„Pacquiao! Pacquiao?“ Während der Großvater in Sonntagskleidung am Baum im Garten uriniert, ruft Mateo vergeblich nach seinem Hund. „Ich habe ihn in die Kiste gelegt. Jemand scheint ihn vergiftet zu haben.“ Was der Großvater nicht weiß, ist, dass Mateo mit dem Tod seines Hundes für seine „Feigheit“ büßt. Denn im letzten Moment ließ er die Pistole fallen und machte sich aus dem Staub, als er den Mann auf der Straße umlegen sollte. Es wäre die letzte Tat gewesen, um in die Gang aus jungen Männern des Dorfes aufgenommen zu werden. Stattdessen muss Mateo nun Rache fürchten.
Der 17-jährige Protagonist in Damian John Harpers Filmdebüt Los Ángeles hat bis auf den nächtlichen Mord alle abverlangten Taten ausgeführt, um Mitglied der Gang zu werden. Was ihn trieb, war der Gedanke, über deren Netzwerke Unterstützung zu bekommen, wenn er erst einmal in Los Angeles sein sollte. Denn so will es die Mutter und so hat es der Großvater entschieden: Nachdem der Vater die Familie im Stich gelassen hat, soll ihm Mateo als ältester Sohn folgen, an seiner Stelle in den USA arbeiten und Geld nach Hause schicken. Die Stadt Los Angeles steht als Synonym für das Überleben der Familie, ja des ganzen Dorfes.
Die Dollars, die emigrierte Familienmitglieder nach Hause schicken, sind am realen Drehort des Films, in einem Dorf im Süden Mexikos, überlebenswichtige Einkommensquelle. Nach seinem Studienabschluss in Ethnologie lebte Regisseur Harper für ein Jahr im zapotekischen Santa Ana del Valle im Bundesstaat Oaxaca. Nach über zehn Jahren freundschaftlicher Verbindungen entschloss er sich zu seinem Drehbuch. „Ihre reziproken Strukturen gesellschaftlicher Organisation, ihre starken familiären Werte und ihre jährliche fiesta faszinierten mich“, so Harper. Indem er sämtliche Rollen mit Dorfbewohner*innen, also Laien, besetzte, die sozusagen sich selbst verkörpern, ging er ein Wagnis ein. Aber gerade dadurch ist Los Ángeles so nah an der realen Lebenswelt seiner Charaktere, wie es für einen Spielfilm nur vorstellbar ist. Neben einer packenden Handlung gewinnt der Film auch an dokumentarischem Wert.
Unterschiedliche Facetten der Migration werden durch die verschiedenen Charaktere des Films sichtbar. Neben dem jungen Protagonisten Mateo, der sich auf seine Ausreise vorbereitet, ist da der soeben zurückgekehrte Familienvater Marcos. Die Schwierigkeiten, sich in seiner alten Umgebung zurechtzufinden, machen Konflikte unausweichlich. Parallel wird im Dorf laut über den abwesenden Lino spekuliert, er mache in Los Angeles einen auf fiesta. Leise steht zugleich die Sorge um ihn im Raum. Dass er weinend auf den Anrufbeantworter gesprochen hat, dass er im Gefängnis um sein Leben fürchtet, verheimlicht Mutter Lidia.
Nicht ein einziges Mal taucht das wahre Los Angeles in den Bildern des Films auf; die Situation der Emigrierten in den USA bleibt durch Stimmen am Telefon nur angedeutet. Eine wacklige Handkamera folgt den Figuren von der Haus- zur Feldarbeit, von der Kirche zum Dorffest. Wenn auch Hintergrundkenntnisse für das Verständnis des Films hilfreich sind, ist es Damian John Harper gelungen, ein Stück der mexikanischen Realität mit größter Authentizität zu verfilmen: Der Gedanke an die Emigration bringt Unruhe in den Alltag, die Abwesenheit der Emigrierten lastet auf den Familien. Neben mehreren Preisen bei Filmfestivals wurde Los Ángeles mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ der Deutschen Film- und Medienbewertung ausgezeichnet. Ab 29. Januar 2015 wird die ZDF-Koproduktion in den deutschen Kinos laufen.
Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn
Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.
Afrobolivianische Identität im plurinationalen Staat
Schotterstraßen, Serpentinen und steile Berghänge. Der Ort Tocaña liegt mit 160 Einwohner*innen rund drei Autostunden von La Paz entfernt im subtropischen Norden Boliviens. Die kleine Häusersiedlung erstreckt sich auf einem mächtigen grünen Hügel voller Vegetation: Lemongras und Lianen wuchern an den Abhängen. Der Blick vom Dorfplatz schweift über die benachbarten Berggipfel, die von dichten Wolken bedeckt werden. Eine mächtige Kulisse. Doch der Ortskern von Tocaña wirkt öde: eine verriegelte Kirche, ein überdachter Beton-Sportplatz, zwei winzige Lebensmittelläden, kaum Menschen. Auf den ersten Blick hat die kleine Gemeinde nichts zu bieten. Dennoch: Tocaña ist anders als die meisten Ortschaften in der Umgebung. Das liegt an den Bewohner*innen.
„Wir sind gar nicht ursprünglich von hier“, sagt Jhony Perez. Dabei ist der 39-Jährige in Tocaña aufgewachsen. Es ist Sonntagnachmittag, 17 Uhr. Etwa 15 Dorfbewohner*innen haben sich neben dem Bolzplatz versammelt und trinken Bier aus Plastikbechern. Jhony Perez sitzt auf einer alten Schulbank aus Holz, die als Sitzgelegenheit aufgestellt wurde. Mit „nicht ursprünglich von hier“ meint er seine Vorfahren. „Die wurden hergebracht“, sagt er. Wie fast alle Menschen im Dorf ist Jhony Perez Nachfahre afrikanischer Sklav*innen. Im 16. und 17. Jahrhundert verschleppten die spanischen Kolonisator*innen massenhaft Frauen und Männer aus Afrika nach Bolivien. Der Plan der Konquistador*innen: Sie sollten sich in den Silberminen von Potosí für den Reichtum des spanischen Königshauses abarbeiten. Doch Höhenluft, Kälte und miserable Arbeitsbedingungen trieben viele in den Tod. Daraufhin wurden die versklavten Afrikaner*innen in den wärmeren Norden verkauft, um in den subtropischen Yungas in der Landwirtschaft ausgebeutet zu werden – vor allem in Anbau von Kaffee und Zitrusfrüchten.
Jhony Perez erzählt, seine Vorfahren kämen wahrscheinlich aus Mosambik. Das hätte vor ein paar Jahren mal jemand anhand der Untersuchung seines Kiefers festgestellt. Bei anderen Dorfbewohner*innen sei das Ergebnis der Kongo, Angola oder Nigeria gewesen. „Die spanischen Kolonisatoren haben absichtlich Sklaven aus verschiedensten Ländern verschleppt“, sagt Perez. „Damit sie sich nicht verständigen konnten und keine Rebellion starteten“. Die Frage der Ahnenforschung – wer jetzt aus welchem Land kommt – interessiert in Tocaña aber ohnehin keinen so wirklich. Keiner ist je nach Afrika gereist.
Unter den damals verschleppten Sklav*innen war auch der Thronfolger einer senegalesischen Ethnie. So jedenfalls erzählt der Mythos unter den Afrobolivianer*innen und so berichten bolivianische Medien, die BBC und die ARD. Seit dem offiziellen Ende der Sklaverei im Jahr 1826 wird auch unter den Nachfahren der Sklav*innen in Bolivien wieder ein König gekrönt, der König für die ganze afrobolivianische Community sein soll. Zwar wurde der Thron lange nicht vom bolivianischen Staat anerkannt, aber die Königsdynastie gab Anlass zu einer gemeinsamen afrobolivianischen Identität. Der US-amerikanische Anthroploge Norman E. Whitten schrieb etwa über den im 20. Jahrhundert thronenden Bonifaz, er sei ein black leader gewesen, den die Afrobolivianer*innen noch bis nach seinem Tod verehrt hätten.
Bis heute währt das Königreich. Im Internet präsentiert sich die Casa Real Afroboliviana (Afrobolivianisches Königshaus) mit eigenem Wappen und Throngeschichte. Der amtierende König, Don Julio Pinedo, wohnt in Murrata, rund zwei Stunden Fußmarsch von Tocaña entfernt. Der 72-jährige ist seit 1992 auf dem Thron und seit 2007 staatlich anerkannt. Er soll in einem kargen Eckhaus nahe des Dorfplatzes wohnen. Doch die Tür öffnet eine alte, dunkelhäutige Frau im traditionellen bolivianischen Pollera-Rock. Der König sei nicht da, sagt Königin Angélica. „Er arbeitet schon seit dem frühen Morgen auf dem Feld“. Die meisten Afrobolivianer*innen in den Yungas leben von der Landwirtschaft. In einer Studie des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen von 2011 liegt der Verkauf von Koka als Einkommensquelle unter den Afrobolivianer*innen an erster Stelle, 75 Prozent der Befragten gab an, mindestens einen Teil ihres Einkommens durch den Verkauf der Pflanze zu erwirtschaften. So lebt auch die Königsfamilie von der Landwirtschaft. Die 70-jährige Angélica sitzt im Erdgeschoss ihres Hauses. Sie verkauft Sardinendosen, Nudeln und Koka-Blätter in ihrem kleinen Dorfladen und schaut dabei eine Telenovela. „Wir haben nur das Nötigste“, erklärt die Königin. Sie und ihr Mann stünden der Community zwar mit Rat und Tat zur Seite, leider seien die finanziellen Mittel aber begrenzt. Auch wenn der afrobolivianische König von der nationalen Regierung in La Paz offiziell anerkannt ist, hat er keine exekutive Macht. „Mein Mann hat repräsentative, aber keine politischen Funktionen“, resümiert Doña Angélica und ist erpicht darauf, jetzt weiter ihre Fernsehsendung zu schauen.
Zurück in Tocaña. Von den rund 35 Familien hier sind fast alle schwarz. Die Afro-Identität spielt eine entscheidende Rolle im Dorf. In ganz Bolivien gibt es nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischen 30.000 und 35.000 Afrobolivianer*innen. Beim bolivianischen Zensus 2012 gaben laut Nationaler Statistikbehörde INE rund 23.300 Menschen an, sich als Afrobolivianer*innen zu fühlen. Diese Daten wurden zum ersten Mal überhaupt erfasst, denn erst seit der plurinationalen Verfassung von 2009 sind die Afrobolivianer*innen eine der 36 staatlich anerkannten Ethnien in Bolivien. In der neuen Verfassung werden sie in Artikel drei explizit als Teil der Nation aufgeführt und in Artikel 32 werden ihnen die gleichen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Rechte zugesichert, wie der indigenen Bevölkerung.
Allein wegen dieser formalen Anerkennung hat Verfassungsvater und Präsident Evo Morales auch bei den Menschen in Tocaña einen Stein im Brett. „Früher mussten wir beim Zensus die Kategorie „andere“ ankreuzen. Wir waren nicht existent – Jetzt sind wir wer!“, freut sich Jhony Perez. Evo Morales’ Wertschätzung der afrobolivianischen Identität hat dafür gesorgt, dass so gut wie jede*r im Dorf den Präsidenten unterstützt. Landesweite Statistiken zum Wahlverhalten der Afrobolivianer*innen gibt es laut nationalem Wahltribunal zwar nicht, dennoch: „Wir Afrobolivianer haben bei den Wahlen 2014 vollends Evo Morales und seine Partei MAS unterstützt“, sagt Zenaida Avendaño Vasquez, eine Mitarbeiterin des Afrobolivianischen Zentrums (CADIC) in La Paz.
In Bolivien herrschte auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1826 noch eine extreme Abhängigkeit vom Großgrundbesitz. Zwar änderten sich die Besitzverhältnisse mit der Agrarreform von 1953, trotzdem gehören die Afrobolivianer*innen auch heute noch zum ärmeren Bevölkerungsteil Boliviens. NGOs und Internationale Organisationen wie die Minority Rights Group International oder das Welternährungsprogramm der UN gehen davon aus, dass Afrobolivianer*innen im Vergleich mit anderen Gruppen weniger verdienen und schlechteren Zugang zu Gesundheit und Bildung haben. Auch die Diskriminierung ist immer noch ein Problem, auch wenn 2010 ein Gesetz (Ley 045) verabschiedet wurde, das rassistische und diskriminierende Äußerungen und Handlungen mit einem Strafmaß von bis zu sieben Jahren Haft ahnden soll. Von den 135 angezeigten Verstößen gegen das Gesetz in den ersten 10 Monaten von 2013 wurden laut der Tageszeitung La Razon nur sieben tatsächlich verfolgt. Auch der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen kam 2013 zu dem Schluss, dass die Umsetzung des Gesetzes noch nicht funktioniere. In dem UN-Bericht heißt es: „Eine große Zahl der Afrobolivianer ist systematischer Ungerechtigkeit ausgesetzt, sie leiden unter fehlenden Meldemechanismen und mangelnder Unparteilichkeit von Behörden und Polizei“. Racial Profiling sei beispielsweise auch weiterhin ein großes Problem für die schwarze Bevölkerung. Jorge Medina ist der erste und im Moment einzige Afrobolivianer in der bolivianischen Abgeordnetenkammer und hat selbst am Gesetz 045 mitgearbeitet. Vier Jahre nach Verkündung des Gesetzes hätten rassistische Sprüche wie „¡Suerte negrito!“ zwar abgenommen, resümiert Medina auf seiner Website. Ein latenter Rassismus sei aber weiterhin vorhanden. Der spöttische Spruch, dem „kleinen Schwarzen“ Glück dabei zu wünschen, wenn er sich etwas anderem als der Feldarbeit widmet, charakterisiert den schwierigen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Institutionen für Afrobolivianer*innen. „Früher ging kaum einer auf die Universität“, erklärt Medina am Telefon. „Heute zieht es immer mehr junge Leute in die Städte, für ihre Ausbildung gehen sie nach La Paz, Cochabamba und Santa Cruz“. In der Hauptstadt verschaffen sie sich auch immer mehr politisches Gehör: Neben dem Abgeordneten Medina setzt sich auch das Afrobolivianische Zentrum für ihre Belange ein. „Bolivien befindet sich in einer Transformation,“ fasst Medina zusammen. „Es ist jetzt die Aufgabe von Politik und Medien die Möglichkeiten der neuen Gesetze zu verbreiten, damit sie dann auch richtig angewendet werden“.Zurück in Tocaña. Hier sind es auch 188 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei immer noch die Afrobolivianer*innen, die die Felder bestellen. Sie züchten heute vor allem la coca. „Die kann man drei bis vier Mal im Jahr anbauen“, sagt Reyna Ballivián, eine weitere Bewohnerin Tocañas, die seit sie denken kann auf dem Feld steht. Reich ist sie davon nicht geworden. Die 40-Jährige schaut aus einem kleinen Fenster ihrer Küche aus Lehmziegeln. „Mein Bruder arbeitet für die Regierung in La Paz, meine Schwester lebt in Spanien“, sagt Reyna. Auch sie wäre gern rausgekommen. Mit dem Koka-Anbau kann die alleinerziehende Mutter aber immerhin ihre zwei Kinder durchbringen. Früher habe die Dorfbevölkerung hauptsächlich Kaffee gepflanzt. Doch in den 90ern sei der von Schädlingen befallen worden. Ohnehin ist es in Bolivien – spätestens seitdem der Präsident selbst ein ehemaliger Koka-Bauer ist – lukrativer, die grünen Blätter anzubauen. Von den USA gestützte Anti-Koka-Kampagnen der Vorgänger-Regierungen beendete Evo Morales – auch deshalb sind ihm viele afrobolivianische Koka-Bauern und Bäuerinnen treu. In der neuen Verfassung genießt die Koka-Pflanze den Status eines Kulturerbes und ist in ihrer traditionellen Form ausdrücklich kein Betäubungsmittel. 2013 erreichte Bolivien für den legalen Koka-Anbau sogar eine Ausnahmeregelung im UN-Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel.
