungen koordiniert zu haben, scharf zurück. Doch nicht nur Parteien kritisierten das Dekret. In einem offenen Brief an Evo Morales und Vizepräsident Álvaro García Linera machten Vertreter von sozialen Bewegungen, Oscar Olivera Foronda Marcelo Rojas, Abraham Grandydier Aniceto Hinojosa Vasquez und Carlos Oropeza aus Cochabamba, ihrem Ärger Luft: „Seit Ihr an der Regierung seid, haben sich Eure Defekte, aber nicht Eure Tugenden um den Faktor 10 verstärkt. Was ist denn aus Deinem „gehorchend regieren“ geworden? Hat das Volk Dir den Auftrag gegeben, diesen gasolinazo durchzuführen?“Der nun entfachte Streit um die Ölpreisanpassung offenbart Risse zwischen der Regierung und zumindest Teilen ihrer Basis.
Derzeit schaltet die Regierung Werbung in den Radios, in der sie wieder bekräftigt, dass sie angetreten sei, um „gehorchend zu regieren“. O-Töne von Evo Morales‘ Rücknahme des Dekret 748 am 31. Dezember sollen nun belegen, dass der Präsident sein Versprechen erfüllt und auf die Bevölkerung hört. Die Frage kommt auf, warum er nicht schon vorher auf soziale Bewegungen gehört und mit ihnen das Dekret diskutiert hat, anstatt es so plötzlich einzuführen.
Dass diese intransparente Regierungsart zu massiven Protesten führen würde, hätte man sich vorher denken können. Derzeit versuchen Präsident und Vize in öffentlichen Reden, diese mangelnde Kommunikation nachzuholen. Vor allem den Schmuggel des subventionierten bolivianischen Benzins und Diesels nennen sie als Grund für die Anpassung des Ölpreises – von einer Steigerung des Preises, wie es das Wort gasolinazo impliziert, reden sie nicht. Wann die Anpassung des Rohölpreises an den Weltmarkt kommt, ist noch unklar, aber die Regierung stellt immer wieder klar, dass sie kommen wird. Und wahrscheinlich wird sie diesmal nicht auf einen Schlag, sondern eher schrittweise verlaufen, wie der Minister für fossile Brennstoffe, Guillerme Torres, der Zeitung El Debate mitteilte. Der Vorteil einer einmaligen Anpassung liege darin, dass es zu einer geringeren Belastung der Währung und damit zu weniger Inflation führte, erklärte der Ökonom Marcello Zabaluga derselben Zeitung. Derweil sind erste Auswirkungen der Inflation bereits zu spüren. Aufgrund steigender Lebensmittelpreise, insbesondere des Zuckers, wurden Ende Januar in Llallagua im Departamento Potosí mehrere Läden geplündert.
Maßnahmen bezüglich des Ölpreises sind laut Regierung trotzdem notwendig. Der Schmuggel von subventionierten Treibstoffen aus Bolivien stellt in der Tat ein massives Problem dar. In Bolivien kostet das Barrel Rohöl dank staatlicher Hilfen derzeit umgerechnet 27 US-Dollar, ein scharfer Kontrast zu den 98 US-Dollar auf dem Weltmarkt. Auf dem Weg zur Grenze nach Peru gibt es Tankstellen in einer deutlich höheren Dichte als anderswo im Land. Insbesondere aber der Schmuggel von Diesel nach Brasilien, wo der Treibstoff in der Agrarindustrie verbraucht wird, bedeutet einen großen Verlust für die bolivianische Volkswirtschaft. Nach Aussagen der Regierung verlor Boliven 380 Millionen Dollar auf diesem Weg, ein enormer Betrag für das finanzschwache Land. KritikerInnen des Dekrets verlangen aber, dass man zur Schonung der Bevölkerung besser den Schmuggel unterbinden solle, als die Subventionen zu kürzen. In der Tat wird die Erhöhung der Transportkosten vor allem die Ärmsten treffen.
Aber auch die bolivianische Agrarindustrie profitiert von den Subventionen. So kommt die Kritik nicht nur von links, sondern auch von der Autonomiebewegung im bolivianischen Tiefland. Das Bürgerkomitee von Santa Cruz de la Sierra, das vor allem von den Agrarindustriellen dominiert wird, konnte mehrere tausend Menschen zu Demonstrationen mobilisieren. Die Subvention des Erdöls ist ein Thema, dass Bevölkerung und Agrareliten leicht vereint. Für die Bevölkerung wirkt sich ein erhöhter Benzinpreis natürlich negativ auf die Lebenssituation aus. Für die Agrarindustrie wird es teurer, die Maschinen zu betreiben, die die riesigen Sojafelder beackern, obwohl genau für ihre Förderung die Subventionen in den 1970er Jahren eingeführt wurden.
Dieses Privileg lässt sie sich natürlich nicht gerne wegnehmen. Und zudem lässt sich die Autonomiebewegung keine Möglichkeit nehmen, die Regierung zu attackieren, auch wenn es um die Rücknahme einer Maßnahme geht, die eigentlich der eigenen wirtschaftsliberalen Grundhaltung widerspricht. Aber wenn es um die eigenen Vorteile geht, kritisiert man weniger schnell einen drohenden „Sozialismus“. Noch können die Agrarindustriellen subventioniertes Diesel auf ihren Feldern verbrauchen. Aber nicht mehr lange, die Anpassung an den Weltmarktpreis wird kommen. Doch auch ein höherer Spritpreis wird Juan Carlos Salvatierra kaum davon abhalten, weiter mit seinem Motorrad durch die bolivianische Landschaft zu heizen, um für die nächste Rallye zu trainieren.

