„God save the queers“

„Yo no voy de vuelta yo voy siempre de ida“ („Ich gehe nicht zurück, sondern immer nur vorwärts“) ist das treffende Motto des aktuellen Albums von Miss Bolivia, das sie derzeit auf Europa-Tour präsentiert. Psychologin, DJane, Sängerin und Produzentin mit vier Veröffentlichungen in sechs Jahren und Konzerten in so ziemlich jedem kulturellen Zentrum von Uruguay bis Brasilien – das ist die Biographie von Paz Ferreyra aka Miss Bolivia. Cumbia trifft auf Funk, HipHop auf Dancehall, Poesie auf politische Forderung.
Miss Bolivia hat viel zu sagen und tut es auf angenehme Weise: Sie vermeidet es, als Sprachrohr einer politischen oder kulturellen Gruppe aufzutreten, und verzichtet auf Imperative. „Ich möchte nicht, dass meine Lieder Antworten liefern, da Antworten immer subjektiv sind. Ich möchte, dass die Menschen sich Gedanken machen, wenn sie meine Lieder hören.“ Ihre autobiographischen Erzählungen fungieren als gesellschaftlicher Spiegel: Es geht um Sexismus, Aktivismus, Diskriminierung und die Legalisierung von Marihuana. Miss Bolivia erzeugt durch ihre Fusion verschiedener Musikstile und Themen Irritation und durchbricht so die Komfortzone der unhinterfragten Illusion.
In den 90er Jahren wird Ferreyra Zeugin eines sich neu etablierenden Musikgenres in Argentinien. Die zu Zeiten des europäischen Sklavenhandels im Karibikraum entstandene Cumbia entwickelt sich zum Exportschlager. Traditionell als Gruppen- oder Paartanz aufgeführt, ergänzen nun elektronische Beats den durch Trommeln, Rasseln und Flöten vorgegebenen Rhythmus. Cumbia Villera heißt das neue Subgenre; Villera leitet sich von Villa Miseria ab, der argentinischen Bezeichnung für Slum. Von romantisierenden Inhalten distanzieren sich die Musiker nun und rücken stattdessen prekäre Lebensumstände, Polizeigewalt in den Vorstadtghettos und Drogenkonsum in den Vordergrund. Zugleich wird jedoch Machotum idealisiert: Die in den Außenbezirken von Buenos Aires herrschende Arbeitslosigkeit führt zu einem Identitätsverlust, da die traditionelle Rolle des Mannes als Haupternährer der Familie nicht gelebt werden kann. Die Betonung der Männlichkeit erfolgt nun auf anderen Wegen. Die Degradierung der Frau zum willenlosen und unterwürfigen Sexobjekt schien da offenbar die Alternative. Ein besonders groteskes Video der Gruppe Damas Gratis („Frauen gratis“) darf hier nicht unerwähnt bleiben: Während der Sänger lässig am Strand steht und „Man sieht deinen Tanga“ singt, tanzt ein blondes Girl glücklich um ihn herum und lässt dabei tief blicken. Die Stimmung ist ausgelassen, und alle verstehen sich blendend. In dem Stück „Maria Rosa“ der Band Yerba Brava (umgangssprachlich für Marihuana) heißt es: „Ella es … / Una chica así de facil / Es de bombachita floja“ („So ein leichtes Mädchen ist sie, eines mit locker sitzendem Höschen“). Das „Mädchen“ wird auch hier zum Lustobjekt des heterosexuellen Beobachters, mehr noch, ihr wird ein eindimensionales Interesse an flüchtigem Sex attestiert.
Maria José hingegen liebt das Gemetzel und hat es dem lyrischen Ich so angetan, dass es sie zum Kiffen nach Hause einlädt. Die Protagonistin bei Miss Bolivia ist eindeutig keine nur durch ein „Höschen“ verdinglichte Existenz, im Gegenteil. Maria José hat die Gabe, sich zu artikulieren, ist dementsprechend weder ein „leichtes Mädchen“ noch „leicht zu haben“. Der Handlungsrahmen aus dem Cumbia Villera bleibt bestehen, Miss Bolivia besetzt ihn jedoch mit neuem Inhalt, indem sie die Machoattitüde parodiert und in einen respektvollen Umgangston transformiert. Die Besitzlogik, die der Beschreibung von Maria Rosa immanent ist, führt die Künstlerin so ad absurdum. Gleichzeitig behandelt sie Begierden außerhalb eines heterosexuellen Kontextes und kritisiert somit das heterosexistische Selbstverständnis.
Trifft Intellekt auf Humor, entstehen Kumbia Queers, und trifft Punk auf Kumbia, entsteht ein eigener Musikstil: Tropipunk. Die Punk ’n’ Rollers aus Argentinien und Mexiko haben sich die musikalischen Produktionsmittel erkämpft, um misogyne Diskurse bloßzustellen. Ihre Parodie von „Maria Rosa“ heißt „Daniela“: „Y como nunca supe tu nombre / te llamo Daniela pero podrías llamarte Pamela / o sol o luna« („Und weil ich deinen Namen nie erfahren habe / nenne ich dich Daniela / ich könnte dich aber auch Pamela nennen / oder Sonne oder Mond“). Die Band Kumbia Queers macht Musik „von Frauen für Frauen“, ändert Madonnas „Isla Bonita“ in „La Isla con Chicas“ um und will weit weg von hier, zu diesem „sensationellen Ort, überfüllt mit schönen Mädchen“. Im Video zu diesem Cover wird auf einer Karte La Isla con Chicas eingekreist, anschließend lassen es sich die Musikerinnen im bräunlich schimmernden Wasser auf der Insel gutgehen und bearbeiten im Dickicht die Keyboardtasten. Eine selbstironische Performance mit der klugen Intention, lesbische Inhalte in die Öffentlichkeit zu tragen.
Doch von der 2007 entstandenen The-Cure-, The-Ramones- und Madonna-Coverband haben sich die Kumbia Queers nun schon lange emanzipiert. „Wir wollten die Rocker nerven, gleichzeitig missfiel uns die Marginalisierung und Ablehnung von Cumbia. Die Tatsache, dass der Rhythmus so gut war, die Inhalte aber unfassbar misogyn, motivierte uns, Cumbia mit anderen Texten zu machen.“ Neben der lucha armada (dem bewaffneten Kampf ) ist die größte Waffe der Kumbia Queers immer noch das Vergnügen. „El lunes a la noche me quiero matar / pensando que mañana tengo que ir a trabajar … el viernes la sonrisa no me la pueden sacar“ („In der Nacht zum Montag möchte ich mich umbringen / daran denkend, morgen arbeiten gehen zu müssen … / am Freitag können sie mir mein Lächeln nicht wegnehmen«). Die Forderung eines weiteren freien Tags ist keine revolutionäre, aber in Anbetracht der vielen Konzerte, die die Band geben muss, sicherlich eine sinnvolle: Ob im argentinischen Frauenknast, auf dem Fusion- oder auf dem South-by-South-West-Festival in Austin, Kumbia Queers haben sich in den vergangenen sieben Jahren eine solide Fanbase in Argentinien, Chile, Mexiko, den USA und Europa erspielt.
Die Dokumentation Kumbia Queers. More louder bitte bringt die Cumbia-Vibes nun auch auf (queere) Filmfestivals in Deutschland. Doch neben der positiven Rezeption diffamieren Verfechter der geschlechterspezifischen Abgrenzung in der Musikszene die Künstlerinnen als bichos raros und „Antifrauen“. Das Adjektiv „raro“ lässt sich etwa mit „queer“ übersetzen, gehört also zur Selbstbezeichnung der Band. „Queer ist für uns etwas, das keine Etiketten will und nicht klassifiziert werden kann“, sagen die Kumbia Queers. Tatsächlich haben sie jedoch mit der durch die Gesellschaft konstituierten binären Rollenstruktur in der Szene zu kämpfen: „Wir bewegen uns zwar für gewöhnlich in einem anderen Umfeld, aber wenn wir uns außerhalb dieser Kreise bewegen, bekommen wir mit, dass diese Sachen einfach weiter passieren. Also dass die Frau quasi der Minirock ist und heiraten muss.“ Für das Musikbusiness heißt das, realistisch gesehen, dass Frauen nur als Sängerin agieren dürfen, solange Männer die Instrumente spielen, Frauen nur als Lustobjekt in einem heterosexuellen Kontext benutzt werden und darüber hinaus keine weiteren Eigenschaften besitzen dürfen.
Dies alles erinnert stark an das Bild der US-amerikanischen und europäischen Punkszene der 90er Jahre, in der die Möglichkeit, Unzufriedenheit durch Musik zu äußern, für Frauen sehr rar war. Ähnlich wie Cumbia Villera prangerte der Punk gesellschaftliche Missstände an, Themen wie Sexismus oder Geschlechterdifferenz kamen jedoch nicht vor. Aus diesem Kontext heraus bildete sich das Riot-Grrrl-Movement mit Bands wie Bikini Kill und Bratmobile. Solidarität, Respekt und Konsens, DIY statt Anpassung an hegemoniale Normen, Kollektivismus statt Konkurrenz. In ihrem Manifest plädierten die Riot Grrrls für Mut zur Eigeninitiative und versuchten, die internalisierten Formen von Sexismus aus den Köpfen zu verbannen. „Und das Motiv, die Szene nun miteinander zu teilen, anstatt sie untereinander aufzuteilen, hilft uns sehr dabei, die Message, die eine Künstlerin sendet, dort auszubreiten, wo eine andere spielt. Und so schreiten wir als Kooperative voran.“ Dies sind nicht etwa Worte von Kathleen Hanna, der Verfasserin des Riot-Grrrl-Manifestes aus dem Jahr 1992, sondern von Miss Bolivia aus dem Jahr 2013. So verwundert es nicht, dassAli Gua Gua von den Kumbia Queers und Miss Bolivia gemeinsam an einem Projekt gearbeitet haben und weitere Projekte mit Künstlerinnen aus dem Umfeld, wie Sara Hebe oder Las Taradas, bestehen. Der Wunsch, Musik nicht nach normativen Genrebestimmungen zu komponieren, sondern Grenzen zu überschreiten und Stile zu mischen, ist eine weitere Parallele zu den Riot Grrrls, die an Frauen appellierten, sich einfach Instrumente zu schnappen und loszulegen.
Die argentinische Szene konstituiert sich zur Zeit neu und wächst stetig. In Europa kommt sie überaus gut an. Doch es bleibt abzuwarten, ob diese queerfeministischen Einflüsse am Gerüst des kolonial tradierten Selbstverständnisses des weißen Feminismus rütteln können.

Erstmals publiziert in Konkret 9/14

Der Film »Kumbia Queers. More louder bitte!« ist am 12. Oktober um 18 Uhr im City 46 beim Queerfilm-Festival in Bremen zu sehen.

Keine Macht den Geiern

Sie weiß die Bevölkerung hinter sich: Argentiniens Regierung. Nicht immer, aber immer in Sachen Geierfonds oder der Frage der Malvinas – in Fragen der nationalen Souveränität und Identität. Unmut über die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage bis hin zum Generalstreik Ende August hin oder her: Die kompromisslose Haltung der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner gegenüber den „Holdouts“ genannten Umschuldungsverweiger_innen kommt gut an. Kein Cent den als „Geierfonds“ titulierten Hedgefonds, keine Unterwerfung unter das Verdikt der US-amerikanischen Justiz. Buenos Aires fährt einen klaren Kurs. Mit Fug und Recht.
Zu Recht sieht das südamerikanische Land durch die US-amerikanische Justiz seine Souveränität verletzt, weil bis hin zum Obersten Verfassungsgericht in den USA einer Klage von Hedgefonds stattgegeben wurde, die jedem normalen Rechtsverständnis spottet: Stopp aller Überweisungen aller US-amerikanischen Banken im Auftrag Argentiniens, bis die US-amerikanischen „Geierfonds“ von Buenos Aires ihre Rendite von mehr als 1600 Prozent eingestrichen haben. Das entbehrt jeder Verhältnismäßigkeit.
Kein Wunder, dass die USA Argentiniens Vorstoß, die Causa vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu klären, postwendend abschlägig beschieden. Das Schlichtungsorgan der Vereinten Nationen hatte den Eingang der Klage Argentiniens zwar bestätigt, doch darf das Gericht laut seiner Statuten nur tätig werden, wenn sich beide Streithähne freiwillig ihrer Urteilssprechung unterwerfen. Die USA halten Den Haag in diesem Fall nicht für geeignet. Begründung: Fehlanzeige.
Die USA sind sich offenbar bewusst, dass ihr Justizsystem internationalen Standards nicht genügt. Ein Justizsystem, das dem Geschäftsmodell von „Geierfonds“ höchstrichterlich Absolution erteilt hat: Kaufen zum Schrottwert, Klagen auf den vollen Wert plus Zinsen. Im Falle Argentiniens wurden die Staatsanleihen von den Hedgefonds nach dem Bankrott 2002 zum Abschlagspreis von rund 15 Prozent des Nominalwerts im vollen Wissen gekauft, dass Argentinien nur durch Umschuldungen wieder ökonomisch lebensfähig werden würde. Eine tote Kuh lässt sich schließlich nicht mehr melken. Sobald die argentinische Wirtschaft sich auch dank der Umschuldungen erholt hatte, begaben sich die Geierfonds NML Capital und Aurelius auf den Klageweg in den USA.
Dort waren die Staatsanleihen von der neoliberalen Regierung Carlos Menems in den 90er Jahren ausgegeben worden, um den Investor_innen maximale Rechtssicherheit zu bieten. Quod erat demonstrandum: Das Urteil des Obersten Gerichtshofes in den USA im Juni hat nun festgeschrieben, dass Gläubiger_innen-Interessen ohne jede Pflicht auf ihrer Seite hundertprozentig Vorrang haben.
Das Urteil wird Folgen haben – ob ihm Argentinien irgendwann – zum Beispiel eine neue Regierung – noch Folge leistet oder nicht. Die gut 92 Prozent der Gläubiger_innen Argentiniens, die 2005 und 2010 einer Schuldenneustrukturierung zugestimmt hatten, werden daraus ebenso ihre Lehren ziehen wie auch die Käufer_innen von Staatsanleihen generell: Umschuldungsverweigerung ist zumindest auf der Basis von US-Recht ein lohnendes Geschäft, Verzicht auf Ansprüche ist dumm, die sozialen Kosten in den Schuldnerländern einerlei.
Argentiniens Fall zeigt einmal mehr, dass ein staatliches Insolvenzrecht überfällig ist. Die UNO-Vollversammlung sieht dies mit großer Mehrheit auch so und hat sich erst am 9. September mit 124 zu elf Stimmen für einen solchen Rechtsrahmen ausgesprochen. Die Gegenstimmen kamen unter anderem von den USA und Deutschland. Dabei könnte ein solches Verfahren einen gerechten Ausgleich zwischen dem Schuldnerland und seinen Gläubiger_innen herstellen und die Interessen der betroffenen Bevölkerung wahren. Wie in jedem privaten Insolvenzverfahren wären auch hierbei die Investor_innen angemessen an den Kosten für die Insolvenz beteiligt. Das Geschäftsmodell der Hedgefonds hätte darin freilich keinen Platz. Keine Macht den Geiern: ein lohnenswertes Ziel.

Go slow!