Auch Jhony Perez lebt vom Koka-Strauch. Schon als Achtjähriger hat er auf dem Acker mitgeholfen. Während er spricht, kaut er immer wieder auf einem dicken Koka-Knäuel herum. In seiner linken Backenhälfte klemmen mindestens 20 Blätter, denen er den grasig schmeckenden Saft entzieht, die gegen Höhenkrankheit und Müdigkeit helfen. Diese kaubaren Energie-Booster kann Jhony Perez auch gut gebrauchen. Seine Ex-Frau ist mit einem anderen Mann nach Chile abgehauen und Perez muss seinen vier Kindern das Internat finanzieren. Tagsüber arbeitet er deshalb von 9 bis 17.30 Uhr auf den Koka-Feldern Tocañas. Nachts fährt er runter ins Tal, um in einer Mine Gold abzubauen. „Manchmal komme ich erst um sieben Uhr morgens nach Hause“, sagt Perez. Zwei Stunden später beginnt schon wieder die Feldarbeit.
Macht ihn die Schufterei nicht kaputt? „Nein“, betont der 39-Jährige später am Abend bei einer kleinen Feier in seinem etwa zehn Quadratmeter kleinen Zimmer. Es gibt Bier, Koka-Blätter und Gitarrenmusik. „Tocaña, meine Liebe, du bist meine Inspiration, singen Jhony, Reyna und die anderen. An der Wand hängen Fotos von Perez‘ Kindern. „Es ist schlicht hier, aber mir fehlt es an nichts“, sagt er gelassen. Zwei Mittzwanzigjährige kommen noch auf ein Bier vorbei. Sie sind in Tocaña aufgewachsen, aber haben sich in der nahegelegenen Provinzstadt Coroico mit einem kleinen Laden selbständig gemacht. „Das ist die neue Generation“, freut sich Jhony Perez, auch wenn sein eigener Alltag ein anderer ist: Am Tag nach der Feier in seinem Zimmer wollte Jhony Perez eigentlich zum Abendessen ins Dorf kommen. Aber dann kann er doch nicht. Es gebe viel Arbeit unten im Tal, sagt er am Telefon. „Ich muss heute Nacht in der Mine schlafen“.
„Des Weltfriedens wegen“
Mitte Oktober reisten Vertreter_innen aus 32 Ländern, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie diverser regionaler Organisationen nach Havanna. In der kubanischen Hauptstadt nahmen sie an einem Treffen der Staaten der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) zur Prävention von Ebola in der Region teil. Verabschiedet wurden auf der zweitägigen Konferenz eine Reihe von Maßnahmen, um eine Ausbreitung des Ebola-Virus auf dem amerikanischen Kontinent zu verhindern. Unter anderem sollen nationale Zentren zur Bekämpfung von Ebola geschaffen werden, um die Präventionsmaßnahmen zu koordinieren und den Informationsaustausch zu verbessern; die Zusammenarbeit bei der Entwicklung neuer Impfstoffe und Medikamente soll ausgebaut, die Informationspolitik verbessert sowie einheitliche Standards zum Schutz des medizinischen Personals geschaffen werden.
Mehr als die Ergebnisse des Treffens aber machte allein die Anwesenheit zweier US-Regierungsbeamter Schlagzeilen. Nun handelte es sich bei den Herren zwar keineswegs um Top-Diplomaten, trotzdem: US-Vertreter auf einem Treffen des von Venezuela und Kuba ins Leben gerufenen Staatenbundes ALBA – das schien bisher undenkbar. Vereinzelte Empörung, etwa des kubanischstämmigen republikanischen US-Kongressabgeordneten Mario Diáz-Balart ging jedoch in den allgemein wohlwollenden Kommentaren unter. Sowohl US-Außenminister John Kerry als auch die US-amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen (UN), Samantha Power, lobten das Engagement Kubas im Kampf gegen Ebola als vorbildlich.
Nachdem zunächst vor allem die USA und Großbritannien auf den Ruf nach internationaler Hilfe für die betroffenen Länder reagierten hatten, treffen mittlerweile auch chinesische, schwedische und deutsche Ärzt_innen in der Krisenregion ein. Doch die westlichen Regierungen scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, die Epidemie von den eigenen Grenzen fernzuhalten, als die Seuche in Westafrika direkt zu bekämpfen. So waren in den USA wie in Europa Forderungen zu hören, Direktflüge aus Westafrika zu streichen und keine Menschen aus der Region mehr einreisen zu lassen. Es war dagegen das kleine Kuba, das mit gutem Beispiel voranging. Dabei ist die Karibikinsel alles andere als ein wohlhabendes Land. Das Bruttoinlandsprodukt bewegt sich nach Zahlen der Weltbank in etwa auf dem Niveau von Weißrussland. Und doch stellt Kuba in der von der Epidemie betroffenen Region mehr Ärzt_innen als Großbritannien und Australien zusammen. Seit Anfang Oktober helfen 256 kubanische Mediziner_innen und Krankenpfleger_innen in Sierra Leone, Liberia und Guinea bei der Eindämmung des Ebola-Virus – nach Angaben der WHO das größte Kontingent an medizinischem Personal eines einzelnen Landes. Ca. 200 weitere Hilfskräfte sollen folgen. „Hoffen wir, dass das Beispiel Kubas hilft, die Furcht vor der Arbeit in Westafrika zu beseitigen. Vielleicht würden die Leute, wenn sie weniger Angst hätten, eher die Herausforderung annehmen und der afrikanischen Bevölkerung medizinische Hilfe leisten“, sagte Dr. José Luis Di Fabio von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (Organización Panamericana de la Salud, OPS).
Sowohl Kubas Präsident Raúl Castro als auch Fidel Castro haben die Bereitschaft ihres Landes zur Zusammenarbeit mit den USA bei der Bekämpfung von Ebola geäußert. „Gern kooperieren wir mit dem US-amerikanischen Personal bei dieser Aufgabe – und das nicht im Bemühen um Frieden zwischen zwei Staaten, die so viele Jahre Kontrahenten gewesen sind, sondern in jedem Fall des Weltfriedens wegen, ein Ziel, das angestrebt werden kann und sollte“, schrieb der mittlerweile 88-jährige Fidel Castro in einer Kolumne, die von der kubanischen Tageszeitung Granma veröffentlicht wurde. Die USA und Kuba unterhalten seit 1961 keine diplomatischen Beziehungen mehr. In dem Artikel versicherte Castro, dass durch die Kooperation mit den Vereinigten Staaten die Ausbreitung des gefährlichen Virus in Lateinamerika verhindert werden könne. Die USA hatten Mitte September entschieden, 4.000 Soldat_innen nach Westafrika zu entsenden, die dort Krankenstationen errichten sollen. Die Vereinigten Staaten waren nach Spanien das zweite nicht-afrikanische Land, in dem Fälle einer Ansteckung mit Ebola bekannt wurden.
Castros Angebot war keineswegs das erste dieser Art. Bereits nach dem Hurricane Katrina, der 2005 New Orleans verwüstete, hatte Kuba den USA angeboten, medizinisches Personal zu schicken. Das war von der damaligen US-Regierung abgelehnt worden. Bei der Bekämpfung der Cholera-Epidemie nach dem Erdbeben in Haiti 2010 haben kubanische und US-amerikanische Teams dann zusammengearbeitet.
Nun bietet ausgerechnet die Ebola-Krise der US-Regierung einen Vorwand für einen pragmatischeren Umgang mit Kuba. Und nach anfänglichem Zögern scheint sie sich genau dazu durchgerungen zu haben. „Wir sind bereit, mit allen zu kooperieren, die in der Region arbeiten, um sicher zu gehen, dass wir auf globaler Ebene eine effiziente Antwort auf das Virus haben“, erklärte Arboleda, Zentralamerika-Direktor der US-Regierungsbehörde „Zentren zur Kontrolle und Prävention von Krankheiten“ (Centers for Disease Control and Prevention, CDC) bei seinem Auftritt in Havanna. „Die Ebola-Epidemie ist von weltweiter Dringlichkeit, daher sind wir bereit unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet mit den kubanischen Missionen und Brigaden und der internationalen Gemeinschaft zu koordinieren“.
Kuba hat eine lange Tradition in ärztlicher und humanitärer Hilfe in Afrika und anderen Teilen der Welt. Seit den 1960er Jahren haben knapp 80.000 kubanische Mediziner_innen in 39 afrikanischen Staaten geholfen. Darüber hinaus exportiert das Land medizinische Dienstleistungen in alle Welt. Mehr als 50.000 kubanische Ärzt_innen und medizinisches Personal arbeiten derzeit in 66 Ländern weltweit, davon knapp die Hälfte in Venezuela. Im Gegenzug liefert Caracas Erdöl nach Kuba. Brasilien wiederum hat mehr als 11.000 kubanische Mediziner_nnen für sein Programm „Mais Médicos“ (Mehr Ärzte) angeworben. Im Rahmen der „Operación Milagro“ (Operation Wunder) führen kubanische Ärzte kostenlose Augenoperationen für Menschen aus Entwicklungsländern durch. Geschädigte des Reaktorunfalls in Tschernobyl werden in Kuba kostenlos behandelt.
Die WHO hat Kubas langfristig angelegtes Engagement wiederholt gelobt und die beeindruckenden Fortschritte Kubas im Gesundheitssektor seit der Revolution herausgestellt. Vor der Revolution im Jahre 1959 gab es auf Kuba kaum 6.000 Ärzt_innen, von denen die Hälfte nach dem Triumph der Revolution das Land verließ. Heute ist die medizinische Versorgung in Kuba kostenlos und die Lebenserwartung sowie die Kindersterblichkeit haben trotz aller Engpässe europäisches Niveau. Das staatliche Gesundheitswesen verfügt nach offiziellen Angaben über rund 77.000 Ärzt_innen, 15.000 Zahnärzt_innen und mehr als 88.000 Krankenpfleger_innen – und das bei einer Bevölkerung von knapp elf Millionen. Kuba gehört damit zu den fünf führenden Staaten mit der höchsten Ärzt_innen-pro-Kopf-Ratio weltweit. Zum Vergleich: In Liberia, das von Ebola am schlimmsten betroffen ist, gab es vor dem Ausbruch der Epidemie gerade einmal 51 Ärzt_innen für mehr als fünf Millionen Menschen.
„Deutschland trägt seinen Teil zur Militarisierung bei“
Nach dem Verschwinden der Studenten hat eure Gruppe in Berlin viele Protest- und Informationsveranstaltungen organisiert. Was ist eure zentrale Motivation?
Unsere Erfahrung ist, dass die Menschen in Mexiko demonstrieren können, wie sie wollen, letztendlich reagiert die mexikanische Regierung nur auf Druck aus dem Ausland. Wir widersprechen hier der Behauptung der Regierung und der mexikanischen Botschaft, dass es eine Trennung zwischen Staat und der organisierten Kriminalität gebe. Wir sind zwar eine autonome Gruppe, aber wir fühlen uns in diesem Fall auch stark den Familien der verschwundenen Studenten verbunden.
Welche Verantwortung hat das Ausland, speziell Deutschland, bezüglich der Situation in Mexiko?
Deutschland gehört für Mexiko zu den wichtigsten Partnern; innerhalb Europas ist es sogar der wichtigste. Man muss auch die Verantwortung der deutschen Regierung für die Außenpolitik der gesamten Europäischen Union bedenken. Es ist kein Zufall, dass die frühere Außenministerin Patricia Espinosa jetzt erneut Botschafterin in Deutschland ist. Zudem kommt Deutschlands Verantwortung für Waffenlieferungen nach Mexiko. Und schließlich – dies ist auch eines der Hauptanliegen unserer Gruppe – hat die Situation in Mexiko auch eine transnationale Dimension, die sich aus der ökonomischen Abhängigkeit der Peripherie gegenüber dem Zentrum ergibt.
Was haltet ihr von dem sogenannten Sicherheitsabkommen zur Kooperation deutscher und mexikanischer Polizei, das kurz vor dem Abschluss steht?
Wir sind aus zwei Gründen dagegen. Es gibt überhaupt keine Beweise, dass solche Abkommen helfen, den Zustand der mexikanischen Polizei zu verbessern, im Gegenteil. Zum anderen gibt es in Mexiko keinen Unterschied zwischen Polizei und Militär. Das heißt, wenn die mexikanische Polizei trainiert wird, wird auch das Militär trainiert. Ein militärisches Training erlauben eigentlich aber weder die mexikanischen noch die deutschen Gesetze. Doch so trägt Deutschland seinen Teil zur Militarisierung Mexikos bei.
Wie kam es überhaupt zu dem Abkommen?
Der damalige Bundespräsident Wulff war 2011 in Mexiko und hat sich für dieses von Mexiko vorgeschlagene Abkommen eingesetzt. Deutschland sagt zwar, es sei nur ein Abkommen zur Kooperation und zum Informationsaustausch der Polizeikräfte. Das ist aber nicht wahr, denn solche Abkommen existieren bereits. Vielmehr öffnet es einen institutionellen Rahmen, um drei Dinge zu erleichtern: Den Waffenexport, den Technologietransfer und das Training der mexikanischen Polizeikräfte. Begünstigt wird dabei vor allem die Privatwirtschaft, das ist das Entscheidende. Und zwar die Unternehmen, die zum sogenannten militärisch-industriellen Komplex gehören, also den Verkauf von Waffen und anderen sicherheitsrelevanten Waren und Dienstleistungen betreiben. In beiden Ländern haben diese Unternehmen enorme Lobbyarbeit betrieben, damit das Abkommen zustandekommt. Gerade der deutschen Regierung scheint der Verkauf von Sicherheitstechnologie sehr wichtig zu sein.
Man könnte denken, Mexiko erhält im Rahmen der sogenannten Initiative Mérida aus den USA ausreichend Waffen. Warum ist die Regierung dennoch an deutscher Technologie und Kooperation interessiert?
Zum einen geht es der mexikanischen Regierung um Legitimitätsgewinn im Ausland. Durch solche Abkommen akzeptieren ausländische Regierungen den Diskurs, dass der sogenannte Krieg gegen die Drogen notwendig sei und die Regierung ihre Verantwortung ernst nehme. Zum anderen will Mexiko seine Abhängigkeit von den USA lockern und sucht daher verstärkt die Zusammenarbeit mit anderen Ländern.
Was können Aktivist_innen aus dem Ausland tun, um die Proteste gegen die Komplizenschaft der mexikanischen Regierung zu unterstützen?
