Der Kampf um den Bergbau

Der Inhalt hat Sprengkraft: Am 19. März dieses Jahres wurde der neue Bericht der peruanischen Ombudsstelle veröffentlicht. Darin wurden 229 soziale Konflikte im Februar 2012 im Land dokumentiert. Davon sind 133 Umweltkonflikte, die wiederum in ihrer großen Mehrheit auf Bergbau- und Erdölförderprojekte zurückzuführen sind. Präsident Ollanta Humala begann sein Mandat mit 214 Konflikten im Land. Sieben Monate später wurden 15 Konflikte mehr registriert. Die konfliktreichsten Regionen Perus sind Áncash (22 Konfikte), Puno (21), Cajamarca (17) und Cusco (16). Zu den kritischsten Konflikten zählt der um das Gold- und Kupferbergbauprojekt „Minas Conga“ in Cajamarca und der Konflikt um die illegale Goldförderung im Regenwald von Madre de Dios.
„In den letzten sieben Monaten stieg die Zahl der Konflikte stetig. Und am besorgniserregensten ist, dass diese neuen Konflikte mehr als doppelt so stark sind wie diese, die man gerade versucht zu lösen“, erklärt Rolando Luque von der Ombudsstelle in der peruanischen Tageszeitung La República. Der Bericht dokumentiert auch, dass die Mehrheit der Dialogversuche in den Konfliktregionen erst nach gewalttätigen Auseinandersetzungen eingerichtet wurden. Luque bestätigt, dass es der peruanischen Regierung an Strategien fehlt, um Konflikte vorzubeugen sowie zu lösen.
Die Inkompetenz der Regierung führte allein im Monat März zu sechs Toten im Konflikt um die illegalen Bergbautätigkeiten. Allein im südöstlichen Regenwalddepartamento Madre de Dios wurden im März während des von den informellen Minenarbeitern organisierten Generalstreiks drei Tote gezählt, sowie 36 Verletzte und 62 Verhaftete. Zwischenzeitlich verwandelte sich die Hauptstadt von Madre de Dios, Puerto Maldonado, in ein Schlachtfeld. Tausende Minenarbeiter blockierten am 15. März die Straßen der Stadt, um gegen ein neues Regierungsdekret zu protestieren. Dieses sieht die Erhöhung der Strafen für illegale Bergbauaktivitäten vor. Die Realisierung und Finanzierung von Minen ohne staatliche Lizenz kann nun mit bis zu zwölf Jahren Haft geahndet werden.
Madre de Dios gehört zu den Regionen Perus, die am meisten von illegalen Bergbautätigkeiten betroffen sind. Tausende Hektar Regenwald wurden bereits im letzten Jahrzehnt zerstört, die Flüsse mit giftigem Quecksilber verseucht, indigene Gemeinden vertrieben. Aus diesen Gründen versucht der peruanische Staat nun stärker gegen diese illegalen Minenaktivitäten vorzugehen. Doch da das Problem viele Jahre ignoriert wurde, sind inzwischen tausende Familien in Madre de Dios von diesen Tätigkeiten ökonomisch abhängig. So riefen zahlreiche Minenorganisationen zum unbefristeten Streik in Puerto Maldonado auf. Die Polizei versuchte, die Blockierung der Straßen zu verhindern und löste damit die gewalttätigen Auseinandersetzungen aus. Ein lokaler Journalist, Manuel Calloquispe, wurde von den Demonstrant_innen angegriffen, da dieser über die Umweltzerstörung durch den Bergbau berichtete. Des Weiteren griffen die Demonstrant_innen die Polizei mit Steinen, Dynamit und Stöcken an. Diese antwortete mit Tränengasgranaten und Schüssen. Am 15. März erklärte der Vorsitzende der Federación de Mineros Artesanales, Hernán de la Cruz, dass die Proteste dennoch weiter gehen sollen. Nicht nur in Madre de Dios, sondern in allen zwölf Regionen wie zum Beispiel in Puno, Ayacucho, Arequipa und La Libertad, in denen informelle Bergbautätigkeiten durchgeführt werden, wurden ebenfalls Straßen durch Demonstrant_innen eingenommen. Am 19. März wurden die Panamericana Sur und die Panamerica Norte – die wichtigsten Zufahrtsstraßen in die Hauptstadt Lima – von rund 3.000 informellen Minenarbeiter_innen aus Nazca und Casma blockiert und von der Polizei vertrieben. Es wurden drei Tote durch Schussverletzung in Casma gezählt.
An anderer Front kämpft man in Cajamarca. Während man in Madre de Dios für den Bergbau protestiert, wird in Cajamarca gegen ihn demonstriert. Seit November 2011 kämpfen tausende Cajamarquinos gegen das gigantische Gold- und Kupferbergbauprojekt „Minas Conga“, welches die Wasserreserven der gesamten Region gefährdet. Um den Konflikt zu schlichten, organisierte die Regierung ein internationales Gutachten der Umweltverträglichkeitsstudie von „Minas Conga“. Ausgewählt wurden dafür die zwei spanischen Bergbauingenieure Luis López García und Rafael Fernández Rubio, sowie der portugiesische Geologe José Martins Carvalho. Der peruanische Staat stellt für dieses Gutachten 647.168 Soles (rund 202.240 Euro) bereit.
Die Bevölkerung der betroffenen Region Cajamarca lehnt dieses Gutachten ab. Zum einen kritisiert sie, dass allein die Regierung die Gutachter auswählen durfte und die Zivilbevölkerung an der Auswahl nicht beteiligt wurde. Zum anderen wird bemängelt, dass am Gutachten keine Fachleute für Biologie, Ökologie und Hydrologie beteiligt werden. „Egal wie das Ergebnis ausfallen wird, Conga ist nicht machbar, das wissen wir jetzt schon. Wir werden dieses Bergbauprojekt unter keinen Umständen akzeptieren. Die Regierung könnte sich das Geld sparen, das Gutachten werden wir nicht anerkennen“, so Jorge Abanto Rodríguez, Präsident des Umweltschutzvereins Pulla Purishun aus Cajamarca. Die drei Gutachter reisten am 27. Februar unter Militärschutz nach Cajamarca. Rafael Fernández Rubio ist kein Unbekannter in Peru. Im Jahr 2011 arbeitete er für das Bergbauprojekt „Tía María“ und bezeichnete die protestierenden Bauern und -bäuerinnen von Islay als „unzivilisiert“, da sie sich gegen das Bergbauprojekt wendeten. Im Laufe des Protestes gab es drei erschossene Bauern und etliche Verletzte.
„Das ist ein Pseudo-Gutachten“, sagt Wilfredo Saavedra, Präsident der Umweltverteidigungsfront von Cajamarca. „Wir waren zum selben Zeitpunkt wie die Gutachter an dem See El Perol, der im Rahmen des Bergbauprojektes zerstört werden soll. Die Gutachter reisten per Helikopter an, drehten eine Runde um den See, und flogen wieder davon. Sie haben keine einzige Wasserprobe genommen, auch nicht das Ökosystem und den Boden untersucht“, so Saavedra.
Im Gegensatz dazu steht ein zweites Gutachten, das bereits seit einigen Monaten still und heimlich von der Nichtregierungsorganisation GRUFIDES mitorganisiert wurde. Dieses wurde von dem US-amerikanischen Hydrologen und Geochemiker Robert Morán und dem spanischen Hydrologen Javier Lambán erarbeitet. Beide arbeiten nach eigenen Aussagen ohne Gehalt. Sie wurden von US-amerikanischen Menschenrechtsorganisationen und den „Ingenieuren Ohne Grenzen“ engagiert. Es liegen bereits mehrere Wasserstudien vor. Der Bericht von Morán ist bereits fertig und wird gerade ins Spanische übersetzt, um ihn der peruanischen Regierung vorlegen zu können.
„Das größte Problem liegt in der Behandlung der unterirdischen Wasserströme. Die Umweltverträglichkeitsstudie des Bergbauprojektes hat etliche Punkte zu diesem Thema unbetrachtet gelassen. Doch diese sind wichtig, um die wirklichen Auswirkungen des Projektes auf das Wasser einschätzen zu können“, so Morán und fügt hinzu: „Yanacocha sagt, dass die Seen nur von Regenwasser gespeist werden. Doch das ist falsch. Sie werden von Grundwasser gespeist, und wenn man 650 Meter tiefe Grabungen macht, wie Yanacocha angibt, dann werden diese unterirdischen Wasserquellen beeinträchtigt.“ Javier Lambán, der im Auftrag der „Ingenieure Ohne Grenzen“ von Barcelona am Gutachten teilnimmt, erklärt, dass die Umweltverträglichkeitsstudie etliche konzeptionelle und methodische Fehler habe.
Nach Bekanntwerden des zweiten Gutachtens, gerät die Firma Yanacocha, die das Bergbauprojekt „Minas Conga“ betreibt, immer weiter unter Druck. Luis Argüelles, Vorsitzender des Conga-Projektes, erklärte in den peruanischen Medien, die Umweltverträglichkeitsstudie zu „Minas Conga“ sei professionell und vollständig. Ebenso erklärte er, das Bergbauprojekt würde die unterirdischen Wasserquellen nicht beeinflussen und in Peru gäbe es sowieso „viel zu viel Wasser“. Dies stimmt wohl, wenn man die Daten national zusammenrechnet, da der Osten Perus vom Amazonasgebiet dominiert wird. Doch lokal gesehen, fehlt der Region Cajamarca Wasser, um den Bedarf der Bevölkerung decken zu können. In vielen Stadtvierteln der Provinzhauptstadt Cajamarca gibt es nur wenige Stunden am Tag Trinkwasser. Andere Dörfer, wie Aguas Blanca, stehen bereits jetzt schon wegen der Bohrarbeiten in Conga ganz ohne Wasser da. Der regionale Vizepräsident der US-amerikanischen Firma Newmont, Carlos Santa Cruz, bestätigte den Willen der Firma, das Bergbauprojekt „Minas Conga“ auf alle Fälle realisieren zu wollen. „Yanacocha wird alle ihre Energie in dieses Projekt stecken“. Newmont ist mit 51 Prozent Hauptanteilsnehmer der Minenfirma Yanacocha. Gemäß Newmont ist die starke Opposition zum Projekt in Cajamarca auf das „Fehlen staatlicher Autoritäten“ zurückzuführen.
Währenddessen versucht die peruanische Regierung, die Gegner_innen des Projektes einzuschüchtern. Am 13. März wurde der Präsident der Umweltverteidigungsfront von Cajamarca, Wilfredo Saavedra Marreros, in der südperuanischen Stadt Tacna verhaftet. Gemäß der Staatsanwaltschaft liegt ein Haftbefehl gegen Saavedra vor, da dieser die öffentliche Ordnung im November vergangenen Jahres während des Generalstreiks gegen „Minas Conga“ gestört habe. Saavedra befand sich auf Einladung von Studierendenorganisationen in Tacna, um an einem Forum zum Thema Wasser teilzunehmen. Auch in Cajamarca wurden zwei weitere Führer der Protestbewegung verhaftet. Dabei handelte es sich um Lucio Díaz Chávez, Ex-Präsident der Lehrergewerkschaft SUTEP, und César Tafur Tacilla, Generalsekretär der Bauarbeitergewerkschaft. Nach einigen Stunden wurden alle drei Personen wieder freigelassen. Doch Anklagen liegen gegen 41 Conga-Gegner_innen bei der Staatsanwaltschaft vor. Darunter sind auch regionale Autoritäten wie der Regionalpräsident von Cajamarca, Gregorio Santos Guerrero. Doch die Protestbewegung lässt sich davon nicht einschüchtern. Am 30. und 31. März wird in Cajamarca die Große Nationale Versammlung der Völker stattfinden (nach Redaktionsschluss, Anm. d.Red.). Aus allen Regionen Perus werden Vertreter_innen sozialer Basisorganisationen in die nordperuanische Stadt reisen, um über das Thema Wasser und den Kampf gegen Bergbauprojekte zu diskutieren. Dort werden die weiteren Schritte gegen „Minas Conga“ geplant werden.

Lernen vom Schüler

„Fast alltäglich waren apagones (Stromausfälle). Wenn der Kühlschrank ausfiel, brach ich die fetten Batzen gefrorenen Wassers aus dem Eisfach, bevor es meine Wohnung fluten konnte. Ich legte sie aufs Fensterbrett und sah zu, wie sich in der Januarhitze Tropfen um Tropfen aus der Masse löste, und wie sie die sechs Stockwerke weit nach unten fielen und auf das Dach der Druckerei platschten.“
Die tiefe Krise Argentiniens mit ihren täglichen Stromausfällen Anfang der 1990er Jahre, die Sebastian Schoepp während eines einjährigen Arbeitsaufenthaltes beim Argentinischen Tageblatt in Buenos Aires miterlebte, ist Ausgangspunkt seiner facettenreichen Beschreibung der aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika. Diese fielen in den letzten zehn Jahren überraschend positiv aus, wenn man sie mit den letzten vierzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergleicht: eine Zeit, die von Militärputschen, Diktaturen, einem „verlorenen Jahrzehnt“ und wiederkehrenden ökonomischen Krisen geprägt war.
„In fast allen Ländern etablieren sich innerhalb weniger Jahre Demokratien, die nicht mehr so leicht ins Wanken zu bringen sind wie ihre Vorläufer. Die Wahlen verlaufen in der Mehrzahl fair und frei. Ja, mehr noch: Manche Regierungschefs erreichen Zustimmungsraten, von denen europäische Politiker nur träumen können. Die Wirtschaft, jahrhundertelang das Hauptproblem Lateinamerikas, boomt nicht nur, sie zeigt sich sogar krisenresistenter als die Europas und Nordamerikas. Die Armut, zwar immer noch das drängendste Problem, wird durch Sozialprogramme signifikant verringert. Der Mittelstand wächst,“ so fasst es Schoepp in seiner Einleitung „Gute Nachrichten aus Lateinamerika“ zusammen. Seit 2005 ist er als außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Spanien und Lateinamerika zuständig.
Anschließend nimmt Schoepp seine Leser_innen mit auf eine Zeitreise durch Ecuador, Bolivien, Peru und Nicaragua vor 2002, in das Argentinien nach der Krise unter Néstor und Cristina Fernández de Kirchner (seit 2003), nach Bolivien, das Morales (seit 2006), und nach Brasilien, das Lula (2003 bis 2011) zum Präsidenten wählte. Seine Analysen der politischen, sozialen und ökonomischen Fakten bettet er ein in Reportagen von zahlreichen Reisen durch den Kontinent, hin und wieder ergänzt von kurzen Interviews, die er mit Schriftsteller_innen, Wissenschaftlern und Politikern führte.
Von Kapitel zu Kapitel entsteht so ein immer vielschichtigeres Bild eines Kontinents im Wandel, bei dem Schoepp kaum einen wichtigen Aspekt auslässt: die indigenen Bewegungen in den Andenländern und die Sozialprogramme Brasiliens, Extraktivismus und Neo-Extraktivismus, das mögliche Ende des Drogenkrieges und die Aufarbeitung der Militärdiktaturen, die Bedeutung der Schriftsteller_innen für den gesellschaftlichen Wandel und die wechselhaften Migrationsflüsse zwischen Europa und Lateinamerika. Besonders eindrücklich ist seine Beschreibung immer dann, wenn der Autor das Land und seine Verhältnisse sehr gut kennt und uns mit seinen Reportagen direkt in das Herz der jeweiligen Gesellschaft führen kann. Wirklich spannend ist auch das Kapitel „Heimkehr in die Fremde“ über Lateinamerikaner_innen in Barcelona, wo Schoepp ebenfalls ein Jahr verbrachte, und das sich der identitätsstiftenden Wirkung des Exils widmet. Auch die Exkurse des Autors in die Geschichte Lateinamerikas sind immer treffend, informativ und bereichern das jeweilige Thema, so erfahren wir zum Beispiel, wie das Erbe der Hidalgos mit dem Extraktivismus und dem Urteil gegen Chevron im Jahr 2011 zusammenhängt.
Doch die größte Stärke von Das Ende der Einsamkeit ist zugleich seine größte Schwäche. Denn in den Kapiteln, in denen die Reportagen die Leser_innen nicht auf eine spannende Reise mitnehmen, bleiben die Analysen recht oberflächlich und sehr auf die Regierungspolitik beschränkt. Schoepps Kapitel über Brasilien „Lula Superstar“ bezieht sich ganz auf diesen und seine Bedeutung für die internationale Politik.
Nicht nur, dass die starken sozialen Bewegungen in Brasilien praktisch nicht erwähnt werden, auch die Analyse der Erfolge Lulas greift zu kurz. Dass wichtige politische Ziele der Regierungspartei PT – wie die Landreform oder der Schutz der indigenen Gebiete – nicht eingelöst wurden, ist nicht nur eine Randnotiz einer ansonsten erfolgreichen Entwicklungsstrategie. Die fehlende Veränderung grundlegender gesellschaftlicher Strukturen – wie die Verteilung des Landbesitzes – birgt die Gefahr, dass die Politik der 1980er und 1990er Jahren von denselben Eliten fortgesetzt werden kann, sobald es ihnen gelungen ist, wieder die Führung des Staates zu übernehmen.
Das Kapitel über Venezuela – das sich über weite Strecken um eine differenzierte Darstellung bemüht und sogar Kritik an der Form der deutschen und internationalen Berichterstattung über Chávez übt – mündet überraschend in eine vernichtende und pauschale Kritik am venezolanischen Präsidenten. „Seine Kollegen in den Nachbarländern denken gar nicht daran, den nebulösen Weg der ’bolivarischen Revolution’ mitzugehen. Sie wissen, dass Chávez’ System in der Praxis nichts anderes ist als der auf Klientelismus basierende Ansatz eines lückenhaften Staatskapitalismus.“ Erstaunlicherweise schließt Schoepp dieses Kapitel dann mit der Feststellung „Trotzdem wäre das ‚neue Lateinamerika’ – vor allem die Umwälzungen in Ecuador oder Bolivien – ohne seine kantigen Reden und seine Petrodollars nicht denkbar gewesen.“
Das Ende der Einsamkeit, dessen Titel ebenso auf den Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez wie auf Das Labyrinth der Einsamkeit von Octavio Paz verweist, endet mit einem optimistischen Ausblick: Ausgerechnet aus Kolumbien kommt in einer der schönsten Reportagen eine weitere gute Nachricht aus Lateinamerika. Fast schade, dass dieses Buch nicht ein Jahr später erschienen ist. Hätte doch Schoepp seine These, dass die Welt von Lateinamerika lernen kann, im Jahr des arabischen Frühlings, der Besetzungen in Spanien und der Griechenlandkrise besonders gut an der Realität überprüfen können.