Die meisten Tourist_innen kommen mit dem Boot auf die Karibikinsel Caye Caulker. Von Belize City aus dauert die Fahrt eine Stunde. Am Anlegesteg werden die Neuankömmlinge von strahlendem Sonnenschein und weißen Möwen begrüßt. Keine hundert Meter entfernt stehen die ersten Hotels, viele sind einfache Holzhäuser, vor denen Gäste in Hängematten unter Palmen liegen. Selbst das Wasser am Ufer macht einen gelassenen Eindruck. Gemächlich rollen die Wellen an den Strand. Nicht weit entfernt haben einige Händler_innen ihre Stände aufgebaut.
Der Rasta Alfred verkauft Kunst. Von neun Uhr morgens bis spät abends sitzt er vor einer Holzhütte voller Ölgemälde. Seine Haarpracht hält er unter einer Wollmütze in den panafrikanischen Farben versteckt: grün, gelb und rot. Alfred ist in Belize geboren, doch als seine eigentliche Heimat bezeichnet er Afrika: „Wir leben in einer guten Zeit, um Rasta zu sein. Heute ist Rastafari groß, international. Alle lieben Rasta. Es ist eine der am schnellsten wachsenden spirituellen Bewegungen auf dem Planeten“, erklärt er. „Früher“, so sagt er, „früher war das anders. Da haben die Leute negativ reagiert, wenn du in einem Laden aufgetaucht bist, oder in einem Krankenhaus. In Jamaica wurden die Hütten der Rastas zerstört, ihre Felder und Marihuanaernte. Alles wurde niedergebrannt.“
Rastafari entstand zu Beginn der dreißiger Jahre in den Armenvierteln der jamaicanischen Hauptstadt Kingston, wo der schwarze Aktivist Marcus Garvey vom Ursprung allen menschlichen Lebens in Afrika predigte (siehe Fire pon Babylon! in dieser Ausgabe). Garvey prophezeite, dass die schwarze Rasse – die erste und einstmals mächtigste Rasse der Welt – eines Tages ihre Unterdrückung überwinden und wieder Gottes auserwähltes Volk sein werde. Dem Jamaicaner Garvey wird auch die messianische Prophezeiung zugeschrieben: „Schaut nach Afrika, wo ein schwarzer König gekrönt werden wird.“
Damals träumten die Rastas davon, nach Afrika zurückzukehren. Sie glaubten, es sei ein besserer Ort, das Mutterland. Viele wollten nach Äthiopien ziehen. Als 1930 in Äthiopien Prinz Ras Tafari, der sich als direkter Nachkomme König Salomons bezeichnete, zum „König der Könige, Löwe aus dem Stamm Juda, auserwählter Gottes“ gekrönt wurde und sich den Namen „Haile Selassie“ gab, sahen viele amerikanische Schwarze in ihm den prophezeiten göttlichen Führer, der sie aus der Diaspora zurück nach Afrika bringen werde. Doch es kam nie zu einer massiven Rückkehr. Stattdessen haben sich im Laufe der Jahrzehnte äußerliche Merkmale der Rastabewegung wie Reggaemusik, Kunst und Haartracht weiter verbreitet als die religiösen Glaubensinhalte. Rasta ist zu einem modischen Stil geworden.
Als Religion gründet sich Rastafari auf einer Auslegung der Bibel aus afrikanischer Sicht, nach der die Schwarzen in Amerika in Verbannung leben, genauso wie die Hebräer_innen nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier_innen. Im Wortschatz der Rastas steht „Babylon“ für Sklaverei, für Unterdrückung und Rassismus. Ihre Gottesdienste sind informelle Zusammenkünfte, in denen die Anwesenden über Werte, Wahrheit und ihre Geschichtsinterpretation diskutieren. Dabei wird ganja geraucht, Marihuana, um Geist und Seele zu öffnen.
Der wohl bekannteste Rasta und einer der erfolgreichsten Musiker seiner Zeit war Bob Marley. Schon in den siebziger Jahren waren auch junge Weiße fasziniert von seiner ethnisch-politischen Botschaft und dem pulsierenden Reggae-Beat. In seiner Heimat Jamaica war Marley sowohl Rockstar als auch Volksheld. Er schaffte es, der Ghettojugend von Kingston ein schwarzes Selbstbewusstsein zu geben. Und rund um die Welt – von den Metropolen Japans bis zu kleinen Dörfern in Afrika – haben Millionen Menschen ihre eigenen, besonderen Gründe, Bob Marley als Magier des Reggae oder als Propheten Rastafaris zu verehren. „Als ich das erste Mal Bob Marley hörte, wusste ich: Das ist genau mein Ding“, erinnert sich Ras Alfred. „Der Glaube an die Liebe, an die gesunde Nahrung, die Weisheit und die Botschaft, sein eigenes Essen anzubauen, kein Fleisch zu essen, kein Salz. Es war eine wunderbare Zeit – es war aber auch eine harte Zeit.“
Bob Marley selbst kam im Jahr 1978 zum ersten Mal nach Afrika. Dort sah er die gleichen Slums und hungrigen Gesichter, wie er sie aus Jamaica kannte. Er sah die gleiche korrupte Führungsschicht, die über das Elend thronte. Es war das Afrika, in dem bis dahin nicht ein einziger moderner Führer friedlich und demokratisch vom Volk abgewählt worden war. Als Marley auch Äthiopien besuchte, erfuhr er, dass Haile Selassie drei Jahre zuvor wenig glorreich gestorben war. Der Leichnam des Mannes, der die göttliche Verehrung durch die Rastafaris selbst immer zurückgewiesen hatte, lag verscharrt in einem Grab ohne Namen. Kein einziges Denkmal erinnerte an den Diktator, der ein Leben in dekadentem Reichtum geführt hatte. Viele Äthiopier_innen erinnerten sich mit offenem Zorn an ihren verstorbenen Herrscher. In Afrika konnte die Botschaft der Rasta-Religion nicht überzeugen. In Amerika aber bezeichnen sich bis heute hunderttausende Schwarze als Rastas, als Anhänger_innen von Haile Selassie. So auch der junge Mann Ras Kent: „König David ist der wahrhaftige Vorfahre von Haile Selassie und Selassie ist der letzte König, der auf dem Thron von Äthiopien saß. Er ist der König aller Könige, der Herr über alle Herrn.“
Ras Ket hält sich an die Gebote der Rastareligion. Er wäscht sein Haar täglich, schneidet es aber nie. Und er kämmt es auch nicht. So entstehen die langen, wilden Zöpfe seiner Rastamähne, Symbol für Naturverbundenheit und gegen Materialismus. „Es geht darum, sich gegenseitig zu helfen. Rasta ist Liebe. Die Frage ist nicht, wer mehr besitzt, denn heute bist du noch hier und morgen schon bist du gestorben. Hier auf Caye Caulker müssen wir den Kindern ein Beispiel sein, denn viele von ihnen sind Rastas.“
Ras Ket sitzt im Schneidersitz am Strand, wenige Meter entfernt von einer Bar, in der ein Dutzend junger Tourist_innen ihren Durst mit Bier und Cocktails löschen. Ras Ket selbst trinkt keinen Alkohol. Er hält die Botschaft Rastafaris für eine wertvolle Orientierungshilfe für schwarze Jugendliche: „Einige von ihnen fangen schon an, die Menschen aus Belize nicht mehr zu respektieren. Sie lassen sich mit den Touristen ein, weil die Geld haben. Diese jungen Leute haben keine Liebe mehr für die Menschen, die in diesem Land geboren wurden. Sie schauen nur auf das Geld. Solch ein Verhalten hat nichts mit Rastafari zu tun. Deshalb brauchen wir mehr Rastas auf Caye Caulker. Menschen, die lieben, die anderen helfen, die den Zusammenhalt und Frieden auf der Insel stärken.“
Rastafari weht über die Küsten der Karibik – als Lebensstil, als Religion, als Ausdruck schwarzen Selbstbewusstseins. Die Rastabewegung ist ein Erbe der Sklaverei. Ihre ursprünglichen Pionier_innen haben gepredigt, Gott habe für jede Rasse einen eigenen Kontinent vorgesehen. Doch die weiße Rasse hat Leid und Elend über die Völker gebracht, indem sie Menschen anderer Hautfarben versklavt und unterdrückt hat. Die schwarzen Völker würden erst dann Frieden finden, wenn sie nach Afrika zurückkehrten. Doch mit der Zeit ist Rastafari global geworden, mit Anhänger_innen aller Hautfarben. Auf Caye Caulker trifft man auch junge Europäer_innen mit blonden Rastalocken. Die Schwedin Ida Bjornsdotter ist 26 Jahre alt: „Für mich sind die Rastalocken eine Möglichkeit zu zeigen, dass ich dieses System des Kommerzes nicht unterstütze. Ich will nicht sagen, dass ich außerhalb dieses Systems lebe, aber ich bemühe mich, es nicht zu unterstützen. Ich glaube, der Materialismus hat keine Zukunft.“
Der Afroamerikaner Ras Dante freut sich, wenn er blonde Rastalocken sieht. Er glaubt, die Rasta-Botschaft gelte für alle Menschen, nicht nur für Schwarze: „Liebe, nichts als Liebe. Darauf basiert Rastafari. Es ist auf Liebe gebaut, während die Gesellschaft des Menschen auf Hass und Abgrenzung basiert. Wir hören immer von der schwarzen Rasse, der weißen Rasse, dieser Rasse, jener Rasse, aber die Wahrheit ist: Es gibt nur eine Rasse auf dieser Welt, die menschliche Rasse. Dieser aberwitzige Scheiß von unterschiedlichen Rassen, das ist falsch. Wir alle sind Menschen und gemeinsam sind wir die Rasse der Menschen.“
Es gibt viele Auslegungen der Bedeutung von Rastafari. Ist es eine Religion? Eine soziale Bewegung, eine Lebenseinstellung, eine Ideologie? Oder doch nur eine Mode? Ras Dante zumindest ist sich sicher, dass die Welt ohne Rastafari ein schlechterer Ort wäre: „Rastafari hat die Kraft, einen Menschen zu verändern. Wer früher ein Idiot war, oder eine bösartige Person, der kann zu einem verständnisvollen Menschen werden, der sein Leben in Frieden lebt, mit Liebe im Herzen.“
Seit einigen Jahren erlebt die belizische Gesellschaft eine Welle der Jugendkriminalität. Besonders unter den Schwarzen wachsen viele Kinder ohne ihre Eltern auf, die in die USA gezogen sind, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Belize hat 350.000 Einwohner_innen. Weitere fünfzigtausend Belizer_innen leben in Los Angeles und New York. Teile der jungen Generation, die in Belize zurückgeblieben sind und mit der Konsumbotschaft der Medien bombardiert werden, schließen sich organisierten Banden an, die von Drogenhändler_innen kontrolliert werden. Selbst der anglikanische Pastor Snyders glaubt, dass Rastafari in dieser Situation eine wertvolle Alternative darstellt. Snyders ist vor 33 Jahren aus Schottland nach Belize gekommen: „Die Rastas nehmen das Leben wie es kommt. Es geht ihnen nicht darum, viel zu besitzen. Ihre Spiritualität hat etwas Wunderschönes. Ich habe den Eindruck, dass sie sich gegen den Kern des Materialismus auflehnen, verbunden mit einem tiefen Respekt gegenüber Gott. Das gefällt mir, besonders deshalb, weil sie ihre Botschaft wirklich umsetzen. Ich sehe nicht, dass sie sich auf die Welt der Gier einlassen, so wie viele Christen es tun.“

„Die Grenzen des Rechts verschieben“

Das Tribunal wirbt auf seinen Plakaten: „Die Bevölkerung von Mexiko wird über den mexikanischen Staat richten“. Wird das Tribunal diesem Anspruch gerecht?
Andrés Barreda Marín: Als das Tribunal gebeten wurde, nach Mexiko zu kommen, haben 50 bekannte Organisationen und rund 50 Intellektuelle unterschrieben. Danach entstand eine Dynamik. Immer mehr Organisationen haben Kontakt aufgenommen. Zu einem ersten Workshop kamen rund 80 Organisationen; als das Tribunal dann zwei Jahre später eingerichtet war, waren es schon 300. Jetzt sind es zwischen 500 und 600 Organisationen. Es ist schwierig, die genaue Zahl zu nennen, weil viele Leute an Workshops teilnehmen, aber dann nicht mehr wiederkommen. Zumindest hat das Tribunal mit der steigenden Anzahl beteiligter Organisationen an Legitimität hinzugewonnen. Ich bezweifle nicht, dass es Gruppen gibt, die es weder für nützlich noch für legitim halten, aber es hat soviel Legitimität gewonnen, dass es keine offene Kritik gibt.

Der Sinn eines Gerichts, das keine bindenden Urteile spricht, wird nicht in Frage gestellt?
Octavio Rosas Landa Ramos: Am häufigsten wurde uns die Frage gestellt: Was bringt es, mit einem ethischen Tribunal zu arbeiten, das zwar angesehen sein mag, aber eben doch nicht verbindlich ist? Der mexikanische Staat hat keinerlei Verpflichtung, den Urteilen und Empfehlungen nachzukommen. Am Ende kann er genau das machen, was er die letzten 30 Jahre gemacht hat, und das einzige, was wir haben, ist eine moralische Verurteilung. Wieso also teilnehmen, wenn es keine förderliche Reaktion geben wird?
Wenn wir uns aber an ein verbindliches, staatliches Gericht wenden, haben wir ebenso wenig Garantie, Gerechtigkeit zu bekommen. Viele Gemeinden und soziale Organisationen haben Siege bei staatlichen Gerichten errungen, ohne dass dies irgendwelche Folgen gehabt hätte. Weder ist die Mine San Xavier in San Luis Potosí geschlossen, das Staudammprojekt La Parrota in Guerrero gestoppt noch der Autobahnbau in Morelos – obwohl alles von Gerichten untersagt wurde, die rechtsverbindliche Urteile sprechen. Ich könnte viele weitere Beispiele aufzählen, es ändert nichts: Die staatlichen Gerichte setzen ihre Urteil nicht durch.
Wir sahen die Notwendigkeit, alle diese Fälle mit einer soliden Grundlage von Beweisen aus den Gemeinden aufzubereiten. In Mexiko führt die Durchsetzung des Umweltrechts sowieso zu nichts: Die Umweltregelungen sind Teil des Verwaltungsrechts, sodass bei einer erfolgreichen Klage die Firma oder der Staat nur die sichtbaren Schäden beseitigen muss, aber die eigentliche Ursache nicht behoben wird. Daher haben wir auch gezwungenermaßen außerhalb des Landes versucht, das Ausmaß sichtbar zu machen. So sind wir auf das Ständige Tribunal der Völker aufmerksam geworden und haben uns an der Einberufung beteiligt.

Das ändert aber nichts daran, dass auch das TPP nicht rechtsbindend ist…
ORLR: Bei der Nationalen Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen (ANAA) haben wir gesagt: Zum Teil ist es ein Vorteil, dass es kein verbindliches Gericht ist, weil es eine breitere Teilhabe der Menschen an der Herstellung des Rechts ermöglicht. Es werden überall zerstörerische Projekte wie die Privatisierung von öffentlichen Ressourcen und Dienstleistungen durchgesetzt, die zu immer mehr sozialen Konflikten führen. Über das Tribunal können die Gemeinden und indigenen Gruppen selbst die Ungerechtigkeiten artikulieren, mit denen sie vor Ort leben müssen, und von den Kollektivrechten erfahren, die sie einfordern und in Anspruch nehmen können.
Wenn die anderen Gerichte nichts bringen, dann ziehen wir ein Gericht vor, das einen Lernprozess in den Gemeinden hervorruft und sie an der Herstellung des Rechts teilhaben lässt. Sie verschieben die Grenzen des Rechts, weil das staatliche Recht nur äußerst begrenzt ausgeübt wird – äußerst begrenzt.

Wie wird sichergestellt, dass keine betroffene Gemeinde übersehen wird?
ABM: Dazu wird in zwei Schritten gearbeitet. Wo es bereits Kapazitäten zur Anhörung von Fällen durch Organisationen gab, wurde darauf zurückgegriffen. Die ANAA hat zum Beispiel 14 Voranhörungen in verschiedenen Orten zum Thema Umwelt durchgeführt, in denen 150 Fälle dokumentiert wurden. Keine Einzelfälle, sondern regionale Probleme, in denen die Umweltzerstörungen dokumentiert werden. Zum Thema Migration konnte dieser Umfang nicht erreicht werden, auch wenn die Herbergen vieles dokumentiert haben. Zu der Zerstörung der indigenen Landwirtschaft und des Maises war die Arbeit wieder umfangreich, da hier viele indigene Organisationen mitgearbeitet haben. Wir sprechen hier von tausenden von Personen, die so an den Voranhörungen teilgenommen haben. So konnte auf der einen Seite eine umfangreiche Dokumentation der Gewalt, Straflosigkeit und Zerstörung erreicht werden, die alle in Archiven festgehalten werden.
Auf der anderen Seite werden alle einzelnen Fälle gesammelt, um zusammenfassende Anklagen zu formulieren. Beispielsweise soll aus den 14 Voranhörungen zur Umwelt die staatliche Wirtschafts- und Verkehrspolitik insgesamt angeklagt werden. Hier werden nämlich die Gemeinden und die Natur einer forcierten Industrialisierung untergeordnet. Das ist keine Musterklage, sondern eine zusammenfassende Anklage, die viele einzelne Anklagen widerspiegelt. Ein repräsentatives Beispiel reicht dann aus, ohne all die anderen zu vernachlässigen. Beide Schritte werden parallel unternommen.

Wie lief denn eine Voranhörung konkret ab?
Adriana Martínez Rodríguez: Für die Anhörung über Umweltschäden im vergangenen November wurden so viele Fälle eingereicht, dass sie vorher nach thematischen und regionalen Themen sortiert werden mussten, die in 14 Voranhörungen behandelt wurden. So lernten sich die einzelnen Gemeinden näher kennen und wurden in ein Netz integriert.
Nur ein wichtiges Beispiel ist das Autobahnprojekt von Xochicuautla. Die Gemeinde kam zum Tribunal, um über die nun bereits dritte Straße zum Flughafen in Toluca zu klagen. Es gab bisher einige Versuche der Firmen, den Bau der Autobahn zu beginnen, auch mit Hilfe der Polizei. Die Leute haben versucht, die Maschinen zu stoppen; 14 von ihnen wurden festgenommen, vor allem ältere Frauen. Durch das Tribunal konnten die betroffenen Personen das ganze Projekt selbst dokumentieren und somit das Problem besser erklären. Die Gemeinde hat sich zusammengeschlossen. Für die Voranhörung haben sie uns gesagt: „Wir gehen selbst hin. Wir werden unsere Anklage selbst formulieren und uns selbst organisieren.“ Das haben sie dann auch gemacht. Durch das Tribunal werden die betroffenen Gemeinden in ihrem Widerstand gestärkt.