WACHSTUMSRAUSCH IM WAHLJAHR

Was haben Boxweltmeister im Schwergewicht mit peruanischen Präsidenten gemein? Nicht viel. Denn ein inzwischen zwar gebrochenes, aber lange Zeit gültiges Gesetz im Boxsport lautete: „They never come back.“ Wer seinen Titel als Weltmeister aller Klassen einmal verlor, der konnte ihn nie wieder zurückerobern. Für das peruanische Präsidentenamt gilt diese Regel mitnichten. Selbst Amtsinhaber, die sich im Stile eines angezählten Faustkämpfers mit viel Glück an das Ende ihres Mandats retteten, schaffen ohne Probleme ein Comeback.
Zum Beispiel Alan García. Auf die weitere politische Karriere des gegenwärtigen Präsidenten hätte am Ende seiner ersten Amtsperiode im Jahre 1990 kein Mensch mehr einen Cent gesetzt. García war damals in schwere Menschenrechtsverbrechen und zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt. Seinem Nachfolger hatte er ein wahres Inferno hinterlassen: Über 7.000 Prozent Inflation und eine kriegerische Auseinandersetzung mit der maoistischen Guerilla Leuchtender Pfad, die pro Jahr Tausende PeruanerInnen das Leben kostete. Doch García kam zurück. 16 Jahre nach seinem schmählichen Abtritt gewann er 2006 zum zweiten Mal die Wahlen.
In diesem Jahr läuft Garcías Amtszeit ab, im April finden Wahlen statt. García darf sich nicht zur Wiederwahl stellen. Dafür kandidiert sein Vorgänger Alejandro Toledo. Wer sich an dessen Präsidentschaft erinnert, denkt an Massendemonstrationen, Streiks, Straßenblockaden und nicht eingehaltene Wahlversprechen. Die Zustimmung zu Toledos Politik war während seines Mandats auf acht Prozent gesunken – damals ein Negativrekord im lateinamerikanischen Vergleich. Toledos Partei Perú Posible errang bei den letzten Wahlen zum Kongress ganze zwei Sitze. Nach einem politischen Comeback sah das nicht aus. Doch seit Anfang Januar liegt der Ex-Präsident in allen Wahlumfragen überraschend an der Spitze. Mit neuen Wahlversprechen.
Und dann ist da noch ein Ex-Präsident. Ein Wahlbetrüger, der sich während seiner Amtszeit mit Erpressung und Bestechung die Medien, die Justiz und das Parlament gefügig machte. Der Chef und Auftraggeber einer Todesschwadron. Ein Mann, der wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen, Amtsanmaßung und Korruption zu mehr als 30 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Dennoch wäre der Ex-Diktator Alberto Fujimori vermutlich der schärfste Konkurrent Toledos, wenn er bei den Wahlen kandidieren dürfte. Weil er seinen Alltag aber hinter Gefängnismauern verbringt, kandidiert an seiner statt die 35-jährige Keiko Fujimori, seine Tochter. Und die liegt in den Meinungsumfragen gleich hinter Toledo, Kopf an Kopf mit Limas Ex-Bürgermeister Luís Castañeda.
Allen WählerInnen ist bekannt: wer für Keiko Fujimori stimmt, wählt ihren Vater Alberto, den Präsidenten der Jahre 1990 bis 2000. Keiko Fujimoris Parlamentsliste ist gespickt mit ehemaligen MitstreiterInnen und MinisterInnen ihres Vaters, die in dessen Straftaten verstrickt waren oder diese gedeckt haben. Wer sich nicht unter Vater Alberto bewährt hat und auf die Liste will, muss tief in die Tasche greifen. Laut einem abtrünnigen Parteimitglied kostet ein vorderer Listenplatz für die Parlamentswahl etwa 200.000 US-Dollar. Keiko Fujimori ließ nie einen Zweifel daran aufkommen, dass sie als Präsidentin ihren Vater aus dem Gefängnis befreien wird.
Auch die anderen Präsidentschaftskandidaten sind keine Unbekannten. Luís Castañeda, bis Oktober 2010 Bürgermeister Limas, galt noch Ende letzten Jahres als klarer Favorit. Doch ihm wird vorgeworfen, bereits als Bürgermeister mit öffentlichen Geldern die Werbetrommel für den Wahlkampf gerührt zu haben. Dabei ist Castañeda ohnehin durch Korruptionsskandale in der Hauptstadt angeschlagen. In der Presse wird er el mudo, „der Stumme“, genannt, weil er zu den Vorwürfen gegen ihn beharrlich schweigt. Hinter Castañeda und Fujimori hält Ollanta Humala den vierten Platz in den Umfragen – allerdings schon mit deutlichem Abstand. Humala hat vor fünf Jahren die Stichwahl gegen Alan García verloren.
Wer auch immer sein Nachfolger wird: Alan García hat in diesem Jahr, wie er selbst sagt, keine „Zeitbombe“ hinterlassen. Die peruanische Wirtschaft wuchs während der Präsidentschaft trotz zwischenzeitlicher Krise durchschnittlich um 7,2 Prozent pro Jahr, die Investitionen aus dem Ausland stiegen seit 1997 um 250 Prozent. Der peruanische Sol ist härter als der US-Dollar, der Konsum zieht an, die Bauwirtschaft boomt und der Anteil derjenigen, die in Armut oder in absoluter Armut leben, geht zurück. Geschafft hat García das mit einer Wirtschaftspolitik, die der Soziologe Julio Cotler nicht marktfreundlich, sondern unternehmerfreundlich nennt. Eben mit der gleichen Politik, die auch Garcías Vorgänger Fujimori und Toledo ausgezeichnet hat.
Angesichts der Wirtschaftszahlen kleckert García nicht. Neben dem Abbau von Mineralien, Gas oder Öl und der Produktion von Biodiesel in landwirtschaftlichen Großbetrieben fördert der Präsident vor allem so genannte Mega-Projekte: Megakraftwerke, Megahäfen für große Containerschiffe und eine transozeanische Megastraße quer durch das Amazonasgebiet bis an die brasilianische Grenze. Alles ist Mega bei García, und das Wirtschaftswachstum ist heilig. In Majaz, Tía María oder La Zanja wurden Bergbaukonzessionen gegen den Widerstand der Bevölkerung vergeben. Auf dem Gebiet der indigenen Gemeinde Awajún soll ohne Einwilligung der Eigentümer geschürft werden, ein geplantes Stauseeprojekt in Pakitzapango wird vermutlich 14 indigene Ashaninka-Gemeinden überfluten. Umweltschäden werden als begleitendes Übel hingenommen: Als im Juni 2010 aus einem leck geschlagenen Schiff der Firma Pluspetrol 300 Barrel Rohöl in den Rio Marañon flossen und sich 30.000 Tonnen giftiger Abfälle des Unternehmens Caudalosa Chica in den Rio Opamayo in Huancavélica ergossen, überließ die Regierung Tausende von Betroffenen weitgehend ihrem Schicksal.
Mit dem Bruttoinlandsprodukt wuchsen in den letzten Jahren auch die Unterschiede zwischen Arm und Reich, obwohl das Wirtschaftsministerium das Gegenteil behauptet. Die Statistiken des Ministeriums enthalten aber nicht die Gewinne transnationaler Unternehmen. Diese Gewinne stiegen von durchschnittlich 239 Millionen US-Dollar pro Jahr in der Periode zwischen 1998 und 2002 auf etwa acht Milliarden US-Dollar im Jahr 2010. Damit verdienten diese Unternehmen im letzten Jahr in etwa so viel wie die ärmsten zwölf Millionen EinwohnerInnen des Landes zusammen. Außerdem stagnieren seit fast 20 Jahren die Ausgaben für Bildung bei drei Prozent und die für Gesundheit bei zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Damit bleibt Peru selbst im lateinamerikanischen Vergleich auf den hinteren Positionen. In einer weltweiten Pisa-Studie belegt Peru unter 65 Ländern nur den 62. Rang.
Die Folge von Garcías Politik: Allein im Jahr 2010 zählte die Menschenrechtsorganisation APRODEH mehr als 250 soziale Konflikte im Land. Doch García unterdrückt den Widerstand gegen seinen Wirtschaftskurs brutal. Während seiner Amtszeit wurden laut APRODEH etwa 70 DemonstrantInnen von der Polizei getötet und mehr als tausend angeklagt. Überdies hat García mit einem Gesetzesdekret dafür gesorgt, dass PolizistInnen und SoldatInnen nicht mehr strafrechtlich belangt werden können, wenn sie im Rahmen ihres Einsatzes Menschen töten. StraßenblockiererInnen und gewalttätige DemonstrantInnen können dagegen bis zu 25 Jahre ins Gefängnis geschickt werden.
Bei der Wahl stellt die Regierungspartei APRA keine Kandidatin. Die ehemalige Wirtschaftsministerin Mercedes Aráoz zog Mitte Januar ihre Kandidatur zurück, weil Jorge del Castillo, langjähriger Intimus und Anwalt des Präsidenten, von der Partei als Nummer eins auf die Liste der Parlamentskandidaten gesetzt wurde. Del Castillo ist in einen Abhör- und Korruptionsskandal verstrickt, der ihn schon seinen Posten als Ministerpräsident kostete. Alan García wird den Rückzug seiner Parteigenossin Aráoz eher verschmerzen als die diversen Korruptionsskandale in seiner Amtszeit, derentwegen er schon häufiger MitarbeiterInnen opfern musste. Im Übrigen braucht sich García um sein politisches Erbe nicht zu sorgen: Alejandro Toledo, Luís Castañeda oder Keiko Fujimori setzen allesamt auf die Fortsetzung des aktuellen Wirtschaftskurses.
So prahlt Castañeda mit mindestens acht Prozent Wachstum pro Jahr bis 2016, Toledo verspricht sechs Prozent. Wirtschaftskrisen sind während der Wahlperiode nicht vorgesehen. Fast alle Kandidaten sprechen sich für strukturelle Veränderungen aus. „Ich werde mit meiner rechten Hand die Wirtschaft lenken und mit meiner linken die Umverteilung!“ kündigt etwa Toledo an. Anders als während seiner ersten Amtszeit werde er den Bildungsetat verdoppeln und den Gesundheitsetat um mindestens 50 Prozent hochfahren. Castañeda und Keiko Fujimori versprechen nicht ganz so hohe Investitionen. Doch die Kandidaten verraten nicht detailliert, woher sie so viel Geld für Umverteilung, Bildung und Gesundheit nehmen wollen. Die höheren Steuereinnahmen aufgrund des Wachstums reichen dafür nicht aus. Alejandro Toledo hatte bereits fünf Jahre lang die Chance, seine jetzigen Ideen umzusetzen. Er ließ diese Chance verstreichen.
Allein Ollanta Humala plant eine höhere Besteuerung der transnationalen Konzerne, deren Gewinne in den letzten Jahren wegen der hohen Preise für Mineralien Rekordwerte erreichten. Nach Berechnungen des Ökonomen Pedro Francke könnte allein eine Steuer auf besonders hohe Gewinnmargen pro Jahr mehr als eine Milliarde US-Dollar zusätzlich in die Staatskassen spülen. Doch Toledo, Castañeda und Fujimori trauen sich an dieses Thema nicht heran.
Auf Humalas Liste mit dem Namen Gana Perú, „Peru gewinnt“, kandidieren auch Politiker aus der Sozialistischen Partei um den langjährigen Kongressabgeordneten Javier Díez Canseco. Anderen linken Gruppierungen ist der ehemalige Oberst Humala zu autoritär. Möglicherweise haben sie auch nicht vergessen, dass Humala früher einmal gegen Schwule hetzte und die Überlegenheit einer sogenannten „kupferfarbenen Rasse“, einer raza cobriza, propagierte. Außerdem steht Humala im Verdacht, während des Bürgerkriegs mit dem Leuchtenden Pfad in Menschenrechtsverbrechen der Armee verwickelt gewesen zu sein. Wie dem auch sei: Ollanta Humala bleibt eine Wundertüte, die sich erst im Falle eines Wahlsiegs öffnet.
Ein weiteres Linksbündnis ist nicht zustande gekommen. Marco Arana, Vorsitzender der Bewegung Tierra y Libertad („Land und Freiheit“) aus Cajamarca, hat seine eigene Kandidatur zurückgezogen, Alberto Pizango, Chef der Indigenen-Bewegung AIDESEP, ebenfalls. Beide wären völlig chancenlos gewesen. Die Neuauflage eines Bündnisses wie der vereinten Linken, Izquierda Unida, das in den 80er Jahren durchaus erfolgreich bei Wahlen war, ist kläglich gescheitert und auch künftig nicht in Sicht.
Egal ob Toledo, Castañeda oder Fujimori die Wahlen gewinnt. Die einseitig kapitalfreundliche Politik Alan Garcías wird vermutlich bis 2016 fortgesetzt. Es sei denn, Alejandro Toledo, der Mann an der Spitze der Umfragen, löst dieses Mal seine Wahlversprechen ein. Für 2016 hat bereits ein weiterer bekannter Politiker seine Kandidatur angemeldet: Alan García, der unbedingt zum dritten Mal peruanischer Präsident werden möchte. Das hat seit fast 150 Jahren niemand mehr geschafft. Wenn García nicht in der Zwischenzeit wegen Korruption angeklagt wird, ist ihm das durchaus zuzutrauen. Immerhin hat der noch amtierende Präsident vorgesorgt. Um Rechtsstreitereien mit Gerichten zu vermeiden, versuchte er in den vergangenen Jahren weitgehend erfolgreich, wichtige Posten in der Justiz mit Gefolgsleuten zu besetzen. So funktioniert Politik in Peru.