Sebastian Schoepp // Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann // Westend Verlag // München 2012 // 288 Seiten // 17,99 Euro

Sieg um jeden Preis

Als ob es rund um dieses Spiel nicht schon genug Gerüchte und Legenden gäbe: Das 6:0 Argentiniens bei der WM 1978 gegen Peru ist mit Sicherheit eines der umstrittensten Resultate in der Geschichte des Weltfußballs. Seit Jahrzehnten ranken sich Manipulationsvorwürfe um die Partie, die die Argentinier mit mindestens vier Toren Unterschied gegen eine damals eigentlich starke peruanische Mannschaft gewinnen mussten, um ins WM-Finale einzuziehen.
Im Zuge der Ermittlungen gegen den Diktator Jorge Videla, der der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1981 vorstand, gab es nun eine überraschende Enthüllung. Der ehemalige peruanische politische Gefangene und spätere Senator Genaro Ledesma Izquieta sagte gegenüber der argentinischen Justiz aus, er sei als Gegenleistung für einen hohen Sieg der Albiceleste gegen Peru nach Argentinien ausgeliefert worden. Ledesma Izquieta war damals Gewerkschaftsfunktionär im ebenfalls von einer Militärdiktatur beherrschten Peru und wurde vom Regime von General Francisco Morales Bermúdez gefangen genommen, da er einen Generalstreik angeführt hatte, dessen Ziel es war, die Gewaltherrschaft der Militärs zu beenden. Laut Ledezma Izquietas Aussage lieferte ihn Bermúdez deswegen gemeinsam mit zwölf weiteren Aktivist_innen als Kriegsgefangene im Austausch gegen ein günstiges Resultat im entscheidenden Spiel nach Argentinien aus. Ledesma Izquieta gab weiterhin an, die Aktion sei im Zusammenhang mit der „Operación Cóndor“ erfolgt. Die „Operación Cóndor“ war eine Zusammenarbeit der Geheimdienste der Militärregierungen Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays mit dem Ziel der Verfolgung und Ermordung linker Oppositioneller in den 1970er Jahren.
Ledesma Izquieta weist in seiner Zeugenaussage darauf hin, wie wichtig es den argentinischen Militärs war, ihr schlechtes Image mit Hilfe sportlicher Erfolge reinzuwaschen. Folter und Ermordung von Regimegegner_innen waren auch zum Zeitpunkt der WM 1978 international schon ein offenes Geheimnis. Bereits zu seiner Machtübernahme durch den Staatsstreich 1976 hatte Videla erklärt, es müssten „nun so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist“. Dem Fußball-Weltverband FIFA, der die WM bereits zehn Jahre zuvor an Argentinien vergeben hatte, war dies nach den politisch unruhigen Jahren der Regierung Isabel Perón mehr als Recht. „Jetzt ist Argentinien in der Lage, die Weltmeisterschaft auszurichten“, frohlockte der brasilianische FIFA-Präsident João Havelange nur zwei Tage nach Videlas Putsch und legte auf der Eröffnungsfeier der WM zwei Jahre später nach: Nun könne die Welt „das wahre Argentinien kennenlernen“.
Offensichtlich fielen seine Worte zumindest in Deutschland auf fruchtbaren Boden, denn der WM-Teilnehmer und spätere deutsche Bundestrainer Berti Vogts bekannte unbedarft: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen“. Ob Vogts auch heute noch in dem Glauben lebt, die „Schmach von Córdoba“ (Deutschlands 2:3-Niederlage gegen Österreich, die das Ausscheiden besiegelte) sei das Schlimmste gewesen, was damals in Argentinien passierte, ist nicht bekannt. Fakt ist hingegen, dass etwa 30.000 Oppositionelle während Videlas Herrschaft inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden – auch wenn es in der verzerrten Realität, in der Fußballer zwischen Teamhotel und Trainingsplatz während eines großen Turniers zu leben pflegen, vermutlich tatsächlich nicht wahrnehmbar war. Dies war Teil eines Plans der Militärjunta, die aus Prestigegründen auch Armutssiedlungen mit hohen Mauern umgab, um sie unsichtbar zu machen, oder sie sogar einfach abreißen ließ und die vertriebenen Bewohner_innen in Orte fernab der WM-Stadien umsiedelte.
Damit der Fußball 1978 seine Rolle als Opium fürs Volk übernehmen konnte, brauchten die Militärs aber vor allem um jeden Preis Siege für das argentinische Team. Mehr noch: Es sollte endlich der lang ersehnte WM-Titel her, den die „Gauchos“ trotz langer Fußballtradition noch nie an den Río de la Plata geholt hatten. Doch die Lage verkomplizierte sich gegen Ende des Turniers, als es um den Einzug in das WM-Finale ging. Das heute übliche K.O.-System existierte 1978 nicht, die beiden Finalisten wurden über zwei Zwischenrundengruppen bestimmt, deren Sieger ins Finale kamen. Vor dem letzten Spieltag lag Argentinien in seiner Gruppe gleichauf mit Brasilien, das allerdings über das leicht bessere Torverhältnis verfügte – nach dem 0:0 der beiden Teams im direkten Duell das entscheidende Kriterium. Die letzten Gruppenspiele waren ursprünglich zeitgleich für den Abend des 21. Juni angesetzt. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde jedoch ohne ersichtlichen Grund das letzte Gruppenspiel der Brasilianer auf den Nachmittag vorgezogen – ein erneuter Kniefall der FIFA vor Videla, denn nach dem 3:1-Sieg der Seleção wussten die Argentinier genau, mit wie vielen Toren Unterschied sie mindestens gewinnen mussten, nämlich mit besagten vier.
Dass es letztendlich sechs wurden, öffnete den Spekulationen Tür und Tor. Die Peruaner waren bis dahin nicht für ihre durchlässige Abwehr bekannt, unter anderem hatten sie Holland, der offensivstärksten Mannschaft des Turniers, ein 0:0 abgetrotzt. Zu Beginn des Spiels hielten sie auch mit und trafen sogar zwei Mal den Pfosten, in der zweiten Halbzeit brachen jedoch alle Dämme und sie wurden von Superstar Mario Kempes & Co. ohne Gegenwehr überrollt. Argentinien stand im Finale gegen Holland und gewann anschließend unter ähnlich dubiosen Umständen (unter anderem wurde der für das Finale vorgesehene Schiedsrichter kurzfristig ausgetauscht) seinen ersten Weltmeistertitel. 15 Tage nach Ende der WM lieferte Argentinien dann 35 000 Tonnen Getreide an Peru und erließ dem Land zudem Schulden in Höhe von 50 Millionen Dollar.
Ein direkter Zusammenhang dieser auffälligen Großzügigkeiten mit dem WM-Spiel konnte zwar nie nachgewiesen werden. In den letzten Jahren häuften sich aber die Enthüllungen bezüglich des Spiels mit dem ungewöhnlich hohen Ergebnis. Verbrieft ist, dass General Videla und der US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger vor der Partie die peruanische Kabine aufsuchten. Der englische Journalist David Yallop schrieb in seinem 1999 erschienenen Buch „Wie das Spiel verloren ging“ zudem, drei peruanische Spieler hätten unabhängig voneinander im Gespräch mit ihm zugegeben, Zahlungen von je 20 000 Dollar erhalten zu haben, um für ein „korrektes Ergebnis“ zu sorgen. Bereits 1998 hatte Ramón Quiroga, der damalige Torwart der peruanischen Mannschaft (pikanterweise gebürtiger Argentinier, aber an den Gegentoren weitgehend schuldlos) in einem Interview mit der argentinischen Zeitung La Nación mehrere Spieler und seinen Trainer beschuldigt. Mehrere „seltsame Dinge“ seien in Zusammenhang mit diesem Spiel geschehen. So hätten Spieler auf dem Platz gestanden, die unter normalen Umständen nie gespielt hätten. Vor den Gegentoren hätten sich Spieler gebückt und ihre Gegenspieler einfach laufen lassen. Quiroga widerrief zwar später einige seiner Aussagen. 2008 wurde die Debatte jedoch kurz vor einem wichtigen WM-Qualifikationsspiel Argentiniens gegen Peru durch den Sohn des kolumbianischen Drogenbarons Gilberto „El Ajedrecista“ Rodríguez Orejuela wiederbelebt, der in seiner Autobiografie behauptete, sein Vater hätte damals das Geld für die Bestechung der peruanischen Spieler bereitgestellt.
Nun bringen die Aussagen von Genaro Ledezma Izquieta weitere Brisanz ins abgekartete Spiel. Laut dem früheren Senator wurde er gemeinsam mit den anderen Gefangenen in die nördliche argentinische Provinz Jujuy verschleppt. Dort sollten sie auf ein Flugzeug warten, das sie über dem Río de la Plata abwerfen sollte. In der argentinischen Militärdiktatur war es gängige Praxis, Oppositionelle unter Drogen zu setzen und dann von Flugzeugen aus ins Meer zu werfen, wo sie den sicheren Tod fanden. Offiziell gelten die Opfer dieser Morde bis heute als „Verschwundene“. Ledezma Izquieta führte weiterhin aus, ein Abkommen zwischen Videla und Bermúdez habe geregelt, dass nicht das „kleinste Bisschen“ von den 13 Aktivist_innen übrig bleiben sollte. Dass es anders kam, hatte er nur seiner Berufung in die peruanische Nationalversammlung zu verdanken. Die peruanische Militärjunta hatte den Übergang zum Parlamentarismus eingeleitet und freie Wahlen gestattet. Ledezma Izquieta war einer der Kandidaten mit den meisten Stimmenanteilen aus dem linken Lager und durfte deswegen mit seinen Mitgefangenen wieder die Heimreise antreten, um seiner parlamentarischen Arbeit nachzugehen. Besondere Brisanz erhalten seine Aussagen auch durch die Tatsache, dass sie ein weiteres Indiz für die Einbindung Perús in die „Operación Cóndor“ unter der Regierung Bermúdez liefern, die der Ex-Präsident bis heute bestreitet. Vor einem italienischen Gericht läuft aus diesem Grund auch eine Klage gegen ihn. Veröffentlichte US-Dokumente belegen unter anderem, dass argentinische Geheimdienste mit Billigung der Regierung Bermúdez Operationen in Peru durchführten. Auch mit Chile soll es geheime Vereinbarungen bezüglich einer Zusammenarbeit im Rahmen der „Operación Cóndor“ gegeben haben.
Ob Argentinien nun angesichts dieser Entwicklungen um seinen ersten WM-Titel bangen muss, darf bezweifelt werden. Der Sprecher des argentinischen Fußballverbandes AFA, Ernesto Cherquis Bialo, reagierte entrüstet auf die Aussagen Ledezma Inquietas. Man sei „perplex“, dass an der Rechtmäßigkeit des Titels gezweifelt werde, die Aufzeichnung der Partie Argentinien-Peru sei das „bildliche Zeugnis“, dass das Spiel „mit Anstand“ gewonnen worden sei. „Alles, was über dieses Spiel gesagt wird, ist pure Fantasie“. Man könne doch außerdem keinen Pokal zurückfordern, den ihnen FIFA-Präsident João Havelange persönlich ausgehändigt habe. Die Funktionäre der AFA müssen aber trotz aller Empörung vermutlich keine unruhigen Nächte fürchten. Die Organisation, die die Rechtmäßigkeit des argentinischen WM-Titels überprüfen wird, ist die FIFA selbst. Und die hat in letzter Zeit alles andere als den Ruf eines gründlichen Ermittlers, wenn es um das Thema Korruptionsbekämpfung geht.