Adriana Martínez Rodríguez, Octavio Rosas Landa Ramos und Andrés Barreda Marín sind Professor_innen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM). Sie engagieren sich bei der Nationalen Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen (ANAA) und betreuen die aktuellen Anhörungen des Ständigen Tribunals der Völker in Mexiko.

Das Ständige Tribunal der Völker ist eine unabhängige Institution, die weltweit Menschenrechtsverletzungen in Form eines ethischen Gerichts untersucht und anklagt. In der Tradition des Russell-Tribunals über die Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg sind in bisher 37 Sitzungen vor allem Staats- und Wirtschaftsverbrechen untersucht worden. Seit 2011 gibt es ein eigenes Kapitel für Mexiko, um unter dem Titel „Freihandel, Schmutziger Krieg, Straflosigkeit und Rechte der Völker“ strukturelle Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Dazu hat es jeweils Anhörungen zu den Themen Frauenmorde, Migration, Umwelt, Mais und ländliches Leben, Arbeitsleben, Medien und Schmutziger Krieg gegeben. Im November wird die Abschlussanhörung in Mexiko-Stadt stattfinden, zu der auch das Öku-Büro München eine Delegationsreise organisiert. Infos zur Rundreise gibt es unter 0894485945 oder mex@oeku-buero.de

Welche Themen sind nun an der Reihe?
AMR: Es kommt die Anhörung zum Thema Gewalt gegen Frauen und Migranten. Vor dieser finalen Anhörung steht die Anhörung zum Unterthema Jugend an. Diese fasst die bisherigen Anhörungen zusammen, weil es diese Altersgruppe ist, die der Gewalt und dem Machtmissbrauch besonders ausgesetzt ist. Es sind Minderjährige, die migrieren. Die Mehrheit der Opfer von Frauenmorden sind Jugendliche; ebenso viele Jugendliche werden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ermordet. Die geringsten Löhne werden den jungen Menschen gezahlt, sofern sie Arbeit haben. Und die, die noch gar nicht geboren sind, werden mit all den Folgen der heutigen Zerstörung zu kämpfen haben. Diese Anhörung wird also auch das zusammenfassen, was die bisherigen bereits aufgezeigt haben.

 

 

 

Zeichnet sich schon ab, wie die allgemeine Anklage aussehen wird?
ABM: Wir versuchen, den mexikanischen Staat für ein Verbrechen anzuklagen, das nirgends als solches anerkannt wird. Wir nutzen das selbstverwaltete Format des Tribunals, um Auseinandersetzungen mit juristischen Fragen anzustoßen, die es bislang nicht gibt. Das ist eine der besten Eigenschaften dieses Tribunals. Wir arbeiten darauf hin, dass der mexikanische Staat nicht nur für Menschenrechtsverletzungen und die schädlichen Auswirkungen des Freihandels verurteilt wird. Wir wollen, dass der mexikanische Staat wegen Machtmissbrauch verurteilt wird – dafür, dass er, um Freihandel durchzusetzen, von einem seiner zentralen Zwecke abgekommen ist: Nämlich die gesamten Reproduktionsprozesse wie die des sozialen Kapitals zu berücksichtigen. Er berücksichtigt die Interessen des sozialen Kapitals aber nicht, sondern nutzt seine Macht zugunsten von privatem Kapital. Diese Abweichung wird nicht gelegentlich, sondern permanent, systematisch und vor allem bewusst herbeigeführt. Um dies aufrecht erhalten zu können, werden nicht nur einfache Gesetze, sondern auch die Verfassung systematisch verändert, bis dahin, Straflosigkeit und Menschenrechtsverletzungen zuzulassen. Das alles lassen wir in die allgemeine Anklage einfließen.

Hat es schon eine Reaktion des mexikanischen Staates auf das Tribunal gegeben?
ABM: Der Staat schenkt dem Tribunal keine Aufmerksamkeit. Er schickt Lauscher und Polizei zu den Anhörungen, aber – selbstkritisch gesprochen – hat das Tribunal wenig Wirkung in den Medien erzielt. Obwohl es bisher eine sehr starke Basisarbeit gegeben hat, hat es nicht die Wirkung gehabt, die es hätte haben sollen. Von daher ist der Staat ziemlich ruhig und hat keinen Widerspruch erhoben. Wozu auch noch Reklame machen? Das wollen wir nun aber ändern und sammeln Mittel für eine gute Medienkampagne.

Tatsächlich gibt es auch Kritik aus der Zivilgesellschaft, dass das Tribunal selbst nicht viel über seine Arbeit berichtet hat.
ORLR: Es ist offensichtlich, dass es an einer breiten Bekanntmachung unserer Arbeit gemangelt hat. Wir haben uns radikal auf die lokale Arbeit konzentriert, auf die Vorbereitung der Zeugen, Beweise und Anklagen. Wir wollten damit vermeiden, dass das Tribunal sich als genaues Gegenteil davon entpuppt, also als Medienkampagne mit viel Lärm ohne echten Inhalt, die niemanden repräsentiert. Uns ist aber bewusst, dass es nun sehr wichtig ist, die ganze geleistete Arbeit zu verbreiten und öffentlich bekannt zu machen – aber erst, wenn diese Arbeit auch tatsächlich geleistet worden ist: mit durch Basisarbeit entstandenen Argumenten, die auch von den betroffenen Menschen getragen werden.

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von der Arbeit des Tribunals?
ORLR: Eine der thematischen Konstanten des Tribunals ist der Freihandel. Alle erfassten Zeugenberichte sind auch eine soziale Bilanz nach 20 Jahren Freihandel in Mexiko,das mehr Freihandelsverträge als jedes andere Land unterzeichnet hat. Die Länder, die gerade in solchen Vertragsverhandlungen stehen, werden mit den aufgearbeiteten Fällen strategische Argumente über die ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Auswirkungen solcher Freihandelsverträge haben. Das betrifft beispielsweise die Länder der Europäischen Union mit dem TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, Anm. d. Red.). Wir können nicht einfach sagen, dass die Globalisierung nur heißt, Investitionen zu erhalten – wir müssen klare, geteilte Verantwortlichkeiten etablieren. Auch die Deutschen müssen ihre Verantwortung verstehen, wenn deutsches Kapital an der Zerstörung der Rechte in Mexiko beteiligt ist. Das ist die Aufgabe des Tribunals: im Bewusstsein der Bevölkerung der ganzen Welt zu verankern, dass sie jedes Mal, wenn sie „Mexiko“ hört, an die Zerstörung durch den Freihandel denkt, dass sie an die Folgen für die gesamte Gesellschaft denkt. Wenn wir damit in andere Räume und Bereiche vordringen, dann können wir Verbindungen schaffen, um diese kriminelle Politik aufzuhalten.

Soll die Arbeit des Tribunals über dieses Jahr hinaus gehen?
ORLR: Was noch fehlt und womit wir ab 2015 arbeiten werden, ist die Systematisierung der gesamten Dokumentation, die über die drei Jahre entstanden ist. Ich spreche hier allein von 150 Umweltfällen, dutzenden Fällen aus der Anhörung zum Thema Mais und die Fälle der Migration. So etwas hat es noch nicht gegeben. Wir haben Informationen und Beweise über die Zerstörung eines Landes erfasst, zusammengetragen von den Bevölkerungsgruppen Mexikos, und es fehlt uns immer noch sehr viel.
ABM: Es gibt die Idee, unsere Arbeit auf die USA auszudehnen. Es wird Voranhörungen zur Migration in New York und Seattle geben. Wir werden sehen, ob das funktioniert, um vielleicht auch eine Anhörung zur Migration weltweit zu bewerben. Es gibt so viele gemeinsame Probleme und absolut keine Brücke in die USA. Solche Brücken über Migrations- und Umweltkämpfe zu bauen ist fundamental – das Tribunal setzt das in Gang.

Weitere Informationen: www.tppmexico.org, www.oeku-buero.de, mex@oeku-buero.de

Poet der Revolution

War es schwierig, in El Salvador Unterstützung für Ihr Filmprojekt zu finden?
Sowohl die Witwe als auch die Söhne Daltons haben das Projekt von Anfang an unterstützt. Und alle Weggefährt_innen Daltons haben mit Begeisterung ihre Erinnerungen mitgeteilt. Dalton muss wirklich ein dermaßen charmanter, witziger und humorvoller Mensch gewesen sein, dass sein Zauber die Leute bis heute entzückt. Schwierig war es nur, die Leute zu finden, die am Schluss des Films über Daltons Ermordung sprechen.

Roque Dalton ist 1975 von seinen eigenen Genossen exekutiert worden. Lange Zeit waren die genaueren Umstände seines Todes innerhalb der Linken ein Tabu. Wann und warum haben Sie sich entschlossen es aufzubrechen?
Ich habe Daltons Dichtung in den achtziger Jahren in El Salvador kennengelernt, in fotokopierten Heften und als auf die Wände der Universität gemalte Parolen. Pointierte politische Propagandapoesie aus den Poemas Clandestinos in einem sehr, sehr frechen, ironischen und selbstironischen Ton, der ein wohltuendes Gegengift gegen das allgegenwärtige Revolutionspathos darstellte. Damals wurde innerhalb der Befreiungsbewegung unter der Hand erzählt, dass die Revolutionäre Volksarmee (ERP, eine der fünf Guerillagruppen, die 1980 die Nationale Befreiungsfront FMLN gründeten; Anm. der Red.) Dalton ermordet habe. Das ist so unbegreiflich und schrecklich: Wie kann es sein, dass der radikalste und genialste Revolutionsdichter Opfer seiner Genossen wurde? Damals hat mir niemand diese Frage beantwortet, aber sie hat mich immer wieder beschäftigt, wenn mir ein weiteres der Werke Daltons begegnet ist.
In groben Zügen war ja immer bekannt, dass der mysteriös verschwundene Edgar Alejandro Rivas Mira den Tod Daltons beschlossen hat, dass Joaquín Villalobos Dalton ihn erschossen haben soll und dass Jorge Meléndez zumindest dabei war. Nicht so bekannt waren die verschiedenen Motive dafür: Eifersucht, Neid, Konkurrenz der jüngeren Guerilleros, die spürten, dass Dalton ihnen, was politischen Weitblick und Erfahrung betraf, haushoch überlegen war. Daltons Witz und Respektlosigkeit haben sich der militaristischen Engstirnigkeit der Genossen nicht unterworfen. Zudem gab es einen politischen Konflikt zwischen zwei Fraktionen. Die eine fasste einen linken Putsch mithilfe einiger linker Militärs ins Auge. Die andere setzte auf langfristige politische Arbeit mit den Massen als Grundlage für die militärischen Kämpfe. Zu ihr gehörten Dalton sowie diejenigen, die später die RN (Nationaler Widerstand, eine andere der fünf Gruppen der FMLN, Anm. der Red.) gründeten.
Dass mir die Idee, diesen Film zu machen und damit auch dieses finstere Kapitel in der Geschichte der salvadorianischen Linken in den Kamerablick zu nehmen, erst nach dem Wahlsieg der FMLN 2009 kam, das ist kein Wunder. Vorher einen Film über ein Verbrechen der Guerilla zu machen, in einem Land, in dem 95 Prozent der Kriegsverbrechen von den US-unterstützten staatlichen Sicherheitskräften begangen wurden, wäre ja fast Wahlhilfe für die Rechten gewesen. Aber jetzt, finde ich, ist die Zeit gekommen, dass auch die FMLN über ihre verdrängten und verschwiegenen dunklen Punkte nachdenken könnte.

Es gab keine juristische Aufarbeitung, angeblich ist die Tat verjährt. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass sich unter der neuen Regierung Sánchez Cerén daran etwas ändert?
Traurigerweise sieht es im Moment nicht danach aus: Dass Jorge Meléndez wieder in die Regierung berufen wurde, ist ein Skandal, der nicht nur die Familie Dalton zutiefst empört. Wie kann eine linke Regierung jemanden, der der Mittäterschaft am Mord des wichtigsten Dichters des Landes schwer verdächtig ist und sich weigert, auch nur die geringste Verantwortung dafür zu übernehmen, als Staatssekretär einsetzen? Ohne von ihm zumindest zu verlangen, dass er das Mögliche tut, um die Geschehnisse aufzuklären? Ohne dass er sagt, wo die sterblichen Überreste Daltons verscharrt wurden? Und ohne dass er sich bei der Familie Daltons entschuldigt?

Welche Facetten seines literarischen Schaffens konnten Sie während Ihrer Recherchen und der Arbeit am Film entdecken?
Als ich mit der Recherche begann, kannte ich, was auf Deutsch übersetzt war: Däumlings verbotene Geschichten, die Geschichte El Salvadors als Collage literarischer Fundstücke, seinen autobiographischen Roman Armer kleiner Dichter, der ich war und die Biographie des Schusters und Revolutionärs Miguel Mármol. Außerdem eine in Kuba erschienene Anthologie seiner Gedichte. Eine große Überraschung war es dann, die drei Bände seiner gesammelten Gedichte in den Händen zu halten: Ich war überwältigt zu sehen, welch umfangreiches Werk er in nicht einmal vierzig Jahren verfasst hat, welche Fülle an wunderschönen Liebesgedichten und scharfzüngigen politischen Erleuchtungen. Ich wusste zunächst auch gar nichts von seinem umfangreichen Werk als Journalist und politischer Analyst, das bis heute noch nicht vollständig herausgegeben ist.

Infokasten

Roque Dalton (1935-1975)
Was für ein turbulentes Leben: Als Nachkömmling der berüchtigten Dalton-Familie aus den USA wurde Roque Dalton in San Salvador geboren. 1957 trat er der Kommunistischen Partei bei. Zweimal wurde er festgenommen und zum Tode verurteilt, zweimal entrann er nur knapp dem Tod durch Exekution. Er verbrachte Jahre des Exils in Mexiko und Kuba und arbeitete im Auftrag der Kommunistischen Partei für The International Review als Korrespondent in Prag. Unter dem ungerechtfertigten Vorwurf, seine eigene Organisation zu spalten, wurde er jedoch durch ein Tribunal der Revolutionären Volksarmee (ERP) zum Tode verurteilt. Genossen exekutierten ihn am 10. Mai 1975, vier Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag.

Erschießen wir die Nacht!
Höchst erstaunlich, dass Daltons Gedichte bis heute nichts an Witz und provokanter Schärfe verloren haben und bemerkenswert, dass Regisseurin Tina Leisch es geschafft hat, ihren Film ebenso verwegen, zärtlich und respektlos anzulegen: Ehefrau, Prostituierte, Geliebte, revolutionärer Elan und trauriger Suff – nichts wird ausgelassen oder gerade gebügelt in diesem Film, der aus seiner eigenen undogmatisch linken Position keinen Hehl macht. Roque Dalton, ¡Fusilemos la noche! tourt seit einem knappen Jahr erfolgreich durch globale Festivals. Beim internationalen Cine Las Americas Festival in Austin (Texas) gewann er den Jurypreis für den besten Dokumentarfilm. Im November zeigt ihn das Berliner Eiszeit Kino.

“Frequenzen konnten vererbt werden“

Eigentlich sollte das neue Mediengesetz mehr Raum für kontroverse Debatten und kulturelle Vielfalt schaffen. Zugleich gibt es aber immer wieder auch Nachrichten darüber, dass einzelne Menschen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei ihrer Arbeit massiv behindert werden. Wie passt das zusammen?
Was in Ecuador gerade passiert, ist schon ziemlich beunruhigend. Es gibt verschiedene Beispiele, die zeigen, wie brüchig die Meinungsfreiheit ist. Ende vergangenen Jahres wurde beispielsweise die Stiftung Pacha Mama geschlossen, wegen ihrer Beteiligung an sozialen Protesten. Bei einer Demonstration gab es einen Zwischenfall, ein ausländischer Diplomat wurde mit einem Speer verletzt. Doch anstatt wie sonst üblich einen strafrechtlichen Prozess gegen den Täter einzuleiten, nahm die Regierung den Vorfall zum Anlass, Pacha Mama zu schließen. Ihre Begründung: Als NGO hätten sie nicht das Recht, sich in die Politik einzumischen oder Wahlkampf zu machen. Und der Beleg dafür war eben die Anwesenheit von Mitarbeitern der Stiftung auf dieser Demonstration.