Man darf jetzt nicht den alten Fehler machen, sich zwei bis drei Wochen lang zu organisieren und zu demonstrieren, und dann ist es vorbei. Es kommt darauf an, kontinuierlich Aktivismus mit Theoriebildung und Forschung zu verbinden, so wie wir es in unserem Verein machen. Uns ist aufgrund der abhängigen Beziehungen vor allem die transnationale Ebene wichtig, also den Blick sowohl auf Mexiko als auch auf Deutschland zu richten. Alle Leute sind eingeladen, bei uns mitzumachen. Ein Ziel von uns ist auch, dass wir als Muster dienen, nach dem sich andere Gruppen bilden, die sich mit den Abhängigkeiten zwischen Zentrum und Peripherie auseinandersetzen und Verbindungen herstellen wollen; also zum Beispiel Gruppen wie Mexiko via Paris, aber auch Eritrea via Berlin.
Treten wir einen Schritt zurück: Als die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) im Jahr 2000 erstmalig die Regierungsmacht verlor, war viel die Rede von demokratischer Transformation und viele Menschen hatten Hoffnung auf einen Wandel. Wie konnte sich die Situation in Mexiko so dramatisch verschlechtern?
Es gab keinen Schritt in Richtung Demokratie, die Eliten von früher sind geblieben. Andererseits ist die informelle Macht der PRI verlorengegangen, die in ihrer Hegemonialität auch eine befriedende Wirkung hatte. Geblieben ist nur die institutionelle Hülle. Zum dritten kam die Verschlechterung durch strukturelle Probleme, die tiefe soziale Ungleichheit und Armut, die sich durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA und andere Freihandelsabkommen verstärkt hat. Diese haben Mexiko zu einem Pulverfass gemacht – alles ist jederzeit möglich.
Also dass aufgrund der Verarmung mehr Leute bereit waren, für die Drogenkartelle zu arbeiten oder mit Gewalt an Geld zu kommen?
Nicht nur das, NAFTA hat auch viele andere Konsequenzen mit sich gebracht. Besonders sichtbar war der Wandel in den Grenzstädten zu den USA, wo sich die maquiladoras (Montagebetriebe, Anm. d. Red.) angesiedelt haben. Plötzlich explodierte die Bevölkerungszahl, ohne dass es dafür eine Infrastruktur gab, zum Beispiel genügend Schulen. Was es gab, war viel Polizei und Militär. Man sieht hier die Radikalisierung des Bestrafungsstaats: Einerseits werden Unsummen in Polizei und Militär gesteckt und Jugendliche reihenweise ins Gefängnis gesteckt. Andererseits gibt es kein Geld mehr für Mikrokredite oder irgendeine Unterstützung für Kleinbauern.
Wie lässt sich die Gewalt in Mexiko wieder eindämmen?
Diese Frage enthält viele Ebenen. Unsere Hauptforderung ist die Beendigung der Militarisierung. Damit meinen wir nicht nur die Präsenz auf den Straßen, sondern auch die indirekte Form, indem die Polizei militärische Logiken und Vorgehensweisen übernimmt. Zudem müssen wir die Eliten verändern. Das Gewaltproblem ist vor allem ein politisches und ökonomisches Problem. Wenn es eine so extreme ökonomische Ungleichheit gibt und die Eliten ökonomisch so dominant sind, gibt es keine andere Lösung. Das gesamte wirtschaftliche System muss in Frage gestellt werden.
Der zurückgetretene Gouverneur Guerreros sowie der festgenommene Bürgermeister Igualas gehören der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) an. Noch bei den Wahlen 2012 galt die PRD vielen Linken durchaus als Partei, die Mexiko verändern könnte. Ist Mexiko überhaupt über Parteien reformierbar?
Das muss man weiterhin versuchen. Wir glauben schon noch an einen institutionellen Weg, aber sicherlich nicht mehr mit der PRD. Der große Sieg der PRI ist ja, dass sie sich der PRD wieder bemächtigt hat (die Vorgängerorganisation der PRD hatte sich 1988 von der PRI abgespalten; Anm. d. Red). Es gibt Alternativen, bei den sozialen Bewegungen, aber auch bei den Parteien – MORENA (Partei der Nationalen Erneuerung, die sich 2012 von der PRD abgespalten hat; Anm. d. Red.) ist momentan eine Möglichkeit, natürlich nicht ohne Fehler. Es gibt keinen Weg außer dem demokratischen. Er darf allerdings kein rein parteidemokratischer sein, sondern muss in der Koalition von sozialen Bewegungen und linken Parteien gegangen werden.
In Mexiko wird derzeit über die Notwendigkeit von parteifernen Institutionen diskutiert, die die Einhaltung demokratischer Regeln durch staatliche Stellen überwachen sollen. Diesen Versuch gab es ja bereits in den 90er Jahren mit der Reformierung des Bundeswahlinstituts IFE, das heute beim Großteil der Bevölkerung diskreditiert ist. Was muss dieses Mal anders laufen?
Da gehe ich mit Poulantzas (Nicos Poulantzas, griechisch-französischer Philosoph und politischer Soziologe, Anm. d. Red.) und sehe den Staat als Verdichtung von widerstreitenden Kräften. Wir – die Bürger – müssen die eigentlich autonomen Institutionen des Staates zurückgewinnen, das INE (das IFE wurde 2014 umbenannt; Anm. d. Red.), die Nationale Menschenrechtskommission, die Schulen und Universitäten. Sie gehören uns, der Staat gehört uns. Es ist ein Kampf, den wir außerhalb, aber eben auch innerhalb der staatlichen Institutionen führen müssen. Dazu gibt es keine Alternative. Wir müssen jeden Zentimeter in den Institutionen zurückerobern, auch in den Parteien, dem INE, dem Obersten Gericht und dem Parlament. Es reicht nicht, sich regional zu beschränken, wie die Autodefensas, verschiedene Kollektive oder die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung; Anm. d. Red.) das machen. Mexiko muss von Grund auf neu aufgebaut werden.
Die derzeitigen Massenproteste in Mexiko haben einen sehr heterogenen Charakter. Ist für dich schon ein gemeinsames politisches Projekt erkennbar?
Wir glauben nicht an gemeinsame Projekte, unseres soll ein klar linkes sein. Bei aller Offenheit gegen andere Gruppen darf das nicht in Frage stehen. Die neue soziale Bewegung muss eine klare Vorstellung davon haben, was in Mexiko falsch läuft und was konkret zu ändern ist. Das war der große Fehler der Linken Anfang 2000: Zu glauben, mit einer neuen Partei an der Regierung gebe es einen Wandel zum Besseren. Dabei hat Vicente Fox (Präsident 2000-2006; Anm. d. Red.) die Situation sogar noch schlimmer gemacht. Wir dürfen nicht Koalitionen aller Art eingehen, sondern nur solche, die das wirtschaftliche und politische System in Frage stellen. Es ist zu wenig zu sagen, ich bin für Frieden und gegen Gewalt. Sonst gibt es vielleicht ein paar kleine Korrekturen, aber das reicht nicht für ein Land wie Mexiko.
Unterschätztes Risiko
Am 11. Oktober 2014 rief die Organisation Global Water Watch zu einem „globalen Frackdown“ auf. An diesem Tag sandten Organisationen der Zivilgesellschaft aus der ganzen Welt sowie Gemeinden, die von der umstrittenen Gasförderung betroffen sind, eine Nachricht an ihre Regierungen: Sie forderten den Ausbau erneuerbarer Energien anstelle der Förderung fossiler Ressourcenextraktion wie dem Fracking. In Mexiko beteiligte sich die Allianz gegen das Fracking, einem Bündnis von inzwischen über 50 Umweltorganisationen, an der Aktion. Sie nutzte den Anlass, um während der internationalen Pressekonferenz, auf die Konsequenzen und Risiken aufmerksam zu machen. Die Methode des Frackings wird insbesondere in Argentinien, aber seit einigen Jahren auch in anderen Ländern Südamerikas und in Mexiko erprobt, mit dem Ziel, diese Technologie weiter auszubauen. Und das, obwohl zivilgesellschaftliche Akteur_innen seit Jahren auf die mit dem Fracking verbundenen Risiken aufmerksam machen.
Fracking ist eine Methode, um Gas aus dem Erdreich zu extrahieren. Die größten Vorkommen sind in Schiefergestein eingeschlossen. Um dieses Gas zu extrahieren, werden drei bis fünf Kilometer tiefe Löcher in das Erdreich gebohrt. Sobald die Erdschicht erreicht wird, in der man die Gasvorkommen vermutet, werden bis zu zwanzig horizontale Bohrungen durchgeführt. Damit das Gas entweichen kann, wird das Gestein durch eine Mischung aus Wasser, Chemikalien und Quarz in tausende Stückchen gesprengt. Die Sprengungen bezeichnet man als „Hydraulic Fracturing“. In den USA hat der Abbau von sogenanntem unkonventionellen Erdgas bereits Anfang 2000 in großem Stil begonnen, was einen Boom nach sich zog. Aroa de la Fuente, Mitarbeiterin der Organisation Fundar und Mitglied der mexikanischen Allianz gegen das Fracking, wies in einem Gespräch mit den LN auf die Gefahren und die Absurdität dieser Technologie hin.
Eines der größten Probleme ist hierbei die Wassernutzung und -verschmutzung. Laut de la Fuente benötigt eine Bohrung zwischen 9 und 29 Millionen Liter Wasser. Dieses Wasser kann nach seiner Nutzung nicht mehr in den natürlich Kreislauf zurück gelangen, da es aufgrund seiner Mischung mit den teils radioaktiven Chemikalien nicht mehr gereinigt werden kann. Viele Menschen in Lateinamerika haben nur schwer Zugang zu sauberem Wasser. Im Norden Mexikos, wo die ersten Explorationen für zukünftige Fracking-Projekte begonnen haben, ist das Wasser knapp. Während der Pressekonferenz wies Juan Alberto Hernández, ebenfalls Mitglied der Allianz gegen das Fracking, darauf hin, dass die Regierung in den Bundesstaaten Nuevo León und Coahuila im Jahr 2011 ein Programm verabschiedet hat, welches der nationalen Wasserkommission die Möglichkeit einräumt, die Rechte von Anwohner_innen auf Wasservorkommen in bestimmten Territorien zu kaufen. Die Menschen, die in dieses Programm eintreten, erhalten pro Kubikmeter 3 Pesos. Sie beklagen sich jedoch darüber, dass die Wasserknappheit sich verschärft hat und ihnen auch nicht der versprochene Preis von 3 Pesos pro Kubikmeter gezahlt wird. Die Allianz geht davon aus, dass dieses Programm das Ziel hat, neue Konzessionen für Frackingprojekte zu vergeben.
Die Unmengen von Wasser, die bei der Bohrung benötigt werden, bleiben nicht vollkommen im Boden, sondern werden in offene Becken neben den Bohrtürmen geleitet. Durch die Kondensierung gelangen die Chemikalien direkt in die Atmosphäre. In manchen Fällen wird das Wasser von Klärwerken aufgenommen, die jedoch, so de la Fuente, nicht im Geringsten ausgerüstet sind, um das Wasser zu filtern und zu säubern. Eine weitere Möglichkeit ist, dass das Wasser an anderen Orten in den Boden injiziert wird, was aufgrund der chemischen Zusammensetzung und des starken Drucks zu Erdbeben führen kann, wie es in Oklahoma im Jahr 2011 der Fall war.
Über die genaue Zusammensetzung der beim Fracking verwendeten Chemikalien gibt die Industrie nur sehr zögernd Auskunft. Studien aus den USA zeigen, dass 75 Prozent der chemischen Stoffe, die bei der Perforierung der Erdschichten genutzt werden, Entzündungen auf Haut, Augen, dem Atmungs- sowie dem Magen-Darmsystem auslösen können. Des Weiteren konnten Krebserkrankungen, Unfruchtbarkeit und Störungen des Immunsystems festgestellt werden. Nicht nur die Arbeiter_innen, sondern auch die anliegenden Gemeinden sind dementsprechend hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt.
De la Fuente und die Expert_innen der Pressekonferenz machen in diesem Zusammenhang auf die niedrige Rentabilität der Bohrungen aufmerksam: „Es hat sich gezeigt, dass ein Bohrloch im Jahr zwischen 29 und 52 Prozent an Rentabilität verliert. Nach drei Jahren neigt sich die Produktion dem Ende zu und es müssen neue Bohrungen vorgenommen werden. Es gibt Regionen in den USA, in denen tausende von Bohrungen vorgenommen werden, was einen massiven Wasserverbrauch bedeutet“, führt de la Fuente aus. Je nach Bohrung wird neben dem Wasser auch viel Energie aufgewendet, was sich letzten Endes aufgrund der geringen Energiegewinnung während der Bohrungen jedoch kaum rentiert.
Schließlich, da sind sich die Experten sicher, handelt es sich bei jeder Bohrung um ein Experiment: „Ungefähr 5 Prozent der Bohrlöcher weisen Risse in ihrer Zementierung auf. Bei der Injektion des Wassers und der Chemikalien bricht die Zementwand auseinander und die Flüssigkeit gelangt in die Erdschichten. Dies kann man technisch nicht lösen. Man weiß nie, was bei der Frakturierung passiert und welche Auswirkungen sie kurz- oder langfristig hat. Krankheiten durch verschmutztes Wasser treten meist erst später auf, wenn das Unternehmen in der Regel schon abgezogen ist“, erklärt Eduardo D‘Elia, ehemaliger Ölarbeiter aus Argentinien während der Pressekonferenz.
Trotz der zahlreichen Risiken wird das Fracking offiziell seit 2010 auch in Mexiko praktiziert und soll in Zukunft noch weiter ausgebaut werden. Das Land ist stark von seinen Ölvorkommen abhängig. Mit dem Fracking von Gasvorkommen soll, so die Regierung, eine alternative Ressource zum Öl gefördert werden, um das Energieangebot zu diversifizieren und die Abhängigkeit zu reduzieren. Ein Rückgang der Ölförderung durch das nationale Unternehmen Pemex ist jedoch bislang nicht zu beobachten.
Die Regierung legitimiert die Fracking-Projekte zudem mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze. „Dabei handelt es sich jedoch kaum um die Förderung des lokalen Arbeitsmarktes, da die Unternehmen mit ihren eigenen Arbeitern anreisen, des Weiteren sind diese großen Risiken ausgesetzt. Die Umweltfolgen tragen eher dazu bei, dass lokale Geschäfte, wie die Landwirtschaft, eingehen“, so de la Fuente.
Als Pro-Fracking-Argument wird häufig auch angeführt, dass die Methode klimafreundlich sei, da anstelle von Öl nun Gas als Kraftstoff genutzt werde. Doch obwohl Fracking eine Alternative zur konventionellen Ressourcenförderung darstellt, ist es weit davon entfernt, eine nachhaltige Methode darzustellen. Fracking trage, so de la Fuente, sogar viel mehr zu der Klimaerwärmung bei als die konventionelle Ressourcenextraktion. Laut Studien der Universität Cornell gelangen 8 Prozent des Gases bei einer Bohrung direkt in die Atmosphäre. Es handelt sich dabei um Methangase, welche die Klimaerwärmung um 25 Prozent mehr steigere als es bei Kohlenstoffdioxid der Fall ist. „Dementsprechend ist es absurd, von einer langfristigen Energielösung auszugehen. Das Fracking als neue Methode, um eine Energiesouveränität langfristig zu erreichen, lockt lediglich die Unternehmen an und lässt neue Investitionsblasen auf dem Finanzmarkt entstehen“, so de la Fuente.