„WIR WOLLEN WASSER, KEIN GOLD!“

Seit dem 24. November demonstrierten tausende Menschen in der Provinz- und Departamentohauptstadt Cajamarca im Norden Perus gegen das Bergbauprojekt Minas Conga. Es wurde ein Generalstreik ausgerufen, der die gesamte Stadt für mehr als eine Woche lahm legte. Die Straßen waren für den Verkehr gesperrt, die Geschäfte und öffentlichen Institutionen geschlossen. Überlandstraßen und der Flughafen waren von Demonstrant_innen blockiert. Keiner kam mehr in die Stadt oder heraus. Trotz der Provokationen durch Regierung und Presse, die die Demonstrierenden als „Radikale“ und „Terroristen“ beschimpfen, blieben diese in der Stadt allesamt friedlich. Lediglich in der nahegelegenen Stadt Celendín gab es Ausschreitungen, als die Demonstrierenden die Büros des Bergbaukonzerns Minera Yanacocha stürmten und die Einrichtung verbrannten, sowie an einigen Blockadestandorten, als die Polizei die Straßen gewaltsam räumte. Carlos Rodríguez, Student aus Cajamarca, berichtet von den Ereignissen in Aylambo, nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt, die von der Presse verschwiegen wurden: „Am Dienstag, den 29. November, befanden sich rund 50 Studierende der Universität in Aylambo, wo wir die Straße Richtung Küste blockiert hatten. Um ein Uhr nachts wurden wir Opfer eines brutalen Angriffs, in dem uns 90 Polizist_innen aus dem Hinterhalt mit Tränengasgranaten beschossen. Als sie unseren Stützpunkt des Widerstandes erreichten, begannen sie auf die Studierenden einzuschlagen, die beim Versuch, vor dem Tränengas zu fliehen, gestürzt waren. Ich entkam durch die Büsche und versteckte mich bis ungefähr sechs Uhr morgens. Dann kehrte ich zum Stützpunkt zurück, wo ich etliche meiner Compañeros verletzt vorfand. Außerdem fehlten Matratzen und Kleidung, die uns die Einwohner für den Widerstand gespendet hatten.” Dennoch blieb die Straße bis zum 2. Dezember gesperrt. Als schließlich schwer bewaffnete Soldaten anrückten, gaben die Studierenden auf. Während es für ein paar Tage an Gas und Benzin mangelte, weshalb auch Yanacocha seine Arbeit eine Zeitlang einstellen musste, herrschte an Nahrungsmitteln keine Knappheit, denn Cajamarca ist stark landwirtschaftlich geprägt. Während des gesamten Protests spürte man eine tiefe Solidarität und Verbundenheit. Es wurden Volksküchen und provisorische Unterkünfte für die tausenden von Bauern und Bäuerinnen organisiert, die aus allen umliegenden Dörfern in die Stadt kamen. Zu den „Radikalen“, die die Protestierenden unterstützten, gehörten auch die Nonnen und Mönche verschiedener Orden. Jeden Abend fuhr ein Lastwagen voller gespendeter Lebensmittel und Decken ins Hochland zu den bedrohten Bergseen, wo weitere hunderte Protestierende ausharrten, damit der Konzern die Seen nicht antasten kann. Das Bergbauprojekt soll auf eine Größe von 36.000 Hektar anwachsen. Den Planungen für Minas Conga zufolge sollen die Seen Laguna Azul und Laguna Chica als Halden genutzt werden. Der erste soll mit Abraum, der zweite mit zyanidhaltigen Abfällen gefüllt werden. Die Laguna Perol und die Laguna Mala sollen in einen offenen Tagebau verwandelt werden. Auch etliche kleinere Seen und Tümpel sind vom Bergbau bedroht.
„Yanacocha behauptet, diese Seen könnte man einfach von einem Ort zu einem anderen umsiedeln. Wie soll das gehen? Spielen die jetzt etwa Gott? Diese Seen sind unterirdisch miteinander verbunden, speisen etliche Feuchtgebiete und Flüsse, die Dutzende Bauerngemeinden und einige Städte mit Wasser versorgen. Es sind wichtige Ökosysteme, die dringend geschützt werden müssen. Sie müssen unantastbar sein“, sagt Jorge Abanto, Vorsitzender des Umweltschutzvereins Pulla Purishun aus Cajamarca. Dann fügt er hinzu: „Der Bergbau hat in Cajamarca Böden, Flüsse, Seen und ganze Berge zerstört. Denn das Gold wird mit hochtoxischem Zyanid im offenen Tagebau abgebaut. Die Einnahmen gehen ins Ausland, die Gifte und zerstörten Ökosysteme bleiben hier.“
Am 30. November erreichten die Proteste ihren vorläufigen Höhepunkt. Der Streik weitete sich auf weitere Städte im Norden Perus aus, darunter Jaén und San Ignacio. Zehntausende Bäuerinnen und Bauern kamen nach Cajamarca, um sich auf dem Hauptplatz der Stadt zu versammeln. Mehr als 50.000 Menschen bevölkerten die historische Plaza de Armas. Stundenlang ertönten in der gesamten Stadt die Rufe „Wasser Ja – Gold Nein!“ und „Conga läuft nicht!“.
Doch Salomón Lerner, Präsident des Ministerrates, will, dass Minas Conga in jedem Fall umgesetzt wird. Es gehe um die Entwicklung des Landes. „Von welcher Entwicklung ist da die Rede?“, fragen sich die Betroffenen. Nach 18 Jahren Bergbau in der Region ist diese lediglich ärmer geworden, die Menschen kranker. „Wir wollen, dass der Präsident selbst sagt: Conga läuft nicht!“, so Wilfredo Saavedra, Vorsitzender der Front zur Verteidigung der Umwelt von Cajamarca (FDAC).
Am achten Tag der Proteste beruhigte sich die Lage etwas. Der innere Verkehr wurde wieder zugelassen, um den Transport von Nahrungsmitteln vom Land in die Stadt zu ermöglichen. Am 2. Dezember jedoch rückten die Elitesoldaten der Regierung an. Sie räumten alle Straßen.
Am 4. Dezember verhängte der Präsident in einer Ansprache an die Nation dann den Ausnahmezustand für die Provinzen Cajamarca, Hualgayoc, Celendín und Contumazá. Damit wurden die Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, die betroffenen Provinzen wurden militarisiert. Der offene Protest ist nun verboten. Es folgten Einschüchterungsversuche durch die Regierung. Der FDAC-Vorsitzende Saavedra wurde am 6. Dezember in Lima inhaftiert, nachdem er im Kongress vor Repräsentant_innen der Kommission der Indigenen Völker die Gründe für die Ablehnung der betroffenen Bevölkerung gegenüber Minas Conga darstellte. Als Saavedra den Kongress verließ, wurden er und fünf weitere Bergbaugegner_innen verhaftet, angeblich zur Identitätsfeststellung. Doch die Verhafteten wurden zur Terrorismusbekämpfungseinheit DIRCOTE gebracht und dort für zehn Stunden festgehalten. Zeitgleich wurde in Cajamarca die Wohnung Saavedras, in der sich seine Frau und seine Kinder aufhielten, von Polizeieinheiten umstellt. Der frühere Priester Marco Arana verurteilte die aktuellen Geschehnisse: „Man kann nicht die als Terroristen bezeichnen, die einen legitimen Kampf für den Schutz des Wassers und der Umwelt führen. Ich verlange die sofortige Freilassung der Bergbaugegner und die Aufhebung des Ausnahmezustandes.” Auch Gregorio Santos, Regierungsoberhaupt des Departamentos Cajamarca, bezeichnete die Verhaftung als „verfassungswidrig”. Zwar war Saavedra als ehemaliges Mitglied der linken Guerillabewegung Túpac Amaru vor Jahren verurteilt worden und musste eine zehnjährige Haftstrafe absitzen, aber es bestehen heute keinerlei Haftbefehle gegen ihn oder andere Mitglieder der Widerstandsbewegung gegen Minas Conga.
Der stellvertretende Chef der Departamentoregierung von Cajamarca, César Aliaga Díaz, stellte klar, dass die Verhafteten auf Einladung der Regierung nach Lima gereist seien, um den Dialog neu zu beginnen und eine Lösung für den Konflikt zu finden. Daher stelle ihre Verhaftung ein Zeichen von Respektlosigkeit und Intoleranz dar. Da die Menschen in Cajamarca momentan wegen des Ausnahmezustandes nicht demonstrieren dürften, sammle sich all ihre Wut nun an, um an einem anderen Moment zu explodieren. Auch der linke Kongressabgeordnete Javier Díez Canseco, bezeichnete die Geschehnisse als Provokation in einem Moment, in dem Frieden und Dialog gesucht würden.
In Cajamarca herrscht derzeit eine erzwungene Stille. Als Zeichen des Protestes hisst die Bevölkerung Nationalflaggen vor ihren Häusern, an Fenstern und Balkons. Denn dagegen kann auch die Polizei nichts sagen.
Am selben Tag versammelten sich die Regierungs­chefs von 19 der 24 Departements in Lima mit dem Ministerratspräsidenten Lerner, um die Aufhebung des Ausnahmezustandes zu verlangen. Die anwesenden Departamentochefs erklärten ihre Solidarität mit Cajamarca und Santos, der wegen Krankheit nicht an dem Treffen teilnahm. Sie erörterten mit Lerner, dass der Ausnahmezustand den Konflikt nicht lösen werde, dass eine neue Lösung zusammen mit der betroffenen Bevölkerung gesucht werden müsse. Eine Möglichkeit dazu sei ein neues Umweltfolgengutachten für Minas Conga unter internationaler Aufsicht. Zudem fanden in verschiedenen Städten Perus Mahnwachen in Solidarität mit Cajamarca statt, darunter Lima, Piura und Trujillo.

Peru: Aufstand gegen das Gold
Helfen Sie der Bevölkerung Cajamarcas mit Ihrer Unterschrift bei der Verteidigung ihrer Grundrechte und der Wasserquellen.
Online Aktion von „Rettet den Regenwald“
www.regenwald.org/aktion/806/peru-aufstand-gegen-das-gold
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„Wir brauchen funktionsfähige Umweltinstitutionen“

In Cajamarca herrscht wegen der Proteste der Bevölkerung gegen den Ausbau der Goldmine Yanacocha der Ausnahmezustand. Welche Bedeutung hat diese Nachricht für andere Bergbauregionen?

Cajamarca ist eine der Regionen, wo sich seit Jahren die Proteste gegen den Bergbau konzentrieren. Dort ist Yanacocha, eines der größten und einflussreichsten Bergbauunternehmen Perus, angesiedelt. Wie beispielsweise der Film Operación Diablo dokumentiert, hat das Unternehmen lokale Anführer und Umweltaktivisten systematisch ausspioniert und verfolgt. Yanacocha ist nun das gleiche Unternehmen, welches das Projekt Conga vorbereitet hat, um den Goldbergbau auszuweiten. Von der Bevölkerung wird dies allerdings abgelehnt, weil die Wasserquellen der Region gefährdet sind. Der Umgang mit diesem Konflikt wird landesweit genau beobachtet – auch hier im Süden Perus. Ich lebe ziemlich genau zwischen Puno und Cusco; die Entscheidung über die Ausweitung des Bergbaus kann auch für uns Bedeutung haben. Bisher war es nicht die Regierung, die den Ausbau der Förderung verbindlich untersagt hat, sondern das Unternehmen, welches das Projekt auf Eis gelegt hat. Somit ist der Ausgang des Konflikts in Cajamarca für alle Bergbauregionen relevant.

Wie verhält sich denn die Regierung? Geht sie kritischer mit dem Bergbau um, nimmt sie ihn – so wie immer mehr Peruaner_innen ­– als ökologisches Risiko wahr?

Präsident Ollanta Humala hat sich während seiner Wahlkampagne immer wieder für den Umweltschutz ausgesprochen. Bezüglich des Projekts Conga hieß es dann, dass Bergbau und Wasserschutz koexistieren müssten. Diese Haltung hat den Widerstand vieler Organisationen und auch deren Unverständnis hervorgerufen. Vor allem im Süden Perus hat man Humala als Verräter und Diener des neoliberalen Modells bezeichnet.

Wie ist denn die Situation im Süden Perus, gibt es auch dort Konflikte rund um den Bergbau?

Ja, es gibt eine ganze Reihe von Konflikten. Einer der gravierendsten ist der Wasserkonflikt von Majes Siguas. In diesem Kontext hat der Konflikt in Cajamarca große Bedeutung. Die Bevölkerung denkt, dass sie eine Form des Protests wie in Cajamarca wählen könnte. Auch wenn sich die Stimmung in den letzten Tagen vielleicht geändert haben könnte, meinen viele, dass der Konflikt beendet werden sollte. Wenn der Staat das Projekt schließen würde, dann wäre der Weg frei für Lösungen in einer ganzen Reihe ähnlicher Konflikte. Wenn der Konflikt nicht gelöst wird, dann wird die Regierung von Humala Schwierigkeiten haben, sich als eine Regierung darzustellen, die in der Lage ist, schwerwiegende Umwelt- und Sozialkonflikte zu moderieren und zu lösen. Bisher fehlt es an klaren Signalen, dass die Regierung auf zuverlässige Umweltgutachten pocht und Bergbauprojekte unter die Lupe nimmt, bevor diese genehmigt werden. Das Umweltministerium ist eine Institution, die wenig ausrichten kann. Vizeminsiter José de Echave hat vor kurzem seinen Posten aufgegeben, weil er keine Chancen auf Veränderungen gesehen hat.

Humala hat große Erwartungen geweckt …

Ja, das ist richtig. Es gab so etwas wie eine Aufbruchstimmung. Ein Problem ist sicher, dass die Leute ihm wenig Zeit geben. Sie wollen schnelle Erfolge und tiefgreifende Veränderungen. Sie wollen gefragt und gehört werden, sie wollen ein Ende der sozialen Exklusion.

Die neuen Gesetze, mit denen der Staat die Minenkonzerne zur Kasse bittet, und das Konsultationsgesetz reichen nicht aus?

Jein, denn eines der Probleme ist ja, dass es viele Regionen gibt, wo zwar Geld vorhanden ist, aber es kaum eingesetzt wird. Da fehlt es an Kapazitäten auf der lokalen Ebene.

Aber wenn es so hohe Erwartungen gibt, ist die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch, dass es zu einer Verschärfung der Konflikte kommt. Immerhin gibt es Sozial- und Umweltorganisationen, die die Zahl der Konflikte auf 250 taxieren.

Ja, das stimmt. Es wäre sinnvoll, wenn die Regierung Dinge, die sie ändern möchte, wie das Mitspracherecht bzw. Konsultationsrecht für die indigene Bevölkerung, auch angeht und Tatsachen schafft. Das Gesetz muss allerdings noch mit Bestimmungen zur Umsetzung versehen werden. Dies ist bisher nicht geschehen – ein Versäumnis und ein klares Defizit. Andererseits gibt es sehr viele Konzessionen für den internationalen Bergbau. Doch noch lange nicht überall hat die Bevölkerung auch Mitspracherechte – das wäre aber sinnvoll, denn es geht doch nicht gegen die Bevölkerung. Die Befragung der lokalen Bevölkerung sollte gerade bei bereits bewilligten Großprojekten, wo es Konflikte gibt, angewendet werden. So kann man sehen, ob sich die Konflikte auch ausräumen lassen. Es ist an der Zeit, Respekt für die Entscheidung der Bevölkerung aufzubringen. Aus meiner Sicht wäre das ein Ansatzpunkt.
Aber es gibt auch Zonen, wo die Leute den Bergbau nicht komplett ablehnen. Beispielsweise in der Region von Espinar, wo es schon seit 50 Jahren Bergbau gibt. Aber wie kommt die Umwelt zu ihrem Recht? Wir brauchen funktionsfähige Umweltinstitutionen, die prüfen, kontrollieren, sanktionieren.

Also mehr Monitoring, mehr Kontrolle, mehr Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen?

Ja, genau. Es fehlt an Infrastruktur, an Vertrauen und Transparenz. Die Leute wollen wissen, wie viel das Unternehmen verdient, wo die Gelder bleiben, wie viele Anteile des Gewinns zurückfließen und vieles mehr. Die Leute wollen über die Verwendung ihrer Ressourcen verhandeln und entscheiden. Wir brauchen ein zuverlässiges Monitoring und Instrumente, um den Dialog zu ermöglichen.

Aber fehlt es nicht an einem glaubwürdigen Beispiel? In Cajamarca hat die Bevölkerung nichts von all dem Reichtum und verliert langsam aber sicher die Lebensgrundlage in der Region. Es gibt La Oroya, wo alles im Umkreis von 50 Kilometern verseucht ist. Sind das nicht Botschaften an die Investoren, dass in Peru alles möglich ist?

Das ist richtig, aber es gibt die Signale, dass mehr kontrolliert werden muss, dass es mehr Steuerzahlungen geben soll. Allerdings stimmt auch, dass die staatlichen Institutionen oft im Interesse der Investoren arbeiten. Ein Widerspruch, denn die Regierung soll schließlich im Interesse der Peruaner arbeiten.