Patronen statt Bohnen

Neun Monate sind seit der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen der illegitimen honduranischen Regierung und der größten BäuerInnenorganisation des Bajo Aguán, der Bäuerlichen Einheitsbewegung von Aguán (MUCA), vergangen. Der Landkonflikt in diesem Tal im Norden von Honduras hat jedoch entgegen der Erwartungen in das Abkommen jüngst ein neues Eskalationsniveau erreicht. Die idyllischen Ölpalmenhaine können dabei nicht über das Ausmaß an Gewalt hinwegtäuschen: „Letzte Woche wurden drei unserer Kollegen auf dem Weg in die Plantagen einfach erschossen“, klagt Livia Simeon vom Agrarkollektiv San Isidro.
Ein Bauer zeigt uns seine neun Schusswunden am Oberkörper, eine makabere Allegorie auf neun Monate Gewalt und Repression. In der Kooperative La Confianza erzählt Linda Castellana vom „Besuch“ der Militärs in ihrer Gemeinde: „Sie drangen in unsere Häuser ein und stahlen sämtliche Dokumente. Familienzensus, Besitzurkunden, einfach alles. Dabei bedrohten und schlugen sie uns, sagten, wir wären Hunde.“ Unter den Militärs waren auch Angehörige des privaten Sicherheitsdienstes von Miguél Facussé. Facussé ist der größte Großgrundbesitzer der Region, und gleichzeitig einer der einflussreichsten Drahtzieher des zivil-militärischen Putsches vom 28. Juni 2009.
Seine ca. 400 paramilitärisch organisierten und schwer bewaffneten Söldner agieren im Bajo Aguán wie die berüchtigten Todesschwadronen der Achtziger. Im November letzten Jahres griffen sie die Gemeinde El Tumbador an, nachdem Facussé Besitzansprüche geltend gemacht und die Räumung angeordnet hatte. Im Kugelhagel, den sie auf die zwischen die Ölpalmen flüchtenden DorfbewohnerInnen losließen, starben fünf Menschen, zwei weitere Bauern wurden nach ihrer Verschleppung Tage später mit Genickschüssen im Wald gefunden. Kurz darauf, am 21. November 2010, wurden Bäuerinnen und Bauern der Kommune Nueva Esperanza beschossen. Die Waffen dieses „Sicherheitsdienstes“: großkalibrige AK-47 Maschinengewehre, Kriegsmaterial. Längst spricht man in Honduras von der „Kolumbianisierung“ des Landkonflikts.
Schon die Verhandlungen zum Abkommen vom April letzten Jahres zwischen der Regierung von Porfirio Lobo Sosa und der BäuerInnenorganisation MUCA fanden unter militarisierten Verhältnissen statt (siehe LN 431). Mehrere Bataillone wurden in die Region mobilisiert und errichteten dort Straßensperren, führten Verhaftungen gegen MUCA-AktivistInnen durch. MUCA-Verhandler Rudy Hernández damals: „Es war ein Verhandlungsprozess, der sich in einem Szenario aus Gefahr, Drohungen und Repression entwickelte.“ Verhandelt wurde über Land, das gleichermaßen von den Bauern und den Großgrundbesitzern beansprucht wird. Das 1992 beschlossene „Modernisierungsgesetz“ und Strukturanpassungsprogramm für den Agrarsektor öffnete dem Verkauf von kommunalem und nationalem Land Tür und Tor. Seitdem hatten sich die Großgrundbesitzer ausgedehnte Landstriche angeeignet. Drohungen, Druck und Schmiergelder taten ihr übriges, um den Landkonzentrationsprozess zu beschleunigen. Mittlerweile verfügt laut der Nichtregiewungsorganisation (NRO) Oxfam in Honduras ein Prozent der Bevölkerung über 33 Prozent des fruchtbaren Landes.
MUCA fordert heute die Grundstücke zurück, die in ihren Augen illegal und unter Verletzung des Landgesetzes von 1972 verkauft wurden. Nachdem die Präsidentschaft von Manuel Zelaya die Position der Bäuerinnen und Bauern stärkte und sogar Verträge zur Landübergabe aushandelte, bedeutete der Putsch im Juni 2009 die Rückkehr zur repressiven Logik der Oligarchen. MUCA besetzte daher einige der beanspruchten Fincas, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Doch die Gewalt zwang sie, ein Abkommen mit der Regierung Lobo zu unterzeichnen, dessen Inhalt die Besitztitel der Großgrundbesitzer de facto anerkannte.
Laut Abkommen kauft die Regierung insgesamt 11.000 Hektar des Landes, das den Bäuerinnen und Bauern zur Nutzung übergeben werden soll. Den dreifach überhöhten Kaufpreis (laut Oberstem Gerichtshof) müssen die BäuerInnen allerdings in Form eines Kredites zu niedrigen Zinsen selbst tragen. „Wir verlangten von der Regierung, dass sie die abgeschlossenen Verträge mit Zelaya anerkennt. Stattdessen stecken wir nun in diesem Abkommen, das uns von heute auf morgen einen gewaltigen Schuldenberg aufbürdet“, meinte Hernández unmittelbar nach der Unterzeichnung ernüchtert.
Wie im Abkommen mit der Regierung Lobo festgehalten, sollen den Bäuerinnen und Bauern innerhalb eines Jahres 11.000 Hektar Land zugänglich gemacht werden. Dafür wird von ihnen erwartet, die übrigen besetzten Fincas freiwillig zu räumen. Vorgesehen war die sofortige Übergabe von 3.000 Hektar mit Ölpalmen bepflanzten Land. Die Übergabe weiterer 3.000 Hektar sollten nach drei Monaten und noch einmal 5.000 Hektar nach einem Jahr erfolgen. Doch von den ersten 3.000 übergebenen Hektar waren entgegen der Abmachung nur ein Drittel kultiviert. Zudem erkennt Facussé das Abkommen nicht an. Während die Bäuerinnen und Bauern begonnen haben, das Land zu bebauen, tut Facussé alles, um sie von dort wieder zu vertreiben. Der Terror seiner Privatarmee wird dabei von der Polizei im Aguán gedeckt. Uniformen wechseln schnell die Besitzer, nie ist vorhersehbar, ob in einem Polizeiwagen wirklich Polizisten sitzen oder aber vermummte Killer. Pedro Salgado von der Kommune La Confianza fragt: „Wie sollen wir unseren Teil des Abkommens einhalten, wenn die Regierung uns nach Unterzeichnung sofort wieder in den Rücken fällt? Weder die versprochene technische Unterstützung ist angekommen, noch haben wir etwas von den 3.000 weiteren versprochenen Hektar Land gesehen, die nach 90 Tagen hätten übergeben werden sollen“. MUCA forderte am 14. Dezember 2010 die Regierung in einem Kommuniqué auf, ihren Teil der Abmachung zu erfüllen: „Viel Zeit ist verstrichen und immer noch sehen wir keinerlei Fortschritt, der mangelnde Wille der Regierung ist offensichtlich.“
Tatsächlich waren die Mitglieder der MUCA nicht mit allen Punkten von Lobos Vorschlägen einverstanden. Sein Vorhaben war das einer Koinvestition, bei der Bäuerinnen und Bauern auf der einen und Unternehmer auf der anderen Seite jeweils die nötigen Investitionen tragen und eine Verbindung als GeschäftspartnerInnen eingehen. Die BäuerInnen geben ihre Ernte dann zu Fixpreisen an die Unternehmer ab. Diese kontrollieren die Weiterverarbeitung und auch die Distribution. MUCA wehrte diesen Vorschlag vorerst erfolgreich ab. Die durch das Abkommen hergestellte Kreditschuld schwächt jedoch langfristig die Position der Bäuerinnen und Bauern. Heute scheint es nicht unrealistisch, dass sie aufgrund einer finanziell prekären Situation in Zukunft dem Modell der Koinvestition doch noch zustimmen müssen.
Am 21. April 2010, wenige Tage nach dem Abkommen mit MUCA, reiste der honduranische Vizepräsident der De-facto-Regierung, Samuel Reyes, nach Mexiko, um sich dort über laufende Programme der Koinvestition zu informieren. Bei seiner Rückkehr zeigt er sich tief beeindruckt: „Durch das Modell wird den Bauern der Verkauf ihrer Ernte garantiert, und die Unternehmer, die sich der Industrialisierung widmen, verfügen zu diesem Zweck über ausreichend Rohstoffe.“
Gilberto Ríos, Exekutivsekretär von FIAN International in Honduras, einer weltweiten NRO, die sich dem Menschenrecht auf Nahrung verschrieben hat, sieht das anders: „Das System der Koinvestition ruiniert die mexikanischen BäuerInnen, bis sie schlussendlich verkaufen. Die niedrigen Fixpreise schaffen Armut und Not, während die Unternehmer hohe Gewinne mit der Verarbeitung und der Distribution der Agrarprodukte machen.“
Reyes versprach, außerdem noch nach Peru und Kolumbien reisen zu wollen, um sich über den Fortschritt der Ölpalmenpflanzungen in diesen Ländern zu informieren. Auch in Honduras solle das Modell Palmera Africana forciert werden, kündigte Reyes an. Die illegitime honduranische Regierung liegt damit ganz auf einer Linie mit der Weltbank. Sie empfiehlt allen Ländern Zentral- und Lateinamerikas Investitionen in den Export von Palmöl, um von einem weltweit wachsenden Agrospritmarkt profitieren zu können.
„Was in Honduras forciert wird, ist das alte neoliberale Konzept der Produktion für den Export bei gleichzeitigem Import von Nahrungsmitteln aus dem Ausland“, resümiert Ríos. In diese Logik reiht sich auch das im Mai 2010 in Madrid unterzeichnete Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ein. Die EU erschließt sich damit wichtige Segmente des honduranischen Lebensmittelmarktes, etwa durch den zollfreien Handel mit Milch. Die hoch subventionierte Landwirtschaft des Wirtschaftsblockes verdrängt dabei honduranische ProduzentInnen, die mit den Dumpingpreisen der EU-Konzerne nicht mithalten können. Ríos sagt dazu: „Das läuft den Empfehlungen von FIAN diametral entgegen, hätte Honduras doch die Kapazitäten, seine Bevölkerung aus eigener Kraft zu ernähren. Was Honduras bräuchte, wäre eine neue Strategie ländlicher Entwicklung, die die KleinproduzentInnen als wichtiges Potential für die Entwicklung des Landes anerkennt“.
Währenddessen werden auf den Lebensmittelmärkten von Honduras die Bohnen knapp, eines der Grundnahrungsmittel im Land. Die Regierung sah sich Anfang Dezember 2010 genötigt, ein Ausfuhrverbot für Bohnen zu erteilen. Auf der Agrarmesse in Tegucigalpa, der Hauptstadt des Landes, sind Bohnen erstmals nicht handelbar. Die Regierung hat eine Obergrenze für Bohnenpreise für Endverbraucher festgesetzt. Dies macht den Kauf und die Abfüllung aufgrund der hohen Preise, die die ProduzentInnen im Zuge der Verknappung verlangen, nicht rentabel.
An diesem Beispiel lassen sich die fatalen Konsequenzen der Export-Import-Prioritäten der Regierung Lobo ablesen. In einem Land, in dem über 50 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, würde bei freiem Spiel der Marktkräfte ein Gutteil der Bevölkerung verhungern. „Es gibt kein politisches Interesse, in die Nahrungsmittelsouveränität der Bevölkerung zu investieren“, meint Ríos. Mit einer solchen Agrarpolitik lässt sich die Festsetzung von Preisobergrenzen nicht aufrechterhalten. Eine solche Politik muss den Landkonflikt notwendigerweise weiter verschärfen. Der Eskalation, die gegenwärtig beobachtbar ist, liegt eben dieses neoliberale Verständnis der Funktion der honduranischen Landwirtschaft zugrunde. Während der monokulturelle Anbau von Ölpalmen vorangetrieben wird, fehlen die Ackerflächen für Nahrungsmittel. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was das für die Landbevölkerung bedeutet, leben doch laut der UN-Kommission CEPAL 81 Prozent von ihr von weniger als zwei Dollar am Tag, angewiesen auf Subsistenzlandwirtschaft.
Die Regierung von Pepe Lobo verfolgt weiter die Strategie der Repression. Nachdem MUCA-Aktivisten Lobo aufgefordert hatten, zu seinem Teil des Abkommens zu stehen, verlegte dieser kurzerhand mehrere Bataillone in die Region des Bajo Aguán. Als die Bäuerinnen und Bauern mit Straßenblockaden auf die Militarisierung reagierten, verhängte Lobo am 8. Dezember den Ausnahmezustand über das Departamento. Wieder fielen Schüsse während der Räumungen der Blockaden, wie durch ein Wunder wurde niemand getötet.
Nach der Niederschlagung der Proteste wird der Terror gegen den Widerstand und seine ProtagonistInnen fortgesetzt. Am 8. Januar 2011 entführten Angehörige des „Sicherheitsdienstes“ von Facussé Juan Ramón Chinchilla. Chinchilla ist führender Aktivist von MUCA und Jugendreferent der honduranischen Widerstandsbewegung (FNRP). Er wurde 48 Stunden festgehalten und misshandelt, bis ihm die Flucht gelang. In einem Interview, nachdem er seinen Entführern entkommen war, sagte er: „Sie waren sehr gut organisiert, die Operation war offensichtlich minutiös geplant.“
Entführungen, willkürliche Morde, Massaker. Und all das, während Militär und Polizei in der Region massiv präsent sind. Dass dieses Szenario an die Verhältnisse in Kolumbien erinnert, ist kein Zufall.
Der kolumbianische Ex-Präsident Álvaro Uribe hatte am 21. November 2010 Honduras besucht, um seine Solidarität mit der Regierung Lobo auszudrücken und eine strategische Partnerschaft mit dem Land anzukündigen. Dabei lobte er die Politik Lobos in den höchsten Tönen. „Auch wenn einige das Hirngespinst verbreiten, in Honduras gäbe es so etwas wie Instabilität“, so Uribe.
Schon im Oktober 2009 berichtete eine Arbeitsgruppe, eingesetzt von der UN-Menschenrechtskommission unter der Leitung von José Luis Gómez del Prado, über Hinweise auf Operationen von Paramilitärs mit kolumbianischer Herkunft gegen BäuerInnenkollektive im Aguán. Dass die „Kolumbianisierung“ des Landkonfliktes im Bajo Aguán den Widerstand nicht zum Verstummen bringen wird, lässt sich an der Entschlossenheit der AktivistInnen von MUCA ablesen: „Wir werden den Putsch nie akzeptieren, auch wenn sie uns umbringen. Ich werde nie aufhören zu kämpfen. Lieber der Tod als der Verrat“, trotzt Chinchilla dem Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen.
Während im Bajo Aguán unterernährte Menschen zwischen den Palmenhainen in Hütten aus Plastikplanen hausen, lautet das Motto der Regierung: „Patronen statt Bohnen“. Auf dem ehemals ihnen gehörenden Land hacken die BewohnerInnen des Aguán heute für einen Hungerlohn die Früchte der Ölpalmen Facussés von den Bäumen.
Ein Ende der Geschichte des Landkonflikts in Honduras ist noch lange nicht abzusehen. Gilberto Ríos weiß: „Es ist eine Geschichte, die sich wiederholt, Dekade für Dekade. Es ist die Geschichte von Honduras.“