Finanzielle Ressourcen, die eigentlich in den Ausbau und die Entwicklung „echter“ erneuerbarer Energien, wie Wind- oder Solarenergie, fließen könnten, werden lieber in nicht rentable und riskante Projekte wie das Fracking investiert. Die Energiereform, die Mitte 2014 in Mexiko verabschiedet wurde, unterstützt diese Entwicklung. Bis jetzt finden offizielle explorative Projekte in den vier nördlichen Bundesstaaten Coahuila, Nuevo León, Chihuahua und Tamaulipas und auch in den südlicher gelegenen Staaten Puebla und Veracruz statt. Dabei dringen die Firmen auch in indigenes Territorium ein. Mit der neuen Energiereform ist dies jedoch legal möglich, da Energiegewinnung als eine Aktivität „öffentlicher Ordnung“ und allgemeine Priorität angesehen wird. So werden die Bewohner_innen dazu gezwungen, ihr Territorium temporär für eine Exploration an die Unternehmen zu vermieten. Sobald die Anwohner_innen Anspruch auf Konsultation oder Partizipation in dem Entscheidungsprozess erheben, wird dies als Störung der öffentlichen Ordnung angesehen und als Delikt eingestuft.
Während der Debatten um dieses Reformpaket hat sich die mexikanische Allianz gegen das Fracking gegründet. Ziel war zunächst, die Politiker_innen auf die Auswirkungen aufmerksam zu machen. „Wir haben gemeinsam einen Gesetzesentwurf für ein Verbot des Frackings verfasst und im April 2014 im Senat und Abgeordnetenhaus präsentiert. Wir wussten, dass dieser Entwurf kaum Chancen hatte, durchzukommen, jedoch haben wir es geschafft, mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen und die Diskussion anzuregen“, so de la Fuente. Inzwischen konzentriert sich die Allianz verstärkt auf die Problematiken auf lokaler Ebene und versucht, die betroffenen Gemeinden aufzuklären und ihnen Instrumente an die Hand zu geben, anhand derer sie sich organisieren und ihr Territorium verteidigen können. So haben die Bewohner_innen verschiedener Gemeinden der argentinischen Provinzen Buenos Aires und Patagonien erreicht, das Fracking in ihrem Territorium zu verbieten. Ein Beispiel solcherart in Mexiko stellt die Initiative „Chihuahua vs. Fracking“ dar, die gegen das Fracking in ihrem Territorium vorgeht. Ein Problem dabei ist die Präsenz des organisierten Verbrechens in den Regionen, wo Explorationen stattfinden. Dies erschwert die Arbeit der Allianz und macht einen Widerstand der lokalen Bevölkerung fast unmöglich. Kurze Zeit nach der Verabschiedung des Reformpaketes gründete die Regierung per Dekret und als Teil der nationalen Sicherheitsstrategie die „Gendarmería nacional“, eine spezielle Polizeieinheit, welche die territoriale Kontrolle und die Souveränität des mexikanischen Staates garantieren soll. Im Kontext der Energiereform soll diese Einheit auch die für die Sicherheit der Unternehmen und ihrer Projekte im Energiebereich eingesetzt werden. Die Allianz geht jedoch davon aus, dass ihre Einsätze vielmehr eine repressive Maßnahme gegen die lokale Bevölkerung darstellen, die gegen Energieprojekte wie das Fracking aufbegehrt. Die Kriminalisierung von Protesten greift in Mexiko weiterhin um sich.
Korrekturen statt Revolution
Es war eine peinliche Blamage für die Demoskop_innen in Uruguay. Wiederholt hatten sie eine Niederlage des Linksbündnisses Frente Amplio („Breite Front“) und vier Prozentpunkte Vorsprung für die beiden konservativen Traditionsparteien der Blancos und Colorados bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober vorausgesagt. Es kam genau umgekehrt: 47,8 Prozent für die Frente Amplio, 30,9 Prozent für die Blancos, 12,9 Prozent für die Colorados.
Nicht nur in diesem Fall irrten die Umfrageinstitute. Schon als eine Mehrheit der Blanco-Partei den 41-jährigen Luis Lacalle Pou im Juni überraschend zum Präsidentschaftskandidaten wählten, wollten zahlreiche Umfragen glauben machen, der junge Senkrechtstarter habe vor allem in der jüngeren Generation ein Stein im Brett. Der 74-jährige Tabaré Vazquez erkor daraufhin den 52-jährigen Raúl Sendic zu seinem Vize. Der Sohn des gleichnamigen legendären Gründers der Stadtguerilla Tupamaros hat längst allen revolutionären Ideen abgeschworen. Doch entgegen den Politmythen von Analyst_innen und Demoskop_innen schnitt die Frente mit 58,8 Prozent bei den 18- bis 30-jährigen noch besser ab als im Gesamtergebnis. In der Hauptstadt Montevideo zog das Linksbündnis gar 71 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler_innen an. Für die Fehlprognosen der Umfrageinstitute könnte die veraltete Methodik, mit der einige arbeiten, verantwortlich sein. Oder – wie nicht wenige vermuten – der Versuch, „gezielt“ Stimmung und Wahlen zu beeinflussen.
Lange Gesichter waren folglich bei den beiden rechten Traditionsparteien zu sehen, blieben sie doch bei den jüngeren Wähler_innen hinter dem Gesamtergebnis ihrer jeweiligen Parteien zurück. Für den modern, dynamisch und liberal auftretenden Lacalle Pou stimmten nur schlappe 27,2 Prozent der jungen Wähler_innen! Mit einem Novum können die Blancos allerdings aufwarten: Ein evangelikaler Pastor zieht für sie ins Abgeordnetenhaus ein.
Dem Ex-Präsidenten (2005-2010) und Präsidentschaftskandidaten der Frente, Tabaré Vázquez dürfte der Sieg in der Stichwahl am 30. November gegen den enttäuschenden Lacalle Pou kaum zu nehmen sein. Da hilft auch die Unterstützung durch Pedro Bordaberry, den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen Colorado-Partei, nicht mehr. Bordaberry ist extrem geschwächt, denn er hat der Traditionspartei das zweitschlechteste Ergebnis in ihrer langen Geschichte beschert. Versteinert wirkte das Gesicht Bordaberrys in der Wahlnacht aber nicht nur, weil die Wähler_innen ihm und seiner Partei eine schallende Ohrfeige verpassten, sondern auch, weil er das von ihm vorangetriebene Plebiszit zur Senkung der Strafmündigkeit verloren hatte.
Wiederum entgegen den Umfragen der Demoskopen! Damit die Bevölkerung „in Frieden leben“ könne, wollte Bordaberry die Strafmündigkeit von 18 auf 16 Jahre senken, das heißt junge Straftäter_innen nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilen lassen. Für Mord sollten sie beispielsweise 30 Jahre statt wie bisher fünf Jahre hinter Gittern verschwinden. Gewaltverbrechen sind tatsächlich angestiegen. Doch 94 Prozent aller Delikte gehen auf das Konto von Erwachsenen.
Die Colorado-Partei hat wie andere Rechte und Reaktionäre in Südamerika „Öffentliche Sicherheit“ als zentrales Thema für sich gepachtet. Sie schüren ein Klima der Angst. Repression und weniger Rehabilitation ist zumeist ihre Antwort.
Mehr Sicherheit gebe es vor allem durch verbesserte Lebensbedingungen, hielt Tabaré Vázquez entgegen. In den bald zehn Jahren von Frente-Regierungen sind umfangreiche Sozialprogramme aufgelegt worden. Das zahlte sich aus: In ärmeren Vierteln glänzte das Bündnis mit teilweise hohen Stimmengewinnen. Unbestritten ist, dass die Armut deutlich gesenkt wurde. Offiziell von 34 auf 11 Prozent. Und das sei „gut so“, meint Gustavo Melazzi, Mitbegründer des Netzes linker Wirtschaftswissenschaftler_innen. Aber es handele sich „letztlich um Assistenzialismus“. Gefördert werden müsste eine industrielle Entwicklung, „die Qualitätsjobs schafft, mit entsprechenden Löhnen.“
Uruguay brauche deshalb Investitionen, betont immer wieder Danilo Astori, Wirtschaftsminister in der ersten Frente-Regierung und erneut heißer Kandidat auf dieses Amt: Die entsprechenden Investitionen könnten allerdings nur aus dem Ausland kommen, im eigenen Land gebe es nicht genügend Kapital. Geködert werden Auslandsinvestitionen mit großzügigen Subventionen, Steuerbefreiungen, Zollfreizonen und Investitionsschutzabkommen. Auch Melazzi lehnt Auslandskapital keineswegs ab. Es sollte aber „in Wirtschaftszweige investiert werden, an denen Uruguay interessiert ist, also im Rahmen eines nationalen Entwicklungsprogramms. Aber das existiert leider nicht.“
Früher verbanden Wähler_innen der linken Frente Amplio das Versprechen von cambio, Wandel, mit tiefgreifenden Wirtschaftsreformen. Nun ist stattdessen Kontinuität angesagt. Uruguay wird von Ratingagenturen und neoliberal gestimmten Medien mit Lob überhäuft. Sie attestieren dem kleinen Land „politische Reife“. Es habe, so Moodys, „Willen als auch Fähigkeit besessen, die konservative Wirtschaftspolitik beizubehalten“. Die Frente sei, so Melazzi, in dieser Frage zu einem unausgesprochenen Konsens mit der Rechten gelangt. Sie scheint sich mit sozialdemokratischen Korrekturen am Kapitalismus abgefunden zu haben – ohne sozialistische Zukunft vor Augen.
Das Linksbündnis hat allerdings nie Sozialismus zum Ziel erklärt. Wohl auch, weil sich in der Frente Amplio sehr unterschiedliche politische Kräfte zusammengefunden haben, von Sozialliberalen, christdemokratisch und sozialdemokratisch geprägten Reformer_innen über Kommunist_innen bis hin zur MPP, der Partei der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros. Aber die Parteienkoalition habe sich ursprünglich „für gewichtige Strukturreformen in der Wirtschaft ausgesprochen“, erinnert sich Melazzi, der am ersten Regierungsprogramm mitgewirkt hat. So beispielsweise „für einen Staat, der in die Wirtschaft eingreift.“ Anstatt poruzierende Industriekomplexe zu schaffen, seien aber Investor_innen gefördert worden, die vor allem mit Rohstoffen – wie beispielsweise Soja, Zellulose und Mineralien – Dollar im Ausland verdienen. „Damit verfestigt sich unsere Rolle als Rohstoffexporteur“, sagt Melazzi. Das wird sich auch unter Tabaré Vázquez nicht ändern. Die Umwelt spielt bei der Ausbeutung der Rohstoffe dagegen eine untergeordnete Rolle.
Die Verteidiger_innen der bisherigen Politik verweisen auf ununterbrochenes Wachstum (zeitweise beachtliche 5,8 Prozent), steigende Lebensqualität, auch auf dem Lande, und eine niedrige Arbeitslosigkeit, die um sechs Prozent pendelt. Doch rund 40 Prozent der Arbeiter_innen verdienen weniger als 14.000 Pesos (etwa 470 Euro) monatlich – in einem Land, das zu den teuersten Ländern in Lateinamerika zählt.
Was passiert, wenn das auf Wachstum basierende Modell Risse bekommt? Ohne Wachstum „könne man auch nichts verteilen“, ist der wohl künftige Wirtschaftsminister Astori überzeugt. Wie dann die von allen Parteien geforderte Reform des teilweise desolaten Bildungssystems finanzieren? Wie den jährlichen milliardenschweren Schuldendienst (4,2 Prozent des Bruttosozialprodukts) leisten ohne soziale Abstriche? Wie die weitgehend verschwiegene Ungleichheit mildern? Eine Untersuchung von uruguayischen Wirtschaftswissenschaftler_innen hat jüngst ergeben, dass sich Uruguays „Elite“ (ein Prozent der Bevölkerung) 14 Prozent der Gesamteinkommen einsteckt. Mehr als in Großbritannien (12,9 Prozent) und in der Schweiz (10,5 Prozent)! Umverteilen? Höhere oder neue Steuern, beispielsweise auf Supergewinne im Agrobusiness, lehnt Marktfundamentalist Astori ab. José „Pepe“ Mujica möchte zumindest darüber nachdenken.
Das letzte Wort hat sein künftiger Nachfolger. Tabaré Vázquez sei ein Mann, urteilt der angesehene Politologe Oscar Botinelli, der „auf Hierarchie und Unterordnung“ baue. Reibungsloses Regieren ist ihm allerdings nicht garantiert. Nicht etwa weil die linke Unidad Popular überraschend mit einem Abgeordneten ins Parlament einzieht. In ihr haben vor allem enttäuschte Frente-Wähler_innen eine neue politische Heimat gefunden, die die frühere antikapitalistische und antiimperialistische Fahne der Frente Amplio hochhalten. Widersprüche sind vielmehr von José „Pepe“ Mujica, dem bisherigen Präsidenten und künftigen Senator, zu erwarten. Seine MPP ist wieder als stärkste Gruppierung aus den Wahlen hervorgegangen, während Astoris Frente Liber Seregni erheblich Federn lassen musste. Die ersten verbalen Scharmützel zwischen Tabaré Vázquez und dem 79-jährigen Mujica gab es bereits vor den Wahlen. Zum Beispiel um das Marihuana-Gesetz, das Anbau, Verkauf und Konsum von Cannabis legalisiert.
Zündstoff bietet auch die Außenpolitik. Mujica trommelte für die Integration, für Brasiliens Führungsrolle auf dem Subkontinent, herzte den verstorbenen Präsidenten Venezuelas und Freund Hugo Chávez. Gleichzeitig tritt er vehement für eine Vollmitgliedschaft Uruguays in der Pazifik-Allianz, einem Kind Washingtons, ein. Alle Mitglieder – Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko – haben Freihandelsverträge mit den USA abgeschlossen. Die Allianz ist letztlich gegen die Vormachtstellung Brasiliens und den Einfluss Chinas auf dem Subkontinent gerichtet. Mujica schwant, dass Uruguay vor einem Dilemma steht, über das „aber keiner spricht“. Da würden Verträge zwischen Staaten abgeschlossen, um China auszubooten, aber „keiner sagt das“. China ist jedoch der wichtigste Handelspartner des kleinen Landes am Río de la Plata. Können wir etwa auf den Handel mit China verzichten? Sein wahrscheinlicher Nachfolger schielt eher nach Norden. Tabaré Vázquez überraschte vor einigen Monaten die frentistas mit einem Bekenntnis: Als es während seiner Amtszeit zu heftigen Unstimmigkeiten mit Argentinien wegen eines Zellulosewerkes am Grenzfluss kam, habe er über einen Hilferuf an die USA nachgedacht. Über bewaffneten Beistand gegen den Nachbarn. Starker Tobak für eingefleischte Antiimperialist_innen, die allerdings immer seltener in der Frente ihre Stimme erheben.
Ausgleich statt Radikalität
Der 12. Oktober könnte ein Sieg für die Geschichtsbücher gewesen sein. Sollte Evo Morales seine nunmehr dritte Amtszeit zu Ende bringen, wird er 14 Jahre an der Spitze des bolivianischen Staates gestanden haben, länger als jeder Präsident vor ihm. Dazu passend plant Morales ein neues Gebäude für die Inszenierung seiner Macht. Das auf 29 Stockwerke angelegte „Volkshaus“ soll den aktuellen Regierungspalast ersetzen. Dieser wird sich dann in ein „Museum des kolonialen Staats“ verwandeln, ein Beispiel für die üble Vergangenheit, für das alte Bolivien. Die Geschichte des Landes und seines Volkes wird unter der Regierung von Morales neu geschrieben.