Interview: Knut Henkel

„Das ist unser Wasserreservoir“

Als am 25. August dieses Jahres im Dorf Agua Blanca die Forellen starben wurde den Bewohner_innen schlagartig bewusst, welche Auswirkungen das Gold- und Kupferminenprojekt Minas Conga für sie haben wird. Die Bohrungsarbeiten, die bereits in vollem Gange sind, haben die Wasserquellen des Dorfes zerstört. „Unser Dorf wurde sehr von dem Unternehmen Minera Yanacocha enttäuscht“, erzählt Milciades Atalaya aus Agua Blanca. „Am 25. August sind unsere Forellen gestorben, denn das Wasser war vergiftet. Das ist in den Jahren, die wir hier leben, noch nie passiert. Es gab immer viele Fische und Kröten, nie ist eine Forelle gestorben. Auch unsere Tiere tranken das Wasser.“ Die Forellen stammten aus der örtlichen Fischzucht, welche die Dorfbewohner_innen betreiben, um ihr mageres Einkommen aufzubessern. Alle im Dorf betreiben Landwirtschaft, leben von dem, was auf den Feldern wächst und vom Verkauf der Fische. Im Dorf leben rund 350 Menschen in kleinen, selbstgebauten Lehmhäusern.
Neben jedem Haus sieht man nun seit September auch neue blaue Wasserkanister. Am 19. September wurde durch Bohrarbeiten erneut der Fluss Río Chirimayo vergiftet. „Das Wasser färbte sich milchig. Eine Kuh trank das Wasser aus dem Auffangbehälter des Trinkwassers und starb“, erklärt Atalaya die Situation mit wütendem Blick.Das Unternehmen Minera Yanacocha gab den Dorfbewohner_innen daraufhin Wasser in Kanistern. Die Menschen stehen Schlange, um ihren Wasserkanister zu bekommen. Atalaya sieht die Verantwortung bei dem Bergbauunternehmen: „Minera Yanacocha möchte nicht mehr, dass wir unser Wasser benutzen. Es ist mit Substanzen der Bohrarbeiten vergiftet“. Am 20. September hätten sie wegen der Bohrarbeiten neben der Quelle erneut das Wasser verunreinigt. Wieder seien Fische gestorben und Minera Yanacocha habe das Wasser aus dem Fluss in große Zisternen abgepumpt, um es an einem anderen Ort zu entsorgen.
Die Bohrarbeiten für Minas Conga werden mit großen Maschinen durchgeführt, die tiefe Löcher bohren, 200 bis 400 Meter tief, manchmal auch tiefer. Ob dabei chemische Substanzen benutzt werden, ist ungewiss. Das Unternehmen Minera Yanacocha informiert die Dorfbewohner_innen nur ungenügend. Ingenieur_innen kamen und untersuchten das Wasser und die toten Forellen, aber die Ergebnisse wurden nie bekannt gegeben. Zwar hat Minera Yanacocha eine Dorfversammlung in Agua Blanca abgehalten, jedoch nur, um den Bewohner_innen zu sagen, dass sie von nun an ihr Wasser nicht mehr benutzen dürften. Auch wurde den Betroffenen nie erklärt, welche Auswirkungen der Gold- und Kupferabbau vor ihrer Haustür mit sich bringen wird.
Aber die Menschen ahnen Schlimmes, wissen von den ökologischen und sozialen Auswirkungen der Goldmine Yanacocha, 48 Kilometer nördlich der Stadt Cajamarca. Die Mine gehört ebenfalls dem Unternehmen Minera Yanacocha, welches zu 51 Prozent dem US-Amerikanischen Unternehmen Newmont Mining Coorporation gehört, zu 44 Prozent der peruanischen Firma Minas Buenaventura und zu 5 Prozent der Weltbank. Die Mine Yanacocha besteht aus fünf offenen Tagebauen, wo Gold per Zyanidverfahren gewonnen wird, was zu schweren Umweltproblemen führt. In Yanacocha werden circa 90 Tonnen Gold pro Jahr gefördert.
Gemäß des Regionalen Vizepräsidenten von Newmont, Thomas Savage, investiert Minera Yanacocha seit Anfang August 2011 täglich 6 Millionen US-Dollar in das Gold- und Kupferminenprojekt Minas Conga. Rund 32 Dörfer sind von dem Projekt betroffen. Im Jahr 2014 soll mit der Förderung von Gold und Kupfer begonnen werden, die rund 19 Jahre andauern soll, dann werden sich die Vorräte erschöpft haben.
Atalaya ist nicht der einzige, der sich über das Projekt beschwert: „In Agua Blanca sind die Leute sehr unzufrieden. Sie wollen keine Mine hier, denn hier befinden sich die Bergseen und die Feuchtgebiete“, so Atalaya. „Minera Yanacocha möchte die Seen von einem Ort zu einem anderen umsiedeln. Damit ist die Bevölkerung hier nicht einverstanden. Denn das ist unser Wasserreservoir“.
Zudem werde Minas Conga wie ein heimliches Projekt betrieben und habe keine soziale Lizenz von der Bevölkerung. „Sie haben auch keine Umweltstudien durchgeführt und die Seen nicht begutachtet. Das machen sie einfach nicht. Aber wir wissen von den Seen und dass es dort viele Fische gibt. Früher war das Wasser hier überall ganz sauber, wir konnten sogar direkt vom Fluss trinken ohne krank zu werden. Wir wollen nicht, dass sie die Seen umsiedeln, die Seen müssen hier bleiben“, erzählt Atalaya.
Julio Catregón, ein anderer Dorfbewohner, fügt hinzu: „Es stimmt, dass sie 22 Bergseen und auch die Feuchtgebiete zerstören wollen. Und deswegen werden wir die Seen verteidigen. Wir wollen einen verantwortlichen Bergbau“. Im Distrikt Sorochuco und in der Provinz Celendín sind ungefähr 10.000 Menschen direkt und indirekt von dem Minenprojekt betroffen.
Milciades Atalaya berichtet auch von Betrug: „Sie haben die öffentliche Anhörung, die im Rahmen der Umweltverträglichkeitsstudie stattfindet, mit anderen Leuten gemacht, nicht mit der betroffenen Bevölkerung. Sie fand in La Encañada statt, wo nur fünf Prozent der Betroffenen leben und Minera Yanacocha brachte fremde Leute an den Ort“. Diese hätten alle unterschrieben, um ein Mittagessen zu bekommen. Die Dorfbewohner_innen wussten jedoch nicht, dass es Unterschriften für die öffentliche Anhörung waren. „Und die, die protestieren wollten, hatten Angst, denn alles war voll mit Polizei. In den Hügeln waren sie mit ihren Tränengasbomben und Gewehren. Ich weiß nicht, was mit unserem Peru los ist …“ Atalaya schüttelt den Kopf und schweigt.

Den Bergbau fest im Blick

Die Straße ist mehr als schlecht. Es würde vieler Leute, schwerer Maschinen und mehrerer Wochen harter Arbeit bedürfen, um sie erst einmal in einen schlechten Zustand zu bringen. Ohne Vorwarnung endet der Asphalt bereits nach zwanzig Minuten Fahrt außerhalb von Cuzco, der Touristenstadt mit ihren 5-Sterne-Hotels und Su-shi-Restaurants. Und das, obwohl mein Ziel, die Stadt Tambobamba, nicht irgendein vergessener Ort im Niemandsland ist. Tambobamba ist die Hauptstadt der Provinz Cotabambas und liegt nur ein paar Fahrstunden entfernt vom massiven Las- Bambas-Kupferprojekt, das sich momentan in der Bauphase befindet.
Normalerweise profitieren Städte, die an Straßen zu Bergbauprojekten liegen, von einer vernünftigen Straßenanbindung – vor allem wenn es die Straße zur Provinzhauptstadt ist. Nicht so Tambobamba. Die Arbeiter_innen des Bergbauunternehmens werden per Hubschrauber eingeflogen und die Straße verbleibt in einem armseligen Zustand.
Das Projekt Las Bambas gehört Xstrata. Das Unternehmen aus der Schweiz will den Abtransport des im offenen Tagebau gewonnenen Kupfererzes über die Straße vermeiden und plant eine 215 Kilometer lange Pipeline in eine angrenzende Region. In drei Jahren soll der Kupferabbau beginnen. Xstrata rechnet mit einer jährlichen Produktion von 400.000 Tonnen. Dadurch würde sich die gesamte Kupferproduktion des Landes um 30 Prozent erhöhen. Aktuell ist Peru weltweit der zweitgrößte Produzent des wichtigen Industriemetalls.
Doch in der Vergangenheit gab es wegen Las Bambas Proteste von lokalen Gemeinschaften, die über mögliche Verschmutzungen der Umwelt besorgt sind und sagen, dass sie bisher nicht die oftmals versprochenen Wohltaten vom Projekt erhalten haben. 2008 verurteilte die peruanische Regierung Xstrata für das verbotene Ablassen von giftigen Substanzen bei Bohrungserkundungen in die Umwelt einer nahe gelegenen Gemeinschaft. Diese Nachricht verursachte Furcht unter den Bauerngemeinschaften der Provinz, die größtenteils von Subsistenzlandwirtschaft leben.
Im Mai dieses Jahres erklärte der unweit von Las Bambas gelegene Distrikt Chalhuahuacho einen Streik gegen die Mine – das Unternehmen musste Personal und Maschinen evakuieren. Bauernführer_innen beklagten, dass nur Gemeinschaften, die nahe der Mine liegen, von dieser profitieren und verlangten mehr Entwicklungsprojekte für die gesamte Region.
Ein Übereinkommen zwischen Xstrata und den Bauernführer_innen wurde im Juni erzielt, der Streik beendet. Seitdem haben Ereignisse auf der nationalen Ebene der Region eine angespannte Ruhe gebracht – eine Pause voller Erwartungen, die in vielen Orten in Peru mit konfliktiven Bergbauprojekten gefühlt wird. Die vorherige Regierung unter Alan García sah sich einer steigenden Anzahl sozialer Konflikte gegenüber – ingesamt 246 waren es nach den Berichten der peruanischen Ombudsstelle für Menschenrechte im letzten Jahr. Allein die Hälfte von ihnen sind Umweltkonflikte infolge der Aktivitäten des extraktiven Industriesektors, der Erdöl, Erze, Erdgas und Holz gewinnt oder abbaut.
Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit konservativen Politiker_innen in indigenen und Bauerngemeinschaften brachte im Juli dieses Jahres Ollanta Humala – einen linksorientierten Nationalisten – an die Präsidentschaft. Jetzt warten seine Unterstützer_innen darauf, dass er die versprochene soziale Transformation beginnt. Doch in vielen Teilen des Landes sind die Menschen wenig geduldig.
Ende September brach ein Konflikt in Tacna in der Nähe der Grenze mit Chile auf. Die lokale Bevölkerung versuchte, in eine öffentliche Anhörung für die Expansion eines Bergwerkes der US-Firma Southern Copper zu gelangen und wurde mit Gewalt von der Polizei gestoppt. Regionale Anfüher_innen drohten mit Streik. Anfang Oktober war Humalas Regierung gezwungen, die öffentlichen Anhörungen zu stoppen. Die Menschen schworen, dass sie solange protestieren würden, bis die Erweiterung des Projektes abgeblasen sei.
Am anderen Ende des Landes, in den nördlichen Anden von Cajamarca, braut sich ein anderer Konflikt zusammen: zwischen Bauern und dem Unternehmen Yanacocha, das Lateinamerikas größte Goldmine betreibt. Bauerngemeinschaften protestieren gegen den Plan des Unternehmens, einen heiligen Berg und wichtige Wasserquellen zu zerstören. Die Regionalregierung hat den Berg Quilish zur geschützten Zone erklärt, doch die US-Firma Newmont Mining als Mehrheitseignerin von Yanacocha will mit dem Projekt fortfahren.
Am Endpunkt meiner anstrengenden Tour, in dem kleinen Dorf Asacasi mit nur knapp 400 Einwohner_innen, leicht außerhalb von Tambobamba, haben sich die Sorgen über den Tagebau Las Bambas zum Gegenstand von Alltagsgeprächen entwickelt. Das Dorf hat gerade erst einen Preis für das beste Management seiner Wasserressourcen gewonnen, der vom Centro Bartolomé de las Casas (CBC), einer Nichtregierungsorganisation aus Cuzco vergeben wird, die mit marginalisierten lokalen Gemeinschaften im Andenraum arbeitet. Der Preis besteht darin, den Einwohner_innen in einem Trainingsworkshop das Wissen zu vermitteln, um ihren eigenen Film drehen zu können. Ich kam als Leiterin dieses Workshops nach Asacasi.
Das CBC möchte, dass die Gemeinde sich im Film auf ihren erfolgreichen Wassermanagementplan fokussiert: ein neues Reservoir, ein System zur Chlorung des Wassers und eine Müllhalde, um das Wasser rein zu halten. Aber so sehr ich auch versuche, die Leute beim Thema zu halten – die Bedrohung durch den Tagebau schleicht sich in jede Szene ein.
Die Gruppe beschließt, mit dem Drehen an einem kristallklaren Fluß zu beginnen, der unterhalb ihres Dorfes im Schatten eines hohen Berges fließt. Trotz Trockenzeit ist der Fluss voller Forellen. Estanislao Cuñas, Präsident des Wasserkommittees von Asacasi, führt uns zu einem flachen Teil des Stroms und fischt mit bloßen Händen ein halbes Dutzend Forellen heraus. Obwohl er bisher nie einen Film gemacht hat, scheint Estanislao ein geborener Regisseur zu sein. Er erwischt die dickste Forelle, die er finden kann, und weist den Kameramann an, ihn mit dem Fluss im Hintergrund zu filmen.
“Die Menschen in der Stadt denken oft, dass wir Bauern nicht wissen, wie wir die Umwelt schützen sollen“, sagt Estanislao, „aber wir zeigen ihnen, dass sie falsch liegen.“ Leute von außerhalb seien ihre größte Bedrohung, erzählt er weiter, und drückt die Sorge aus, dass Las Bambas die Umwelt verschmutzen werde, wenn im Tagebau erst einmal die Kupferförderung beginne. Und Las Bambas ist erst der Anfang. Mehr als 54 Prozent der Region Apurímac, in der sich Asacasi befindet, sind für den Bergbau konzessioniert.
Wie die Mehrheit in der Region, leben auch die Menschen in Asacasi weiterhin vom Land. Es ist Perus berühmte Altiplano-Region, eine Hochebene auf mehr als 4.000 Metern über Meereshöhe in den Anden. Auf den ersten Blick erscheint die Umgebung kahl und öde – es gibt hier keine Bäume, nur hohe, dornenartige Gewächse, Berggras und niedrige Buschvegetation. Asacasi liegt auf einer flachen, weiträumigen Ebene, die umgeben ist von imposanten Bergen, mit scharfkantigem, schroffem Gestein. Der Horizont lässt sich aus jeder Richtung erblicken – es ist eine perfekte, endlos scheinende Weite, ungestört durch Gebäude oder Vegetation.
Die Ernährungsgrundlage der Dorfbewohner_innen würde jede_n Nordamerikaner_in aus Bewegungen und Gruppen, die sich für lokal produzierte Nahrungsmittel einsetzen, beschämen. Alles wird im Dorf produziert: Kartoffeln und Kräuter gibt der Boden, Eier die Hühner, Milch und Käse die Kühe, Fleisch kommt von den Meerschweinchen, Schafen und Alpakas und natürlich Fisch, Shrimps und Frösche aus dem Fluss.
Zum Mittagessen werden wir von Gregorio Tarapaqui, dem Sekretär des Wasserkommittees von Asacasi, eingeladen. Im Filmworkshop gibt er einen ausgezeichneten Kameramann. Gregorio bringt eine große Schüssel gefüllt mit dampfenden Kartoffeln und stellt sie scheu zu meinen Füßen. In Peru gibt es tausende Kartoffelvariationen in den verschiedensten Farben, Geschmacksrichtungen und Aussehen. Wir essen kleine runde Kartoffeln, mit einem cremigen Kern und größere ovale, die innen weiß sind und eine dunkle knusprige Schale haben.
Das Hauptgericht ist Forellensuppe. Die Fische wurden beim Filmen am Morgen gefangen. „Was machen wir, wenn unsere Fische verschwinden?“, fragt Gregorio. „Jetzt haben wir genügend, um das ganze Dorf zu ernähren, wir müssen nicht rationieren oder den Fang kontrollieren.”
Bauern- und indigene Gemeinschaften hoffen, dass ein neues Gesetz, das von der Regierung unter Ollanta Humala verabschiedet wurde, ihnen die Möglichkeit gibt, zu entscheiden, ob sie Bergbau-, Öl- oder Gasprojekte auf ihrem Land wollen. Es handelt sich um das Gesetz über vorherige Konsultation, auf dessen Grundlage lokale Gemeinschaften befragt werden müssen, bevor Unternehmen Megaprojekte starten können. Unter den Bauerngemeinschaften bestehen schon jetzt hohe Erwartungen an das neue Gesetz, doch viele Analyst_innen sind vorsichtiger, wenn sie dessen mögliche Auswirkungen beurteilen.
Pater Marco Arana, ein Soziologe mit 20 Jahren Erfahrung bei der Verteidigung der Rechte von Bauerngemeinschaften gegenüber Bergbauunternehmen, sagt, dass viel von den nachgeordneten gesetzlichen Regelungen abhängen werde, die erst noch geschrieben werden müssen. Diese Regelungen werden entscheidend dafür sein, wie das Konsultationsgesetz umgesetzt wird. Werden die lokalen Gemeinschaften dann formelle Referenden abhalten können, bevor neue Konzessionen für ihr Land vergeben werden? Oder werden die Unternehmen nur verpflichtet sein, die Zustimmung der lokalen Anführer_innen zu erreichen? Wird eine Zustimmung überhaupt notwendig sein, oder werden die Unternehmen die Menschen nur konsultieren müssen, ohne jedoch letztlich deren Zustimmung zu benötigen?
Das Konsultationsgesetz hat Befürchtungen auch in den Kreisen der Bergbaubefürworter_innen provoziert. Pater Arana wurde jüngst attackiert, als er nach Huancabamba reiste, in Perus nördliche Andenberge an der Grenze zu Ecuador. Sein Besuch galt den Feierlichkeiten des Jahrestages eines der ersten Referenden zum Bergbau. Die lokale Bevölkerung sprach sich im September 2007 zu mehr als 90 Prozent gegen Bergbauprojekte in ihrer Region aus. Das Auto mit Marco Arana wurde auf dem Weg nach Huancabamba von mehreren Leuten gestoppt, die ihm sagten, sie wollten „Entwicklung“ und seien gegen die Landwirtschaft als Alternative. Nach einer kurzen Unterredung konnte Arana weiterfahren – 30 Minuten später wurde das Auto jedoch von Unbekannten mit Steinen beworfen und mit scharfer Munition beschossen.
Derartiger Ärger ist Marco Arana nicht fremd. Vor ein paar Jahren stand er im Zentrum einer massiven Spionageoperation mit dem Namen „Operation Teufel”. Jeder seiner Schritte wurde über einen Zeitraum von drei Monaten fotografiert und gefilmt. Er und seine Mitarbeiter_innen erhielten Morddrohungen per Telefon. Esmundo Becerra, ein mit Pater Arana befreundeter Bauer und engagierter Umweltaktivist aus der Provinz Cajamarca, der den Kampf gegen die Erweiterung eines Bergwerksprojektes anführte, wurde Anfang November 2006 ermordet.
Die Verfolgung und die Drohungen verängstigten Arana. Dennoch begannen er und seine Mitarbeiter_innen einen Plan zu entwickeln, die Spione auszuspionieren – sie machten Fotos von ihren Verfolger_innen und filmten sie. Arana gelang es schließlich, einen der Spione zu fassen und nachfolgend in den Besitz der Kopien von hunderten Berichten, Fotos und Videomaterial zu gelangen. Dieses Material wurde zum Kern des Dokumentarfilmes „Operación Diablo“ (Operation Teufel), den ich mit Arana und Umweltaktivist_innen drehte.
Wir zeigten den Film in Asacasi, um den Einwohner_innen zu vermitteln, welche Bedeutung es haben kann, wenn sie ihre neue Kamera und die erworbenen Fähigkeiten einsetzen, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Nach der Aufführung sagte der Bürgermeister des Dorfes, Juan Limaypuma, er hoffe, dass das neue Konsultationsgesetz den Bergbaukonflikten ein Ende setzen werde. Er rief Humalas Regierung dazu auf, sie solle die von Peru im Rahmen der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifizierten internationalen Übereinkommen respektieren, welche die Rechte indigener Gruppen schützen. Limaypuma sagte, dass die negativen Auswirkungen des globalen Klimawandels, wie Wasserknappheit, bereits zu zu spüren seien; er befürchtet, dass neue Bergbauprojekte weitere Umweltverschmutzung bringen werden.
Asacasi mag isoliert liegen, aber die Menschen dort wissen, was um sie herum und auf nationaler Ebene passiert. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Perus südlicher Andenregion stimmte für Humala, und sie erwarten nun, dass er seine Wahlversprechen erfüllt, um ihre Bedürfnisse und Rechte in einem demokratischen Peru zu berücksichtigen, in das sie einbezogen werden.
Sollte Humala scheitern, werden die ganzen sozialen Konflikte, die von der Vorregierung unter Alan García hinterlassen wurden, wieder auftauchen. Eine einfache Ankündigung im Radio durch regionale Anführer_innen kann tausende Bäuerinnen und Bauern von vereinzelt liegenden Dörfern wie Asacasi in Aktion bringen, um Straßen zu blockieren, Flughäfen zu schließen oder das Land wirtschaftlich lahm zu legen.
Große Versprechen produzieren hohe Erwartungen und Perus Bauerngemeinden werden nicht lange warten, bis sie Ergebnisse sehen wollen. Die Zeit läuft gegen Ollanta Humala.