Ich bin nicht unsichtbar

„Es können nicht zwei Sonnen am selben Himmel scheinen.“ Dieser Satz, den Cayetana im Geschichtsunterricht lernt, bleibt der neunjährigen nachhaltig im Gedächtnis. Bolívar soll ihn zu San Martín gesagt haben, als die beiden sich auf ihren Befreiungsfeldzügen durch Südamerika in Peru trafen. Am Himmel von Cayetanas Leben droht plötzlich aber eine zweite Sonne aufzugehen: Ihre Mutter teilt ihr nach der Rückkehr von einem längeren Auslandsaufenthalt mit, dass sie einen kleinen Bruder bekommen wird. Für Cayetana (Fátima Buntinx) bricht eine Welt zusammen. Warum nur, fragt sie sich, brauchen die Mutter und der Stiefvater noch ein zweites Kind?
Die kleine, resolute Heldin in Rosario García-Monteros Erstlingswerk Las malas intenciones („Böse Absichten“) lebt in ihrer eigenen Phantasiewelt. Am liebsten beschäftigt sich Cayetana mit den großen Helden der Vergangenheit und den blutigen Schlachten um die Unabhängigkeit Perus. Sie ist fasziniert von allem was mit Tod, sterbenden Tieren, Krankheit, Vampiren oder Terroristen zu tun hat. Und sie wünscht sich sehnlich, auch eines Tages als glorreiche Heldin zu sterben. Am Tag der Geburt ihres Bruders wird es soweit sein, beschließt sie.
García-Montero siedelt Cayetanas Geschichte im Peru der frühen 1980er Jahre an. Doch wie auch in anderen Filmen der diesjährigen Berlinale, spielt der politische Konflikt des Landes, nur die Hintergrundmusik. Im Vordergrund steht das Ringen Cayetanas um Beachtung in der Erwachsenenwelt. Ihre Mutter (Katerina D‘Onofrio), scheint zwar traurig über die Entfremdung zwischen ihr und ihrer Tochter zu sein, sie bleibt aber seltsam apathisch und unternimmt nicht wirklich etwas, um ihr wieder näher zu kommen. Und dann ist da noch Cayetanas leiblicher Vater, den sie jeden Sonntag sehnsüchtig, aber meist vergeblich erwartet. Der Rest der Familie freut sich derweil auf die Geburt des Neuzuwachses. Niemand, so erscheint es zumindest Cayetana, kann sie wirklich verstehen. Nicht einmal ihre Lieblingscousine Jimena (Kani Hart).
Nach einem durchaus unterhaltsamen und bisweilen komischen Einstieg verliert sich Rosario García-Montero nach einer knappen Stunde leider in ihrem eigenen Spannungsbogen. Die Erzählung wird etwas langatmig und die eingestreuten magisch-realistischen Szenen, in denen Cayetana Bolívar & Co. erscheinen, sind zudem nicht besonders originell. Es ist einer dieser Filme, dem eine halbe Stunde weniger mehr als gut getan hätte.