Gibt es auch Angriffe auf einzelne Medienschaffende, die kritisch oder zu kontroversen Themen in Ecuador arbeiten?
Ja, auch solche Übergriffe beobachten wir immer wieder. Vor einiger Zeit schrieb eine junge Journalistin aus den USA über ein Massaker an zwei Gruppen der Taromenane-Indigenen. Kurze Zeit später erklärte Präsident Rafael Correa in einer Fernsehansprache, dass diese Ausländerin kein Recht habe, sich darüber eine Meinung zu bilden und dass ihre Schilderungen nicht stimmen würden. Correa erniedrigte sie nicht nur öffentlich, einige Menschen nahmen diese Anschuldigungen auch sehr ernst. Ein Shitstorm entlud sich in den sozialen Netzwerken, eine mediale Lynchjustiz setzte ein. Ich finde es furchtbar, die Bevölkerung so gegen eine Person aufzuhetzen. Jede und jeder hat doch das Recht seine oder ihre Meinung zu sagen und an öffentlichen Debatten teilzunehmen.

Sind auch Personen des öffentlichen Lebens in Ecuador von solchen Hasskampagnen betroffen?
Der Fall von Jaime Guevara, der für seine Protestlieder bekannt ist, hat für Aufsehen gesorgt. Guevara machte auf einer Demo eine obszöne Handbewegung als der Wagen des Präsidenten vorbeifuhr. Daraufhin stieg Correa aus und ordnete an, den Sänger wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festzunehmen. Im Polizeibericht wurden dann diese Anschuldigungen einfach übernommen, Trunkenheit und Drogenkonsum. Einige Tage später machten Freunde des Verhafteten jedoch darauf aufmerksam, dass Guevara aus gesundheitlichen Gründen starke Medikamente nimmt und seit jeher völlig abstinent lebt. Correa entgegnete darauf, es sei ja wohl nicht seine Schuld, dass er betrunken gewirkt habe.
All diese Zwischenfälle zeigen, dass wir an einen Punkt gelangt sind, an dem die Regierung jegliche Kritik, jede Geste sofort als einen Angriff, als einen oppositionellen Akt wahrnimmt. Es sollte doch möglich sein, ein gemeinsames Terrain zu finden und so auch wieder die positiven Seiten der aktuellen staatlichen Politik ansprechen zu können, denn die gibt es ja auch. Doch dafür ist es notwendig, dass sich die Regierung den gesellschaftlichen Debatten stellt.

Zumindest der Forderung nach einem neuen Mediengesetz scheint die Regierung ja nachgekommen zu sein. Wie verliefen die Verhandlungen?
Es war schon ein ziemlich langwieriger Prozess. Gemeinsam mit vielen sozialen Organisationen haben wir jahrelang darauf hingearbeitet, die Kommunikationsmittel zu demokratisieren und anders als bisher zu regulieren. Gemeinsam waren wir direkt daran beteiligt, die Novellierung der Gesetze inhaltlich zu begleiten.

Und was waren Ihre konkreten Forderungen und Prinzipien, mit denen Sie die Medienlandschaft demokratisieren wollten?
Im Radiobereich griffen wir auf das inzwischen bekannte Prinzip einer paritätischen Dreiteilung aller verfügbaren Frequenzen zurück, das beispielsweise auch in Bolivien Anwendung findet: ein Drittel der Kanäle für öffentlich-staatliche Sender, ein Drittel für kommerzielle Anbieter und ein Drittel für kommunitäre Medien (wie Gemeinderadios; Anm. d. Red). Anfangs hat den staatlichen Vertretern diese Idee überhaupt nicht gefallen. Bei unserem ersten Treffen haben sie uns ausgelacht und gesagt, man könne das elektromagnetische Spektrum doch nicht wie eine Torte aufteilen. Aber dieselben, die anfangs nur lachten, machten sich später unser Argument zu eigen.

Das Problem ist doch auch, dass gerade in größeren Städten oft keine Frequenzen mehr frei sind für unabhängige, nicht-kommerzielle Projekte. Wie läuft das in Ecuador?
Die Regierung setzte eigens eine Kommission ein, die die Praktiken der Frequenzvergabe prüfen sollte. Das war ein ganz wichtiger Schritt und die dokumentierten Ergebnisse sehr plastisch. In Ecuador wurden Frequenzen schlicht und einfach verkauft, es war möglich, Frequenzen zu vererben und es gab auch spezifische Verfahren, Frequenzen an Freunde zu überschreiben. Correa sagte darauf, das sei eine Zeitbombe die sofort entschärft werden müsse. Leider verlief der danach angestrebte Reformprozess im Nichts.

Sind seit der Gesetzesreform auch neue kommunitäre Medien entstanden?
Vor dem neuen Gesetz gab es offiziell keine kommunitären Medien, nur einen TV-Sender, der von der Indigenenbewegung in Cotopaxi organisiert wurde. Nun finden kommunitäre Medien gesetzlich explizit Erwähnung und die Regierung übergab insgesamt 14 Sender an indigene Gemeinden, in Anerkennung einer historischen Schuld. Inzwischen sind weitere solche Sender entstanden. Aber es handelt sich eben nicht um einen Prozess, bei dem soziale Organisationen oder Gemeinden selbst eine Genehmigung anstrengen. Die Regierung bereitet alles vor und die späteren Träger unterschreiben nur. Auf diese Weise sind es insgesamt 54 Sender und es werden noch viele folgen. Aber sie sind Ausdruck des Regierungswillens und nicht das Ergebnis sozialer Forderungen.

Und was geschieht mit anderen Anträgen, um beispielsweise ein kommunitäres Radio legal anzuerkennen?
Mit unserer Organisation Radialistas informieren wir die Bevölkerung über ihr Recht, selbstbestimmt ein Radio organisieren zu können. Doch leider sind all diese Anträge bisher in einem Sammelordner abgeheftet worden, um zu einem späteren Zeitpunkt allen Projekten gleichzeitig ihre Lizenzen auszustellen. So heißt es von Regierungsseite. Schauen wir mal, wann das wirklich passiert, ich fürchte, dass es vielleicht gar nicht dazu kommt. Aber wir müssen trotzdem weiter Druck machen.

Worin genau sehen Sie das Problem bei den Sendern, die aktiv vom Staat geschaffen wurden?
Diese Sender wurden von Beginn an stark gefördert. Der Staat stellte jeweils das komplette Equipment zur Verfügung und zwei Techniker, denen jeweils ein monatliches Gehalt von 700 US-Dollar gezahlt wird. Die Sender funktionieren also de facto unter staatlicher Vormundschaft. Der Staat liefert alles und niemand macht sich Gedanken darüber, wie so ein Radio auch selbstverwaltet arbeiten könnte. Ich halte das für gefährlich. Klar, momentan schafft das auch viele positive Effekte für die einzelnen Gemeinden, aber was, wenn der Staat den Geldhahn irgendwann aus irgendeinem Grund zudreht?

Was für Möglichkeiten räumt das Gesetz denn den kommunitären Medien ein, um sich nachhaltig und unabhängig finanzieren zu können?
Solche Medien dürfen entgeltlich Dienstleistungen anbieten und auch Werbung senden, um mit den Einkünften ihren nicht-kommerziellen Betrieb zu gewährleisten. Aber genau das macht eben keiner der neu entstandenen Sender, da sie es wegen der staatlichen Förderung nicht nötig haben. Eine seltsame Situation. Das Gesetz hat den kommunitären Medien nur wenige Grenzen gesteckt, aber niemand erkundet diese Möglichkeiten.

In Lateinamerika wird inzwischen auch vermehrt über Radiofrequenzen als ein Gemeingut nachgedacht. Neben Radio und TV sollen sie auch eine weiterführende kommunitäre Nutzung des elektromagnetischen Spektrums im Auge haben, zum Beispiel den Aufbau nicht-kommerzieller Mobiltelefon- und drahtloser Datennetzwerke. Welche Ideen werden diesbezüglich in Ecuador diskutiert?
Unser Bündnis sozialer Organisationen tritt bei der Digitalisierung terrestrischer TV-Frequenzen zum Beispiel für die Einführung des japanisch-brasilianischen Standards ein. Der würde es erlauben, statt einem analogen Kanal, vier digitale Kanäle auf derselben Frequenz zu senden. Die Zahl der Sender könnte sich potenziell extrem vervielfältigen. Und natürlich treten wir auch im digitalen Spektrum für die bereits angesprochene paritätische Dreiteilung ein. Auch wenn wir vielleicht noch nicht die Kapazitäten für eine konkrete Nutzung haben, ist es wichtig, jetzt wachsam zu sein, um von Beginn an die Weichen für eine gerechte Verteilung zu stellen. Dieser Kampf ist von fundamentaler Bedeutung, um die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums zu demokratisieren.

Infokasten

Clara Robayo ist Mitarbeiterin der Organisation Radialistas Apasionadas y Apasionados („Leidenschaftliche Rundfunker_innen“), die sich für eine Demokratisierung der Medien, besonders des Radios, einsetzt. Mit Sitz in Quito bieten sie ihr Knowhow allen Interessierten in Lateinamerika und der Karibik an. Auf ihrer Homepage sind über 4.000 unabhängig produzierte Audiobeiträge abrufbar.
Mehr Infos: www.radialistas.net/

Menschenrecht der Bäuerinnen

Die Exklusion von Kleinbäuerinnen aus den sozialen Besitzformen der ejidos und comunidades ist eine nicht zu verbergende Realität. Eine Untersuchung des Zentrums für Höhere Studien von Mexiko und Zentralamerika in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Frauenrechte Chiapas ergab, dass Frauen mit nur 22,8 Prozent unter den Landbesitzer_innen auf bundesstaatlicher Ebene vertreten sind. In den indigenen Gebieten sind es noch weniger: In der Region Altos de Chiapas sind es weniger als ein Prozent, in der Region Tulija-Tseltal-Ch´ol 14,7 Prozent.
Die mexikanische Gesetzgebung schreibt gleiche Rechte für Männer und Frauen fest und im Agrargesetz wurde anfangs von familiärem Besitz gesprochen. Vorherrschend ist dagegen die traditionelle patriarchale Vorstellung, das Land gehöre den Männern. Diese offiziell legitimierte Diskriminierung ist auf dem Land sehr üblich und hat zur Folge, dass Frauen in ihrer Mehrheit keine Landtitel innehaben und nicht an den Versammlungen der ejidos teilnehmen können.
In Chiapas sowie in anderen mexikanischen Bundesstaaten hat sich die Situation durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte verschlechtert. Diese haben die Privatisierung des Landes, den Preisverfall der ländlichen Produktion und die Abschaffung von Beihilfen zur Produktion durchgesetzt, den Handel mit Saatgut für Grundnahrungsmittel liberalisiert sowie die Preise für den Konsum erhöht. Da sie mit dem importierten, subventionierten Mais aus den USA nicht konkurrieren können, reduzierten Kleinbäuerinnen und -bauern ihre Maisproduktion seit Ende des vergangenen Jahrhunderts oder stellten die Aussaat ganz ein. Angesichts der Krise entschieden sich viele zur Migration in den Norden des Landes oder in die Vereinigten Staaten, was einen schwerwiegenden Strukturverfall des ländlichen Lebens verursacht hat. „Die jungen Leute wollen nicht mehr säen, sie lieben die Mutter Erde nicht mehr“, klagt ein alter Bauer der Tsotsil (eine der indigenen Gemeinschaften in Chiapas; Anm. d. Übers.).
Die neoliberalen staatlichen Maßnahmen haben auf dem Land tiefgreifende Veränderungen in der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung hervorgebracht. Die Migration der Männer führt bestenfalls dazu, dass die Frauen die Erde bestellen, um Mais für den täglichen Bedarf zu erhalten. Doch in vielen Fällen muss das Land verkauft werden oder geht aufgrund von unbeglichenen Darlehen verloren, mit denen der_die Schlepper_in bezahlt wurde, der_die die Migrierenden über die Grenze bringt. Die Frauen, denen ein Stück Land bleibt, leisten Gemeindebeiträge und -dienste, damit der Ehemann den Landtitel nicht verliert und bezahlen die zurückgelassenen Schulden. „Ich bin jetzt Mann und Frau zugleich“, erzählt eine von ihnen. Gleichzeitig müssen sie der Kritik und dem Gerede in der Gemeinde standhalten, weil sie soziale Normen überschreiten.
Einige Frauen bauen parallel zu ihren Überlebensanstrengungen gewisse Alternativen der Befreiung auf. Angesichts der Migration ihrer Ehemänner berichten sie: „Ich fühle mich freier, habe aber auch mehr Arbeit.“ Eine Interpretation besteht darin, dass die veränderten ökonomischen Bedingungen auch die Bevollmächtigung von Frauen sowie ihre Akzeptanz als Unterhalterinnen der Familie fördern. Doch das betrifft die wenigsten und der Preis, den sie dafür bezahlen mussten, ist sehr hoch. „Als mein Mann zurückkam, wollte er wieder bestimmen“, berichtet eine Betroffene.
Hoffnungsvoll warten die Frauen darauf, dass die Ehemänner Geld schicken, doch das, was ankommt, ist oft wenig bis nichts. Die Situation wird noch schwieriger, wenn Schwager oder Schwiegervater das Land entwenden. Oft kommen Frauen dann ins Zentrum für Frauenrechte Chiapas. „Was kann ich tun?“, fragt eine. „Mein Mann kam aus den Vereinigten Staaten zurück und verkaufte unser Land. Mit dem Geld ging er wieder in die USA und wollte mich und die Kinder nachholen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.“
Die Mehrheit der Frauen, die ihres Grundstücks oder ihrer Parzelle beraubt wurden, sind verheiratet. Doch in anderen Fällen knüpft sich die Ausbeutung an Trennung oder Scheidung, was immer eine Situation großer Verletzbarkeit für die Frauen und ihre Kinder darstellt. Die dokumentierten Fälle zeigen, dass die Ausbeutung in 36 Prozent von den männlichen Verwandten der betroffenen Frau ausgeht, in 25 Prozent vom (Ex-)Partner oder einem männlichen Mitglied aus dessen Familie, in 20 Prozent von den kommunalen Instanzen, in drei Prozent von Bauernorganisationen und in den verbleibenden Fällen meist von einem anderen Mann des ejidos. Ein Drittel der betroffenen Frauen ist älter als 61 Jahre, oft waren ihre erwachsenen Söhne die Verursacher der Ausbeutung. Die Mehrheit ist zwischen 30 und 40 Jahre, hier sind oftmals der Schwiegervater oder der migrierte Ehemann verantwortlich.
Ein beispielhafter Fall ereignete sich im ejido Bella Vista in der Grenzregion Comalapa: Mehrere Frauen, die mit Männern von außerhalb – meist Guatemalteken – verheiratet sind, wurden nicht nur ihres Landes beraubt, sondern mussten zudem ihre Gemeinde verlassen. Diejenigen, die sich geweigert haben, dem Beschluss der Versammlung Folge zu leisten, werden von den Autoritäten belästigt und bedroht. Diese begründen ihre Forderung mit dem Artikel 31 der ejido-Ordnung, welche vorsieht, dass Frauen, die Männer von außerhalb heiraten, aus der Gemeinschaft ausgewiesen werden. Diesen Artikel sehen allerdings viele als verfassungswidrig an, da er nicht nur das Recht der Frauen auf Landbesitz, -nutzung und -nutznießung verletzt, sondern auch auf freie Wahl des Partners/der Partnerin, des Wohnortes und auf Bewegungsfreiheit.
Der Beitrag von Frauen zur Nahrungsmittelproduktion und zur familiären und kommunitären Ökonomie wird nicht anerkannt. Sie dürfen über die selbst produzierten Nahrungsmittel nicht verfügen. „Mein Mann, meine Kinder und ich brachten die Ernte ein. Als ich ein bisschen davon verkaufte, um Seife zu kaufen, wurde mein Mann böse und sagte: ‚Warum verkaufst du Mais, der nicht deiner ist? Er ist meiner.‘ Er selbst aber kauft sich Schuhe. Meine Arbeit auf dem Feld nimmt er nicht wahr“, sagt Crecencia im Frauenzentrum.
Keinen Landtitel innezuhaben bedeutet für die Frauen auch, keine Möglichkeiten zu haben, die Veräußerung des Landes zu verhindern. Sie können weder Privatisierungen stoppen, noch die Billigung anderer Programme, die zum Zweck haben, das Land zu kommerzialisieren.
„Wir kennen unsere Rechte nicht.“ Ein Satz, der anfangs von den meisten Frauen geäußert wird, mit denen das Zentrum für Frauenrechte Chiapas arbeitet. Es ist bezeichnend, dass sie nach und nach ihr Recht auf Land erkennen und sich dazu motivieren, die familiäre Parzelle als ihre eigene zu bepflanzen und zu empfinden. Indem sie sich des Risikos der Ausbeutung von Land und Ernte bewusst sind, nehmen sie die dringende Notwendigkeit wahr, für die Anerkennung des familiären Besitzes zu kämpfen. Für viele ist es mitlerweile wichtig, die familiäre Bedeutung des sozialen Eigentums wiederzuerlangen, die im Jahr 1991 mit der Reform des Artikels 27 der Verfassung eliminiert wurde. Doña Fide im Zentrum für Frauenrechte resümiert: „Wie gut, dass wir uns zusammentun, denn das ist unsere Selbstverteidigung und die unserer Erde.“

Schweigezonen

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalist_innen weltweit. Inwieweit beeinflusst diese Situation Ihre Arbeit?
Emiliano Ruiz Parra: Viele Kollegen publizieren weit weniger, als sie wissen – nicht nur aus Angst ermordet zu werden. Gregorio (Jímenez, im Februar 2014 in Veracruz ermordet; Anm. d. Red.) zum Beispiel hat pro veröffentlichter Nachricht einen Euro verdient. Wenn man von einem Vollzeitjob nicht leben kann, beginnt die Versuchung, andere Angebote anzunehmen – und sich zum Beispiel gegen Bezahlung selbst zu zensieren. Die Eigentümer der Medien arbeiten sehr eng mit den lokalen Gemeindevorstehern zusammen und diese gehören in vielen Fällen dem Organisierten Verbrechen an. Kriminelle Vereinigungen finanzieren politische Kampagnen unter der Bedingung, bestimmte Bereiche der Kommunalpolitik, wie z.B. die Vergabe von Bauaufträgen, zu kontrollieren. Manchmal stellen sie aber auch direkt den Bürgermeisterkandidaten. Es gibt keine klaren Linien, wo das Organisierte Verbrechen aufhört und der mexikanische Staat anfängt. Die Journalisten, vor allem auf lokaler Ebene, befinden sich inmitten dieses verwirrenden Netzes aus Komplizenschaften.