Originalfassung des Artikels erschienen auf: TowardFreedom.com // Dank an Benjamin Dangl. // Die DVD Operación Diablo kann bei autofocus Berlin bestellt werden: www.videowerkstatt.de

Neue Hoffnung für Yasuní

Es geht voran mit Ecuadors visionärem „Dschungel statt Öl“-Projekt: Als „Erfolg auf der ganzen Linie“ wertete Präsident Rafael Correa die Veranstaltung am Rande der UN-Vollversammlung, zu der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon Ende September geladen hatte. Kommen genug Mittel von der internationalen Gemeinschaft zusammen, will Ecuador auf die Förderung von Erdöl im östlichen Teil des Yasuní-Nationalparks verzichten, dem nach den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha benannten ITT-Gebiet. Jahresziel bis Ende 2011: 100 Millionen US-Dollar.
„Die Welt lernt von Yasuní“, sagte Ban Ki Moon, mit Führungsstärke, Kreativität und Engagement sei nachhaltige Entwicklung möglich. Italien zahlt im Rahmen eines Schuldentauschs 35 Millionen Euro in den Treuhandfonds ein, der voriges Jahr unter dem Dach des UN-Entwicklungsprogramms eingerichtet wurde. Nach Chile sagte Kolumbien 100.000 Dollar zu, Peru 300.000 und Australien 500.000 Dollar.
Belgische und französische Regionalregierungen sind ebenfalls mit von der Partie, sogar multinationale Konzerne wie der brasilianische Bauriese Odebrecht. Mit dem Geld sollen 45 neue Naturschutzgebiete ausgewiesen, Wiederaufforstung und erneuerbare Energien vorangetrieben und Forschungsprogramme finanziert werden.
Correa machte aber auch wieder deutlich, dass er persönlich am liebsten das Öl im ITT-Gebiet fördern will, rund 20 Prozent der in Ecuador entdeckten Vorkommen. „Finanziell wäre das für uns besser“, sagte er, zu den heutigen Ölpreisen sei das „schwarze Gold“ 14 Milliarden Dollar wert. Und Ecuador brauche diese Mittel für Straßen, Krankenhäuser, Schulen, Bücher und seine Landwirtschaft. Kritiker_innen in Ecuador werfen Correa mit einigem Recht vor, wegen dieser Ambivalenz sei er der größte Bremser des Projekts.
Der Staatschef erinnerte erneut daran, dass vor allem die Industrieländer den Klimawandel verursacht haben, und erklärte: „Wir möchten gegen die Erderwärmung kämpfen, aber dafür brauchen wir die Mitverantwortung der Welt.“ Durch den Verzicht auf die Ölförderung würde nicht nur das artenreichste Gebiet Amazoniens und der Lebensraum zweier isoliert lebender indigener Völker geschützt, sondern auch direkt das Klima: 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid würden der Erdatmosphäre erspart.
Ivonne Baki, die Chefin der Yasuní-Verhandlungskommission, jubelte bereits, der Plan B, also die Ölförderung, sei „auf dem Müllhaufen“ gelandet. Die Türkei, Katar und weitere arabische Staaten sollen folgen, ebenso „ganz Südamerika“, kündigte sie an. Der Pragmatiker Correa, der offen auf umstrittene Öl-, Bergbau- und Agrospritprojekte setzt, will aber erst im Dezember Bilanz ziehen.
In Deutschland, woher in der Anfangsphase ab 2007 die wichtigste Unterstützung kam, machen Umweltgruppen und -politiker_innen mobil. Sogar die Unionsfraktion im Bundestag forderte die Bundesregierung auf, zum Yasuní-Fonds beizutragen. Grüne, Linke und SPD stehen einhellig hinter der ITT-Initiative. Vier Bundestagsabgeordnete flogen im Oktober nach Ecuador, die Grüne Ute Koczy und auch Delegationsleiter Volkmar Klein (CDU) berichteten auf ihren Webseiten. „Insgesamt … ein wirklich begeisternder Besuch, der unterstrichen hat: Die Kooperation mit den Freunden in Ecuador lohnt sich im Interesse unseres weltweiten Naturerbes wirklich“, lautete Kleins Fazit.
Nur die FDP stellt sich weiterhin quer. Da traf es sich gut, dass der ecuadorianische Außenminister Ricardo Patiño in Berlin von Guido Westerwelle empfangen wurde. Bei einem „absolut angenehmen und herzlichen Dialog“ habe er seine Kritik an Westerwelles Parteifreund Dirk Niebel „ganz offen auf den Tisch gelegt“, sagte Patiño. Ecuador könne es nicht hinnehmen, dass es durch Regierungsmitglieder eines anderen Landes „angezählt“ werde.
BMZ-Minister Niebel, der im September 2010 die Kehrtwende der Bundesregierung verkündet hatte, aalt sich seither geradezu lustvoll in seinem „Nein“ zu Yasuní-ITT. Der Spiegel berichtete über den „Zorn“ des selbsternannten „Globalisierungsministers“ wörtlich: „Ausgerechnet Italien, das seine eigenen Schulden in den Griff bekommen müsse, habe Ecuador zugesagt, 35 Millionen Euro an Schulden zu erlassen, kritisierte Niebel. ‚Die europäische Solidarität würde es erwarten lassen, dass Italien erst mal die eigenen Finanzen in den Griff bekommt‘, sagte der FDP-Politiker. ‚Soll Berlusconi das Geld doch aus seinem Privatvermögen bezahlen‘.“
Umwelt- und Nord-Süd-Verbände erhöhen unterdessen den Druck auf Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und der BUND Hannover lancierte das Yasuní-Portal www.saveyasuni.eu, die umfassendste deutschsprachige Website zum Thema.
In der taz plädierte Niebel für Marktmechanismen wie das in der Klimadebatte vor allem von westlichen Industrieländern propagierte REDD (Reducing Emissions from Deforestation und Forest Degradation). Über die jüngste Variante des Emissions- oder Ablasshandels soll auf dem kommenden Klimagipfel in Durban weiter diskutiert werden.
Für Alberto Acosta, Correas früheren Freund und ersten Energieminister, ist Yasuní-ITT hingegen auch eine „praktische Kritik an der Kommerzialisierung der Natur“ – es sei sinnlos, Fonds zu gründen, „um Umweltzerstörung an einer Stelle der Welt dadurch zu rechtfertigen, dass woanders Verantwortung wahrgenommen wird.“ Wer REDD fördere, leugne dessen negative Auswirkungen auf die indigenen Gemeinschaften, erwiderte Acosta. Mit REDD werde der Regenwaldschutz zum Geschäft: „Statt den dringend notwendigen Schwenk in Richtung der Post-Erdöl-Zivilisation zu vollziehen und die Atmosphäre von schädlichen Emissionen zu befreien, ist REDD ein Akt blindwütiger Kommerzialisierung“.
„REDD ähnelt den Glasperlen, mit denen europäische Konquistadoren bei der Eroberung Amerikas den Ureinwohnern ihr Gold abluchsten“, sagt Acosta: Es könne in der Praxis sogar ein Anreiz für indigene Gemeinschaften werden, die Ausbeutung der Ressourcen zuzulassen, die sie ansonsten verhindern würden. Rafael Correa hingegen verteidigte die REDD-Mechanismen auf dem Klimagipfel von Cancún, anders etwa als Bolivien. Auch wenn in der innenpolitischen Debatte die Unterschiede zwischen der ecuadorianischen Regierung und ihren Kritiker_innen von links deutlicher zutage treten denn je: Zumindest verbal setzten beide Seiten jetzt ganz auf die „Zivilgesellschaft“, vor allem in den USA und Europa.
Niebel befürchtet zudem einen „Präzedenzfall“: Sollte Yasuní-ITT Erfolg haben, könnten auch andere Länder genauso Geld für unterlassene Umweltzerstörung fordern, meint der Ultraliberale. Dazu sagt Acosta: „Genau das ist unsere Hoffnung. Schaffen wir zwei, drei, viele Yasuní auf der Welt“. Ecuadors Kultur- und Naturerbe-Ministerin María Fernanda Espinosa ist in der Regierung Correa eine der hartnäckigsten Verfechter_innen des Plans A, also der Nicht-Förderung. „Die andauernden Spekulationen über den Plan B führen zur Kritik an der Regierung“, analysiert sie. „Das ist erfrischend, denn dadurch werden diese Gruppen zu Wächtern der Initiative. Indem sie den Präsidenten kritisieren, wenn er den Plan B auch nur erwähnt, erhalten sie die Initiative am Leben. Hinzu kommt der Rückhalt von 80 Prozent der Ecuadorianer“.
All dies hält den Präsidenten nicht davon ab, die Vorbereitungen für die Ölförderung in zwei Dritteln des ITT-Gebiets systematisch voranzutreiben. Typisch der Auftritt in seinem wöchentlichen Liveprogramm Enlace vom 8. Oktober: Zunächst lobte er den Rückhalt der Parlamentarier_innen und tat Berichte über deren Kritik am Verleumdungsprozess gegen die Tageszeitung El Universo als „Lügen“ ab. Dann erwähnte er Studien für die Ölförderung im Tambococha-Block. Dort könnten „horizontale Fördertechniken“ zum Einsatz kommen, sagte Correa. Ähnliches gelte für den Tiputini-Block, der nur zu 10 Prozent innerhalb des Nationalpark liege. „Nur für Ishpingo muss ich das Parlament um Erlaubnis bitten oder eine Volksbefragung ansetzen“, sagt Correa, denn dieses Ölfeld liege „im Herzen des Yasuní“: „Ich habe nicht vor, diesen Block anzutasten“.

Ein nachhaltiges Modell

Vor knapp zehn Jahren befand sich Argentinien auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftskrise. Wie haben sich seitdem die zahlreichen von Arbeiter_innen besetzten und übernommenen Betriebe, die sogenannten empresas recuperadas (EERR), entwickelt?
Die EERR entstanden in der Tat in der schlimmsten Krise Argentiniens. Als die ursprünglichen Besitzer die Betriebe schlossen und ihre Angestellten hinauswarfen, gab es kaum eine Möglichkeit, wieder Arbeit zu finden und das auch noch zu einem angemessenen Lohn! Also mussten wir uns selbst um Arbeit, unsere Gehälter und deswegen um den Betrieb kümmern – ohne Kapital, ohne Geld und nur mit dem Wissen über den jeweiligen Produktionsprozess.
Es waren dann zwei Stützpfeiler, auf die wir bauen konnten: Die Aufopferung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die soweit auf ihren Lohn verzichtet haben wie der jeweilige Betrieb das Geld brauchte. Zudem eine intelligente Politik der Arbeiter, die dafür sorgte, dass die Rohstofflieferanten die Betriebe als Kunden behalten konnten. Mit einem Startkapital von umgerechnet zehn Euro haben wir im Fall der Backfabrik Mil hojas nur von einem Tag zum nächsten Mehl gekauft, dann für fünf, irgendwann für 30 Tage und so weiter.
Die Mehrheit der EERR hat ihr Produktionsniveau heute verfünffacht im Vergleich zu der Zeit vor der Krise, als die Betriebe sich noch nicht in Besitz der Arbeiter befanden. Im Vergleich zur Krise hat sich das Niveau wahrscheinlich verhundertfacht, auch begünstigt durch die Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft.

Welche Aufgaben und Herausforderungen stehen für die EERR derzeit an?
Prinzipiell gilt es, dieses Modell zu festigen, das sich noch im Anfangsstadium befindet. Statt auszugrenzen, bietet es eine Antwort auf die strukturelle Krise des neoliberalen Kapitalismus. Wir wollen mehr als dass die Armut einfach ausgehalten wird. Arbeit soll wieder die Basis für ein würdiges Leben und soziale Inklusion sein. Wir zeigen, dass der Gesamtwert eines Betriebs neben dem Kapital aus den Menschen, dem Know-how, der Technologie besteht. Und dass das erwirtschaftete Geld egalitär unter den Arbeiterinnen und Arbeitern verteilt werden kann.