Las malas intenciones („Böse Absichten“) // Rosario García-Montero // 107 Min. // Peru / Deutschland / Argentinien 2011 // Auf der 61. Berlinale zu sehen bei Generation 14plus

Auf der Suche

Riesige Hochhäuser ragen in die Höhe. Sie sind kaputt, Fenster und Türen fehlen, zum Teil sind ganze Haushälften abgerutscht, Betonpfeiler und Zimmerdecken hängen in bedrohlichen 90-Grad-Winkeln hinunter, Kabel und Rohre ragen hilflos ins Leere. Der Anblick hat etwas Gespenstisches. Die Ruinen wirken seltsam deplaziert in der sonst so idyllischen Küstenlandschaft. Aber sie bieten die perfekte Kulisse für Marité Ugás‘ zweiten Spielfilm El chico que miente („Der Junge, der lügt“), über einen Jungen, der in einer Welt aus Lügen heranwächst und sich das Lügen zu eigen macht, um seinen Weg zu gehen.
Der Junge wohnt mit seinem Vater und noch ein paar anderen in den Ruinen, die übrig sind von der großen Schlammlawine, die 1999 seinen Ort überrollte. Der seltsame Trupp ist nach der Katastrophe nicht in die Notunterkünfte für die Überlebenden umgesiedelt und sucht nun in einer unendlichen Sysiphosarbeit übrig gebliebene Gegenstände aus dem Sand. Manche davon können sie für ihre behelfsmäßigen Wohnungen verwenden, andere, wertvollere, symbolisieren einfach nur vergangene Zeiten. An den Wänden der Ruinen stehen die Namen der Toten geschrieben: Ein riesiger Ort der Erinnerung.
Auch die Mutter des Jungen wurde von der Lawine mitgerissen. Was genau passiert ist, weiß er nicht, denn es spricht niemand mit ihm darüber. Schon gar nicht sein Vater, der in seinem Schmerz zu ertrinken scheint. Er stößt den Jungen immer weiter von sich, um nicht mal durch die Nennung seines Namens an seine Frau erinnert zu werden.
Der Junge wiederum ist nicht von der Hoffnung abzubringen, dass seine Mutter vielleicht überlebt, nur ihr Gedächtnis verloren hat und irgendwo auf ihn wartet. Also bricht er auf und macht sich auf die Suche. Hier setzt der Film ein und begleitet seinen großartigen Hauptdarsteller von einem malerischen Strand der venezolanischen Karibikküste zum nächsten. In jedem Dorf erzählt der Junge eine neue Geschichte, wie er seine Eltern bei der Katastrophe verloren hat. Die ZuschauerInnen erfahren seine Vorgeschichte durch locker eingestreute, in sepiafarbenen Rückblenden erzählten Erinnerungsfetzen.
Marité Ugás hat ein gutes Händchen bewiesen in der Auswahl des jungen Iker Fernández, der den Jungen ohne Namen mimt. Er wurde unter 500 Bewerbern ausgewählt und hat nie vorher als Schauspieler gearbeitet. Die zweite große Hauptrolle spielt das Meer sowie die Landschaft der Karibikküste und seine BewohnerInnen, die von Ugás liebevoll porträtiert werden. Es scheint sich außerdem fortzusetzen, dass die besonderen Perlen der Berlinale im Generationen-Programm zu finden sind. Vielleicht technisch keine radikal neuen Filme, aber oftmals feinfühlig gezeichnete Charakterstudien ihrer HauptdarstellerInnen, die gleichzeitig gekonnt ein Bild der Probleme einer Gesellschaft zeichnen.

El chico que miente („Der Junge, der lügt“) // Marité Ugás // 99 Min. // Venezuela/Peru 2011 // Auf der 61. Berlinale zu sehen bei Generation 14plus