Laut der offiziellen Interpretation der historischen Verhältnisse hat Bolivien seit dem ersten Wahlsieg der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Jahr 2006 einen Neuanfang erlebt. Der koloniale Staat liegt in der Vergangenheit. Der „plurinationale“ Staat hat sich durchgesetzt und zwar mit einer Verfassung, die zum ersten Mal seit der spanischen Eroberung die indigenen Völker als gleichberechtigte Subjekte anerkennt und in politische Entscheidungsprozesse mit einbezieht. Morales Alleinstellungsmerkmal in der Geschichte der politischen Repräsentation beruht nicht nur auf seiner ethnischen Identität, sondern auch auf der Tatsache, dass er als erster Präsident aus der Arbeiterklasse kommt.
1982 gelang der bolivianischen Linken erstmals ein Sieg an den Urnen. Begleitet von einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen des 20.Jahrhunderts endete diese Erfahrung schon nach drei Jahren. Damals kontrollierte die Kommunistische Partei drei Ministerien, trotz des Widerstands der amerikanischen Botschaft. Im Kontext des Kalten Krieges war es das Ziel der bolivianischen Linken, das Militär in die Kasernen zurück zu drängen und auf diese Weise die demokratische Grundordnung des Landes wieder herzustellen. Damals war keine Rede vom Sozialismus.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die bolivianische Linke an der Regierungsmacht etabliert. Evo Morales wurde mit einer Wahlbeteiligung von 89 Prozent zum zweiten Mal wiedergewählt. Laut offiziellen Angaben konnte sich seine Partei MAS mit 61 Prozent der Stimmen auch in der kommenden Legislaturperiode 2015 bis 2020 eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses sichern. Die Regierung kann weiterhin jedes ihrer Vorhaben mit den eigenen Stimmen verabschieden. Die beiden stärksten Oppositionsparteien schnitten hingegen wesentlich schlechter ab, die Demokratische Union (UD) erhielt 24 Prozent und die Christdemokraten (PDC) 9 Prozent der Stimmen.
Bereits in ihrem Parteinamen propagiert die Regierungspartei MAS den Weg zum Sozialismus.Der Vizepräsident des Landes, Álvaro García Linera, ist ein ehemaliger Guerrillero, der sich selbst als Kommunist versteht. Porträts von Che Guevara säumen die Wände des Regierungsgebäudes und die Beziehungen zu Kuba und Venezuela sind enger denn je. Ist Boliviens Regierung seit 2006 auf dem Weg, ein sozialistisches Modell zu implementieren?
Nach Meinung der aktuellen Zentren des Kapitalismus ist die klare Antwort ein Nein. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds, ehemalige Erzfeinde Morales‘, haben ihre Sympathie für das bisherige bolivianische Wachstumsmodell gezeigt. Die konservativen Meinungszirkel der USA, vertreten durch die New York Times oder das Wall Street Journal, applaudieren der Politik Morales. Sie sehen durch dessen Form des Sozialismus keine kapitalistischen Interessen gefährdet.
In Bolivien fällt die Antwort auf diese Frage jedoch wesentlich komplexer aus. An den Ergebnissen der letzten Wahl wird die eindeutige Unterstützung der Bevölkerung deutlich, die MAS gewann acht der neun großen Wahlbezirke des Landes. Ihre Wähler_innen konstituieren sich jedoch nicht nur aus den prekarisierten oder indigenen Teilen der Bevölkerung, sondern kommen auch aus den konservativen Regionen des Flachlandes wie Santa Cruz oder Tarija. Die dort ansässigen Großunternehmer_innen machen Gewinne und stabilisieren so die Macht der Regierung, die dabei ist, ein Machtmonopol in der Politik zu etablieren. Vor fünf Jahren war die Opposition der Meinung, die Regierung würde eine kommunistische Revolution in Gang bringen. Heute besteht die Erkenntnis, dass dies in keiner Weise die Absicht ist.
Tatsache ist, dass die Bewegung zum Sozialismus ihren eigenen Weg zur Modernisierung gefunden hat. Anfangs versprach sie, Großgrundbesitz zu enteignen und an die armen Landarbeiter_innen zu verteilen. Auch die Marktreformen der neunziger Jahre sollten rückgängig gemacht werden. Viele fürchteten die Radikalisierung des Klassenkampfes in einem Land, in dessen Geschichte die Gegensätze zwischen Arm und Reich tief verwurzelt sind. Um den damals radikalen Protest abzuschmälern, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte , entschloss sich die Regierung dazu, die Armut zu reduzieren, ohne die Vermögen und Privilegien der Reichen anzurühren. Eine umfangreiche Sozialpolitik hat in den letzten Jahren die Revolution ersetzt. Das hat klare Folgen für die Wahlergebnisse gehabt.
Die zweite große Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, ob die MAS ihre Ideale verraten hat. Hat sie sich an die Machtverhältnisse in der Welt einfach angepasst? Hat sie das Ziel des Sozialismus gegen Stabilität eingetauscht?
Eine der möglichen Antworten ist, dass der durch die positive wirtschaftliche Lage bedingte finanzielle Handlungsspielraum von der Regierung sinnvoll genutzt werden konnte, um soziale Spannungen abzuschwächen. Die neue Mittelschicht, aus der Verteilungspolitik des letzten Jahrzehntes entstanden, wird zunehmend konservativ. In einigen Ländern des Kontinents mit Linksregierung, wie Brasilien, hat sich die neue Mittelschicht von der Regierung distanziert. In Bolivien ist das Gegenteil geschehen, die Ausrichtung der Regierung hat sich geändert. Geschickt hat die bolivianische Linke, ähnlich wie in Uruguay, den veränderten gesellschaftlichen Grundkonsens begleitet und ist mit einem Teil der Bevölkerung zur politischen Mitte gewechselt.
Die bolivianische Gesellschaft wünscht sich den Sozialismus nicht mehr und und die Regierunghat dies rechtzeitig erkannt. Basierend auf dieser Grundstimmung in der Bevölkerung hat sie dann die Wahlkampagne initiiert. Keine Veränderungen mehr, das war die Parole während der aktuellen Wahlperiode. Eine verblüffende Entwicklung, die nur in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie möglich ist.
Das Geld des Piloten
Wäre das exotische Tier des früheren Drogenbosses nicht gewesen, Antonio Yammara hätte vielleicht gar nicht zu erzählen begonnen. Doch die Pressemeldungen über ein im Jahr 2009 aus dem einst pompösen Privatzoo Pablo Escobars entlaufendes Nilpferd, lassen in dem Juraprofessor Erinnerungen an die Geschichte von Ricardo Laverde hochkommen. Kennengelernt hatte er diesen in einem Billiardsalon Mitte der 1990er Jahre. Viel mehr als dass er Pilot ist, eine Frau in den USA hat und gerade aus dem Gefängnis kommt, erfährt Yammara nicht. Als die beiden zusammen durch das Candelaria-Viertel in Bogotá schlendern, wird Laverde erschossen. Im Kolumbien sind solche Tode zu der Zeit nicht außergewöhnlich. Am selben Abend werden „sechzehn weitere Menschen auf verschiedene Weise in verschiedenen Vierteln der Stadt ermordet“. Yammara selbst wird schwer verletzt. Seine Genesung kommt nur langsam voran, der Vorfall wirft ihn aus der Bahn. Er versteht nicht, warum Laverde so enden musste und was er selbst damit zu tun hat. „Etwas wird er getan haben“, merkt Yammaras Vater lakonisch an.
Juan Gabriel Vásquez‘ preisgekrönter Roman Das Geräusch der Dinge beim Fallen führt direkt in das Kolumbien der Drogengewalt, in dem Pablo Escobar von seiner legendären Ranch Hacienda Nápoles am Río Magdalena aus den internationalen Kokainhandel kontrollierte. Wie in seinen beiden ersten Romanen, die von jüdischer Emigration und dem Bau des Panamakanals handelten, widmet sich der 1973 geborene Autor erneut der kolumbianischen Geschichte.
Zweieinhalb Jahre nach dem Mord kehrt Yammara an den Ort des Attents zurück und beschließt herauszufinden, was Laverde getan hat. Dessen frühere Vermieterin überlässt dem Juraprofessor eine verstörende Kassette. Darauf zu hören ist die Blackbox-Aufzeichnung des American Airlines-Fluges 965, der mit Laverdes Frau Elena Fritts an Bord kurz vor Cali am Berg zerschellt ist. Die Aufnahme endet mit einem abgebrochenen Geräusch, dem „Geräusch der Dinge, die aus dieser Höhe fallen“. Yammara macht sich auf die Suche und stellt Kontakt zu Laverdes Tochter Maya Fritts her, die mittlerweile im alten Familienhaus am Rio Magdalena wohnt. Dort rekonstruiert er mit ihrer Hilfe Laverdes und Fritts‘ Geschichte.
Gabriel Vásquez beleuchtet den Drogenhandel aus individueller, zwischenmenschlicher Perspektive, nicht von der großen politischen Ebene oder den Gewaltexzessen der Drogenbosse her. Meisterhaft lässt der Autor seinen Erzähler Yammara berichten,wie Fritts mit dem US-amerikanischen Peace Corps nach Kolumbien kommt und im Haus der Familie Laverde wohnt. Wie sie sich ineinander verlieben und Laverde die ständigen Geldsorgen mit ersten Marihuana-Geschäften löst. Wie er langsam und ohne es zu merken in einen Strudel aus Drogen und Korruption hineingezogen wird. Yammara beginnt zu verstehen, was Laverde getan hat und warum. Und doch bleibt vieles im Argen.
Schmierige Geschäfte im Yasuní
„Seit den täglichen Explosionen haben sich die großen Tiere zurückgezogen. Wir können keine Wildschweine mehr jagen. Einzig die Fischerei ist uns geblieben, aber auch diese ist immer weniger ergiebig“, sagt Lautaro Echeverría.** Der Mittsechziger setzt sich bereits seit Jahrzehnten gegen die Erdölförderung im Lebensraum seiner Kichwa-Gemeinde ein. Mit begrenztem Erfolg: Heute sieht er sich mit ersten negativen Konsequenzen der Förderung konfrontiert.
Die Entscheidungsgewalt über die Erdölförderung in Ecuador liegt nicht nur beim Staat. Indigene Gemeinden, die seit Jahrhunderten im Yasuní leben, verfügen über Landrechte, in vielen Gebieten kann ohne ihre Zustimmung kein Öl fließen.
Unbestritten ist, dass die Gemeinde Llanchama der Erdölförderung in 11.000 ihres 27.000 Hektar großen Territoriums Ende Mai zustimmte. Einige Gemeindemitglieder berichten, dass diese Konsultationen manipulativ und einseitig waren. Ende Mai kamen sowohl Vertreter_innen der Regierung als auch von Petroamazonas nach Llanchama, um die Gemeindemitglieder von einer umweltverträglichen Erdölförderung zu überzeugen. „Unser Gemeindevorstand zeigte sich schon bald verhandlungsbereit und als Petroamazonas anbot, jeder Familie 3000 US-Dollar für die Zustimmung zur Förderung zu zahlen, dauerte es nur noch wenige Tage bis es eine Mehrheit für die Erdölförderung in unserem Territorium gab“, sagt Yana Piedra**, die einen kleinen Laden im Dorfzentrum besitzt.
Ende Mai 2014 erhielt Petroamazonas vom ecuadorianischen Umweltministerium die sogenannte Umweltlizenz für die Erdölförderung aus zwei der drei ITT-Feldern – Tiputini und Tambococha – im Yasuní Nationalpark.
Die ITT-Quellen – benannt nach den drei bei Probebohrungen entdeckten Lagerstätten Ishpingo, Tambococha und Tiputini –, wurden bereits in den 1950er Jahren entdeckt, ihre Förderung war jedoch aus technischen und infrastrukturellen Gründen lange Zeit unmöglich. Ecuadors lange Zeit instabile politische Lage mit vielen Regierungswechseln, die langfristige Projekte erschwerte, tat ein Übriges.
Unter dem seit 2007 amtierenden Präsidenten Rafael Correa haben sich die Voraussetzungen geändert. Bis 2013 verfolgte die von der Partei Alianza País gestellte Regierung die Yasuní-ITT-Initiative. Diese sah vor, die rund 850 Millionen Barrel Erdöl der ITT-Quellen im UNESCO-Naturschutzreservat Yasuní zum Schutz der Natur und seiner indigenen Völker unangetastet zu lassen. Der Ausstoß von mindestens 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid sollte so vermieden werden. Die internationale Staatengemeinschaft sollte sich durch Kompensationszahlungen in Höhe von mindestens der Hälfte der erwarteten Erlöse an dieser Initiative beteiligen. Bis August 2013 kam jedoch nur ein kleiner Bruchteil der Gelder zusammen. Präsident Rafael Correa erklärte daher die Yasuní-ITT-Initiative für gescheitert und machte den Weg für die Erdölförderung frei (siehe LN 471/472).
Seit drei Monaten arbeiten 500 bis 1000 Ingenieure täglich an der Erforschung des Gebiets. Mittels seismischer Messungen wird untersucht, wo und in welcher Größe Erdöllagerstätten vorhanden sind. Bei der angewandten Methode der 3D-Seismik werden im Abstand von 50 bis 100 Metern in 20 bis 30 Meter tiefen Bohrlöchern unterirdische Explosionen durchgeführt. Die Auswertung der Schallwellen dieser Explosionen gibt Aufschluss über die Erdölvorkommen.
Diese explorativen Untersuchungen wirken sich negativ auf die sensible Umwelt aus. Bei einem Sparziergang durch ein geschütztes Waldgebiet der Gemeinde Llanchama erklärt Maicu Hurtado**: „Petroamazonas verstößt schon jetzt gegen die Verträge, die wir unterschrieben haben. Die Explosionen, die sie für ihre seismischen Messungen durchführen, bleiben nicht wie versprochen unterirdisch.“
An vielen Bäumen in diesem Gebiet finden sich Naturschutz-Hinweisschilder. „Überall hier könnt ihr 15 bis 30 Meter offene Löcher sehen. Sie klaffen wie tiefe Wunden aus dem Boden. Zum Teil tritt Öl aus. Außerdem haben die Ingenieure Plastikmüll und Kabel hinterlassen, die sie eigentlich beseitigen müssten“, sagt Maicu Hurtado**, der als Touristenführer arbeitet.
Lautaro Echeverría** erzählt, dass es in den ersten Jahren des Jahrtausends in seiner Gemeinde einen klaren Konsens gegen jegliche Erdölförderung gab. Unter der Regierung Lucio Gutiérrez (2003-2005) wurde damals erstmalig über Konzessionen um Tiputini gehandelt. „Bis letztes Jahr haben wir auf die Regierung Correa vertraut und hatten dank der Yasuní-ITT-Initiative Gewissheit über den Erhalt unseres Lebensraums. Doch seit Correa das Ende der Initiative ausrief, gab es eine Spaltung in der Gemeinde“, so Echeverría**.