Humberto Padgett León: In einem Fall hat ein Kartell in Michoacán nicht nur die Kandidaten aller Parteien gestellt, sondern auch eigene Medien gegründet. Den Journalisten mit einem monatlichen Einkommen von 100 Euro wurden die neuen Chefpositionen angeboten: „Du kannst die Inhalte auswählen und veröffentlichen, was du willst. Das Einzige, was du für mich tun musst, ist vom Abgeordneten A die Finger zu lassen und immer gegen den Abgeordneten B zu schreiben. Und du verdienst 1.000 Euro im Monat.“
In Zacatecas gibt es den Fall der Zeitung Imagen. Die Chefin der Zeitung erhielt konkrete Drohungen gegen sie und ihre Familie, weil sie bestimmte Artikel nicht veröffentlicht hatte. Es ging um eine Nachricht, laut der ein General der Armee das Sinaloa-Kartell bevorteilen würde. Die Veröffentlichung wurde von den rivalisierenden Zetas mit Morddrohungen eingefordert.

E.R.: Wegen dieser Umstände gibt es „Zonen des Schweigens“. Komplette Teile des Landes, wo man nicht weiß, was passiert.

Welche Landesteile sind das?
E.R.: Für lange Zeit war das Tamaulipas (Bundestaat an der Golfküste; Anm. d. Red.). Inzwischen weiß man, dass es dort Kämpfe gibt, weil sie dermaßen offen stattfinden. Aber zwei bis drei Jahre lang wurde außer vielleicht auf Twitter nichts über die dortigen Geschehnisse veröffentlicht. Viele Journalisten mussten die Region verlassen. Südlich von Tamaulipas, im Norden von Veracruz, wird ebenso wenig berichtet, was passiert. Und während der Aufstände der Bürgerwehren in Michoacán gelangte nichts davon in die Nachrichten – nicht weil es nicht wichtig war, sondern weil über diese Themen nicht geredet wird. Dies sind die drei Regionen, in denen das Schweigen am deutlichsten ist. Aber es gibt noch weitere.

Wie arbeiten Sie angesichts dieser Umstände bei Ihren Medien?
E.R.: In der Zeitschrift Gatopardo fühle ich mich wohl. Ich konnte dort bislang veröffentlichen, was ich wollte. Das einzige Manko ist vielleicht, dass ich freiberuflich arbeite und keine soziale Sicherheit habe. Deshalb muss ich auch für andere Zeitschriften schreiben und deren Aufträge erfüllen. Es gibt keine Zeitungen, in denen man sich in Ruhe auf ein Thema und einen Hintergrundtext konzentrieren kann, ohne sich um seine wirtschaftliche Situation sorgen zu müssen.

H.P.: Sinembargo ist ein digitales Medium. Das befreit uns von den Druckkosten, die den höchsten Anteil an den Produktionskosten eines Printmediums in Mexiko ausmachen. Und wir sparen uns das logistische Problem, eine Zeitung auszuliefern. Wir leben nicht von der Werbung der Regierung. Bis jetzt habe ich noch keine Situation erlebt, in der ich aufgefordert wurde, nicht über einen bestimmten Politiker oder eine Situation zu berichten.
Bei den Medien, für die ich früher gearbeitet habe, war das anders. Bei MX konnte die Regierung generell kritisiert werden, aber niemals direkt Felipe Calderón. Denn die Zeitschrift hat von den Anzeigen der Regierung gelebt. Einmal verweigerte Calderón uns ein Interview. Daraufhin haben wir als Titelfoto sein Gesicht gedruckt, in das wir unsere Fragen geschrieben hatten. Wegen der Vorwürfe des Wahlbetrugs 2006 fragten wir: „Werden Sie rechtmäßiger Präsident?“ Und wegen der Sonderbehandlung von Mitgliedern bestimmter Drogenkartelle: „Wer wird der narco dieser Legislaturperiode?“ Calderón wurde wütend und befahl seinem Pressechef Max Cortázar, die Werbung bei MX einzustellen. Zwei Nummern später konnte die Zeitschrift aus Geldmangel nicht mehr erscheinen. Der Leiter der Zeitschrift bat um ein Treffen mit Cortázar und letztlich bekamen wir wieder Anzeigen, aber Felipe Calderón durfte nicht mehr karikiert oder direkt angegriffen werden.
Die mexikanischen Medien hängen fast alle von der Werbung der Regierung ab, selbst die größten. Kritik an Politikern heißt also Kritik am größten Kunden. Wenn man die Titelseiten von gestern oder auch aus den letzten zehn bis 50 Jahren überprüft, sieht man das: Der Protagonist der Nachrichten ist ein Politiker, der ein Mexiko regiert, das nicht existiert – ein Mexiko, das die Menschen- und Frauenrechte respektiert, das die einkommensschwachen Menschen fördert, das seine Umwelt schützt und gute Bildung gewährleistet.

Herr Padgett, wie recherchieren Sie in Mexiko zu einem so heiklen Thema wie dem Organisierten Verbrechen?
H.P.: Ein Teil meiner Arbeit basiert auf der Analyse von Dokumenten. Seit acht Jahren arbeite ich an einer systematischen Zusammenstellung von gerichtlichen Ermittlungen. Diese Dokumente sind unter Verschluss, aber ich habe verschiedene Quellen gefunden, die mir den Zugang ermöglichen. Es sind Dokumente, die laufende Prozesse gegen Drogenhändler in Mexiko und den USA von 1959 bis 2013 auf allen Ebenen der kriminellen Strukturen beschreiben. Das heißt Prozesse gegen capos („Paten“), Geldwäscher, Importeure und Exporteure, Auftragskiller, Drogenkuriere… Das sind 60.000 Seiten Dokumente, die ich fotografiert habe. Ein anderer Teil meiner Arbeit findet in Drogenkonsum- oder -produktionsregionen statt.

Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um nicht bedroht oder angegriffen zu werden?
H.P.: Ich habe immer über alle Drogenkartelle gleichermaßen geschrieben. Es gibt keins, über dessen Verbindung zur Politik ich nicht geschrieben hätte. Das ist einerseits unter dem Aspekt ausgewogener Information angebracht, aber auch eine Sicherheitsmaßnahme. Denn man sieht, dass ich keine Gruppe bevorteile. Ich habe nie Geld akzeptiert oder etwas publiziert, das mir von einem Politiker zugespielt wurde. Auch das hat eine ethische und eine praktische Dimension.
Wenn ich für Recherchen reise, befolge ich ein Sicherheitsprotokoll. Ich reise grundsätzlich tagsüber und benutze keine auffälligen Autos. Ich gehe nachts nicht mehr aus – inzwischen auch nicht mehr in meiner Heimatstadt. Ich nehme keine Drogen, da mich dies der Gefahr aussetzt, verhaftet zu werden. Und dann könnte man mir einen Fall anhängen. Außerdem kenne ich das Leid, das der Handel mit Marihuana in meinem Land anrichtet.
Ich habe meine Informanten noch nie über das, was ich später über sie schreibe, getäuscht. Mein Wort muss gelten. Nach der Veröffentlichung muss ich meiner Quelle noch ins Gesicht sehen können. Diese Maßnahmen haben mich in eine privilegierte Position gebracht, um über diese Themen zu schreiben. Ich wurde noch nie bedroht.

Herr Padgett, haben Sie über Ihre Beschäftigung mit dem Organisierten Verbrechen Ansätze gefunden, wie dem Problem begegnet werden könnte?
H.P.: Verschiedene. Der größte Fehler ist die Straflosigkeit der Politiker und Beamten, die in das Organisierte Verbrechen verwickelt sind. Zudem wird das Problem sicherheitspolitisch aufgefasst, obwohl es vielmehr um Sozial- und Wirtschaftspolitik gehen sollte. Ein Bauer, der Mais oder Bohnen anpflanzt, ist leicht vom Organisierten Verbrechen zu korrumpieren, wenn der ihm garantierte Abnahmepreis unter den Produktionskosten liegt. Ich kenne Bauern, die Marihuana anpflanzen und sie haben nichts mit dem Stereotyp des mexikanischen Drogenhändlers zu tun. Sie sind keine gewalttätigen Personen, leben nicht in übermäßigem Reichtum und haben keine Gürtel mit Diamanten. Es sind Menschen, die ihren Söhnen eine bessere Bildung oder ihrer Frau professionelle medizinische Versorgung bieten können, weil sie Marihuana anbauen. Sie haben ein jährliches Einkommen von 5.000 bis 7.000 Euro. Sogar aus der mexikanischen Perspektive sollte dies kein Betrag sein, für den sich jemand einem solchen Risiko aussetzt und seine Freiheit, sein Leben und das seiner Familie aufs Spiel setzt. Aber wir sind eine extrem ungleiche Gesellschaft und die Ungleichheit ist eine Bedingung, die das Organisierte Verbrechen fördert.

Infokasten

Humberto Padgett León hat Journalismus an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) studiert. Er arbeitet zu Feminiziden, Korruption sowie Organisierter Kriminalität und deren Verbindungen zu Staatsbeamt­_innen. Derzeit ist er Redakteur des Internetportals www.sinembargo.mx.
Emiliano Ruiz Parra hat Hispanistik an der UNAM sowie Politische Theorie in London studiert. Als Journalist arbeitet er zu Kirche, Politik und Migration in Mexiko. Als freier Journalist veröffentlicht er regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift Gatopardo. In letzter Zeit setzt er sich außerdem als Aktivist für die Pressefreiheit in Mexiko ein.
Emiliano Ruiz Parra und Humberto Padgett León sind die aktuellen Preisträger des Walter-Reuter-Medienpreises. Er wird jährlich von der Deutschen Botschaft in Mexiko in Zusammenarbeit mit weiteren deutschen Institutionen vergeben.

Ein Buch voller Lebensrealitäten

Eine Jugendliche in einer Anstalt, deren Leben durch unvorhergesehene Ereignisse scheinbar aus den Bahnen geraten ist. Ihre Situation können wir durch die Autorin, die sie in der Pflegeeinrichtung besucht, miterleben. Wir sitzen der Jugendlichen gegenüber. Wir hören zu, was sie von ihrem Leben erzählt. Das ist die erste kleine Geschichte des Buches Verdammter Süden.
Der Sammelband ist ein Werk verschiedenster zeitgenössischer Autor_innen Lateinamerikas, die in journalistischer Manier Geschichten ihres Kontinents dokumentieren und dadurch eine lustige, komische, traurige, brutale und faszinierende Lektüre schaffen, die beim Lesen unterschiedlichste Emotionen auslösen. 17 kleine literarische Reportagen führen von Argentinien, Brasilien und Paraguay über Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama nach Mexiko und in die USA. Das Buch erzählt von selbstproduzierten Dorf-Telenovelas, von einem Liebesknast, einem Ort, in dem fast nur Zwillinge geboren werden, von Wrestlerinnen aus dem Hochland oder einer Insel in der Karibik, die eigentlich nur aus Müll besteht und durch den Müll der Bewohner_innen stetig wächst. Es wird von Kuriositäten berichtet wie vom letzten Totenwachenkomiker in Soledad, Kolumbien, der Menschen auf Beerdigungen zum Lachen bringt, oder über die vereinsamten Nilpferde Pablo Escobars, die nun statt im Nil im Río Magdalena leben. Es finden sich auch bedrückende Berichte von der Grenze Mexikos und dem Überlebenskampf migrierender Menschen in der Wüste zu den USA.
Es sind keine erfundenen Geschichten, die man zu lesen bekommt, sondern Reportagen, crónicas, die im Stil Kurzgeschichten ähneln. Der Titel „Verdammter Süden“ lässt jedoch nichts über die crónicas erahnen und noch weniger darüber, was die Lektüre tatsächlich zu bieten hat. Das „Verdammte“ am Süden oder am Sammelband erschließt sich nämlich nicht. Die Autor_innen brechen vielmehr mit Klischees und stereotypen Bildern. Durch die Beschreibung der einzelnen Personen und Hauptfiguren ihrer Reportagen führen sie uns an die Wirklichkeit heran und bringen uns individuelle Lebenslagen nahe. Dadurch werden gleichzeitig Einblicke in die jeweilige Gesellschaft und Umgebung freigelegt, in soziale Kontakte und Gebräuche, familiäre Konstellationen, politische Strukturen und Arbeitsfelder.
Die Herausgeberin Carmen Pinilla und der Herausgeber Franz Wegner fassen es passend zusammen: Man braucht Geschichten nicht zu erfinden – es reicht, sie zu entdecken. Sie geben Alltägliches wieder und verdeutlichen Lebensrealitäten, wo das Bizarre im Normalen liegt. Das Buch lädt ein, zum Lachen und Weinen, zum Eintauchen in die Welten vor Ort, es liest sich wie eine kleine Lateinamerika-Reise. Verdammt gutes Lesevergnügen.

Carmen Pinilla und Frank Wegner (Hg.) // Verdammter Süden. Das andere Amerika // Suhrkamp Verlag // Berlin 2014 // 315 Seiten // 20 Euro // www.suhrkamp.de

// „You can´t evict a movement“

Bis in den mexikanischen Senat hatte sie es mit ihrem Anliegen geschafft. „Wenn wir Frauen nicht unsere Stimme erheben, wird uns niemand hören, und heute werde ich für diese Frau sprechen, die vergewaltigt wurde, die entführt wurde, die ein Kind verloren hat“, verkündet Paola Quiñones. Sie ist Teil der Karawane für den Dialog, in der sich im Juni Migrant_innen aus Zentralamerika zusammengeschlossen hatten, um ihre Rechte einzufordern. Und sie ist Teil eines neuen Selbstbewusstseins: Migrant_innen organisieren sich, machen ihre Situation öffentlich und zwingen die Politik, sie anzuhören.

Erst über Ostern hatte die Migrant_innenkarawane Viacrucis („Kreuzweg“) in Mexiko-Stadt für hunderte Personen 30-tägige Transitvisa für die Reise in die USA ausgehandelt. Die Geflüchteten hatten sich entschlossen, Mexiko zu Fuß zu durchqueren und auf ihrer Durchreise die Menschen über die prekäre Situation undokumentierter Migrant_innen im Land aufmerksam zu machen. Zwischenzeitlich wuchs die Karawane auf rund 1.200 Personen an. Ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung mit der staatlichen Garantie einer sicheren und freien Durchreise für die Zentralamerikaner_innen durch Mexiko. Eine der marginalisiertesten Gruppen des Kontinents hatte plötzlich ein politisches Gewicht bekommen, das Mexiko kurzzeitig sogar seinen großen Nachbarn im Norden vergessen ließ. Sehr zum Ärger der USA, deren Reaktion mit der massiven Abschiebung von Mexikaner_innen deutlich ausfiel.

Die circa 60 Teilnehmenden der zweiten Karawane für den Dialog fordern nun eine umfassende Lösung der problematischen Situation der Migrant_innen. „Wir wollen die Gewaltsituation verändern, welche die Migration auslöst und Mexiko in einen Weg der Entmenschlichung verwandelt“, heißt es in ihrem ersten Kommuniqué an die mexikanische Regierung und die Botschafter_innen von Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua. Zur gleichen Zeit formierte sich in Mexiko-Stadt die Gruppe Migrantes LGBT, die auf die Situation von Homosexuellen und Trans* aufmerksam machen will.