Der imperiale Dreh

Die beteiligten Medienkonzerne gehen es langsam an. Bevor Wikileaks damit begann, die Daten häppchenweise selbst zu veröffentlichen, stellte das Online-Projekt seinen „Medienpartnern“ das gesamte Material zur Verfügung. So blieb die erste Interpretation etwa der US-amerikanischen New York Times, dem britischen Guardian, der spanischen Tageszeitung El País oder dem Wochenmagazin Der Spiegel vorbehalten. Die veröffentlichten in der ersten Woche etwa 1.000 Depeschen, bis zur vollständigen Publikation könnten also weitere 250 Wochen vergehen.
Die Nachrichten geben den diplomatischen Alltag und das Selbstverständnis wieder, das unter Angestellten des Auswärtigen Dienstes der USA herrscht. Von den bisher bekannt gewordenen Depeschen zeugt der größte Teil davon, mit welcher Mühe DiplomatInnen in ihren Einsatzländern potentiell belastende Informationen über PolitikerInnen zusammentragen, die den USA gegenüber kritisch eingestellt sind. Aufgabe von Diplomaten ist es, Informationen zu sammeln, um die außenpolitische Linie ihrer Regierung zu stützen. Das bedeutet auch, dass Sachverhalte, die im Widerspruch zum offiziellen (Selbst-)Bild der US-Außenpolitik stehen, in den Akten kaum zu finden sind. Die Berichte über die von Wikileaks zur Verfügung gestellten Akten dokumentieren also weniger Fakten aus der internationalen Politik als vielmehr den Weltzugang und die Weltsicht der DiplomatInnen im Dienste der „letzten Weltmacht“.
Diese inhaltliche Tendenz der öffentlichen Darstellung wird dadurch bestärkt, dass die veröffentlichenden Medien die Auswahl der Botschaftstelegramme kontrollieren. Der Fokus ihrer Berichterstattung liegt bisher ganz deutlich auf den „Schurkenstaaten“ und Vorgängen, die von der US-Außenpolitik als negativ eingestuft werden. Oftmals finden sich dabei unsichere Informationen, die den DiplomatInnen von GesprächspartnerInnen aus der lokalen Politik zugetragen wurden und vermutlich genau wegen ihrer Fragilität bisher nicht den Weg in die Öffentlichkeit fanden. Durch die oftmals unkritische Wiedergabe durch die so genannten Qualitätsmedien werden sie nun teilweise als Fakten geadelt.
Interessant werden die Berichte in den Fällen, in denen Interessenskonflikte zwischen den Heimatländern der Redaktionen – Deutschland, England, Frankreich und Spanien – und den USA auftreten. Wo die Redakteure die Souveränität ihrer eigenen Länder verletzt sehen, gehen nationale Interessen vor atlantische Verbindlichkeiten und motivieren eine teilweise kritische Auswertung der Botschaftsakten.
Am deutlichsten lässt sich dieser Effekt bisher an der Veröffentlichungspraxis in Spanien nachvollziehen. El País hat bisher Akten zu 40 Themenkomplexen ausgewertet und dazu teilweise die Original-Depeschen veröffentlicht. Bei Themen wie der unpopulären Stationierung spanischer Truppen in Afghanistan und im Irak sowie bei Botschaftsberichten über den rechten Ex-Präsidenten José María Aznar und dessen konservative Volkspartei (PP) dominiert bereits eine deutlich US-kritische Berichterstattung. Offen skandalisierend beschreiben die spanischen JournalistInnen die Einmischung amerikanischer Diplomaten in ein Gerichtsverfahren wegen der Ermordung eines galizischen Kameramanns durch US-Soldaten im Irak. Ebenso skandalisiert El País die Kampagne der USA gegen den Richter Baltasar Garzón und die universelle Gerichtsbarkeit, in deren Zusammenhang unter anderem Verfahren gegen US-Offizielle wegen Guantanamo angestrengt wurden. Selbst die Vertuschung der CIA-Entführungsflüge über Mallorca durch die sozialdemokratische Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero, der El País und ihr Mutterunternehmen, die Prisa-Gruppe, eher nahe steht, deckt die Zeitung anhand der von Wikileaks bereitgestellten Akten auf.
Die Verletzung nationaler Souveränität und die Einmischung in innere Angelegenheiten durch die USA thematisiert El País/Prisa allerdings nicht bei der Berichterstattung über Länder, in denen Spanien und sein größter Medienkonzern gemeinsame Interessen mit den USA verfolgen. Hier spiegeln sich die gemeinsamen Interessen der „westlichen Welt“ deutlich in der Linie der außenpolitischen Berichterstattung. Dies betrifft exemplarisch die Auswahl des Datenmaterials zu Lateinamerika. Da kein anderes der beteiligten Medienunternehmen sich bisher Lateinamerika zugewendet hat – außenpolitisch gilt diese Region innerhalb der EU als Spielwiese der ehemaligen Kolonialmacht –, durchliefen alle diesbezüglichen Berichte den Filter der El País-Redaktion.
Vom gesamten Subkontinent sind etwa 30.000 Meldungen aus den US-Botschaften im Wikileaks-Material enthalten. Journalistisch verwertet wurden davon in der ersten Woche etwa 30 Depeschen, also 0,01 Prozent. Von den engsten Verbündeten Kolumbien, Peru und Costa Rica liegen zusammen zwar mehr als 4.000 Meldungen in den Redaktionen, aber kein Journalist hat diesen Stoff bisher öffentlich aufbereitet. Unter wikileaks.de findet sich bisher aus Lima nur die Kopfzeile eines ansonsten zensierten Berichts über die Vorbereitung des Besuchs des israelischen Außenministers, des ultrarechten Avigdor Lieberman, in dem es laut Header um „regionale Spannungen, Iran, gemeinsame Bedrohungen“ geht. Aus Bogotá liegt ein einziger kurzer Bericht über gefälschte kolumbianische Ausweispapiere vor, die von „Libanesen, aber auch Syrern, Palästinensern, Jordaniern, Venezolanern und Kubanern“ genutzt würden. Angesichts der Tatsache, dass die Regierungen in diesen drei Ländern die wichtigsten Kooperationspartner der US-Außenpolitik in der Region sind und zahlreiche gemeinsame wirtschaftliche, militärische und politische Projekte bestehen, kann die Nicht-Berichterstattung durch El País als Schutz gemeinsamer Interessen interpretiert werden.
Stattdessen beschäftigen sich die ersten Berichte mit den Regierungen, denen die USA und die EU ausdrücklich kritisch gegenüber stehen. Alleine aus Caracas liegen 16 von 2.340 Meldungen vor. Zur Besprechung ausgewählt haben die Journalisten von El País verschiedene Berichte über den Einfluss der Kubaner in Venezuela, Depeschen über Kooperationen mit der iranischen Regierung sowie die Beschwerde eines Vertreters der jüdischen Gemeinde über den angeblich angestiegenen Antisemitismus unter der Chávez-Regierung. Diese journalistische Selektion legt es in schon fast karikaturhafter Art und Weise auf die Bestätigung bekannter Propagandamotive an.
Ein weiterer Bericht über die venezolanische Regierung ist ein lesenswertes Protokoll über ein Gespräch mit der früheren Geliebten von Präsident Hugo Chávez, in dem diese private Einschätzungen über dessen Persönlichkeit mitteilt. An Eigenaktivitäten der US-Botschaft dokumentiert eine Depesche allgemeine Maßnahmen zur Spionageabwehr und eine geplante Image-Kampagne durch die Botschaft in Venezuela, um „Anti-US Einfluss und Aktivitäten“ zu beantworten, wobei die Botschaft die venezolanischen Angriffe auf die US-Politik als „gut fundiert“ einschätzt. Während die inhaltliche Ausrichtung genau umrissen ist – vor allem soll an kulturelle und historische Gemeinsamkeiten angeknüpft werden – sind die venezolanischen Kooperationspartner für die Kampagne nur allgemein mit „Kräfte der Zivilgesellschaft, Medienunternehmen“ angegeben. Auch der letzte Absatz bietet Platz für Spekulationen: „Die Botschaft erbittet vom Verteidigungsministerium Unterstützung bei der Umsetzung dieses strategischen Kommunikationsplans.“
Ähnlich wie der kubanische Einfluss in Venezuela, steht der venezolanische Einfluss auf die Regierung von Evo Morales im Mittelpunkt der Berichterstattung über die Depeschen aus La Paz. In einem Bericht, den El País zitiert, untersucht die US-Botschaft mögliche Spaltungstendenzen im bolivianischen Militär. In mehreren Berichten analysiert die Botschaft das Umfeld des Präsidenten und hebt auch hier die Bedeutung von kubanischen und venezolanischen Beratern hervor. Weitere Berichte auf Wikileaks haben die Drogenpolitik der Morales-Regierung zum Gegenstand. Auch der Konflikt um die US-amerikanische Anti-Drogen-Behörde DEA, der die bolivianische Regierung wegen Spionage-Vorwürfen die Zusammenarbeit aufkündigte, ist ansatzweise dokumentiert. Interessant ist weiterhin ein einzelner Bericht, in dem die Botschaft die bolivianische Medienlandschaft untersucht und sich besorgt darüber äußert, dass die Regierung mit venezolanischer Unterstützung den staatlichen Fernsehsender modernisiert. „Mit venezolanischem Geld hat sich ein technisch stärkeres, populistisches, regierungsnahes Medien-Netzwerk in den wichtigsten Städten Boliviens etabliert, genannt Radio y Television Popular.“
Den härtesten Angriff mithilfe der Depeschenauswahl erlebte bisher die FSLN-Regierung in Nicaragua. Aus einem umfangreichen Bericht des Botschafters vom Mai 2006, der mögliche Argumente für eine Schmutzkampagne gegen die FSLN im Präsidentschaftswahlkampf auflistet, wählte El País die Punkte 30 bis 34, in denen nicaraguanische Presseberichte die Sandinisten in zwei Fällen beschuldigen, Schutzgelder vom Drogenhandel zu kassieren und ihre Wahlkampagne aus Drogengeldern zu finanzieren. Der Botschafter verallgemeinert die ohnehin unbestätigten Berichte zu einer Ortega-Narcotráfico-Story. Einer der Angeschuldigten, der Ex-Kommandant Tomás Borge verwies El País auf den Charakter des Materials: „Das sind Informationen, die Botschafter herausgeben, um Personal zu rekrutieren, das genau diese Art von Informationen sammelt.“ Dieser Bericht sei darauf ausgelegt, die FSLN zu schädigen. Dass dies den JournalistInnen nicht selber aufgefallen sein kann, ist angesichts der Deutlichkeit des Botschaftsberichtes allerdings kaum vorzustellen.
Was die Botschaften der links regierten Staaten angeht, stammt die politisch brisanteste Depesche aus Tegucigalpa. Mithilfe eines Putsches, der vorgab, die verfassungsmäßige Ordnung zu schützen, wurde Honduras im Juni 2009 aus dem fortschrittlichen Staatenverbund gelöst. Einen Monat später schickte Botschafter Hugo Llorens eine Bewertung der Vorgänge an das Außenministerium. Der Botschafter teilte Washington mit, dass es „keinen Zweifel mehr daran (gibt), dass die Amtsübernahme durch Roberto Micheletti illegitim war.“ Hugo Llorens bezeichnete die Vorgänge als einen Putsch und widerlegt die scheindemokratischen Vorwürfe der Putschisten gegen Präsident Manuel Zelaya. Brisant ist diese Einschätzung deshalb, weil das US-Außenministerium genau diese Verurteilung als Putsch vermied und stattdessen im Sommer 2009 auf eine Anerkennung der De-Facto-Regierung drängte – ein skandalöser Widerspruch, der bisher weder El País noch einem anderen der beteiligten Medienunternehmen erwähnenswert schien.
Obwohl die bisherige öffentliche Verwertung der Wikileaks-Akten durch El País eher unvorteilhaft für die Staaten der Bolivarianischen Allianz für die Amerikas (ALBA) ausfällt, wurde das Online-Projekt selber von Bolivien, Ecuador und Venezuela deutlich unterstützt. Wenige Tage nach dem Beginn der Veröffentlichung bot der stellvertretende Außenminister Ecuadors, Kintto Lucas, dem Gründer der Internetplattform, Julian Assange, Zuflucht an. „Wir sind bereit, ihn in Ecuador aufzunehmen, ohne Probleme und ohne jedwede Konditionen.“ In Ecuador habe Assange nicht nur die Möglichkeit, seine Informationen frei über das Internet zu verbreiten, er könne auch andere öffentliche Informationskanäle nutzen. Zwar relativierte Präsident Rafael Correa dies am folgenden Tag und betonte, Ecuador werde sich an internationale Gesetze halten, aber Außenminister Ricardo Patiño schloss eine Aufnahme des Wikileaks-Sprechers weiterhin nicht aus. Ein solcher Schritt müsse zunächst juristisch geprüft werden, sagte Ecuadors Außenminister. Aus Ecuador enthält das Material fast 1.500 Depeschen, von denen bisher keine einzige öffentlich ist.
In Bolivien begann das Außenministerium auf einer offiziellen Webseite alle Depeschen zu spiegeln, die Bolivien betreffen. Die Maßnahme solle dazu beitragen, den Zugang zu Informationen zu demokratisieren. Auf http://wikileaks.vicepresidencia.gob.bo sind diese Nachrichten teilweise auf Spanisch übersetzt.
Venezuelas Präsident Hugo Chávez nutzte die Veröffentlichung, um den Rücktritt von US-Außenministerin Hillary Clinton zu fordern. „Das Imperium ist nackt“, stellte Chávez fest und kritisierte die Außenministerin dafür, dass sie Wikileaks angreift. „Dieses Gestrüpp aus Spionen und Verbrechern im State Departement sollte der Welt eine Erklärung für die Vorgänge geben, anstatt weiter zu behaupten, es habe einen Diebstahl gegeben.“
Ob die Kritiker der US-Außenpolitik allerdings einen konkreten Nutzen aus den Wikileaks-Akten ziehen können, wird vor allem davon abhängen, wie die Veröffentlichung sich weiter entwickelt. Solange El País/Prisa die Veröffentlichung kontrollieren, wird sich die Agenda weiter negativ für die linken Regierungen in Lateinamerika entwickeln.