Angesichts der negativen Umweltfolgen bekommen Gemeindemitglieder, die sich Jahrzehnte gegen die Erdölförderung engagierten, heute wieder Zuspruch. Die Mittsiebzigerin Silvia Vivimos** ist sich sicher: „Wir müssen den Kampf gegen die Zerstörung des Waldes für die nachfolgenden Generationen jetzt wieder aufnehmen. Ich werde es mir nicht verzeihen, wenn wir diesen Kampf verlieren.“
Die Entscheidung, die ITT-Quellen zu fördern, regt auch im Rest des Landes politischen Widerstand. Mitte September trafen sich 60 Vertreter_innen der YASunidos auf einer nationalen Versammlung um neue Strategien gegen die Erdölförderung im Nationalpark Yasuní herauszuarbeiten.
Das zivilgesellschaftliche Bündnis YASunidos hatte sich unmittelbar nach der Aufkündigung der Yasuní-ITT-Initiative gegründet und bis Anfang 2014 Unterschriften für ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen gesammelt. Durch ein positives Bürger_innen-Votum per Referendum hätte die Entscheidung des Präsidenten Correas aufgehoben werden können.
Der nationale Wahlrat (CNE) erklärte jedoch mehr als die Hälfte der knapp 758.000 eingereichten Unterschriften für ungültig und erkannte nur knapp 359.000 an, womit das Mindestsoll von knapp 600.000 Unterschriften nicht erreicht wurde (siehe LN 479). „Wir werden die Menschen, die im ganzen Land direkt vom Rohstoff-Abbau betroffen sind, weiterhin unterstützen. Die gesammelten Unterschriften für das Referendum bestätigen, dass es ein großes Bedürfnis nach Mitentscheidung über den Rohstoff-Abbau im Land gibt. Unsere derzeit wichtigste Idee ist daher, unsere Arbeit in den Provinzen auszubauen und ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen unabhängig von unserer Regierung durchzuführen“, sagt Patricio Chávez, ein Sprecher der YASunidos. „Wir werden weiter für unseren Traum einer Post-Erdölgesellschaft kämpfen“, ergänzt Elena Gálvez, die gerade von der größten Klima-Demonstration aller Zeiten aus den USA zurückgekommen ist. Mitte September versammelten sich in New York rund 300.000 Menschen beim People’s Climate March. Gemeinsam mit zwei weiteren Delegierten der YASunidos setzte sie sich vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte für den Schutz der Unterschriftensammler_innen ein, denen derzeit zum Teil Strafverfolgung droht.
Dass die YASunidos auch auf internationale Unterstützung bauen können, zeigt ihre Nominierung für die holländische Menschenrechtstulpe, eine jährliche mit 100.000 Euro dotierte Auszeichnung des holländischen Außenministeriums für couragierte Initiativen, die sich auf innovative Weise für den Schutz von Menschenrechten einsetzen. Ob der Nominierung die Auszeichnung folgt, stand bis Ende des Redaktionsschlusses noch nicht fest.
** Die Namen wurden auf Wunsch der in Llanchama lebenden Personen geändert.
// Heuchelei an der Grenze
Die einst graue Trennlinie wird hell erstrahlen. Wenn am 9. November dieses Jahres an den Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren erinnert wird, sollen in der deutschen Hauptstadt auf einer Länge von 15 Kilometern tausende leuchtende Ballons Ausmaß und Absurdität der innerdeutschen Grenze sichtbar machen.
Es ist zu begrüßen, dass die Mauer, an der Grenzschützer_innen durch Gewalt und tödliche Schüsse Mitbürger_innen daran hinderten, ihr Land zu verlassen, vor einem Vierteljahrhundert gefallen ist. Die Freude über das Verschwinden einer mörderischen Trennlinie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Zeiten, in denen sich Waren und Dienstleistungen meist so ungehindert wie nie zuvor um den Globus bewegen, die Bedeutung von Grenzen gleichzeitig bedrohlich zugenommen hat: Die Bewegungsfreiheit von Menschen aus dem globalen Süden, die nicht über entsprechende Papiere, Bescheinigungen oder finanzielle Mittel verfügen, endet spätestens an den technisch hochgerüsteten Schutzanlagen der nördlichen Länder.
Die USA etwa versuchen, die über 3.000 Kilometer lange Grenze zu Mexiko mit Hilfe einer tödlichen Zaunkonstruktion, Grenzpolizei, Hunden, Drohnen, Kameras und mehr zu bewachen. Auch die Europäische Union (EU) rüstet seit Jahren unverhohlen nach dem Modell der US-mexikanischen Grenze auf. Drohnen, Nachtsichtgeräte, Vibrationsmesser zur Erkennung von Herzschlägen und Kameras sollen verhindern, dass Flüchtlinge überhaupt bis zu den hohen Zäunen gelangen. Auf deren Spitze prangt Stacheldraht, Drahtrollen mit rasierklingenscharfen Metallspitzen erwarten die Menschen, die beim Versuch hinüberzuklettern, durch die Elastizität der Zäune hinunterfallen.
Für die Einwanderer_innen wiegt die verzweifelte Suche nach einer besseren Zukunft weit mehr als die Abschreckung jeder Grenzanlage in den USA oder in Europa. Seit einigen Jahren steigt die Zahl unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge aus Zentralamerika, die die USA erreichen, rapide an. Gegenüber seinen zentralamerikanischen Amtskollegen machte US-Präsident Barack Obama erst Mitte dieses Jahres deutlich, dass ein Großteil der Kinder wieder abgeschoben wird. Eine humane Lösung ist nicht in Sicht. Die meisten derer, die es schaffen, ohne Papiere in die USA oder die EU einzureisen, sehen sich früher oder später mit der Abschiebung konfrontiert.
Und weiterhin sterben viele Menschen schon beim Versuch, über die Grenze zu gelangen. Die technische Perfektionierung der Grenzen kann sie nicht abhalten: Die Fluchtwege werden nur gefährlicher, die Fluchtversuche dramatischer. Während der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2013 etwa ertranken vor der italienischen Insel Lampedusa über 380 Menschen bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Dieses Unglück ist ein Fanal für die verfehlte Flüchtlingspolitik. Dieses Jahr zahlten schon jetzt mindestens 3.000 Menschen mit ihrem Leben für den Versuch, über das Mittelmeer ins ersehnte Europa zu gelangen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck weisen gerne darauf hin, wie wichtig die entschlossenen, friedlichen Demonstrationen der DDR-Bürger_innen waren, um Deutschland wieder zu vereinen. Dass die Toten an den EU-Außengrenzen Opfer politischer Entscheidungen sind, ignorieren sie hingegen geflissentlich.
So sehr es geboten ist, an den Fall der Berliner Mauer zu erinnern, so sehr muss klar gemacht werden, dass es noch viele Zäune einzureißen gilt. Das massenhafte Sterben an den Grenzen nördlicher Länder ist unerträglich. Die dramatische Situation an den EU-Außengrenzen während der Feierlichkeiten um den 9. November herum auszublenden, ist daher nicht hinnehmbar. Im Gegenteil sollte das Jubiläum des Mauerfalls auch dazu genutzt werden, um auf die tödliche Bedeutung heutiger Grenzen aufmerksam zu machen. Alles andere ist pure Heuchelei.
Das Spiel der Malucos
„Os Mortos, Vicio, TMX, Sustos, Lixomania”. Thiago* zeigt auf das vollgesprühte Hochhaus. Riesige, verschnörkelte Buchstaben zieren die komplette Fassade des Gebäudes. „Die Schriftzüge stehen für einen Namen oder eine Gruppe.“
Thiago ist pixador und nennt sich Poder. Seit fast 20 Jahren sprüht er. „Als Kind haben mich die Schriftzüge fasziniert und ich habe mit pixação angefangen“, erinnert er sich. Mit Freund_innen aus der Nachbarschaft gründete Poder 1997 die Chamas-Crew, eine heute bekannte Sprüher_innengruppe aus dem Norden São Paulos. Immer noch zieht es den heute 30-Jährigen jeden Donnerstagabend ins Zentrum vor die Galeria Olido. Die Rua Dom José de Barros ist bei Tag eine belebte Einkaufspassage. Doch wenn es dunkel wird und die Rollläden der Geschäfte heruntergelassen werden, versammeln sich pixadores aus allen Teilen São Paulos in der engen Gasse im Herzen der Millionenstadt. Der Geruch von Marihuana liegt in der Luft. Aus einer Bar dröhnt laute Rap-Musik. Es wird getrunken und diskutiert. Die meisten Anwesenden sind jung, schwarz und männlich. Gefaltete Blätter, die folhinhas, werden herumgereicht, auf denen die Sprüher_innen unterzeichnen. In der Szene gilt es als Zeichen des Respekts, nach der „Unterschrift“ eines anderen pixadors zu fragen. Der sogenannte „Point“ ist zweifellos der wichtigste Treffpunkt der pixadores in der Stadt.
Pixação entstand Anfang der 1980er Jahre in São Paulo und ist eine spezielle Form des Graffitis beziehungsweise des Taggens (Signaturkürzel der Sprüher_innen, Anm. d. Red.). Als Vorläufer gelten die politischen Slogans, die Gegner_innen der Militärdiktatur an die Wände der brasilianischen Großstädte malten. In Stil, Anordnung und Aussage unterscheidet es sich jedoch von allen verwandten Arten, die man aus Europa, den USA und anderen brasilianischen Städten kennt. „Pixação wurde in den Straßen von São Paulo geboren, diese Art zu malen gibt es nur hier“, sagt Poder. Die einfarbigen, kryptischen Buchstaben bedecken mittlerweile große Teile der Metropole. Man findet kaum noch eine Mauer, Brücke oder ein Gebäude ohne die eigenwilligen Markierungen. Die ersten pixadores waren Heavy-Metal-Fans und eigneten sich die Schriftzüge ihrer Lieblingsbands an. Auch der Einfluss von nordischen Runen ist bis heute sichtbar. „Die Sprache der Barbaren von damals ist die Sprache der Barbaren von heute“, sagt der Fotograf und Szenekenner Choque.
Das Stadtbild mit zu prägen hat seinen Preis. Da die höchsten und gefährlichsten Orte am meisten Anerkennung bringen, setzen sich die pixadores beim Sprühen einem enormen Risiko aus. In waghalsigen Aktionen klettern sie die Fassaden von Hochhäusern hinauf, um in schwindelerregender Höhe ihre Schriftzüge anzubringen. Oft kommt es zu schweren Unfällen. Auffällig viele Rollstuhlfahrer_innen sind am Point anzutreffen. „Die meisten von denen sind beim Sprühen abgestürzt“, erklärt Poder, der selbst mehrere Freunde bei Unfällen verloren hat. Pixação ist damit wohl die einzige Kunstform, bei der die Künstler_innen ihr Leben riskieren. Auch kommt es nicht selten zum Bruch mit der Familie und dem sozialen Umfeld. „Alle sagen, dass ich meine Zukunft aufs Spiel setze und verrückt bin. Sie haben recht, aber ich kann nicht aufhören. Pixação ist eine Sucht“, sagt Poder.
Bei regelrechten Kriegen zwischen verfeindeten Crews ließen zudem in der Vergangenheit viele pixadores ihr Leben. Wie auch beim Graffiti organisieren sich die Sprüher_innen nämlich in Gruppen, den sogenannten grifes oder bondes. In der Regel bestehen diese aus fünf bis zehn Mitgliedern. Die Szene ist nach wie vor männlich dominiert, jedoch beginnen auch immer mehr Frauen mit pixação. Die Gruppenzugehörigkeit und ein territorialer Bezug spiegeln sich in den gesprühten Buchstaben wieder. Meist wird erst das eigene Kürzel gesprüht, gefolgt vom Namen der Gruppe und des Stadtteils.
Poder ist wie die große Mehrheit der pixadores in der Peripherie von São Paulo aufgewachsen. Im Gegensatz zum modernen und wohlhabenden Zentrum fehlt es in den Randgebieten der Stadt an grundlegender Infrastruktur und Bildungsmöglichkeiten. Armut, Gewalt und Chancenlosigkeit bestimmen das Leben vieler Bewohner_innen. Mittlerweile lebt Poder in einem besetzten Haus in der Innenstadt. Das Gebäude wurde von wohnungslosen Familien besetzt, nachdem sie aufgrund der stetig steigenden Mieten ihre Häuser verlassen mussten. Während viele pixação als Vandalismus und Langeweile von Jugendlichen abtun, sehen andere wie der Soziologe Sergio Franco die Bewegung vielmehr als eine Gegenöffentlichkeit von marginalisierten Jugendlichen, die auf eine eigene und unkonventionelle Weise auf ihre alltägliche Ausgrenzung und Diskriminierung reagieren. „Pixação ist die Stimme derer, die keine Stimme haben”, erklärt Franco.
„Für mich ist pixação zu 100 Prozent politisch und war immer eine Form des Protests gegen die Verhältnisse“, sagt Poder. Die pixadores eignen sich bestimmte Punkte der Stadt symbolisch an und verschaffen sich damit Aufmerksamkeit. Mit der brutalen Gestalt der Buchstaben brechen sie bewusst mit ästhetischen Standards. Die Provokation ist gewollt. Die Bewegung lebt von der Ächtung. „Für mich sind das bloß Kriminelle“, sagt Alvaro Santos, der ein kleines Geschäft auf der Rua Helvetia betreibt.
Im Gegensatz zu pixação hat es die Graffiti-Szene in Brasilien geschafft, die gesellschaftliche Abneigung zu überwinden und Einzug in den Mainstream zu halten. São Paulo gilt seit Langem als Welthauptstadt des Graffitis, die bunten Wände der Millionenstadt sind Touristenattraktion. Etliche Graffiti-Maler_innen der Stadt haben den Durchbruch auf dem internationalen Kunstmarkt geschafft. Die Werke der Zwillinge Os Gemeos werden in Kunsthallen von New York bis Tokio gehandelt. „Immer mehr Graffiti-Maler_innen stellen ihre Werke in Galerien aus. „Für die pixadores wäre so was undenkbar“, sagt der Sprüher AmorOdio. Diese suchen bewusst den Bruch mit der Gesellschaft. Mit spektakulären Aktionen gelingt es den pixadores immer wieder Unverständnis und Hass auf sich zu ziehen. Im Jahre 1991 reisten zwei Jugendliche aus São Paulo nach Rio de Janeiro und besprühten die Christusstatue, das heißgeliebte Symbol der Stadt. Mehrmals „überfielen“ Gruppen von pixadores Vernissagen und Galerien und übermalten Kunstwerke. Im Jahre 2010 folgten zwei pixadores der Einladung zur Biennale nach Berlin. Statt auf der vorgesehenen Fläche zu malen, kletterten die beiden die St.-Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße hinauf und besprühten das Bauwerk. Beim darauffolgenden Handgemenge schütteten die beiden dem Kurator Artur Zmijewski gelbe Farbe über den Anzug.
Die pixadores werden jedoch nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von staatlicher Seite scharf beobachtet. Die Polizei geht alles andere als zimperlich mit ihnen um. „Wenn sie uns erwischen, leeren sie die Sprühdosen auf unseren Gesichtern und unserer Kleidung aus und verprügeln uns“, erklärt AXS, der seit vier Jahren Sprayer ist und in São Mateus, am äußersten Rand von São Paulo, lebt. Auch an diesem Donnerstagabend vor der Galeria Olido zeigt die Polizei ihre harte Hand. Wie aus dem Nichts erscheinen mehrere Polizist_innen mit gezogener Waffe am Point. Die Beamt_innen greifen sich eine Gruppe von fünf Jugendlichen und drücken diese unsanft gegen die Fassade eines Schuhgeschäftes. Bis auf einige Sprühdosen und Marker finden die Polizist_innen jedoch nichts und müssen die Jugendlichen laufen lassen. „Die Repression ist Alltag. Sie versuchen uns fertig zu machen“, sagt TNS von den legendären Os Mais Imundos, den „Dreckigsten“.