Werden immer noch Betriebe besetzt und instand gesetzt?
Ja, natürlich. Die Besetzungen waren keine Reaktion allein auf eine konjunkturelle Krise, sondern auf das strukturelle Problem neoliberaler Makroökonomie. Der Neoliberalismus zerschlägt jedweden gesellschaftlichen Sozialvertrag und geläufige Beschäftigungsformen. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist das Ergebnis dieser entfesselten Politik, in Lateinamerika wie in Europa. Was stellen sich die Europäer zum Beispiel vor? Eine Eurozone, eine Dienstleistungszone, eine Technologiezone, Unterstützung für einzelne Unternehmen – das kommt allerdings nur Wenigen zugute. Die restliche Politik besteht in Beihilfe für Arbeitslosigkeit oder verdeckter Subvention der Beschäftigung, die mit prekären Arbeitsverhältnissen einhergeht.
Die Perspektive, die den Arbeitern bleibt, sind neue Formen der Organisation und des Arbeitskampfes. Dabei kümmern sich die Arbeiter um die Produktion von Waren und Dienstleitungen und damit um die Schaffung von Wohlstand – auf Basis von Lohnarbeit, von Betrieben. Nicht nur in Argentinien übernehmen Arbeiter die Betriebe, sondern auch in Deutschland, Frankreich, Japan, den USA.

Wie erkennt die Präsidentin Cristina Kirchner Ihre Arbeit an, gibt es Unterstützung durch die Regierung?
Vor der Krise wurden wir durch die neoliberalen Regierungen unter Carlos Menem und Fernando de la Rúa in unserem Arbeitskampf wie Straftäter behandelt und unterdrückt. Seit der Krise und nach der Regierungsübernahme 2003 von Néstor Kirchner waren wir keinen Repressionen mehr ausgesetzt und wurden sogar in den Präsidentenpalast eingeladen. Das hat sich unter Cristina Kirchner fortgesetzt. In diesem Jahr gab es eine Gesetzesinitiative, die sehr bedeutsam für die EERR ist: die Veränderung des Konkursrechts zugunsten der Arbeiter, die nun alles der Produktion Dienliche selbstverwaltet weiter betreiben dürfen. Auch wenn die inzwischen etablierte Politik noch unzureichend ist und verbessert werden muss, so gab es zumindest hinsichtlich unserer Situation eine Drehung von 180 Grad.

Was bedarf es seitens des Staates?
Durch die unterdrückerischen und blutigen Diktaturen überall in Lateinamerika haben sich Strukturen und Mentalitäten durchgesetzt, die nicht so leicht aufzulösen sind, auch wenn sie aufgedeckt sind. Wir stellen uns einen Staat vor, der mit den Arbeits- und den sozialen Organisationen zusammenarbeitet, um die größte Herausforderung in Lateinamerika zu lösen: die soziale Inklusion. Diese schafft man über einen aktiven Staat, der Hilfe zur Selbsthilfe gibt. Denn jeder dieser Betriebe bedeutet Arbeitsmöglichkeiten und jeder Arbeitsplatz mehr, bedeutet einen ausgegrenzten Arbeiter weniger.

Gibt es auch Sektoren jenseits des Staates, mit denen die Zusammenarbeit gesucht wird?
Ja. Von Anfang an haben wir Beziehungen zu denjenigen gesucht, die vor Ort sind und Forschung betreiben oder mithelfen können. Mit mehr als 20 Universitäten haben wir Verbindungen zu EERR hergestellt. Aber es stellte sich heraus, dass die akademische Welt unsere Erwartungen nicht erfüllen konnte. 2008 gründeten wir dann in der Universität von Rosario einen Aufbaustudiengang „Soziale Ökonomie“ für Ingenieure, Anwälte und Buchhalter – alle aus verschiedenen Disziplinen, um ihnen etwas über solidarische Ökonomie zu vermitteln, über Kooperativen usw. So schufen wir uns selbst professionelle Quellen, die wir in die Unternehmen miteinbeziehen.

Wie wird die demokratische Partizipation in den EERR gesichert?
Das ist ein kompliziertes Thema. Formell gesehen sind wir 100 Prozent demokratisch. Dazu gehört aber auch ein Partizipationsprozess und in diesem haben wir immer noch ein klares Defizit. Das beruht auf kulturellen Bedingungen bei der Entstehung einer Kooperative: Wir sind ja nicht als Genossenschafter geboren worden. Vorher waren die Arbeitsbeziehungen ganz klar: auf der einen Seite der Chef und auf der anderen die Arbeiter.
Es ist tatsächlich eine der schwierigsten Fragen und wir mobilisieren alle notwendigen Kräfte und bitten um Hilfe bei verschiedenen Akteuren, um eine Basis zu schaffen, die auf der Partizipation der Arbeitenden beruht.

Wie läuft die Vernetzung zwischen den Unternehmen auf regionalem, nationalem und internationalem Niveau?
In den Neunzigern hatte niemand eine Antwort auf unsere Fragen. Wir haben schnell begriffen: Wenn wir nicht untereinander solidarisch sind mit denjenigen, denen dasselbe passiert, wird es nirgends eine helfende Hand geben. Deswegen bauten wir ein solidarisches Netz auf, das in Argentinien geholfen hat, 300 Betriebe wieder instand zu setzen. Durch den großen Einfluss, den dieses Netz hatte, geschah das Gleiche in Brasilien. In Venezuela haben wir 2005 ein Treffen mit Vertretern von EERR aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Venezuela, Bolivien, Peru veranstaltet. Im Rahmen einer internationalen kooperativen Allianz konnten wir fundamentale Verbindungen zu italienischen Kooperativen aufbauen und jetzt haben wir ein Netz über fast die ganze Welt gespannt. Heute werden wir gebeten, unsere Lösungsvorschläge in Ländern zu unterbreiten, in denen Unternehmen geschlossen werden.

Das Kooperativensystem stellt für Sie eine Alternative zum Neoliberalismus oder gar zum Kapitalismus dar?
Na klar! Es ist kein politisches Modell oder erfüllt eine ideologische Funktion. Es ist ein wirtschaftlich nachhaltiges Modell. Zum Beispiel hier in Argentinien gibt es Hunderte von Verbraucher-Kooperativen in den Bereichen Licht, Gas, Telefon, Internet usw. Problematisch ist eben nur, dass Genossenschaften kaum Außenwirkung haben, dadurch verlieren sie an Leistungsfähigkeit, an Kraft. Dass Kooperativen zu Krisenzeiten weniger entlassen oder gar neu einstellen können – darüber wird nicht gesprochen. Wenn man sich mehr über diese Wirklichkeit öffentlich austauschen würde, könnte man besser verstehen, dass durch eine andere Form der wirtschaftlichen Organisation Erfolg möglich wäre.

Welche Art von Unterstützung bräuchten die EERR besonders aus Europa?
Das Wichtigste ist, Verbindungen zwischen Universitäten, Gewerkschaftern und sozialen Bewegungen im Bereich von fairem Handel, nachhaltiger Landwirtschaft, Technologietransfer und auch der Forschung herzustellen, und auch, was zum Beispiel die Festigung der demokratischen Partizipation angeht: Welche ist die neue Rolle des selbstverwalteten Arbeiters?
Wir glauben, dass der sich in der Krise befindenden europäischen Ökonomie mit kooperativ organisierten Unternehmen geholfen werden könnte und wir sind bereit, unsere Erfahrungen bereitzustellen und Wissen auszutauschen. Wir können auch mit klein- und mittelständischen Unternehmen zusammenarbeiten, denn das ist der Unternehmenssektor, der dem Neoliberalismus am stärksten ausgesetzt wird. Ein kleines deutsches Unternehmen, das sich mit einem Multi an einen Tisch setzt, wird kein gutes Geschäft machen, mit jedwedem selbstverwalteten lateinamerikanischen Unternehmen schon eher.

José Abelli
stammt aus Rosario, Argentinien, und arbeitet zum einen für den genossenschaftlichen Dachverband IN.DA.CO, der sich um Markterschließungen für Kooperativen und Technologie und Know-how-Transfer zwischen Genossenschaften kümmert. Er ist verantwortlich für die spanischsprachige Region Lateinamerikas. Zum anderen arbeitet José Abelli für eine Kristallglasbläserei, wo er mit der Produktionsleitung und administrativen Aufgaben betraut ist. Er hat die Besetzung von Betrieben in und um Rosario von Anfang an begleitet, indem er sich für Vernetzung, Kredite und den Dialog mit der Gemeinde und Politik einsetzt.

Peru wird nicht an Chávez übergeben

An Selbstzweifeln leidet ein Präsident wie Alan García selten. Im letzten Wahlkampf verkündete er öffentlich, seine Machtfülle würde ausreichen, um die Übergabe der Präsidentenschärpe an einen Kandidaten zu verhindern, den er ablehne. Doch da täuschte er sich gewaltig. Am peruanischen Nationalfeiertag, dem 28. Juli, wurde mit Ollanta Humala exakt der Kandidat zum neuen peruanischen Präsidenten vereidigt, den García im Wahlkampf am vehementesten attackiert hatte. García übergab seine Schärpe trotzdem nicht an den Nachfolger. Entgegen aller Gepflogenheiten und Traditionen blieb er während der Vereidigungszeremonie einfach zu Hause.
García stand nicht allein mit seiner Antipathie gegen Humala. Ein mächtiges politisches Bündnis, das die wichtigsten Parteien und die Unternehmerverbände umfasste sowie auf die Zustimmung großer Teile der Ober- und Mittelschicht zählte, hatte im Wahlkampf mit Unterstützung fast aller großen Medien gegen Humala Front gemacht. Humala wurde im Rahmen einer gigantischen Hetzkampagne als Zögling des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ausgemacht, seine Wahl als hohes Risiko für die weitere wirtschaftliche und demokratische Entwicklung des Landes dargestellt. Potentiellen Wähler_innen Humalas wurde die demokratische Reife abgesprochen. Ein schlechter Witz angesichts der Tatsache, dass dieses Bündnis in der Stichwahl Humalas Gegenkandidatin Keiko Fujimori unterstützte. Deren Wahlkampfteam gehörten nämlich zum großen Teil ehemalige Berater_innen und Kompliz_innen ihres Vaters an, des zu 30 Jahren Gefängnis verurteilten Ex-Präsidenten Alberto Fujimori: ausgewiesene Spezialist_innen für Korruption, Wahlbetrug und Verfassungsbruch.
Humala nutzte es nichts, dass sein Wahlkampfteam im Vergleich dazu aus anerkannten Fachleuten und integren Persönlichkeiten bestand. Selbst die konservative Tageszeitung El Comercio, die sich ansonsten in politischen Debatten vornehm zurückzuhalten pflegt, attackierte den Kandidaten auf so niedrigem Niveau, dass Humala dem Blatt in einem Interview entgegnete: „Ich bin nicht der Leibhaftige! Ich werde Peru nicht an Chávez übergeben.“ Lediglich Ex-Präsident Alejandro Toledo, der im ersten Wahlgang ausgeschieden war, stellte sich vor der Stichwahl überraschend auf die Seite Humalas. Die Kampagne gegen Humala verlor selbst bei seiner Amtseinführung nicht an Fahrt. Der neue Präsident schwor seinen Eid nämlich auf die Grundsätze der alten Verfassung von 1979 und nicht auf die aktuelle Verfassung, die der damalige Machthaber Alberto Fujimori 1993 nach einer verfassungswidrigen Auflösung des Parlaments diktiert hatte. Die Unterstützer_innen Keiko Fujimoris schäumten und behaupteten, Humala sei kein rechtmäßiger Präsident, weil er auf etwas geschworen habe, das es gar nicht gibt. Keine Aufregung gab es dagegen in den Medien, als Martha Chávez, die auf der Liste Keiko Fujimoris ins Parlament gewählt wurde, ihren Eid als Abgeordnete auf ihr politisches Vorbild Alberto Fujimori ablegte. Mit anderen Worten: Sie schwor, ihre Entscheidungen im Parlament im Sinne eines rechtskräftig verurteilten Verbrechers und Chefs einer Todesschwadron zu fällen.
Inzwischen hat sich die Aufregung um Ollanta Humala gelegt, der Wind hat sich gedreht in Peru. Humberto Speziano, Präsident des Unternehmerverbandes Confiep, verkündet jetzt eine neue Botschaft: Seine Zweifel gegenüber dem Wahlsieger hätten sich aufgelöst, die Unternehmer_innen würden Humala unterstützen und ihm zu einer erfolgreichen Präsidentschaft verhelfen. Und selbst Alan García zeigt sich geläutert: „Präsident Humala macht das sehr viel besser, als viele seiner Gegner glaubten.“ Vielleicht sind Speziano und García tatsächlich positiv überrascht, zumal sie bislang nicht in einen venezolanischen Steinbruch geschickt wurden. Wahrscheinlich haben sie ihre Erklärungen aber eher aus taktischen Gründen verfasst. Laut Meinungsumfragen unterstützen zweieinhalb Monate nach seinem Amtsantritt etwa 70 Prozent der Bevölkerung die Politik Ollanta Humalas. Deswegen ist es plötzlich nicht mehr opportun, sich gegen Humala zu stellen.
Aber schön der Reihe nach: Die neue Regierung legte einen rasanten Start hin. In weniger als einem Monat hatte sie bereits den Mindestlohn von 160 Euro auf 180 Euro erhöht, das Haushaltsbudget im Jahr 2012 für Bildung um 15 Prozent und das für Gesundheit um 11,5 Prozent Prozent heraufgesetzt. Damit verkürzt Peru zumindest den Abstand zu den Durchschnittswerten in der Region. Außerdem beschloss die Regierung, bis Ende 2013 allen Bürger_innen über 65 eine Grundrente von etwa 80 Euro zu zahlen. All das ist keine Revolution, aber es sind Maßnahmen in Bereichen, die während der letzten 20 Jahre verwaist blieben.
Den eigentlichen Paukenschlag setzte die Regierung nach einer Verhandlungsrunde mit den Bergbauunternehmen in Peru. Aufgrund der außergewöhnlichen Gewinnsteigerungen in der Branche zeigte sich die Minenindustrie bereit, zusätzliche Abgaben von knapp 850 Millionen Euro pro Jahr zu entrichten. Auch Alan García hatte vor fünf Jahren zusätzliche Abgaben für den Bergbau in seinem Wahlprogramm vorgesehen. Während seiner Amtszeit erreichte er jedoch lediglich einen freiwilligen Obolus von etwa 135 Millionen Euro pro Jahr, den die Firmen an den Fiskus überwiesen. Inzwischen werden allerdings erste Zweifel an der Rechnung der Regierung laut. Womöglich werden die Minenkonzerne die Auszahlung der von García ausgehandelten 135 Millionen Euro stornieren. Außerdem werden die Abgaben der Konzerne vermutlich auf deren Gewinnsteuern angerechnet. Übrig bliebe eine Summe, die weit entfernt wäre von den 1,5 Milliarden Euro, die Humala im Wahlkampf von der Bergbauindustrie forderte. Aber immerhin, die Regierung wurde in der Presse einhellig für ihr Verhandlungsgeschick gelobt. Solche Schritte kommen bei der Bevölkerung an.
Der Obolus der Bergbauunternehmen reicht allerdings nicht aus, um weiterhin die Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialressorts aufzustocken. Deswegen plant die Regierung eine überfällige Steuerreform, an die sich weder Alan García, noch seine Vorgänger Toledo und Fujimori heranwagten. Innerhalb dieser Wahlperiode sollen laut Auskunft des neuen Ministerpräsidenten Salomón Lerner Ghitis die Steuereinkünfte von 14 Prozent auf 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. Angesichts der Tatsache, dass diese Steuerquote in Brasilien 35 Prozent und selbst in Bolivien 20 Prozent beträgt, ist auch dies ein bescheidenes Unterfangen, aber gleichfalls ein Anfang. Lerner setzte überdies anspruchsvolle Ziele für die laufende Legislaturperiode fest: Zum Beispiel eine Reduzierung der Armutsquote von 30 Prozent auf 20 Prozent, der absoluten Armutsquote von zehn Prozent auf fünf Prozent sowie eine Verdoppelung der Haushalte mit Stromanschluss. Das funktioniert aber nur, wenn keine Wirtschaftskrise dazwischen kommt, denn Lerners Visionen setzen ein Wirtschaftswachstum von mindestens sechs Prozent pro Jahr voraus.
Auch in der Innenpolitik weht ein frischer Wind. Die Regierung brachte im Kongress ein Gesetz durch, dem zufolge indigene Gemeinschaften künftig befragt werden müssen, bevor die Bagger der Bergbauunternehmen in ihr Gebiet einrücken. Alan García hatte ein solches Gesetz immer wieder aufgeschoben und eine rücksichtslose Politik zugunsten der Minenbranche betrieben, die eine Mitbestimmung der Bevölkerung bei Industrieprojekten nicht vorsah. Soziale Proteste wurden unter García kriminalisiert und zum Teil blutig niedergeschlagen. Die traurige Bilanz: 191 Tote in den letzten fünf Jahren. Die Regierung Lerner scheint behutsamer vorzugehen. Im südlich gelegenen Ort Toquepala, wo ein Minenprojekt erweitert werden soll, folgten Straßenblockaden zwar zunächst nach altem Muster gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch Lerner berief einen Runden Tisch ein, um über die Angelegenheit zu verhandeln und entschärfte damit den Konflikt. Andere Streiks und Blockaden versuchte die Regierung möglichst ohne Festnahmen zu beenden.
Einen besonderen Platz erhielt die Korruptionsbeämpfung in Humalas Programm. Obwohl Transparency International das Fujimori-Regime an die siebente Stelle der weltweit korruptesten Regierungen im Zeitraum zwischen 1984 und 2004 gesetzt hatte, unternahmen die Präsidenten Toledo und García daran gemessen zu wenig, um solche Exzesse in Zukunft zu verhindern. Erst Humala und Lerner brachten nun eine Verfassungsreform auf den Weg, nach der schwere Korruptionsdelikte gegen den Staat nicht mehr verjähren können. Wer öffentliche Funktionäre besticht, wird künftig genauso bestraft werden wie diese Funktionäre selbst. Außerdem richtete der Kongress eine Untersuchungskommission ein, die sich mit zahlreichen Korruptionsskandalen während der Präsidentschaft Alan Garcías beschäftigen soll. Die peruanische Polizei wurde bereits von zahlreichen Funktionären gesäubert, gegen die ein Korruptionsverdacht bestand.
Ollanta Humala versucht einen breiten Spagat von links nach rechts. Auf der linken Seite seiner Regierung und seiner Parlamentsliste mit dem wenig originellen Namen „Gana Perú“ („Peru gewinnt“) stehen die neue Frauenministerin und Vorsitzende der Sozialistischen Partei Aída García Naranjo und deren Parteigenosse Javier Díez Canseco. Díez Canseco ist Mitglied der Untersuchungskommission gegen Alan García und setzt sich besonders stark für höhere Abgaben und Steuern der Bergbauunternehmen sowie für eine höhere Steuerquote ein. Chef der Antidrogenbehörde Devida und damit sogenannter Antidrogenzar wurde mit Ricardo Soberón ein Mann, der nicht wie seine erfolglosen Vorgänger in Zusammenarbeit mit den USA einseitig die Kokapflanzungen vernichten will, sondern auf mehr Kontrollen und alternative landwirtschaftliche Entwicklung setzt. Die rechten Medien schossen sich bereits auf Soberón ein, bevor dieser seine Arbeit überhaupt beginnen konnte.
Dagegen stehen auf der rechten Seite vor allem der Wirtschafts- und Finanzminister Luis Miguel Castilla, der in seinem Ministerium bereits Stellvertreter unter Alan García war und Julio Velarde, der seinen Posten als Präsident der Zentralbank BCR behalten darf. Beide haben sich als orthodoxe Neoliberale einen Namen gemacht und sollen offenbar zur Beruhigung der Unternehmerverbände beitragen. Die Gewerkschaften kritisierten diese Personalien scharf. Im Kabinett befinden sich neben dem Unternehmer und Bankier Salomón Lerner als Ministerpräsident etliche weitere Vertreter der Wirtschaft. Verteidigungsminister wurde der ehemalige General Daniel Mora, der sich dafür stark machte, ein Gesetz zu verabschieden, das die strafrechtliche Verfolgung von Armeeangehörigen wegen Menschenrechtsverbrechen während des Konflikts mit dem Leuchtenden Pfad in den achtziger und neunziger Jahren beendet.
Noch darf die Linke innerhalb und außerhalb des Parlaments hoffen, dass die Regierung das enorme Wirtschaftswachstum in Peru künftig für eine stärkere Bekämpfung der Armut oder für höhere Investitionen in der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik nutzt. Die Unternehmerverbände und die Investoren setzen – beflügelt durch die Personalpolitik Humalas – womöglich darauf, dass dieser Präsident genau wie seine Vorgänger Alejandro Toledo und Alan García mit Druck dazu bewegt werden kann, das liberale Wirtschaftsmodell der letzten 20 Jahre fortzusetzen, dessen Basis der Export von Rohstoffen ist. Schließlich waren sowohl Toledo als auch García einst mit einem tendenziell sozialdemokratischen Programm angetreten, doch von dessen Umsetzung während ihrer Präsidentschaft sahen sie ab.
Die Zusammensetzung des Kabinetts und der Fraktion „Gana Perú“ bietet genügend Zündstoff für Konflikte im eigenen Lager. Die könnten beispielsweise dann beginnen, wenn die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise Peru erreicht. Eine solche Krise mit fallenden Rohstoffpreisen würde Peru vermutlich empfindlich treffen, weil die exportorientierte peruanische Wirtschaft in hohem Grade vom Wohl der Bergbaufirmen abhängt. Was auch geschieht: Trotz eines guten Starts bleibt die künftige Orientierung der Regierung vorerst offen. Fest steht nur, dass es keine Übergabe des Landes an Chávez gibt.