Weitere Informationen zu den Inhalten der von Wikileaks veröffentlichten Depeschen gibt es im Dossier von amerika21 unter:
http://amerika21.de/dossier/wikileaks.

„Eine Alternative zur Entwicklung“

Wie ist die Rücknahme der Zusagen zu Yasuní-ITT von Seiten Dirk Niebels einzuordnen?
Seit der öffentlichen Vorstellung der Initiative im Jahr 2008 erhielt sie viel Unterstützung – aber auch Widerspruch, gerade innerhalb der Regierung. Insbesondere Correa selbst zweifelt immer wieder. Der deutsche Bundestag hat indes sehr wohl und zwar mit Zustimmung aller Fraktionen seine Unterstützung eindeutig beschlossen, es wurde sogar eine Studie der GTZ zur Initiative finanziert. Die – definitiv zugesagte! – Unterstützung Deutschlands war sehr wichtig für die Unterstützer der Initiative.

Sehen Sie eine Chance, dass sich an der Haltung der Bundesregierung noch etwas ändert?
Ich bin ein optimistischer Mensch. Deshalb glaube ich, dass man einen Kampf nicht verloren geben sollte, bevor er zu Ende ist. Vielleicht können wir sie im nächsten Jahr dazu bewegen, die ITT-Initiative zu unterstützen.

Und was ist mit weiteren Geldgebern?
Es gibt natürlich andere Geldgeber, zum Beispiel sind ja die Verhandlungen mit Spanien erfolgreich gewesen. Weiter vorangeschritten sind auch die Verhandlungen mit Italien. Chile hat bereits Geld eingezahlt und wird seinen Beitrag noch erhöhen. Auch Peru hat Mittel angeboten und will die Initiative sogar auf eigene Gebiete ausweiten. Und es gibt weitere Geldgeber, zum Beispiel einige Staaten der OPEC. Verhandlungen gab es wohl auch mit den USA. Aber ich bin ja nicht mehr in der Regierung, also kenne ich nicht den letzten Stand.

Wie ist Ihr Kontakt zur Regierung?
Ich habe selbstverständlich immer noch Kontakt zu Regierungsmitgliedern. Viele sind meine Freunde, oft seit Jahrzehnten. Nicht gesprochen und auch nie wieder getroffen habe ich Präsident Correa.

… der die Politik der Regierung zuweilen ziemlich deutlich bestimmt.
Correa ist Ecuadors Präsident. Vor allem aber erleben wir ein personalisiertes Regierungsprojekt mit ihm als zentraler Figur: Diese Rolle geht schon auf die Zeit zurück, als wir die Kandidatur vorbereiteten. Wir hatten keine Partei oder Organisation. Damals trafen wir uns im Esszimmer meines Hauses: Dort gibt es einen Tisch mit sechs Stühlen – wir brauchten am Anfang nicht alle. Und erst nach seinen 104 Tagen als Finanzminister unter der Vorgängerregierung war Correa ein im ganzen Land bekannter Politiker. Beides zusammen erklärt, weshalb einige Dinge so verliefen: Wir mussten Correa als Identifikationsfigur aufbauen, um mit ihm die Wahlen zu gewinnen, und wir mussten eine Regierung um den neuen Präsidenten organisieren. Seit den Auseinandersetzungen um eine neue Verfassung hat sich die Regierung konsolidiert, nicht aber die politische Bewegung. Alles bewegt sich um Präsident Correa. Das ist eine der Schwächen.

Ist es ein Resultat dieser Schwäche, dass es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Regierung und sozialen Bewegungen gibt?
Unser Programm war nie eine persönliche Agenda. Wir griffen die zuvor von sozialen Bewegungen formulierten Alternativkonzepte auf und erarbeiteten daraus ein Regierungsprogramm. In der Verfassunggebenden Versammlung waren die Forderungen der Indigenen – wie der plurinationale Staat, kollektive Rechte, das Buen Vivir und die Rechte der Natur – maßgeblich vertreten. Die sozialen Bewegungen standen dann auch hinter der neuen Verfassung. Die Spannungen begannen, als es darum ging, die neue Verfassung anzuwenden und konkrete politische Projekte umzusetzen. Es gab dann Momente, in denen die Regierung Correa versuchte, den indigenen Dachverband CONAIE zu spalten. Ein großer Fehler!
Präsident Correa und seine Regierung sind oft nicht in der Lage, Räume für die Beteiligung breiter Teile der Gesellschaft zu schaffen. Nicht als Teil der Regierung, sondern als Teil des politischen Willensbildungsprozesses, in Debatte und Streit. Wir wollen dieses Land gemeinsam konstruieren, also: Lasst es uns auch gemeinsam machen!

Die Verfassung von Montecristi war das große gemeinsame Projekt von sozialen Bewegungen und Regierung. Welche Rolle spielt die neue Verfassung in der politischen Praxis?
Die Verfassung enthält einige sehr innovative Elemente. Sie dient als Referenzpunkt für das, was die Regierung tun muss und wie die Gesellschaft zu organisieren ist. In der politischen Praxis resultieren daraus aber Widersprüche, einige davon finde ich verständlich. Es ist nicht einfach, eine Verfassung über Nacht Realität werden zu lassen – erst recht bei einer wirklich neuen Verfassung, einer mit so revolutionären Punkten. Deshalb gibt es Widersprüche, tiefgreifende Widersprüche.

Trotzdem wecken einige dieser revolutionären Instrumente Hoffnungen, wie das Buen Vivir. Was ist der Hintergrund dieses Konzepts?
Auf der einen Seite steht der lange Prozess des Widerstands gegen den Neoliberalismus. Ecuador wurde – wie der Rest der Region und viele Länder in der ganzen Welt – gezwungen, einer neoliberalen Agenda zu folgen. Die Folge waren soziale und ökonomische Zersetzungsprozesse. Auf der anderen Seite waren die früheren Alternativen in der Praxis am Ende: Spätestens der Mauerfall zerstörte den Glauben an den real existierenden Sozialismus. Auch deshalb begann die Suche nach neuen Alternativen.
In Ecuador führte diese Suche in die indigene Welt und zum Konzept des sumak kawsay, also des Buen Vivir. Die indigenen Weltanschauungen enthalten eine Reihe von sozialen und kulturellen Konzepten mit langer Tradition, die in unseren Gesellschaften immer noch präsent waren. Daran anknüpfend studierten wir – wie es übrigens im gesamten andin-amazonischen Kontext passierte – bereits in den 1990er Jahre gemeinsam mit indigenen Gemeinden die Chancen des Konzepts des Buen Vivir. Dabei wurde es zusammengeführt mit Elementen der okzidentalen Kultur: Zum „Guten Leben“ bei Aristoteles gibt es Anknüpfungspunkte oder auch zu Elementen des Konzepts von Entwicklung nach menschlichem Maß, insbesondere bei Manfred Max-Neef und Antonio Elizalde. Und die menschliche Entwicklung bei Amartya Sen hat unsere Debatten ebenfalls bereichert. Das Buen Vivir ist kein ausschließlich indigenes Konzept und ebenso wenig nur für „die Indigenen“: Es ist ein Alternativkonzept, das von den Marginalisierten der Geschichte formuliert wurde und mit globalen Debatten verbunden ist.

Was folgt daraus?
Das Buen Vivir ist eine Lebensauffassung und eine Möglichkeit der Organisation der Gesellschaft, befindet sich aber im Konstruktionsprozess. Dieser findet konkret in Bolivien und Ecuador statt, wird aber weltweit wahrgenommen, zum Beispiel in der Postdevelopment-Diskussion. Das Buen Vivir ist ja kein alternatives Konzept der Entwicklung, sondern eine Alternative zur Entwicklung. In Bezug auf die globalen Debatten um die Green Economy geht das Buen Vivir in eine gegenteilige Richtung: Es schließt eine weitere Vermarktwirtschaftlichung der Beziehung Mensch-Natur aus. Das ist also auch etwas, was die ecuadorianische Verfassung eigentlich einfordert.