Doch die Organisierung von Geflüchteten beschränkt sich nicht auf Zentralamerika. Auch hierzulande treten Migrant_innen immer offensiver für ihre Rechte ein. Anfang Juli konnten Geflüchtete in der besetzten ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin eine vollständige Räumung verhindern und die Unfähigkeit der lokalen Politik gegenüber der Asylfrage bloßstellen. Über mehr als eine Woche riegelten über 1.500 Polizist_innen einen gesamten Kreuzberger Block ab, während die Entscheidungsträger_innen sich die Verantwortlichkeit für das Fiasko gegenseitig zuschoben. Schon im September 2012 hatten Geflüchtete mit dem Refugee Protest March von Würzburg nach Berlin und dem kollektiven Brechen der Residenzpflicht ihre Stimme hörbar gemacht. Mit dem Refugee March for Freedom von Straßburg nach Brüssel, gestartet im vergangenen Mai, wurde die europaweite Vernetzung auf eine neue Ebene gebracht.

Geflüchtete und Migrant_innen drängen sich mit den kollektiven Aktionen und ihrer Vernetzung in die politische Wahrnehmung und zeigen, dass sie kein Spielball internationaler Politik sind. Und auch wenn die Situationen in Mexiko und Europa sich in verschiedenen Punkten unterscheiden mögen, ist eines deutlich: Die Ausbeutung, Diskriminierung und Gewalt wird nicht länger hingenommen. Zeit zum Aufatmen ist deshalb nicht. An den durch Frontex gesicherten Außengrenzen der EU sterben weiter Menschen, SPD und Union beschlossen erst im Juli eine Verschärfung des deutschen Asylrechts. In Mexiko erhielt die zweite Karawane nach der Viacrucis keine Durchreisevisa mehr, La Bestia, die Reise mit dem Güterzug, wird auch weiterhin das gefährliche Mittel der Wahl für viele Migrant_innen auf dem Weg in die USA bleiben. Die Situation von Geflüchteten in Lateinamerika und Europa wird sich nicht schlagartig verändern. Die angefangene Organisierung der Kämpfe durch die Migrant_innen jedoch ist ein Prozess, der Entscheidungen zu ihren Lasten immer schwieriger machen könnte. Die Geflüchteten in der Gerhart-Hauptmann-Schule stellten dies angesichts ihrer drohenden Räumung klar: „Ihr könnt keine Bewegung räumen!“ – „You can‘t evict a movement!“

// DOSSIER: MIGRATION UND GRENZRÄUME IN LATEINAMERIKA

(Download des gesamten Dossiers)

Diese Bilder prägen sich ein: Ganze Familien versuchen, auf den vorbeifahrenden Güterzug aufzuspringen, auf dessen Dach schon kaum mehr Menschen passen. Sie wollen in die USA, auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie überqueren Grenzen und fordern diese dadurch heraus. Ganze Generationen in Mexiko und Zentralamerika sind davon geprägt, zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen aufzuwachsen. Sie wandern in die USA ein und wieder aus, leben in der Illegalität und mit der dauernden Drohung, abgeschoben zu werden. Doch auch abseits dieser viel beachteten Migrationsroute finden Grenzbewegungen in Lateinamerika statt. Zwischen vielen Nationalstaaten Lateinamerikas leben Indigene, die sich nicht nur auf einer Seite der Grenze verorten. Auch innerhalb der Grenzen von Staaten treffen Menschen auf Räume, die ihnen verschlossen werden. Vielfach zeigt sich dies in Städten.

Diese Bewegungen zwischen den Räumen verändern nicht nur die Menschen, sondern auch die jeweiligen Gesellschaften. Sie schaffen neue kulturelle Praktiken, verwischen die Grenzen und lassen neue Räume entstehen, die sogenannten borderlands. Die Bewegung vollzieht sich mitnichten immer nur aus dem armen Süden in den reichen Norden, sie hat nicht nur eine Richtung. Die Wechselbeziehungen über die Grenzen hinweg sind ebenso komplex und wechselhaft wie die Biographien vieler Migrant_innen.

Doch Grenzen sind nicht mit der geographischen Trennung zweier Länder identisch. Auch innerhalb von Gesellschaften manifestieren sich Grenzen – mal mehr, mal weniger sichtbar. Es gibt Räume, die von sozialer Zugehörigkeit, Reichtum, Ethnizität oder Sexualität geprägt sind. Sie sind immer produziert und existieren nur, weil ein Innen und ein Außen definiert werden. Werden Grenzen geschaffen, wird notwendigerweise immer irgendjemand oder irgendetwas ausgegrenzt.

Menschen, die sich zwischen diesen Räumen bewegen, brechen Grenzen auf und geben neuen Möglichkeiten Platz. Grenzgänger_innen provozieren aber auch Widerstand – bisweilen gewalttätigen. Denn es gibt viele Menschen, die daran interessiert sind, dass die Grenzen so definiert bleiben, wie sie es sind. Doch die Vorstellung einer undurchlässigen Grenze ist immer eine Fiktion. Die Bewegungen zwischen den Räumen machen dies deutlich.

In diesem Dossier möchten die Lateinamerika Nachrichten weniger beachtete Themen und Aspekte der Bewegung zwischen produzierten Räumen in den Vordergrund rücken. Wir beleuchten konkrete Grenzräume zwischen Staaten genauer, interessieren uns aber auch für andere Formen der Ausgrenzung. Wie prägen die Migrationserfahrungen das alltägliche Leben von Menschen? Wie prägen Grenzgänger_innen ihre Umwelt? Wo stoßen Personen auf Vorurteile, Ausgrenzung und Rassismus? Wo setzen sich Menschen über Grenzen hinweg und schaffen eigene Räume? Dazu werden wir uns entgegen und abseits der üblichen Migrationsrouten bewegen. Anstatt den Blick auf die viel dokumentierte Reise der Migrant_innen durch Mexiko zu richten, legen wir unseren Fokus zunächst auf ihre Situation und ihr Leben in den USA nach dem Durchbrechen der Grenze.

Hier kämpfen die Anwältinnen Natalie Hansen und Stephanie Taylor für die Rechte von Migrant_innen und ringen mit dem US-amerikanischen Justizsystem: „Eigentlich müsste man das gesamte System abschaffen und von Grund auf neu errichten.“ Im Gespräch mit zwei ihrer Mandantinnen aus Honduras stellt sich die Willkür der Justiz dar. „Wie soll ich denn vor Gericht erscheinen, wenn ich an einem anderen Ort festgehalten werde?“, fragt Ana A. (Name von der Red. geändert).

Chicanas wie Alejandra Sanchez gehen in den USA künstlerisch und politisch mit dem Leben in borderlands um: „In meiner Arbeit versuche ich, Brücken zu bauen – zwischen modernen und antiken Lebenswelten, unterschiedlichen Weltanschauungen, Ländern und Sprachen.“

Auf dem Weg durch Mexiko ruft die Karawane der Mütter verschwundener Zentralamerikaner_innen: „Lebend gingen sie – lebend wollen wir sie wiedersehen!“ In einem Auszug aus der mit dem Walter-Reuter-Medienpreis ausgezeichneten Reportage „Wo ist mein Kind?“ berichtet Emiliano Ruiz Parra über die verzweifelte Suche nach verschwundenen Familienangehörigen.

Julio César Campos Cubías und Sergio Gallardo García, Gründer des Kollektivs Migrantes LGBT in Mexiko-Stadt, berichten im Interview über die brutale Lesbo-, Homo-, Bi- und Transphobie gegen Migrant_innen. Die beiden haben eine klare Botschaft: „Wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass Menschen, die migrieren, ebenso unterschiedliche Gründe und Ziele wie Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen haben.“

Schon längst ist Mexikos Südgrenze nicht mehr nur gefährliche Durchgangsstation für Migrant_innen aus Zentralamerika. In Tapachula bleiben viele Honduraner_innen wie Nora Rodríguez, die über ihre Erfahrung mit Mexikaner_innen berichtet: „Egal wie lange wir hier schon leben, ob Jahre oder Jahrzehnte: Sie sehen uns nie einfach nur als Menschen, sondern immer als Migranten, die sie mit einem Haufen von Vorurteilen überschütten.“
Im Grenzgebiet zwischen Costa Rica und Panama kämpfen die indigenen Bribri um ihre Autonomie, auch um der Abwanderung in die Hauptstadt entgegenzuwirken. „Wir wollen das Bildungssystem ändern, es an die Realität anpassen. Darin müssen Kultur, Kosmovision und Sprache enthalten sein“, formuliert Lehrer Enos die Herausforderungen, ihre Kultur zu bewahren.

Während die Frage der Staatszugehörigkeit für die Bribri nach jahrelangen Streitigkeiten gelöst ist, ist sie in der Dominikanischen Republik wieder akut aufgetaucht. Nach einem Gerichtsurteil wurde haitianischen Migrant_innen und deren Nachkommen ihre Staatsbürgerschaft entzogen. In einem Gruppeninterview berichten sechs Betroffene über ihre Erfahrung, plötzlich staatenlos zu sein: „Wenn du eine Geburtsurkunde haben willst, dann geh mit deiner Hautfarbe doch nach Haiti“, wird ihnen mitunter empfohlen.

Kolumbiens und Ecuadors Regierung stärken seit 2012 ihre militärische Zusammenarbeit im Grenzgebiet. Die Abriegelung der Grenze steht im Gegensatz zur Mobilität der indigenen Gemeinschaften, die auf beiden Seiten der Grenze leben.

Auch innerhalb von Städten schaffen Verdrängungsprozesse Grenzen zwischen Arm und Reich. In Caracas überwinden Nathaly Lemus und Jorge Sierra von der Bewegung der Pioniere diese Ausgrenzung durch Besetzungen: „Früher gab es im Zentrum nur private Parks, es gab keine öffentlichen Plätze. Jetzt gehen wir Armen ins Zentrum von Caracas. Wir sind überall, fordern das Recht auf Stadt!“

Zwischen Bolivien und Paraguay leben im nördlichen Chacogebiet die indigenen Ayoreo. Sie leben zwischen den nationalen Räumen beider Länder und ihre Art zu Wirtschaften entspricht nicht der kapitalistischen Produktionsweise. Viehzüchter_innen machen ihnen ihr Land streitig – mit dem Hinweis, dass sie kaum etwas produzieren würden. Letztlich geht es bei den Landkonflikten also darum, ab wann eine bestimmte Raumnutzung als angemessen gilt und ab wann ein Raum zu einer bestimmten Nation gehört.

Natürlich können wir mit diesen Themen nicht den Anspruch erheben, alle Dimensionen von Grenzräumen und Migration in Lateinamerika zu erfassen. Wir möchten jedoch auf bisher weniger beachtete Probleme, vor allem aber auf die Stimmen und Perspektiven einiger Grenzgänger_innen aufmerksam machen.

„Im Zentrum des Konflikts“

Wie gründete sich American Gateways und welche Arbeit übernimmt die Organisation mit Migrant_innen?
Natalie Hansen: Die gemeinnützige Organisation American Gateways wurde 1987 als Projekt Politisches Asyl in Austin gegründet, als Reaktion auf die Migration und die Geflüchteten aus den zentralamerikanischen Diktaturen. Heute haben wir 14 feste Mitarbeiter. Stephanie und ich arbeiten als Anwältinnen und vertreten Migranten entweder umsonst oder gegen niedrige Bezahlung, abhängig vom Fall. Ich übernehme viele Fälle von Opfern von Kriminalität und Menschenhandel in den USA und das ist bei American Gateways eine kostenlose Dienstleistung. Die Organisation hat außerdem ein großes Netzwerk von ehrenamtlichen Anwälten, die derzeit neben ihrer hauptamtlichen Arbeit circa hundert Fälle betreuen. So können wir Asylsuchende in Texas oft mit Anwälten versorgen.

Stephanie Taylor: Ich übernehme Fälle von Menschen, die abgeschoben werden sollen und vertrete sie vor Gericht. Außerdem kläre ich die Migrantinnen in der privaten Internierungsanstalt T. Don Hutto, einem Migrationsgefängnis, über ihre Rechte auf.

Texas ist der US-Bundesstaat mit den meisten undokumentierten Migrant_innen. Wie werden diese von der Bevölkerung wahrgenommen?
S.T.: Ich bemerke zwei verschiedene Haltungen. Es gibt die Meinung von Migrationsbeamten und die öffentliche Meinung. Migrationsbeamte, vor allem in der Don Hutto Anstalt, sehen die Geschichte jeder Frau mit totaler Skepsis. Ihrer Ansicht nach stürmen die Frauen die Grenze, ohne gültige Ansprüche auf Asyl zu haben – selbst wenn das Asylbüro des Ministeriums für Innere Sicherheit deren Ansprüche für gültig erklärt hat.
Die öffentliche Meinung besteht aus kompletter Ignoranz und negativen Einstellung zu Migranten und undokumentierten Personen – sogar innerhalb der hispanischen Community, der zweiten und dritten Generation von Migranten. Aber sobald ich einmal über einen einzelnen Fall spreche, sagen alle: „Oh ja, die sind schon ok.” Und wir bekommen oft Anrufe: „Meine Babysitterin wurde von der Migrationsbehörde verhaftet und sie ist so eine nette Frau und illegal hier. Wie können die ihr so etwas antun?” Wissen Sie was? Das wurde während des gesamten letzten Jahrhunderts mit hunderttausenden Personen gemacht!

N.H.: Interessant ist, dass es hier in der Gegend so viele Internierungsanstalten gibt und die Menschen nicht wissen, dass sie überhaupt existieren. T. Don Hutto ist nur 40 Minuten außerhalb Austins, was die Hauptstadt und so etwas wie das liberales Zentrum von Texas ist.

S.T.: Aber die Migrationsbehörde tut dies mit Absicht. Sie errichten die Internierungsanstalten in ländliche Gegenden außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Sie sind normalerweise völlig ab vom Schuss, weit weg von allen Dienstleistern.

Asylsuchende haben in den USA, wie hier in Deutschland, keine gerichtlich bestimmten Pflichtverteidiger_innen. Arbeitet das Justizsystem in den USA gegen die Migrant_innen?
N.H.: Ja, sogar wenn man einen Anwalt hat, kann es sehr schwer werden.
S.T.: Aber ohne Anwalt… In der Internierungsanstalt T. Don Hutto sind 500 Frauen, circa 90 Prozent aus Zentralamerika, die meisten mit sehr geringer formaler Bildung. Viele von ihnen sind praktisch Analphabetinnen, vielleicht zwei von ihnen sprechen Englisch. Und dann wird ihnen ein Formular für das Asylgesuch gegeben – auf Englisch. Zwölf Seiten voller extrem detaillierter biographischer Angaben und es heißt: „Ihr habt zwei Wochen, die Formulare auszufüllen.” Alles, was wir tun können, ist, ihnen Formulare auf Spanisch zu geben, ihre Antworten zu übersetzen und in die englischen Papiere einzutragen. Ich frage mich allerdings, ob wir so nicht dafür sorgen, dass das System auch weiterhin ohne Pflichtanwälte funktioniert. Aber wenn wir versuchen einen Punkt zu machen und sagen: „Nein, diese Frauen brauchen Anwälte!”, werden die Menschen einfach abgeschoben. Abgeschoben – nur, weil sie ihre Formulare nicht ausfüllen konnten und obwohl sie gültige Asylgesuche hätten stellen können. Das ist keine Option für uns.

N.H.: Also helfen wir ihnen mit der Prozedur, aber nicht mit dem wirklichen Inhalt. Das ist frustrierend! Außerdem gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Richtern. Ich arbeitete vor Stephanie für die Migrantinnen in T. Don Hutto und wir hatten eine andere Richterin, die vielen Frauen Asyl gewährte. Jetzt ist jemand anderes dort und plötzlich werden die exakt gleichen Fälle juristisch völlig anders bewertet.

S.T.: Und viele haben juristisch gut begründbare Asylgesuche. Wenn sie eine vollständige juristische Vertretung vor Gericht hätten, würden viele Fälle bewilligt. Wir ermutigen die Frauen deshalb, in Berufung zu gehen. Denn dann können wir ihnen oft Anwälte besorgen. Aber ich habe eine Frau als Mandantin, die bereits ein Jahr in Haft ist. Ein ganzes Jahr im Migrationsgefängnis!