Anfang August endete ein Polizeieinsatz tödlich. Heute erinnert vor dem Gebäude auf der Avenida Paes de Barros nichts mehr an die traurigen Ereignisse. Jets und Anormal, zwei bekannte pixadores aus dem Osten São Paulos, waren losgezogen, um das 17-stöckige Gebäude im Stadtteil Mooca zu besprühen. Die beiden schmuggelten sich am Pförtner vorbei und fuhren mit dem Aufzug in die letzte Etage. Was dann geschah, ist unklar. Die Polizei erklärte später, dass es sich um Banditen handelte und deshalb das Feuer eröffnet wurde. Die Familien der Opfer bestreiten dies und erklärten, dass die beiden entgegen der Aussage der Polizist_innen unbewaffnet gewesen seien. „Mein Mann war kein Krimineller, sondern pixador“, sagte die Witwe von Jets später in einem Fernsehinterview. „Die Polizist_innen wussten ganz genau, warum die beiden an dem Gebäude hinaufkletterten. Sie wussten, dass es pixadores waren und keine Einbrecher. Das war Mord“, sagt Poder, der Jets kannte und mehrmals mit ihm zusammen gesprüht hat. Eine Woche vor seinem Tod erzählte Jets ihm von seinen Plänen, das Gebäude in Mooca zu bemalen. „Warum sie geschossen haben? Das ist eine Playboy-Gegend, ein schicker Stadtteil. In den letzten Wochen gab es dort viele Beschwerden wegen pixação. Sie haben die Gelegenheit genutzt und jemanden von uns ermordet.“ In der Tat waren die beteiligten Polizist_innen schon vorher in ähnlich zweifelhafte Fälle mit Todesfolge verwickelt. Obwohl die Beamt_innen vom Dienst suspendiert wurden und ein Verfahren eingeleitet wurde, gibt es kaum Hoffnung auf eine Verurteilung.
„Die ersten Wochen nach dem Tod von Jets und Anormal waren alle geschockt. Jeder kannte die beiden“, sagt Poder. Für die versammelten pixadores am Point war Jets einer der wichtigsten und besten Sprüher der letzten Jahre. Jeden Tag sei er nach der Arbeit sprühen gegangen. Nach den tödlichen Schüssen folgten wütende Demonstrationen gegen Polizeigewalt, eine Neuheit für die Szene, die sich sonst nie direkt politisch äußert. Wochenlang sprühten pixadores in der ganzen Stadt die Namen der beiden Toten. „Je mehr sie versuchen uns zu unterdrücken, desto mehr werden wir malen“, sagt Poder, gegen den mehrere Gerichtsverfahren wegen Sachbeschädigung laufen. Trotz wachsender Repression scheint die Stadt mit pixação überfordert zu sein. Die Einsätze der Polizei wirken angesichts der tausenden Sprüher_innen oft wie ein Tropfen auf den heißen Stein. „Pixação wird niemals sterben, denn wir sind malucos, Verrückte.“ Poder trinkt sein Bier aus und verabschiedet sich für heute vom Point. Er habe noch Pläne, sagt er. Sprühdosen klackern in seinem Rucksack, als er in der Nacht der Millionenstadt verschwindet.
* Name von der Redaktion geändert
Grenzenlose Kunst
Sie hält eine wehende Flagge in ihren Händen. Die dunkelhaarige Frau mit Cowboyhut steht auf sandigem Boden und streckt ihren Körper einem rostigen Zaun entgegen, der sie um mehrere Meter überragt. Die Fahne ist aus der mexikanischen und US-amerikanischen Nationalflagge zusammengenäht und der Blick der Frau scheint über den Grenzzaun hinwegzusehen, der Mexiko und die USA trennt und verbindet. Dies ist das Cover-Foto des Bildbandes „La Frontera“ von dem deutschen Fotografen Stefan Falke. Darin finden sich Portraits von Künstler_innen, für die er seit 2008 an der Grenze zwischen Mexiko und USA unterwegs gewesen ist. Das Langzeitprojekt wurde bereits in Washington DC, Tijuana, Südkalifornien und Frankfurt am Main ausgestellt und wird von Falke weiter fortgesetzt.
Der Bildband gleicht einer Reise durch verschiedene Ausstellungen, Ateliers und Performances. Künstler_innen aus den verschiedensten Genres wie der Malerei, der Musik oder auch dem Tanz und der Fotografie werden zusammen mit ihrer Kunst fotografisch dargestellt. Da dieser Bezug zwischen Künstler_in und Kunstwerk immer sehr deutlich ist, wirken die Bilder oft dokumentarisch und wie Pressefotos. Vielleicht fehlte ihm bei der Portraitierung hunderter Künstler_innen schlichtweg die Zeit für die einzelne Person oder aber er wollte sie genau auf diese Weise darstellen; nüchtern und ohne viel seiner eigenen Note. Leider überzeugen die meisten Fotografien von Falke daher nicht als eigenständige Kunstwerke, sondern wirken wie eine reine fotografische Bestandsaufnahme.
In jedem Fall ist das Projekt, das er vorstellt, spannend. Falkes Arbeitsweise wird zu Anfang des Buches in einer Reportage von Claudia Steinberg beschrieben, die ihn eine Zeit begleitete und wird von einem Portrait Falkes von Claudia Bodin ergänzt. Hier wird deutlich, welches Motiv Falke hat: Er will ein hoffnungsvolles, lebendiges Mexiko zeigen und nicht das gefährliche und kriminelle Bild unterstützen, das in den Medien vorrangig präsent ist. Trotzdem setzt er sich gezwungenermaßen in seinen Fotografien mit beiden Gesichtern Mexikos auseinander, denn bei vielen mexikanischen Künstler_innen ist genau diese Zwiespältigkeit ein Leitmotiv ihrer Kunst.
Begleitet werden die Bilder von literarischen und essayistischen Texten der mexikanischen Autor_innen Orfa Alarcón, Rogelio Guedea, Yuri Herrera, David Toscana und Dolores Dorantes auf Deutsch und Spanisch. Sie behandeln das Thema der Grenze auf sehr unterschiedliche Weise. Einige sind sehr verstörend, während andere informativ und mit Humor geschrieben wurden. Ein seltsamen Beigeschmack hinterlässt die Geschichte „Bruder und Schwester/ Hermanos“ von Orfa Alarcón in der es um einen Jungen und ein Mädchen geht, die als Geschwister aufwachsen. Während sie glaubt, dass sie leibliche Geschwister sind, weiß er bereits, dass es nicht so ist. Einvernehmlich schlafen sie auf dem Weg von Mexiko in die USA miteinander.
In dem geradezu philosophische Essay „Rege Grenzen/ Fronteras movedizas“ von David Toscana wird zum einen aufgezeigt, wie oft und unter welchen Umständen sich die Grenze zwischen Mexiko und den USA immer wieder verschoben hat. Zum anderen geht es darum, wie unterschiedlich Grenzen auf der Welt sind und mit welcher Willkür der Mensch Grenzen zieht.
Einen Vergleich zu anderen Grenzen zieht auch Michele Sciurba in dem Vorwort „3144 Kilometer Grenze/ 3144 kilómetros de frontera“ ganz zu Anfang des Buches. Der Text stellt Bezug her zu dem immer konfliktreicheren Thema Grenzen im globalen Sinne und sollte nicht überlesen werden. So geht es auch um den Mauerfall zwischen DDR und BRD, der dieses Jahr 25-jähriges Jubiläum feiert, sowie die Abschottung der Grenzen der EU, durch die Hunderttausende in den letzten Jahren gestorben sind.
Wer vor allem Fotografien an der Grenze zu Mexiko erwartet und dabei eine künstlerische Umsetzung wünscht, wird wohl eher enttäuscht werden. Doch ist dieser Bildband durchaus empfehlenswert, da in den Fotografien viele verschiedene Künstler_innen vorgestellt werden und Mexiko-Liebhaber_innen vielleicht den einen oder anderen Künstler bzw. Künstlerin bereits kennen. Zudem sind die Texte rund um das Thema Grenze(n), literarisch ansprechend und arbeiten spannende neue Aspekte heraus.
Stefan Falke // La Frontera. Die mexikanisch-US-amerikanische Grenze und ihre Künstler // Edition Faust // Frankfurt am Main 2014 // 38,00 Euro // www.editionfaust.de
„Musik ist für mich politischer Aktivismus“
Wer hat dich am meisten beeinflusst bei dem, was du heute machst?
Vermutlich hatte den größten Einfluss mein Vater. Er ist Dichter und hat mir die ersten Akkorde auf der Gitarre beigebracht. Mein Vater ist in einem Kinderheim aufgewachsen. Er stand ganz unten in der Gesellschaft. Trotzdem hat er es geschafft, an die Uni zu gehen und ein Intellektueller zu werden. Für seine Umgebung hatte er künstlerisch und politisch, aber auch in Bezug auf die Familie eine antiautoritäre Einstellung. Ich war es gewohnt, dass mein Vater mit mir spricht wie mit einem anderen Erwachsenen. Aber sehr schnell bemerkte ich, dass am Ende doch er das letzte Wort hatte. Zum Beispiel beim Thema Schule: Ein guter Vater aus dem Armenviertel will unbedingt, dass seine Kinder gute Noten bekommen, um aus dem Ghetto rauszukommen. Mein Vater war sehr auf meinen Schulerfolg fixiert. Aber ich wollte selbst entscheiden, ob ich lerne oder nicht. Das war traurig, weil ich sehr gern gelernt habe. Lesen war eigentlich meine Lieblingsbeschäftigung. Obwohl ich immer gute Noten hatte, war mein Vater von mir enttäuscht, weil ich nicht immer der Beste sein wollte. Und ich war enttäuscht von ihm, dass das für ihn so wichtig war. Das hat uns zu großem Streit geführt.
Wie ging es danach weiter?
Mit zwölf habe ich die Schule abgebrochen und bin in ein zweites Gebäude umgezogen, das zu unserem Haus gehörte und wo wir die Leute aus dem Viertel unterrichtet haben. Dort habe ich sehr viel Zeit alleine verbracht. Für mich war es sehr wichtig und schön, so lange einsam zu sein. Dadurch habe ich bei anderen Leuten bemerkt, wie schnell sie sich an bestimmte gesellschaftliche Automatismen gewöhnten. Als ich in den USA studierte, war ich so lange Zeit nicht in der Schule gewesen, dass Disziplin für mich besonders schwer war. Aber nicht nur das, auch die verschiedenen Rollen, die Geschlechter, die Gewinner, die Verlierer, alles war fremd für mich.
Du spielst oft bei politischen Veranstaltungen. Wie bringst du Musik und politischen Aktivismus zusammen?
Ich bin niemand, der gerne vorne steht. Meine Rolle ist eher die des Künstlers im Hintergrund. Es gibt einen Unterschied zwischen politischer Musik und soziologisch-analytischer Musik. Ich schreibe keine propagandistische Musik, sondern Musik, die über ein bestimmtes Thema zum Nachdenken anregt, wobei man meine politische Richtung erkennt. Für mich ist die Musik selbst eine Art politischer Aktivismus. Ich habe ein Bedürfnis, an den gesellschaftlichen Bewegungen teilzunehmen und die Lage nicht nur vom Schreibtisch aus zu betrachten.
Was ist dir dabei wichtig?
Kritisch an die Denkstrukturen heranzugehen. Ich könnte mich nicht durch eine bestimmte politische Richtung definieren, aber zum Beispiel denke ich wirklich, dass eine sozialistischere Gesellschaft viel besser wäre als das, was wir gerade haben. Aber ich würde niemals sagen, ich bin Trotzkist oder Anarchist oder dies oder jenes. Das ist eine sehr zerstörerische Diskussion unter Linken, ein Dogmatismus, der nichts bringt, weil sich die Gesellschaft immer weiter entwickelt. Was mich interessiert, ist mehr Partizipation und eine wirkliche Demokratie. Die Institutionen sind total ideologisiert, zum Beispiel die Uni, die Arbeit, im Allgemeinen unsere Lebensziele im Kapitalismus. Wenn uns bewusst werden würde, dass sehr viele Denkweisen in uns erzwungen sind, würden wir uns vielleicht für andere Ziele entscheiden.
Welche Einflüsse gibt es in deiner Musik?
Es gibt keine Musikrichtung, die mir grundsätzlich nicht gefällt. Ich habe einen sehr starken Einfluss von La Trova, chilenischer Musik, Víctor Jara, Violeta Parra, und ganz klar von Silvio Rodríguez. Aber dann habe ich auch Rock gehört, Punk, Hip Hop und natürlich immer klassische Musik, die ich fast zehn Jahre meines Lebens studiert habe. Wer mich an der Gitarre sehr stark beeinflusst hat, ist Leo Brouwer, ein kubanischer Komponist für Gitarre, den man der sogenannten Neuen Musik zurechnet. Er war ein Pionier, weil er Stücke für Gitarre komponierte, die nicht romantisch waren. Lange Zeit wurde die Gitarre als klassisches Instrument nicht sehr ernst genommen.
Du bist während der Diktatur in Chile geboren. Was bedeutet es für dich, in dieser Zeit aufgewachsen zu sein?
Ich bin aufgewachsen an einem Ort, der offensichtlich faschistisch war. Ich kann mich an bestimmte Sachen erinnern, die man als Kind nicht sagen durfte, Musik, die man leiser hören musste. Ich glaube, mein Vater hat uns, als ich ganz klein war, geschützt, zum Beispiel hat er mir einen Helm geschenkt und mit mir Soldat gespielt. Danach hat er mir gesagt, er wollte, dass wir nicht so auffällig wären, weil damals alle Kinder wegen der Propaganda Soldat werden wollten. Später hat mein Vater ganz offen über die Diktatur gesprochen, und über die Zeit davor. Denn darüber hat man überhaupt nicht mehr gesprochen. Ich habe einen Hass gegenüber Sachen, die ich gar nicht hassen sollte, aber die ich mit der Diktatur identifiziere, zum Beispiel bestimmte Popmusik. Die Kultur war sehr oberflächlich, weil die Musik und Kunst von davor verboten und zerstört waren. Und das war eigentlich die einzige interessante Kultur.
In deinem Lied „Desde Alemania“ –„Von Deutschland aus“ – sagst du, du tätest nichts lieber, als in Chile dabei zu sein und für Veränderungen einzutreten. Inwieweit bist du im aktuellen Geschehen in Chile involviert?
Durch meine Musik versuche ich die Sachen, die ich für gut halte, zu unterstützen. Das machen wir durch verschiedene Organisationen von Chilenen. Zum Beispiel nehme ich an Veranstaltungen der Kommunistischen Partei teil, obwohl ich ihnen nicht immer zustimme. Normalerweise mache ich das ehrenamtlich, aber mein Preis ist, dass ich sagen darf, was ich will. Ich spreche auch hier über die Lage in Chile. In linken Kreisen wird sehr schnell idealisiert, was in Lateinamerika passiert, und ich finde es wichtig zu sagen, dass nicht alles so ist, wie man es sich vorstellt.
Wie schätzt du die aktuelle Lage in Chile ein?