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

Hoffnungssignal aus Peru

Südamerikas progressive Regierungen haben ihre romantische Aufbruchsphase längst hinter sich. Allesamt kämpfen sie mit den Mühen der Ebene. Soziale Bewegungen kooptieren sie zumeist, wirtschaftspolitisch setzen sie auf den Neoextraktivismus, die Ausbeutung von Rohstoffen unter größerer staatlicher Kontrolle als bisher.
Visionären Entwürfen wie der Yasuní-ITT-Initiative in Ecuador wird das Wasser von ganz oben abgegraben; nirgendwo sonst gibt es eine dermaßen starke linke Opposition gegen einen linken Präsidenten. Bolivien, das in der internationalen Klimadebatte von sich reden macht, hat umweltpolitisch wenig vorzuweisen. Und in Brasilien versucht Präsidentin Dilma Rousseff mehr schlecht als recht, dem Durchmarsch der Agrarlobby, die bisher nicht nur eine Landreform verhindert hat, sondern nun auch noch zum ganz legalen Raubbau auf die Primärwälder bläst, etwas entgegenzusetzen.
In diesem Panorama kommt der Wahlsieg Ollanta Humalas in Peru gerade recht. Es ist eingetreten, womit vor Monaten kaum jemand gerechnet hatte: Die durch und durch neoliberale, stark auf die USA ausgerichtete Pazifikachse, die zwei Jahrzehnte lang von Chile über Peru nach Kolumbien bis nach Mexiko reichte, hat einen kleinen Riss bekommen. Unter dem schon jetzt zum Pragmatiker gewandelten Humala wird sich Peru stärker am Projekt einer Integration Südamerikas unter sozialen Vorzeichen beteiligen, das unter der Führung Brasiliens langsam Formen annimmt.

Von der Autokratentochter Keiko Fujimori hatten sich in- und ausländische Kapitalinteressen eine noch autoritärere Version eines Systems versprochen, durch die die Ressourcen des Andenlandes immer ungehemmter verscherbelt wurden. Inzwischen sind nahezu sämtliche Öl- und Bergbaureserven zur Ausbeutung freigegeben, doch bei der Bevölkerung kam von den astronomischen Wachstumsraten kaum etwas an. Kein Wunder daher, dass die Humala-Hochburgen in jenen ländlichen Gebieten liegen, wo man zudem hautnah mit den Folgen der Umweltzerstörung konfrontiert wird.
Wegen ihres neoliberalen Kurses ist die ehedem linke APRA-Partei von Noch-Präsident Alan García so gut wie von der Bildfläche verschwunden. Die drei chancenreichen Kandidaten, die allesamt eine Fortsetzung seines Kurses versprochen hatten, wurden trotz einer massiven medialen Anti-Humala-Kampagne geschlagen. Erneut zeigte sich, wie tief der Wunsch nach einer sozialen Wende selbst in Ländern sitzt, in denen die klassische Restlinke allein keine Chance auf einen Wahlsieg hätte. Dabei kam Humala die Zerrissenheit der Neoliberalen entgegen. Hätten sich die VerteidigerInnen des Status Quo auf eine gemeinsame Kandidatur geeinigt, er hätte in der Stichwahl wohl kaum eine Chance gehabt.

So kam es zu der pikanten Situation, dass Humala ausgerechnet aus dem liberalen Lager um Mario Vargas Llosa und Alejandro Toledo entscheidende Stimmen zum Sieg in der Stichwahl bekommen hat. Schon längst ist Humala klar, dass er sich ähnlich wie sein erklärtes Vorbild Lula Verbündete im bürgerlichen Lager suchen muss, will er überhaupt anfangen zu regieren. Für tiefgreifende Änderungen fehlt Humala schlicht die politische Basis, da er im Parlament keine Mehrheit hinter sich hat.
Und anders als etliche seiner künftigen KollegInnen, hatte er auch nie eine starke soziale Bewegung im Rücken. Er wird zu erheblichen Kompromissen mit den wirklich Mächtigen gezwungen sein. Schon deshalb kann man bestenfalls allmähliche Kurskorrekturen erwarten: mehr Achtung der Menschenrechte, eine Zähmung des exportgetriebenen Kapitalismus durch einen aktiveren Staat, eine etwas gerechtere Verteilung der Rohstofferlöse zugunsten der Armen. Es wäre eine weitere Spielart des sozialdemokratischen Wegs, den Südamerikas Linke im letzten Jahrzehnt eingeschlagen hat. Für weitergehende Veränderungen ist mehr Druck von unten nötig.