Wie sind die Bedingungen in diesen Internierungszentren?
S.T.: Die Bedingungen variieren drastisch. T. Don Hutto war ein Gefängnis mittlerer Sicherheit und unterschrieb dann einen Vertrag mit der Migrationsbehörde. Anfangs wurden hier Familien untergebracht, also die Migranten, die mit Kindern aufgegriffen wurden. Die Zustände waren grauenhaft. Die Migranten mussten mit Licht schlafen; die Zellen hatten Gitter. Es gab deswegen ein Gerichtsverfahren und die Anstalt musste umgebaut werden. Somit war es für die Betreiber Corrections Corporation of America (CCA), einer der größten privaten Betreiber in den USA, nicht mehr profitabel, Familien unterzubringen. Denn sie hätten unter anderem den Zugang zu Bildung ermöglichen müssen. Deswegen werden dort seit 2009 nur noch Frauen untergebracht. Aber einige der Regelungen aus der „Familienzeit“ bestehen fort, wie das Recht, sich frei zu bewegen. Das ist in den meisten anderen Anstalten nicht so. Die Frauen in Hutto haben sogar Zugang zum Internet, es gibt Computer, sie können Mails senden.
Das Problem ist, dass die Betreiber mit Begeisterung diesen Kram erzählen, aber die meisten Frauen können nicht einmal lesen. Wem sollen sie E-Mails schreiben? Es ist frustrierend zu sehen, wie die Anstalt gelobt wird: „Wir haben eine Bibliothek mit Zugang zu den besten Recherchesammlungen zum Rechtssystem“, wird gesagt. Und ich sage immer: „Niemand benutzt das hier!” Die beschönigende Sprache ist ein wirkliches Problem. Es gibt keine „Zählungen” der Gefangenen, wie in normalen Gefängnissen, sie erheben einen „Zensus” und die Frauen sind keine Gefangenen sondern „Gäste”. Hutto ist kein „Gefängnis” sondern ein „Wohnheim”…

N.H.: Mit Stacheldraht drum herum!

Und in anderen Anstalten?
N.H.: Wir haben gerade erst eine Pressemitteilung für ein Internierungszentrum verfasst: die Jack Harwell Internierungsanstalt in Waco, etwa hundert Meilen von Austin. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Die Gefangenen waren dreckig, ihre Kleidung war dreckig, es gab keine wirklich funktionierenden Telefone. Es gab überhaupt keinen Zugang zu Anwälten. In anderen Anstalten sind Migrationsbeamte, die über den Status der Asylgesuche gefragt werden können. Hier gab es keine. Den Gefangenen war anfangs eine Plastikgabel gegeben worden, die sie zu allen Mahlzeiten mitbringen sollten. Die Anstalt erfüllte nicht einmal die texanischen Anforderungen an Haftanstalten. Und die Gefängnisstandards in Texas sind die absolut niedrigsten im ganzen Land!
Aber diese privaten Gefängnisse schießen überall aus dem Boden, seitdem es einen Anstieg bei den Festnahmen gab. Alle Gefängnisse, in denen wir arbeiten, sind privat geführt. Wir wissen nicht einmal, dass sie existieren, bevor wir einen Anruf oder eine Beschwerde erhalten. Und dann gehen wir hin und sehen 400 festgehaltene Menschen.

American Gateways arbeitet in Texas mit anderen Organisationen wie Casa Marianella zusammen. Wie groß ist das Solidaritätsnetzwerk für die Geflüchteten und Migrant_innen vor Ort?
N.H.: Wir haben in Texas Organisationen, die alle möglichen Dienste für die Migranten anbieten. Casa Marianella beispielsweise bietet Menschen ohne Wohnung eine Unterkunft. Wir selbst bieten juristische Unterstützung und es gibt weitere Organisationen wie uns. Das Zentrum für Überlebende von Folter bietet psychologische Betreuung an. Auch Englischkurse gibt es.
Die Stadt Austin hat zudem ein Programm, über das Menschen ohne gültige Dokumente, Zugang zu medizinischen Dienstleistungen erhalten, die ihnen ansonsten verwehrt blieben. Ich habe außerdem zuvor in einer Organisation in Mexiko-Stadt gearbeitet, welche die Arbeitsrechte von zurückgekehrten Migranten bearbeitet, wie Gehaltsforderungen oder Verletzungen des Rechts auf freie Bewegung.

S.T.: Es gibt auch Beziehungen zu Organisationen in Zentralamerika, zum Beispiel zum Zentrum für Migrantenrechte Beato Juan Bautista Scalabrini, einer Herberge für Migranten aus Zentralamerika in Nuevo Laredo im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas. Und wir haben verschiedene Austauschprogramme mit Anwälten aus Mexiko durchgeführt und ihnen gezeigt, was wir hier tun, sodass sie ihren Mandanten in Mexiko besser helfen können. Das Netzwerk ist also relativ groß, aber wir haben hier in Texas keine politischen Organisationen, die aktiv an Reformen für die Migrationsgesetzgebung arbeiten.

Warum gibt es bislang keine solche Organisation in Texas? Existieren Pläne für deren Gründung?
S.T.: Das ist ein wirkliches Problem. In Texas gibt es die meisten Festnahmen wegen undokumentierter Migration in den ganzen USA. Wir haben die höchsten Einwanderungsraten, die höchste Anzahl an Migranten, die höchste Anzahl von Staatsbürgern, die nicht hier geboren wurden. Wir sind eine Goldmine, wenn es um Statistiken und Forschung zum Thema geht. Trotzdem gibt es keine Lobbygruppe in unserem Sinne. Einerseits, weil der Bundesstaat extrem konservativ ist. Deswegen glauben viele, dass sie hier ohnehin nichts erreichen können, selbst wenn man versucht, Rechte für Migranten wie Führerscheine oder Zugang zu medizinischer Versorgung einzufordern. Andererseits ist auch der Bundesgerichtshof, der Texas kontrolliert, sehr konservativ. Lobbygruppen in San Francisco, Chicago und New York City glauben deshalb, dass sie hier nichts ausrichten können. Aber wir sind im Zentrum des Konflikts um Migration und bleiben ohne wirkliche Unterstützung. Ich habe heute noch drei andere Telefonate: Diesen Nachmittag mit Human Rights Watch und später mit der Amerikanischen Bürgerrechtsunion (ACLU) und sie alle fragen mich: „Was passiert gerade? Senden Sie uns bitte Fallbeispiele!” Wenn sie hier wären, könnten sie all das direkt finden. Das ist frustrierend.
2013 wurde im Kongress eine Migrationsreform debattiert. Sie sollte für Migrant_innen neue Möglichkeiten schaffen, einen legalen Aufenthaltsstatus und die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Gleichzeitig war vorgesehen, die Grenze weiter zu militarisieren. Wie bewerten Sie die Reformpläne?

S.T.: Ich komme aus Brownsville, Texas und die Grenze geht direkt durch meine Heimatstadt. Überall sind Patrouillen – im Walmart, in Restaurants, am Strand. Wie können sie diese Grenze überhaupt noch weiter militarisieren? Es ist ein Witz zu denken, dass weitere Militarisierung die Migration stoppt. Es wird nur gefährlicher und teurer für die Migranten, aber sie werden Wege finden. Letztlich wird so die Organisierte Kriminalität gestärkt, die die Grenzübergänge kontrolliert, weil sie höhere Preise verlangen wird.

N.H.: Und der Weg bis zur Staatsbürgerschaft würde eine Art zweiter Klasse von Bürgern erschaffen, die auf eine permanente Aufenthaltsgenehmigung warten. Man würde eine verletzliche, marginalisierte, sexualisierte Bevölkerung in den direkten Fokus der Migrationsbehörde stellen und für Jahre der Überwachung aussetzen, bis sie alle Anforderungen erfüllt und hohe Geldsummen bezahlt haben.

S.T.: Ich bin deshalb wirklich skeptisch gegenüber der Reform. Das System ist auf so vielen Ebenen kaputt – auf der Vollzugsebene, auf der Gerichtsebene, bei der Vertretung vor Gericht. Wie soll das repariert werden? Eigentlich müsste man das gesamte System abschaffen und von Grund auf neu errichten.

N.H.: Ja, und es ist wichtig über diese Themen zu reden. Weil wir keine Politik betreiben, will nie jemand unsere Beschwerden hören. Aber trotz allem: Wir können vielen Menschen tatsächlich helfen und haben wunderbare Erfolgsgeschichten.

„Ich fliehe vor der Gewalt“

Im Jahr 2004 kam Jeymi Moncada Mejia das erste mal in die USA, nachdem sie vor häuslicher Gewalt aus Honduras geflohen war. Sie wurde jedoch wieder abgeschoben. „Aber ich konnte nicht nach Hause kommen. Also bin ich noch am Tag meiner Deportation wieder aufgebrochen.“ In den USA wurde sie 2009 erneut von der Migrationsbehörde aufgegriffen und in die Internierungsanstalt für Frauen T. Don Hutto in Taylor, Texas gebracht. Bevor sie vor Gericht mit Dokumenten aus Honduras ihre Situation belegen und mit einer offiziellen Arbeitserlaubnis in Texas leben konnte, verbrachte sie ein Jahr und zwei Monate in der Anstalt. „Die Wärter dort verhielten sich korrekt, aber das Essen war schlecht. Manchmal waren sogar schon Würmer darin“, beschreibt sie ihre Haftbedingungen.
Auch Ana A. versuchte bereits zwei Mal, in den USA ein neues Leben zu beginnen – bisher erfolglos. Nach ihrer ersten Flucht aus Honduras im Jahr 2012 wurde sie in den USA für einen Monat festgehalten und anschließend abgeschoben. Doch auch für Ana war es keine Option mehr, in ihrem Geburtsland zu leben: „Im gleichen Monat bin ich wieder losgegangen“, erzählt sie. Doch derzeit lebt Ana wieder in Honduras. Bei einer ihrer Schwestern wartet sie auf das Ergebnis der Berufung vor dem US-amerikanischen Migrationsgericht, die sie noch kurz vor ihrer zweiten Abschiebung eingelegt hatte. Denn die Umstände, die in die Ablehnung ihres Gesuches um einen legalen Aufenthaltsstatus mündeten, zeigen die Willkür des Justizsystems offenkundig. Nachdem Ana bei ihrem zweiten Versuch, in die USA zu gelangen von der Migrationsbehörde aufgegriffen worden war, folgte eine über einjährige Odyssee durch verschiedene Haftanstalten. „Sie hielten mich zuerst einen Monat in Eagle Pass, Texas, fest, weil ich die Grenze illegal überquert hatte. Dann wurde ich in eine Internierungsanstalt in Del Rio gebracht, war danach für eine Woche in Laredo eingesperrt und kam daraufhin nach T. Don Hutto in Taylor“, berichtet Ana. Während der sechs Monate in dieser Anstalt entstand der Kontakt zu American Gateways. „Aber sie brachten mich nach Miami und deshalb konnte ich meinen letzten Gerichtstermin nicht wahrnehmen. In Miami stellte ich zwar einen Antrag, um zu meinem Gerichtstermin gehen zu können. Aber niemand hat mir je geantwortet“, erzählt sie. „Und auch meine Anwältin wusste die gesamte Zeit über nicht, wo ich mich befand. Sie erfuhr erst von mir, als ich einer Freundin außerhalb des Gefängnisses ihre Telefonnummer geben konnte.“ Da Ana nicht vor Gericht erschien, wurde ihr Gesuch abgelehnt. Als sie es einige Tage später doch in das Gericht schaffte, sagte der Richter ihr bloß, dass sie ihren Termin verpasst hätte. „Wie soll ich denn vor Gericht erscheinen, wenn ich an einem anderen Ort festgehalten werde?“, fragt sie heute wütend. Die letzten Monate vor ihrer Abschiebung verbrachte Ana in einem privaten Gefängnis in Robstown, Texas, das sowohl Migrant_innen als auch im Strafvollzug Inhaftierte hält. „Schrecklich ist es dort,“ berichtet sie, „und die Beamten behandeln einen schlecht.“ Gefährlicher Reise und über einem Jahr in Haft zum Trotz: Wäre ihre Berufung nicht noch in Arbeit, sie hätte sich schon längst wieder auf den Weg gemacht, um Mexiko auf dem Güterzug „La Bestia“ zu durchqueren. Denn in Honduras kann sie nicht mehr bleiben: „Ich habe nicht mal meine gesamte Familie hier gesehen, da ich mich verstecken muss. Ich fliehe vor der Gewalt.“
Jeymi Moncada dagegen hat ihr Leben in Honduras hinter sich gelassen und berichtet freudig über ihre Kontakte zu US-Amerikaner_innen und ihren Job als Hausangestellte. Sie fühlt sich nicht diskriminiert, hat einen neuen Lebensgefährten und zwei Töchter bekommen. „Hier ist das Leben anders. Ich mag mein Land sehr. Aber nach dem, was mir passiert ist, glaube ich nicht, je zurückzukehren“, erzählt sie mit fester Stimme. Sollte sich die Gesetzeslage in den USA nicht verändern, ist das möglich – derzeit erneuert sich ihre Arbeitserlaubnis unbegrenzt. Die Justiz hinter sich gelassen hat sie dennoch nicht. Seit Kurzem läuft ein Prozess, um ihre vier Kinder aus Honduras mit einem humanitärem Visum in die USA zu holen: „Denn auch meine Kinder sind auf der Flucht vor ihrem eigenen Vater.“