Diese Verfassung war am 30.9.2010 in Gefahr. Wie sind die Ereignisse dieses Tages einzuordnen?
Der 30.9. war ohne jeden Zweifel ein Schlag gegen die Demokratie, ein Schlag gegen den Staat. Einige Fakten sind ziemlich eindeutig: Der Protest von Militär- und Polizeiangehörigen war das Ergebnis einer Verschwörung, der es immerhin gelungen ist, den ecuadorianischen Staat lahm zu legen. Deshalb rede ich von einem golpe al estado. Der Präsident wurde als Geisel festgehalten, misshandelt, geschlagen und gegen Ende des Tages versuchten sie, ihn zu ermorden. Das ist wirklich barbarisch. Die Geschehnisse dieses Tages waren das gewalttätigste politische Ereignis der letzten Jahrzehnte in Ecuador.

Und welche politischen Konsequenzen hat das?
Weitreichende. Es ist klar, dass es eine Regierungskrise gab und dass die demokratischen Institutionen instabil sind. Auch, dass Polizei und Militär anscheinend immer noch im Stande sind, die Verfassung zu verletzen. Die Wiedereinsetzung des Militärs als „Garant der Demokratie“ kommt hinzu – etwas, dass der Verfassung klar widerspricht. Gleichzeitig ist die Regierung politisch schwach: Sie hat die große Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen – nicht aber zu politischer Aktion. Am 30.9. hat es keine, und ich meine damit, nicht eine große Demonstration gegeben. Und die Regierung hat mehr als einen Monat danach immer noch keine politische Antwort!
Der 30.9. war vor allem auch ein Schlag gegen die Linke. Die ecuadorianische Linke ist gespalten und uneinig, mehr als je zuvor seit dem Amtsantritt Correas. Ohne zu merken, was sie damit riskierten, beteiligten sich Teile der Linken am Polizeiaufstand. Diesen Gruppen war aber nicht klar, dass sie die neue Verfassung, das mit ihr Erreichte sowie das gesamte politische Projekt der Linken in Gefahr gebracht haben. Jetzt ist die Rechte gestärkt, auch wenn sie nicht unmittelbar Wahlen gewinnen könnte. Akteure der Rechten haben hier und da den Aufstand unterstützt – und sollten sie eine zentralere Rolle gehabt haben, dann kann ihnen das zumindest derzeit niemand nachweisen. Sie haben sich am Rand gehalten, abgewartet. Das ist sehr beunruhigend und wirkt wie ein Testlauf.

Was heißt das für die Regierung?
Die Regierung Correa muss darüber reflektieren, wo es Fortschritte, aber auch, wo es Irrtümer, ja sogar Rückschritte gegeben hat.
Erstens gibt es in Bolivien, Ecuador und Venezuela keinen neuen Weg des Wirtschaftens, keinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, sondern einen Extraktivismus des 21. Jahrhunderts. Und die exzessive Konzentration des Reichtums wurde in Ecuador nicht beendet, die Armutsrate ist nicht gesunken.
Zweitens ist besorgniserregend, dass es wenig Raum für Partizipations- und Diskussionsprozesse gibt. Vor vier bis fünf Jahren haben wir zusammen mit Correa unser Projekt als Bürgerrevolution umschrieben: Den Staat als einen Staat seiner BürgerInnen zurückzugewinnen. Aber es gibt in dieser Bürgerrevolution einen Mangel an Bürgerschaft, es gibt diesen Raum der Beteiligung nicht. Das ist sehr beunruhigend. Wir haben den personalisierten Charakter der Regierung bereits diskutiert und das ist nicht einfach die Schuld Correas. Aber es sollte anders sein.

Sie bezeichneten sich vorhin als optimistischen Menschen. Was sagt der Optimist? Und: Was wird heute bei ihnen zuhause am Esstisch diskutiert?
An diesen Tisch kommen natürlich Freunde, auch von damals, aber wir haben kein solches politisches Projekt mehr.
Als Optimist würde ich sagen, dass diese Regierung immer noch viel Potential hat. Correa ist sehr beliebt – das ist aber bei weitem nicht genug. Correa muss jetzt die Tür für einen großen Dialog mit den sozialen Bewegungen öffnen. Nicht, um sie direkt an der Regierung zu beteiligen, das ist nicht der Weg. Sondern um Diskussionen zu führen, mit dem Ziel, gemeinsame Vorstellungen für die Zukunft dieses Landes zu entwickeln.

Das Richtige im Falschen

Ein bisher weltweit einzigartiges Modellprojekt steht auf der Kippe: die Yasuní-ITT-Initiative. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich nicht weniger als das Vorhaben Ecuadors, auf die Förderung von geschätzt 850 Millionen Barrel Öl im Yasuní-Nationalpark zu verzichten. Ein Vorhaben mit allseits anerkannten positiven Effekten: Die Artenvielfalt des Regenwaldes und der Lebensraum zweier indigener Völker im Ishpingo-Tambococha-Tiputini-Korridor (ITT) blieben erhalten. Der Ausstoß von 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid würde vermieden – ein Beitrag zum globalen Klimaschutz. Ein nachhaltiger Ansatz in einem System rücksichtsloser Ausbeutung und Verschwendung natürlicher Ressourcen hat freilich einen Preis: Die Opportunitätskosten, so die kapitalistische Bezeichnung für entgangene Einnahmen, beliefen sich für Ecuador auf mindestens sieben Milliarden US-Dollar.
Es ist mehr als recht und billig, dass Ecuador für die Realisierung des Projekts eine globale Lastenteilung fordert. Ein internationaler Entschädigungsfonds ist vorgesehen, der diese Einnahmeausfälle Ecuadors ausgleichen soll. So sieht es der Plan vor, den der damalige ecuadorianische Energieminister Alberto Acosta 2007 ausarbeitete.
Sämtliche Fraktionen im Deutschen Bundestag forderten bereits im Juni 2008 die Bundesregierung einvernehmlich auf, das Projekt zu unterstützen und als Geldgeber für den Fonds einen Beitrag zu leisten. Nur einem fehlt es an Durchblick: Entwicklungsminister Dirk Niebel. In seinem Antwortschreiben an die grüne Abgeordnete Ute Koczy teilte der FDP-Minister Mitte September mit, dass viele Bedenken nicht ausgeräumt seien und daher eine Beteiligung am Treuhandfonds nicht erfolgen solle. Ihm fehlen „konkrete Aussagen darüber, welche Garantien für einen dauerhaften Verzicht auf die Ölförderung im Yasuní-Gebiet gegeben werden.“ Niebel leidet offenbar an Seh- und Fremdsprachenschwäche gleichermaßen. Im Vertrag über den Treuhandfonds zwischen Ecuador und dem Entwicklungsprogramm der UNDP ist eindeutig festgeschrieben, dass Ecuador alle Einlagen zu hundert Prozent zurückzahlen muss, sollte irgendwann doch der Ölschatz im Yasuní-Park gehoben werden.
Was Niebel wohl tatsächlich zu seinem Vorstoß bewogen hat, ist die Angst, dass Yasuní Schule machen könnte. Eine Horrorvorstellung für den Neoliberalen. In der Tat haben Peru, Bolivien und Guatemala bereits ihr Interesse bekundet, gegen internationale Hilfsleistungen teilweise auf die Erschließung der Öl- und Gasfelder in ihren Ländern zu verzichten und damit zum Klimaschutz beitragen zu wollen. Geld erhalten für das Unterlassen einer Tätigkeit sprengt Niebels Ideenhorizont. „Wollen wir diese Tür wirklich öffnen? Der Bundestag wird am Ende über diesen Paradigmenwechsel entscheiden müssen“, teilte er seine Befürchtungen in einem Interview mit. Um einen Paradigmenwechsel geht es tatsächlich: Es gibt kaum einen einschlägigen Wissenschaftler, der nicht einen radikalen Kurswechsel fordert, um dem fortschreitenden Verlust der Biodiversität und dem Klimawandel Einhalt zu gebieten. Kaum einer, der nicht die Überwindung des fossilen Energiemodells hin zu einem umweltverträglichen Modell erneuerbarer Energien fordert.
Yasuní steht für das richtige Leben im Falschen. Das macht es gefährlich. So begrenzt seine reale Wirkung auch sein mag: Yasuní würde zeigen, dass eine andere Welt, ein anderes Wirtschaften möglich ist. Danach steht weder Niebel noch der Öllobby der Sinn, die das Projekt von Anbeginn hintertrieb. Bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Mit Niebel haben die Energiedinosaurier nun einen gewichtigen Bündnispartner. Ein Rückzug Deutschlands aus dem Projekt hätte eine gefährliche Signalwirkung, die andere Industrieländer dazu bewegen könnte, sich ebenfalls herauszuziehen. Jedenfalls verspielt so die Bundesregierung ihren Ruf, den Klimaschutz multilateral vorantreiben zu wollen. Ein Armutszeugnis, zu dem die Kanzlerin und einstige Umweltministerin Angela Merkel bisher beflissen schweigt.

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