Zweifel schlagen Beweise

Noch vor Mitternacht des 5. Juni trat Ollanta Humala von der Wahlallianz Gana Perú auf dem Platz des 2. Mai in Lima vor seine AnhängerInnen und erklärte sich zum Sieger der Stichwahl um die Präsidentschaft: „Ihr habt mich gewählt und nur vor Euch werde ich Rechenschaft ablegen.“ rief er aus. Die Stimmen waren am Wahlabend und dem Folgetag rasch ausgezählt, die Tendenzen zugunsten Humalas schnell eindeutig. Anders als bei den Wahlen in Lima im vergangenen Oktober gab es zwischen den Parteien keine quälenden Scharmützel über große Mengen angefochtener Stimmzettel. Die WahlbeobachterInnen der EU-Delegation beschrieben den Prozess in der Mehrheit der von ihnen beobachteten Wahllokale mit ‚gut‘ und ‚befriedigend‘.
Am Ende waren es rund 450.000 Stimmen, die Humala vor der unterlegenen Keiko Fujimori (Fuerza 2011) lag. Diese schien ihren Rückstand aus der ersten Wahlrunde vom 10. April nach zahlreichen Wahlumfragen verschiedener – mehr oder weniger seriöser – Meinungsforschungsinstitute bereits in einen nicht mehr einholbaren Vorsprung umgewandelt zu haben. Letztlich gewann Fujimori zwar deutlich in Lima, bei den AuslandsperuanerInnen und in den Regionen der nördlichen Küstenzone. Die restlichen Regionen jedoch votierten mehrheitlich für Humala. Dessen Hochburgen liegen im Süden des Landes. In Cuzco und Puno entfielen nahezu 80 Prozent der Stimmen auf ihn. Die Wahlbeteiligung der rund 20 Millionen Stimmberechtigten lag bei rund 82 Prozent.
„Über Humala können wir Zeifel haben, über Keiko haben wir Beweise“. Dieser Satz wurde zum Leitspruch im Kampf um Stimmen für die Stichwahl als Ausdruck der Tatsache, man suche in Peru mal wieder das kleinere Übel. Auf der einen Seite Humala: ehemaliger Militär, dem Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden (die peruanische Justiz schloß das Verfahren im Dezember 2009, da sie für die Vorwürfe keine Beweise fand), gescheiterter Putschist gegen Alberto Fujimori im Oktober 2000, Militärattaché während der Präsidentschaft von Alejandro Toledo in Seoul. 2006 dann unterlag er in der Stichwahl gegen Alan García: Sein Diskurs galt als zu radikal und die Nähe zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez als zu groß. Jetzt trat er mit einem gemäßigten Diskurs auf, gab als Orientierung die Politik an Brasiliens Ex-Präsident Lula vor. Viele aber fragten sich: Was bleibt davon übrig, wenn er erst einmal im Amt ist? Auf der anderen Seite die Kandidatin Keiko Fujimori. Die noch recht luxoriöse Gefängniszelle ihres Vaters, Ex-Präsident Alberto Fujimori, mutierte zum Wahlkampfbüro. Vor allem in – medial abgelegenen – ländlichen Regionen warb sie auf Plakaten mit dessen Konterfei, umgeben ist sie von Leuten, die schon für ihren Vater während dessen Präsidentschaft arbeiteten und die den Unterschied zu Humala in den Worten fassten: „Wir haben weniger Menschen umgebracht.“ Keiko Fujimori stand für die Kontinuität des bestehenden Wirtschaftsmodells, Humala bietet zumindest die Aussicht auf Wandel.
Ein wichtiger Faktor: Humalas öffentlich vorgetragenes Versprechen für die Verteidigung der Demokratie und gegen die Diktatur. Diesen Schwur, die rechte Hand auf der Bibel, gab Ollanta Humala Mitte Mai in Lima in Anwesenheit zahlreicher peruanischer KünstlerInnen und Persönlichkeiten ab. Keine Minute länger im Präsidentenamt als die von der Verfassung vorgesehenen fünf Jahre. Keine direkte Wiederwahl als Präsident. Respekt, Schutz und Förderung für die Pressefreiheit. Dies sind wesentliche Punkte des Versprechens, das Humala Wahlstimmen der politischen Mitte sichern sollte, die als mitentscheidend für einen Wahlsieg galten. Es war ein Schritt, der von vielen bekannten und meinungsbestimmenden Leuten des öffentlichen Lebens wie dem Journalisten Gustavo Gorriti – und nicht zuletzt von Mario Vargas Llosa gefordert wurde. Llosa, der Literaturnobelpreisträger von 2010, hatte die Entscheidung zwischen Keiko Fujimori und Ollanta Humala im April noch als Wahl zwischen „Aids im Endstadium und Krebs“ beschrieben. Er und sein Sohn Álvaro, letzterer ein in den USA lebender medial gewandter liberaler Publizist, wurden zu wichtigen öffentlichen Fürsprechern von Ollanta Humala.
Klar muss jedoch bleiben: Hätte es anstelle von Keiko Fujimori einer der drei Kandidaten aus dem bürgerlichen Mitte-Rechts Spektrum in die zweite Wahlrunde geschafft – Pedro Pablo Kuczynski, Alejandro Toledo oder Luis Castañeda – Vargas Llosa und viele andere hätten mit Sicherheit nicht für Humala votiert. Es war primär die Abneigung gegen den fujimorismo, die Angst vor dessen Wiederkehr mitsamt seinen Begleiterscheinungen wie massiver Korruption und Unterwanderung der vorhandenen demokratischen Institutionen, die viele für Humala stimmen ließ. Die Wahl Humalas zum Präsidenten ist auch ein Sieg über den noch amtierenden Präsidenten Alan García, der sich im Wahlkampf klar zugunsten Keiko Fujimoris positionierte und noch vor einem Jahr wörtlich sagte, „dass er als Präsident zwar keinen Präsidenten nach seinem Wollen machen kann, jedoch sehr wohl einen Präsidenten verhindern kann, den er nicht möchte.“
Der Wahlsieg von Ollanta Humala könnte das harte neoliberal-investitionsfreundliche Weiter-so der vergangenen Jahre brechen. Dieses sorgte zwar für makroökonomisch gute Zahlen und hohe Wachstumsraten, doch das vielbeschworene Durchsickern der Gewinne nach unten setzte kaum ein. Im ländlichen Raum erreicht die Armutsrate teils Werte über 60 Prozent, im landesweiten Durchschnitt sind es weiterhin rund 34 Prozent. Keine wesentlichen Veränderungen in der produktiven Wirtschaftsstruktur sind zu verzeichnen, auch die Exportgüter sind noch klassisch strukturiert: Der größte Teil der Deviseneinnahmen kommt aus unverarbeiteten Rohstoffexporten. Humala will die Wirtschaft Perus stabilisieren, die bisher Ausgegrenzten und in Armut Lebenden jedoch integrieren und in höherem Maße davon profitieren lassen, unter anderem durch die Erhöhung des Mindestlohnes.
Nicht nur García hätte lieber Keiko Fujimori als Präsidentin gesehen, sondern auch die Wirtschaftselite des Landes, nachdem die drei bürgerlichen Kandidaten bereits in der ersten Wahlrunde ausgeschieden waren. Auf das Wahlergebnis reagierte Perus mächtiger Unternehmerverband CONFIEP jedoch pragmatisch und klang nach Humalas Wahlsieg überraschenderweise eher wie der Wahlgewinner. „Er ist schon unser Präsident. Es ist eine pragmatische Frage, wir müssen ihn unterstützen, die Wahlkampagne ist nun vorbei.“ so Humberto Speziani, Präsident des CONFIEP in den peruanischen Medien. Vielleicht ist die Reaktion gar nicht so verwunderlich: Bereits vor den Wahlen gab es Sondierungsgespräche mit Humala – auch wenn für den CONFIEP weiterhin Zweifel blieben – und möglicherweise wird Humalas Wirtschaftskurs ein sehr pragmatischer sein, der sich an Brasilien orientiert. Dies hieße für Peru: Weitestgehend freie Fahrt für die Wirtschaft, die Investoren nicht verschrecken, mit etwas mehr staatlicher Regulierung und vor allem umverteilenden Maßnahmen.
Fordernder trat die Nationale Gesellschaft für Bergbau, Erdöl und Energie (SNMEP) auf. In einer Pressemitteilung vom 7. Juni wies sie vorsorglich auf die für den Zeitraum 2011 bis 2020 zurzeit geplanten 55 Milliarden US-Dollar an Investitionen im Energie- und Bergbausektor hin. Verbunden wurde dies mit der Forderung nach „stabilen juristischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen im Land für die Unternehmen“. Pedro Martínez, Präsident der SNMPE merkte an: „Die privaten Investitionen sind unverzichtbare Alliierte, um weiterhin Arbeitsplätze zu schaffen, welche die einzige nachhaltige Möglichkeit bieten der Armut beizukommen.“
Angesichts der jüngsten Konflikte wie in der an Bolivien grenzenden Region Puno wird sich zeigen, wie weit der von Wirtschaftsseite geäußerte Pragmatismus trägt. Dort hatten protestierende Aymara mit Straßenblockaden in einem rund 45 Tage dauernden Streik gefordert, bereits ausgestellte Bergbaukonzessionen zurückzunehmen und keine weiteren zu vergeben. Immer wieder entzünden sich eskalierende Konflikte an den negativen Auswirkungen von Projekten des formalen Großbergbaus und des informellen Kleinbergbaus. Der letzte Bericht der nationalen Ombudsstelle für Menschenrechte listete insgesamt 227 soziale Konflikte im Land auf, von denen 51 Prozent Umweltkonflikte und dem Bergbausektor zuzuordnen sind.
Humalas Position zur Rohstoffförderung ist recht klar: Sie soll weiter vorangetrieben werden. Im Februar dieses Jahres äußerte er sich in peruanischen Medien mit den Worten, dass Peru „nur rund 14 Prozent seines bergbaulichen Potenzials ausbeute und daher für die verbleibenden 86 Prozent noch neue Verträge mit Unternehmen geschlossen werden können“. Angesichts der Konflikte droht ein ziemlicher Spagat. Eine Steuer auf erhöhte Rohstoffgewinne der Bergbauunternehmen soll auf jeden Fall kommen. Damit und mit weiteren Steuerreformen sollen soziale Programme und die geplante Pension ab 65 Jahren bezahlt werden.
Seit dem Tag nach dem Wahlsieg sind Humala und sein Team unter Druck rasche personelle Entscheidungen zu treffen. Dieser Druck beschleunige jedoch nicht seine Entscheidungen, so Humala in seinen Interviews. Bisher ist offiziell kein Ministerposten vergeben. Gegenüber Perú Posible, der Partei von Alejandro Toledo, die Humala im Wahlkampf schließlich unterstützte, hat Gana Perú mehrere Ministerposten angeboten. Von den Medien und aus der Wirtschaft geforderte Entscheidungen über die Besetzung von Wirtschaftsministerium, Präsident der Zentralbank oder Ministerpräsident sind noch nicht gefallen.
Dennoch laufen die Aktivitäten zur Regierungsvorbereitung auf Hochtouren. Bereits am Tag nach dem Wahlsieg wurde zu diesem Zweck ein 19köpfiges Team aufgestellt. Unter der Führung der gewählten esten Vize-Präsidentin Marizol Espinoza – der einzigen Frau in der Runde – wird alles daran gesetzt, ein Programm für die ersten 100 Tage Regierungszeit zu erarbeiten, um zeitnah Fakten zu gemachten Wahlversprechen im sozialen Bereich schaffen zu können.
Für Fernando Tuesta, Direktor des Meinungsforschungsinstitutes der PUCP, ist der Wahlerfolg von Gana Perú trotz der Vorschläge für eine neue Sozialpolitik nicht der einer gefestigten organisierten Linken in einer Partei, sondern eher ein persönlicher Triumph Humalas. „Mit dem Erfolg von Humala hat sich Peru nach links bewegt, […] aber dieses links ist weit davon entfernt den anderen linken Regierungen in Lateinamerika ähnlich zu sein“, so Tuesta in seinem Blog. Hinzu kommt: Ollanta Humala ist ein Präsident mit einer Minderheit im peruanischen Kongress. Zwar sind die Devisenkassen gut genug gefüllt, um eine neue Verteilungspolitik zu entwickeln. Um politisch erfolgreich zu sein und Wahlversprechen umzusetzen, wird Gana Perú jedoch das schwierige Spiel der politischen Koalitionen suchen müssen. Die zweitstärkste Kraft im Kongress sind im übrigen die Fujimoristas von Fuerza2011.

Unfruchtbare Geografie

In der maßgeblichen dreibändigen Neruda-Ausgabe im Luchterhand-Verlag, die mit dem Titel Das lyrische Werk immerhin suggeriert, eine Gesamtausgabe zu sein, fehlt ein Band, der jetzt eigenständig erstmals übersetzt wurde: Unfruchtbare Geografie. Es ist ein Spätwerk, das einen gereiften Dichter im Vollbesitz seines Könnens zeigt – und einen Menschen, der sich selbst zum Rätsel geworden ist, der seine öffentlichen Rollen zugleich spielt und in Zweifel zieht. Vielleicht ist das ein Grund, warum bisher eher wenig Interesse an diesen 33 Gedichten bestanden hat.
Als sich Neruda in den Jahren 1971 und 1972 an den Abschluss von Unfruchtbare Geografie machte, hatte sich sein Leben gerade markant geändert. Mit Spanien im Herzen, Canto General und Elementare Oden war er seit den dreißiger Jahren zu einer Art Staatsdichter der internationalen Linken geworden, der eifrig für die Sache des Kommunismus trommelte. Noch 1969 stand er für die chilenische KP als Präsidentschaftskandidat im Wahlkampf, aus dem er sich dann zugunsten von Salvador Allende zurückzog. Im Dienste der Allende-Regierung wurde Neruda 1970 Botschafter in Paris.
Aber auch wer ihn politisch weniger schätzte, kam nicht leicht an ihm vorbei. Denn Nerudas Leben und Schreiben umfasste immer auch andere Dimensionen – ironische, private, zurückhaltende, zweifelnde. Und noch heute erschließt sich ganz unmittelbar bei jeder Neruda-Lektüre, dass er ein beeindruckend wortmächtiger Lyriker war, dem die Möglichkeiten der spanischen Metrik und lyrischer Klangwelten wie selbstverständlich zur Verfügung standen.
Der Repräsentationsgestus auf der einen Seite, auf der anderen die Konzentration auf das Private, auf Natur, Tages- und Jahreszeiten und elementare Gefühle, all das findet sich in Unfruchtbare Geografie. Bereits im ersten Gedicht wird der große Bogen geschlagen: „Ich bin ein Lichtmensch“, behauptet er da. „Vor Zeiten, dort in der Ferne, / setzte ich den Fuß in ein Land so klar, / dass es bis in die Nacht erglühte“: Dieses Land in der Ferne dürfte Spanien gewesen sein, das ihn im Bürgerkrieg zu dem politischen Menschen hat werden lassen, der er war.
Im Prolog zu den Elementaren Oden hatte Neruda schon 1954 geschrieben: „Alles verlangt von mir, / dass ich rede, / alles verlangt von mir, / dass ich singe und in einem fort singe“. Der Künstler ganz im Dienste der Sache, also der Menschheit: Das klingt nun auch 1972 wieder durch, wenn er von den „täglichen Verpflichtungen“ schreibt: „Ich muss neue Fenster übergeben und öffnen, / die unbesiegte Klarheit errichten“ – auch in Peru oder Patagonien, wo das „Licht“ noch nicht aufgegangen sei.
Aber dann kommt mittendrin ein neuer Ton hinzu: „Vitrinenpropaganda“ sei das, was er da treibe. Und warum hat gerade er diesen Beruf im Scheinwerferlicht? „Ich weiß nicht, warum es einen ursprünglich / Trauer Tragenden trifft“. Einen, der mit Schmerzen zu kämpfen hat, von denen er im Gedicht „Schmerzenssonate“ erzählt (Neruda litt seit 1971 an Krebs). Einen, den die Identitätsfragen der Moderne heftig umtrieben, so im Gedicht „Unbeendetes Selbstgespräch“. Und einen, der anfängt, mit sich selbst über die eigenen Gedichte zu diskutieren. „Die Zeit wartet unbeweglich / … es ändert sich nichts“, heißt es in „Immer dasselbe“ – und dann trägt das nächste Gedicht den Titel „Aber vielleicht“ und endet in grundsätzlichen Fragen, die bei einem „Lichtmenschen“ eigentlich verwundern: „Und warum? Für was? Aber warum?“
Das Gedicht „Der Glockenturm von Authenay“ kann als Höhepunkt dieser Selbstbefragung gelten. Im Kontrast zum unerschütterlichen, „geradlinigen“ Kirchturm seines nordfranzösischen Domizils steht er selbst mit „leeren Händen“ da: „Ach, was ich auf die Erde brachte, / löste sich auf ohne Fundament, / ich erbaute nur Wolken / und ging allein mit dem Rauch“. Ein Kontrast, für den Neruda auch formal eine meisterliche Lösung gefunden hat, indem er klassische Versformen, den episch klingenden Elfsilber und den konzentrierter wirkenden Neunsilber, mit freien Versen mischt und dem Langgedicht damit einen fließenden Rhythmus gibt, streng und offen zugleich.
Zwar ist die Übersetzung nicht über alle Zweifel erhaben und wird Nerudas metrischen Ordnungen längst nicht immer gerecht. Aber sie ist doch in vieler Hinsicht so gut, dass sich seine Wortgebäude nachempfinden lassen und der Weg geebnet ist zur Lektüre eines ungewöhnlich zurückhaltenden Pablo Neruda, der einen wieder und wieder überrascht und fasziniert.

Pablo Neruda // Geografía infructuosa // Unfruchtbare Geographie // Gedichte zweisprachig // Aus dem Spanischen von Hans-Jürgen Schmitt // teamart Verlag // Zürich 2011 // 107 Seiten // 17,50 Euro

Von Magie, verzweifelten Liebschaften und Gefahren

Eine Kulturreise will dieses Buch den LeserInnen bieten, eine Möglichkeit, die Mythen und Märchen der indigenen Runa in Peru zu lesen und zu erfahren, eine Möglichkeit, Einblicke in die Weltanschauungen der Quechua-Indigenen zu erlangen. „Lasst uns nun in dieses verträumte Reich eintauchen! Lasst uns den Stimmen lauschen, die uns in eine mysteriöse Fremde entführen, in der die Berge zum Leben erwachen und die Natur großen Einfluss auf den Menschen hat! Lasst uns die Flügel unserer Fantasie ausbreiten und wie ein Kondor zu fliegen beginnen!“ – so werden die LeserInnen im Vorwort zur Lektüre des Sammelbandes eingeladen.
Bereits das kurze Vorwort vermittelt eine Ahnung des Lebens in den Anden und sensibilisiert für die nachkommenden Geschichten. Es macht zudem auf verschiedene Problematiken beim Sammeln der Erzählungen aufmerksam.
Realisiert wurde die Sammlung der Märchen in Peru durch Lilian Hümmler, die ihr Freiwilliges Soziales Jahr beim FOKUS e.V. im Welthaus Bielefeld absolvierte, in Zusammenarbeit mit Taipe Sánchez, Verantwortliche des Bildungsprogramms der ADECAP (Asociación de Defensa y Desarrollo de las Comunidades Andinas del Perú). Für die Produktion des Buches war ebenfalls maßgeblich der FOKUS e.V. zuständig.
In dem Sammelband, der im Juni dieses Jahres im Verlag des Welthauses Bielefeld erschienen ist, finden sich siebzehn Märchen der Runa in deutscher Sprache wieder, sechs zusätzlich auf Spanisch und eines auf Quechua. Es sind Geschichten über Magie, verzweifelte Liebschaften, Gefahren und Rettungen, voll von Metaphern und Symbolen. Dem europäischen Kulturkreis bekannten Märchen also durchaus ähnlich – und doch ganz anders. Man sollte sich nicht anmaßen, die Geschichten sofort verstehen und interpretieren zu wollen, stammen sie doch aus einer hierzulande weitestgehend unbekannten Kultur. Auch die oftmals sehr offenen Enden zwingen die LeserInnen dazu, sich das Geschehene selbst zu erklären. Was hat es zu bedeuten, wenn Berge sprechen, Schlangen Frauen lieben und Brüder zu Sternen werden? In diesen Fragen liegt die besondere Leistung des Buches: Denn sicher ist, dass nichts davon zufällig erzählt wird. Hinter den Symbolen steht eine facettenreiche Weltanschauung.
So bewegt das Buch auf unterhaltsame Art und Weise zum Nachdenken und -forschen über die Kultur der peruanischen Runa und entführt dabei in eine andere Welt. Es wird ein ganz eigener Zugang zu der indigenen Kultur geschaffen, frei von wissenschaftlichen Untersuchungen, Vorurteilen und politischen Motivationen. Somit eignen sich die Märchen sowohl als (ent-)spannende Lektüre wie auch als Denkanstoß.
Erwähnenswert ist außerdem die liebevolle Gestaltung des Buches, dessen Bebilderung ebenfalls aus dem Projekt von FOKUS und ADECAP stammt: Peruanischen Kindern wurde die Möglichkeit gegeben, ihre Vorstellungen zu den abgedruckten Märchen in künstlerischer Form zu gestalten. Der Erlös des Buches kommt dem bilingualen Bildungsprogramm von ADECAP zugute.

ADECAP/FOKUS // Wo der Kondor wacht und die Berge sprechen… Märchen aus der indigenen Welt der Runa in Peru // Welthaus Bielefeld Verlag // Bielefeld 2011 // 133 Seiten // 17,80 Euro // Erhältlich im Buchhandel und unter Maerchenbuch@HermannHerf.de

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