„Building bridges“

Felicia (Fe) Montes zupft ihr rot-blau-grün geblümtes Kleid zurecht und bindet sich das dazu passende Band um den Kopf: „Das ist ein traditionelles Kleid meiner Tarahumara- oder Rarámuri-Vorfahren. Meine Familie stammt aus Chihuahua, Mexiko.“ Es ist der 1. Mai 2011, Felicia befindet sich an der Ecke der beiden Straßen Broadway und Olympic, im Latino-Viertel der Stadt, East Los Angeles, und erklärt die Kunstfigur, die sie kreiert hat: „Das ist Raramujer, das leite ich von der Selbstbezeichnung meiner Vorfahren, den Rarámuri, ab. Außerdem ist das ein Wortspiel: Rara bedeutet auf Spanisch komisch oder eigenartig und mujer bedeutet Frau. In meiner Figur verbinde ich indigene Elemente mit modernen urbanen Lebensweisen. Ich erfinde eine selbstbewusste indigen-urbane Frau.“
Freunde helfen Felicias Fahrrad aus ihrem Pickup zu heben – ein „getunter“ schwarzer Cruiser. Am Fahrradkorb ist ein Schild mit dem Spruch „Stoppt die Polizeikontrollen!“ angebracht. Ein hilfsbereiter, Spanisch sprechender Anrainer pumpt noch etwas Luft in die dicken Weißrandreifen. Ein paar Straßen weiter hört man Trommelklänge und Trompeten, Menschen in Trachten und Uniformen eilen vorbei: ein paar Leute in weißer bestickter Huicholes-Kleidung, eine Gruppe von Männern in dunklen Zapatist_innen-Uniformen, eine Tanzgruppe mit aztekischen Gewändern und prächtigem Federschmuck. Felicia steckt ihren iPod an die mobile Musikanlage im Fahrradkorb an und macht einen kurzen Soundcheck – es kann los gehen! Mehrere tausend Menschen demonstrieren jedes Jahr bei der Mayday Parade in Los Angeles für die Rechte von Immigrant_innen und (illegalisierten migrantischen) Arbeiter_innen mit Sprüchen wie: „Lieber Geld für Arbeitsplätze und Bildung als für rassistische Abschiebungen!“
Raramujer begleitet den Demonstrationszug auf ihrem Fahrrad, sie verteilt Menschenrechtskarten und performt ihre Floetry (gerappte Gedichte) und Hip-Hop-Songs: „In meinen Texten geht es um politische Angelegenheiten, meistens um Dinge die uns Chicana-Frauen betreffen, zum Beispiel das kapitalistische System, das Freihandelsabkommen NAFTA, die Immigrationsgesetze hier in den USA, oder die Zapatist_innen-Bewegung in Mexiko. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass das persönliche Wachstum und die Veränderung Hand in Hand mit dem Engagement in politischen Bewegungen gehen.“
Felicia ist Mitbegründerin der Mujeres de Maiz (Maisfrauen), einer Künstlerinnen- und Aktivistinnenvereinigung aus Los Angeles. Die Mitglieder der Gruppe bezeichnen sich selbst als „Chicanas“ und als „Women of Color“. „Chicana-Sein bedeutet in den USA zu leben und ein mexikanisches oder mesoamerikanisches Erbe zu haben. Wir versuchen hier eine Verbindung zu unseren indigenen oder präkolumbianischen Wurzeln aufrechtzuerhalten“, sagt Felicia.
Der Begriff „Chicana“ oder seine männliche Form „Chicano“ war früher eine abwertende Bezeichnung für mexikanische oder allgemein lateinamerikanische Immigrant_innen und Gastarbeiter_innen in den USA. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der Chican@s der 1960er und 70er Jahre, erfuhr der Terminus eine positive Neubewertung. Der Begriff gewann eine politische Konnotation und galt von da an als Zeichen der Selbstbestimmung und des kulturellen Stolzes. In der Chican@-Bewegung, die sich aus der Landarbeiter_innenbewegung in Kalifornien herausentwickelte, ging es um die Ausweitung der Rechte und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Mexiko-Amerikaner_innen und ihres politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Status. Von Anfang an wurden die Bewegungen, ihre Streiks und Aktionen von Künstler_innen, Wandmaler_innen und Theatergruppen begleitet.
Die Einheit der Bewegung wurde damals vor allem durch eine relativ homogene Identität, ein gemeinsames Bild der Vergangenheit und nationalistische Vorstellungen verstärkt. Die Interessen und Bedürfnisse der weiblichen, homosexuellen und queeren Mitglieder wurden ignoriert. Diese Personengruppe wurde innerhalb der Bewegung nicht als gleichwertig anerkannt. Eine feministische Chicana-Bewegung spaltete sich aufgrund von patriarchalen, machistischen und homophoben Wertvorstellungen, die in der frühen Chican@-Bewegung vorherrschten, davon ab.
Für die Mujeres de Maiz bedeutet der Begriff „Chican@“ vor allem ein gemeinsames Bewusstsein beziehungsweise eine Reihe von geteilten Erfahrungen, die sich durch ähnliche soziokulturelle und historische Kontexte ergeben haben. Damit sind Diskriminierungserfahrungen gemeint, die sie zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Frau-Seins gemacht haben. Kolonialismus-, Imperialismus-, Kriegs-, und Migrationserfahrungen spielen auch eine Rolle. „Wir sind ein sehr offenes Kollektiv; eine kreative Women-of-Color-Vereinigung. Unsere Zielgruppen sind migrantische Communities, Lesben, Schwule und Transgender“, verdeutlicht Felicia Montes.
Ihren Namen Mujeres de Maiz, haben die Künstlerinnen gewählt, weil sie sich mit der Maispflanze verbunden fühlen. In Mesoamerika gilt der Mais als Lebensgrundlage, in der Mythenwelt ist er allgegenwärtig. „Wir wollen eine Austauschplattform für Women of Color schaffen. Die verschiedenen Maissorten – gelb, rot, blau, schwarz, mit spitzen, langen oder runden Körnern – stehen für die Diversität unserer Gruppe“, erklärt die Künstlerin Margaret Alarcón, ebenfalls Mitbegründerin der Aktivistinnenorganisation. Felicia Montes veranschaulicht die Situation vieler ihrer Mitstreiter_innen: „Die meisten Immigrant_innen und vor allem die Frauen unter uns, erleben sexuelle, physische oder verbale Gewalt. Gerade Frauen werden oft nicht ernst genommen, zum Schweigen gebracht, oder in bestimmte Rollenbilder gedrängt. Da kann kein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt werden.“
Laut dem U.S. Census Bureau leben zirka 53 Millionen Menschen hispanischer Herkunft in den USA. Sie bilden somit die größte ethnische Minderheit; die Mehrheit davon machen die Bürger_innen mexikanischer Abstammung aus. Die mexiko-amerikanischen Frauen wiederum stellen die größte und am schnellsten wachsende Gruppe unter den aus Lateinamerika stammenden Menschen in den USA dar. Ihr Bildungsgrad ist meist gering, demzufolge gehören sie zum ärmsten Segment der Bevölkerung.
Ende der 1990er lernten sich die Gründungsmitglieder der Mujeres de Maiz über ihr universitäres Umfeld kennen. „Wir mussten einfach einen Raum für junge Frauen schaffen, einen Raum für Bildung, Selbstbestimmung und Kunst. Sie waren unsichtbar und gerade im Kunstbereich vollkommen unterrepräsentiert“, erklärt Margaret Alarcón, und Felicia Montes führt fort: „Wir sahen nie eine Frau auf der Bühne! Wir wollten einen sicheren Zufluchtsort für Women of Color aufbauen, in dem sie sich selbst und ihre Kunst neu erschaffen können.“
Kunst sehen die Mujeres de Maiz als Mittel zur Überwindung von Diskriminierung und zur Aufarbeitung von negativen Erfahrungen. Sie nutzen die Kunst außerdem zur Vermittlung von Wissen: „Durch unsere Kunst lehren wir Aspekte der Chicana- und der feministischen Theorie, wir sprechen auf verständliche Weise über Sexismus, Rassismus und Homophobie. Wir vermitteln auch Informationen über die eigene Herkunft, Geschichte und Traditionen, sowie über die Gesetze hier in den USA. Das soll dazu beitragen, dass sich die Zielgruppe selbst kennenlernt, ein Selbstbewusstsein und einen Selbstwert entwickelt“, schildert Felicia.
Die renommierte Chicana-Schriftstellerin, Aktivistin und Philosophin Gloria Anzaldúa beschreibt die Position von Chicanas im Zwischenraum zweier oder mehrerer Länder, Kulturen und Weltanschauungen als Leben in borderlands. Das Leben an Grenzen löst einen inneren Konflikt aus und lässt ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Andersseins entstehen. Chicanas identifizieren sich mit ihrem (mestizischen) mexikanischen Erbe, sehen sich aber auch als amerikanische Bürgerinnen; sie fühlen sich nirgends, weder in Mexiko noch in den USA, richtig zugehörig. Anzaldúa beschreibt Chicanas als multiple Persönlichkeiten, die die Fähigkeit haben, auf pluralistische Weise zu agieren. Sie entwickeln Strategien, um sich in unterschiedlichen, teilweise konträren Kontexten zurechtzufinden. In Zwischenräumen erfinden sie sich und ihre Identität(en) ständig neu. Chicanas sind flexibel und entwickeln in den borderlands mehrere Perspektiven, wodurch sie als Vermittlerinnen und Übersetzerinnen agieren können.
Die Künstlerinnen und Aktivistinnen der Mujeres de Maiz jonglieren mit kulturellen und spirituellen Elementen und integrieren aztekische, indigene mexikanische, nordamerikanische sowie afrokaribische Praktiken in ihre Arbeit. Alejandra Sanchez erklärt: „In meiner Arbeit versuche ich Brücken zu bauen, zwischen privaten und Community-Räumen, zwischen Wissenschafts- und Kunstwelten, zwischen Spiritualität und Aktivismus, zwischen modernen und antiken Lebenswelten, unterschiedlichen Weltanschauungen, Ländern und Sprachen.“ Im Frühjahr 2013 veranstaltete sie eine kreative Schreibwerkstatt für Frauen: Weaving Words, Creating Worlds: Healing & Empowerment as Women Storytellers („Worte weben, Welten schaffen: Heilen und Selbstbestimmung als weibliche Geschichtenerzähler“). „Ziel dieses Workshops ist es, Menschen, die keinen Zugang zu kreativen Aktivitäten haben, in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Kunst kann eine positive Veränderung für viele Menschen bedeuten. Die Frauen haben die Möglichkeit hier im East Side Café, einem autonomen Community-Raum in ihrer Umgebung, gratis an den Workshops teilzunehmen. Sie können in einem sicheren Umfeld schreiben, ihre Texte publizieren und vor einem kleinen Publikum präsentieren. Hier können sie ihre Fähigkeiten und Talente austesten. Sie können sich austauschen und negative Erfahrungen durchs Schreiben aufarbeiten”, beschreibt Alejandra die Ziele ihrer Schreibwerkstatt.
Gleich zu Beginn des Workshops schreibt Alejandra ein Yoruba-Sprichwort an die Tafel, um den Schreibprozess zu initiieren. Im weiteren Verlauf werden Geschmack-, Geruch-, und Tastsinn stimuliert und afro-kubanische und aztekische Tänze getanzt, um locker zu werden und den gesamten Körper und die Kreativität anzuspornen. „Wir arbeiten viel mit persönlichen Geschichten, mit den Erzählungen unserer Ahnen und den Erfahrungen der Community. Es geht bei diesen Workshops um persönliche Genesung, um soziale Gerechtigkeit und die Zurückerlangung von indigenen Lebensweisen“, erklärt die Workshopleiterin.
Margaret „Quica“ Alarcón versucht in ihrer bildnerischen Arbeit ebenfalls die Geschichte ihrer Ahnen visuell zu übersetzen, zu dokumentieren und neu zu interpretieren. „Ich bringe meinen Körper ins Bild und übertrage die Geschichte in einen persönlichen und zeitgenössischen Kontext.“ In ihrem Gemälde Bear Dance (Selbstporträt) bildet sie einen Bären ab, der mit seiner rechten Tatze eine weibliche Silhouette umarmt. Der Bär repräsentiert eine von nordamerikanischen Ute-Gesellschaften veranstaltete Bärentanz-Zeremonie, der sie in Kalifornien beigewohnt hat. In ihrem Werk befasst sich die Künstlerin mit der Heilung von Körper und Seele mit Hilfe antiker spiritueller Praktiken, wie dem präkolumbianischen Temazcal. Das zeremonielle Dampfbad oder die traditionelle Schwitzhütte hat therapeutische und spirituelle Funktionen und wird zur Reinigung und Heilung angewendet. Gleichzeitig stellt Margaret eine Verbindung zwischen verschiedenen traditionellen Praktiken her: „Die Form des Bären stellt das mesoamerikanische Bildzeichen Tepetl dar, das ‚Hügel‘ oder ‚heiliger Ort‘ bedeutet. Andererseits repräsentiert die Form auch ein Temazcal und ein Inipi, eine Lakota-Schwitzhütten-Zeremonie.“
„In Temazcal-Zeremonien kommt es oft zu Momenten der Selbsterkenntnis, und es können starke Emotionen hervorgerufen werden“, führt Margaret fort. Die aztekische Figur rechts unten repräsentiere Vergangenes und damit zusammenhängende Schmerzen und Traumata. „Als Überlebende menschlicher Grausamkeiten teilen wir die Traurigkeit mehrerer Generationen. Die weinende Steinfigur repräsentiert diese geteilte Traurigkeit“, so Margaret. In diesem Jahr bauen die Mujeres de Maiz unter dem Motto „Gute Kunst ist gute Medizin“ mit multimedialen Events, Ausstellungen, Workshops, (politischen) Aktionen und ihrer Publikation Flor y Canto („Blume und Gesang“) weiter an ihrer Lebenswelt im Zwischenraum – um sie anderen zu öffnen.

„Suche nach einer offeneren Gesellschaft“

In Mexiko gibt es schon viele Organisationen zur Verteidigung und Unterstützung von Migrant_innen. Wieso haben Sie nun Migrantes LGBT (Aus dem Englischen, lesbian, gay, bisexual, trans*; Anm. der Red.) gegründet?
Julio César Campos Cubías: Wir möchten die Lücke schließen, die durch die fehlenden Initiativen zum Schutz nicht-heterosexueller Migrant_innen bestehen. Deswegen haben wir uns am 21. Januar 2014 offiziell zusammengetan. Der mexikanische Staat und seine Institutionen setzen sich nicht für die Menschenrechte dieser Personen ein. Dies wäre aber aufgrund der doppelten Vulnerabilität dieser Gruppe besonders dringlich: Die Situation von Diskriminierung und Homophobie ist nämlich nicht nur Grund für ihre Entscheidung zu migrieren, sondern sie erleben sie auch konstant auf ihrem Weg nach, durch und in Mexiko.

Sergio Gallardo García: Die Organisierte Kriminalität, genauso wie die Ignoranz und Gewalt von Polizist_innen und Beamt_innen oder gar anderer Migrant_innen sind der Grund für ihre besondere Schutzbedürftigkeit. Neben Frauen und Kindern ohne Begleitung ist es genau diese Gruppe, die von gewalttätigen, vor allem sexuellen Übergriffen, Menschenhandel und alltäglichen Angriffen in den Herbergen und Institutionen betroffen ist.

Wie genau sieht die Situation der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko aus?
S.G.: Hauptbeweggrund für die Migration nicht-heterosexueller Migrant_innen ist mit Sicherheit ihre Suche nach einer offeneren Gesellschaft. Nach einem Ort, an dem sie sich nicht mehr verstecken müssen, um nicht alltäglicher Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Obwohl es in Mexiko, vor allem in der Hauptstadt, bereits zahlreiche Gesetze und politische Initiativen zum Schutz der LGBT-Bevölkerung gibt, ändert dies bisher wenig an der tatsächlichen Situation. Weltweit ist Mexiko das Land mit der zweithöchsten Rate an Hassmorden. Einer der Hauptgründe ist die tief verwurzelte Lesbo-, Homo-, Bi- und Transphobie der Menschen.

J.C.: Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass viele Migrant_innen keine Papiere haben und deswegen Ausbeutung und Ausgrenzung ausgesetzt sind. Wenn sie nicht selbst Opfer werden, schließen sie sich oft Drogen- oder Menschenhändler_innenbanden an. Diese Situation betrifft besonders häufig nicht-heterosexuelle Migrant_innen, denen von der Gesellschaft von vornherein Arbeiten mit einem hohen Risiko, insbesondere die Prostitution, zugeschrieben werden. Deshalb sehen sie sich besonders oft gezwungen, auf der Straße zu leben oder in bestimmten Milieus zu verkehren. Dies wiederum erhöht ihre Kriminalisierung und Stigmatisierung seitens der Gesellschaft.

Wer ist Teil des Kollektivs und wie arbeiten Sie?
J.C.: Wir sind Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten, Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen. In Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft versuchen wir, die Sichtbarkeit und letztlich die Integration von nicht-heterosexuellen Migrant_innen zu fördern. Wir unterstützen insbesondere Migrant_innen aus Zentralamerika auf ihrem Weg in die USA und bei ihrer Ankunft in Mexiko. Aber auch Geflüchtete aus anderen Ländern, die Asyl in Mexiko beantragen wollen. Wir sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht auf ein würdiges Leben hat. Deswegen bietet unser Kollektiv dieser Gruppe von Migrant_innen humanitäre Hilfe an, die auf ihre spezifischen Anliegen gerichtet ist: Neben akuten Sachleistungen, leiten wir die Migrant_innen an sensibilisierte Herbergen und andere Stellen weiter, die legale und psychologische Unterstützung geben können.

Können Sie das an einem Beispiel etwas genauer ausführen?
J.C.: Es gibt verschiedene Fälle: Zum einen gibt es Personen, die mit konkreten Problemen persönlich an uns herantreten. Häufig fragen sie sich vor allem, ob sie in Mexiko bleiben oder besser versuchen sollen, ihren Weg in die USA fortzusetzen. Es gibt aber auch Fälle, die von Organisationen vertreten werden. Einer dieser Fälle ist Ender, ein 32-jähriger Salvadorianer, der nach Mexiko kam, weil er in El Salvador als politischer Aktivist für LGBT-Rechte verfolgt wurde. Obwohl Vorschriften der Nationalen Migrationsbehörde (INM) vorsehen, dass Migrant_innen nicht länger als 48 Stunden festgehalten werden dürfen, verhafteten sie Ender und sperrten ihn sieben Monate unter menschenunwürdigen Bedingungen ein. In Zusammenarbeit mit einer Anwältin und drei weiteren Kollektiven haben wir innerhalb eines Monats seine Freilassung erwirkt. Grundlegend war dabei nicht nur der politische und mediale Druck, den wir auf das INM, die Nationale Menschenrechtskommission und das salvadorianische Konsulat ausüben konnten, sondern vor allem auch die öffentliche Anklage in sozialen Netzwerken.

Welche weiteren Möglichkeiten nutzt das Kollektiv, um die Sichtbarkeit des Phänomens in der Gesellschaft zu erhöhen?
S.G.: Wir versuchen vor allem, durch Aktivitäten in sozialen Netzwerken die Menschen zu sensibilisieren und informieren. Außerdem organisieren wir Ausflüge zu Herbergen, Universitäten und Museen. Andere Veranstaltungen, die von uns durchgeführt werden, sind beispielsweise Filmzyklen mit anschließender Diskussion oder punktuelle Beiträge z.B. am Internationalen Tag des Kampfes gegen Homophobie oder der Demonstration für LGBT-Rechte in Mexiko-Stadt am 28. Juni.

Was müsste sich konkret verändern, damit die Rechte der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko respektiert werden?
S.G.: Wir setzen uns dafür ein, dass die Rechte, die die LGBT-Bewegung in Mexiko-Stadt in den letzten Jahren erkämpft hat, für alle gelten – ob arm oder reich, indigen oder mestizisch, und eben auch für Migrant_innen. Wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass ebenso wie die Migration ein vielfältiges Phänomen ist, die Menschen, die migrieren, unterschiedliche Gründe und Ziele, genauso wie Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen haben. Deswegen wollen wir Weiterbildungen für die Beamt_innen, speziell des INM und der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR) anbieten. Wir würden hier gerne gemeinsam mit ihnen eine gerechtere Migrationspolitik erarbeiten, die nicht nur nicht-heterosexuelle Migrant_innen, sondern auch andere Gruppen wie Indigene und Kinder ohne Begleitung umfasst.

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