Jetzt gibt es diese sozialistische Regierung von Michelle Bachelet. Sie diskriminiert zum Beispiel die Mapuche: Schon in ihrer ersten Regierungszeit benutzte Bachelet das Anti-Terror-Gesetz von Pinochet gegen sie – als Konsequenz sind zwei gestorben. Das ist eine Militarisierung. Diese
Regierung ist außerdem gefährlich für die sozialen Bewegungen. Es gab eine große Bewegung in den 80er Jahren, die zum Sturz Pinochets führte. Aber nachdem die Concertación an die Regierung gekommen war, hat die Bewegung aufgehört und der Neoliberalismus war so stark wie nicht einmal unter Pinochet. Zwanzig Jahre später hatten wir nochmal diese Situation, dass die Leute gegen einen wirklich rechten Präsidenten, Piñera, demonstrierten: Die Opposition war stärker, weil sie von Mitte bis Links reichte, man konnte Forderungen stellen und Druck auf die folgende Regierung ausüben. Daher kommen alle Reformen, die Bachelet – wie sie sagt – durchführen will. Aber jetzt ist die Opposition wieder gespalten.
Du bist nicht nur Musiker, sondern hast von klein auf Gedichte geschrieben. Schon als Dreizehnjähriger hast du einen Gedichtband veröffentlicht…
Manche Sachen habe ich nie wieder so gut und mit so viel Leidenschaft ausgedrückt wie damals, weil ich immer noch diese Euphorie vom ersten Eindruck von den Dingen hatte. Das war das erste Mal, dass ich mir existenzielle Fragen gestellt habe. Kinder werden oft unterschätzt. Auch andere Kinder in meiner Umgebung haben sich interessante philosophische Fragen gestellt. Das Buch handelt hauptsächlich von der Schule, von Religion – denn damals fühlte ich mich sehr einsam als nicht christliches Kind in der Schule, weil alle christlich waren. Ich habe immer ganz offen gesagt, dass ich Atheist bin. Außerdem habe ich absurde Geschichten immer sehr gerne gehabt. Zum Beispiel heißt das Hauptgedicht „Cabeza, manos, tronco y cuello“ („Kopf, Hände, Rumpf und Hals“) und es geht darum, dass der Kopf eines Menschen wegläuft und dieser Mensch seinen Kopf über die Straße verfolgt und mit ihm diskutiert. Als Kind waren meine Gedichte immer wie Prosastücke, sehr schlicht, ohne große Metaphern, sehr modern. Ich bin sehr froh, dass die Fragen der Kindheit durch das Buch festgehalten werden, weil ich glaube, dass viele Menschen vergessen, wie glücklich sie als Kinder waren.
Am 14.11.2014, 20 Uhr, gibt Nicolás Miquea ein Konzert im Bayouma-Haus, Frankfurter Allee 110, in Berlin-Friedrichshain.
Infokasten:
Nicolás Rodrigo Miquea
Der Liedermacher, Dichter und klassische Gitarrist wurde 1981 in Talcahuano in Chile geboren. Mit 18 Jahren ging er mit einem Stipendium in die USA, um klassische Gitarre an der Eastman School of Music in Rochester im Bundesstaat New York zu studieren. Ab 2004 setzte er sein Studium an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar sowie an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock fort, für das er ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhielt. Seit Anfang 2014 lebt Nicolás Miquea in Berlin.
Liedtext:
Diskussion mit einem Europäer
Es ist gut, klar. Gott denkt nicht wie wir, die Geschichte und die Natur beweisen es. Lass uns also ohne ihn weiter machen (und er darf über uns sagen, was er will).
Du sagst sogar, dass Gott von den Menschen erfunden wurde. Sicher. Sie haben auch die Wissenschaft, die Philosophie, die Kunst und die Massenvernichtung erfunden. Jetzt lass uns bitte das Thema wechseln.
Im Fernsehen kam vor, dass die Menschheit schrecklich gewesen ist, bis endlich die Gegenwart gekommen ist. Gut, mindestens hat sie es bis Europa geschafft. Und du, Europäer: Du glaubst ihnen noch? Dass der Krieg den Frieden bringt und die Sonne sich um die Erde dreht?
Du hast gelernt, dass die Geschichte eben gerade geendet hat, dass uns nur bleibt, uns hinzusetzen und fett zu werden, bis die Erde sich mit Knochen füllt. Darüber möchte ich mit dir nicht diskutieren. Denk aber daran, wer dir das erzählt hat. Weißt du es noch? War es dein Papa? War es ein Lehrer? Der History Channel? Ein Magazin? War es ein Buch?
Ehrlich gesagt, denke ich wie du, der politische Kampf kann nutzlos wirken. Aber was bitte willst du, dass ich mit meinen Ideen mache? Und wohin werfen wir die Toten? Die Erde ist schon angefüllt mit Knochen. Die Toten gehen schon über die Erde. Sie sind sogar als billige Arbeitskraft tätig. Guck, sie haben dir das Obst eingepackt. Hoffentlich bekommst du nicht eines Tages Angst vor ihnen und nimmst ihnen den Tod weg, der ihnen noch bleibt.
Komm näher. Ich will dir was sagen. Nur dir. Der Rest der Fußgänger muss nicht unbedingt hören, was ich dir sagen will. Es ist Folgendes: Ich verstehe dich. Du glaubst an nichts, denn du hast alles. Du vergisst immer wieder den Tsunami aus Knochen, der sich unter deinen Grenzen verbirgt. Für dich dreht sich die Geschichte um die Gegenwart. Vorsicht: Sie bewegt sich doch.
// Nicolás Miquea, Übersetzung: Nicolás Miquea, Anna von Rohden
Massengrab Mexiko
Tiefe Trauer und Fassungslosigkeit herrscht Anfang Oktober an der Hochschule für männliche Lehramtsstudenten „Raúl Isidro Burgos“ in der Gemeinde Ayotzinapa, gelegen im südwestmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Bereits in der Nacht des 26. Septembers wurden in der nahe gelegenen Stadt Iguala drei Mitstudenten ermordet, weitere 43 Kommilitonen sind seit dieser Nacht nach ihrer Festnahme durch die Polizei verschwunden. „Die Hoffnung, die Verschleppten lebend und gesund zu finden, schwindet stündlich”, äußerte Raymundo Díaz kurz nach deren Verschwinden. Der Arzt und Aktivist des Kollektivs gegen Folter und Straflosigkeit (CCTI) betreut Überlebende und Angehörige nach der Horrornacht.
Sein Verdacht scheint sich inzwischen bestätigt zu haben. Am 2. Oktober wurden in den Hügeln außerhalb Igualas sechs Massengräber gefunden. Darin wurden 28 Körper, zwei davon weiblich, entdeckt. Laut dem Staatsanwalt von Guerrero, Iñaki Blanco Cabrera, sind viele Leichen zerstückelt oder weisen Brandspuren auf. Dies deute darauf hin, dass sie mit einem Brandbeschleuniger übergossen und entzündet worden seien. Ob die Leichen zu den 43 verschleppten Studenten gehören, wollte Blanco Cabrera nicht sagen: „Wir müssen auf die Ergebnisse der Sachverständigen und der Gerichtsmediziner warten“. Allerdings liegt die Vermutung nahe. Denn der Staatsanwalt berichtete ebenfalls, dass der Hinweis auf die Gräber von inzwischen festgenommenen Polizisten gekommen sei. Ebenso haben mittlerweile verhaftete Mitglieder der lokalen Drogenbande namens Guerreros Unidos zugegeben, dass die Polizei zumindest 17 der verschleppten Studenten ihnen übergeben habe und sie diese in der Nähe der Gräber getötet hätten. Bei Guerreros Unidos soll es sich um eine Splittergruppe des einst mächtigen Beltrán-Leyva-Kartells handeln. Laut der verhafteten Polizisten hätte der Polizeichef von Iguala, Felipe Flores Velázquez, gemeinsam mit dem Bandenboss die Verschleppung und Ermordung angeordnet.
Der Auslöser der Polizeigewalt gegen die Studenten war die Beschlagnahmung von Bussen, mit denen diese von Iguala zurück in ihre Schule fahren wollten – eine durchaus übliche Praxis der Studierendenbewegung in Mexiko. Die vermissten Studenten, alle zwischen 18 und 23 Jahre alt, hatten in Iguala Geld gesammelt, um an der jährlichen Gedenkdemonstration anlässlich des Militärmassakers an Studierenden vom 2. Oktober 1968 in Mexiko-Stadt teilnehmen zu können. Gleichzeitig fand im Regierungsgebäude eine Feier des Sozialamtes statt, dessen Vorsitzende in Mexiko jeweils die Gattin des Stadtpräsidenten ist. Als die Studenten zwei Parallelstraßen vom Regierungsgebäude entfernt das Stadtzentrum passieren wollten, trafen sie auf eine sichernde Polizeieinheit. Diese verfolgte die Busse stadtauswärts und stellte sie am nördlichen Umfahrungsring. David García López, Sprecher des Studentenkomitees, schildert den Vorfall folgendermaßen: „Die Polizisten versperren uns den Weg. Die Genossen haben Videoaufnahmen davon, dass sowohl lokale als auch Bundespolizisten anwesend waren. Plötzlich beginnen die Polizisten auf die drei Busse zu schießen, einer unserer Genossen wurde getroffen”. Aldo Gutiérrez Solano wurde durch einen Kopfschuss schwer verletzt; er liegt mit gravierenden Gehirnschäden seither im Koma und wird laut Presseberichten künstlich am Leben erhalten.
Dieser bewaffnete Überfall war erst der Auftakt einer langen Nacht des Terrors. In den folgenden Stunden wurde außerhalb von Iguala ein Taxi unter Beschuss genommen, dabei starb eine Passagierin und zwei Gewerkschafter wurden verletzt. Außerdem eröffnete ein Kommando das Feuer auf den Bus eines Fußballteams; der Trainer und ein 15-jähriger Spieler wurden getötet. Vermutlich verwechselten die Angreifer den Bus mit dem der Studenten. Kurz nach Mitternacht gaben Studierende zusammen mit Lehrergewerkschaftern am Ort des ersten Angriffes eine improvisierte Pressekonferenz. Plötzlich fielen Schüsse, alle versuchten zu fliehen, zwei Studenten blieben auf den Straßen Igualas tot liegen, 43 Studenten wurden von der Polizei mitgenommen. Augenzeug_innen berichten, dass die Polizei bei den verschiedenen Angriffen gemeinsam mit Mitgliedern von Guerreros Unidos operiert habe. Ebenso stellten die Ermittler_innen Videoaufnahmen sicher, die zeigen, wie mindestens 15 bis 25 Studenten von Polizisten und bewaffneten Personen in Zivil mit Patrouillenfahrzeugen verschleppt wurden.
Am Morgen des 27. September, viele Stunden nach den Ereignissen, übernahm das mexikanische Militär kurzzeitig „die Kontrolle“ über die 130.000 Einwohner_innen zählende Stadt Iguala, die 120 Kilometer südwestlich von Mexiko-Stadt liegt. 22 Polizisten der lokalen Bezirkspolizei wurden festgenommen. Keine schwierige Operation, zwei Batallione waren bereits in Iguala stationiert: das 27. Infanteriebattallion und auch das 3. Batallion der „Spezialkräfte” des Heeres. Diese Spezialkräfte wurden vor und während des „Krieges gegen die Drogenmafia” aufgebaut und sollen, im Gegensatz zum Gros der mexikanischen Fußtruppen, auch über Mittel der geheimdienstlichen Aufklärung verfügen. Das Militär fand an diesem Samstagmorgen die Leiche des bestialisch gefolterten Studenten Julio César Mondragón. Der 22-jährige Familienvater war nach dem Angriff auf die mitternächtliche Pressekonferenz in Panik davongerannt. Der Leiche von Julio César fehlten Kopfhaut und Augen, eine Foltermethode, die auf die Beteiligung des Drogenkartells hinweist. Die vorläufige Bilanz dieser Nacht: sechs Tote, zwei lebensgefährlich Verletzte, zwei Dutzend weitere Verletzte und 43 gewaltsam Verschwundene.
In den ersten Tagen nach dem Massaker waren die Reaktionen von Mainstreammedien und Politik abwartend. Der regierungsnahe Fernsehsender Televisa berichtete über die Ereignisse nur kurz. Ernsthaft gesucht wurden die vermissten Studenten nicht, trotz der verzweifelten Aufforderung der Angehörigen und Mitstudenten. Das mediale Augenmerk richtete sich vornehmlich auf den Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca Velázquez von der gemäßigt linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Dieser wies erst alle Verantwortung von sich – um dann vier Tage nach dem Massaker, als der öffentliche Druck immer größer wurde, spurlos zu verschwinden. Ebenso untergetaucht ist der Sicherheitschef von Iguala, Felipe Flores Velázquez. Beiden werden seit Längerem Verbindungen zu Drogenkartellen nachgesagt; in Guerrero sind Verbindungen zwischen Politiker_innen und Kartellen parteiübergreifend fast schon üblich.
Aufgrund der tagelangen Untätigkeit der Behörden, die Suche nach den 43 vermissten Studenten seriös anzugehen, sah sich die soziale Bewegung Guerreros zu einer Großmobilisierung gezwungen. Lehrergewerkschafter_innen, Studierende, Menschenrechtsorganisationen und Familienangehörige besetzten am 2. Oktober sechs Stunden lang die „Autobahn zur Sonne“. Diese Straße, die an Iguala und der Landeshauptstadt Chilpancingo vorbeiführt, ist die wichtigste Verbindung zwischen Mexiko-Stadt und Acapulco, dem beliebten Erholungsziel der Hauptstädter_innen. Erst diese Blockade brachte das mexikanische Innenministerium dazu, sich tags darauf mit Angehörigen der Verschwundenen zu treffen. Ein untergeordneter Beamter hörte sich die Klagen an, der Innenminister, Miguel Ángel Osorio Chong, versprach schriftlich „eine wirkliche Suche” der Vermissten mit Hilfe der Bundespolizei.
Am selben Abend wurden die Massengräber entdeckt. Die Weltpresse war entsetzt, berichtete über die grausigen Funde und über die verzweifelten Angehörigen, die den Behörden weder glauben wollen noch trauen können. Auf Druck der Angehörigen flog ein argentinisches Forensikteam ein. Präsident Enrique Peña Nieto sah sich erst zehn Tage nach dem Massaker zu einer Stellungnahme genötigt. In einer Fernsehansprache versprach er die rückstandslose Aufklärung des Falls, es werde „nicht der kleinste Türspalt für die Straflosigkeit” offen bleiben. Gleichentags übernahm die neue, seit August 2014 aktive Eliteeinheit „Nationale Gendarmerie” die Kontrolle über Iguala, die bis heute anhält.
„Straflosigkeit” ist ein gutes Stichwort, um der Frage nach der Ursache des Massakers nachzugehen, die inzwischen ganz Mexiko beschäftigt. Der Bundesstaat Guerrero ist seit Jahren ein Kristallisationspunkt sozialer Unruhe, rücksichtsloser Aufstandsbekämpfung und Bandengewalt. Die Mordrate im gewalttätigsten Bundesstaat Mexikos liegt bei 63 pro 100.000 Einwohner_innen und Iguala ist eine „Schlüsselstadt” für die Kartelle, wie der Journalist Luis Hernández Navarro von der Tageszeitung Jornada erklärt: „Umgeben von neun Bergen der Nordregion Guerreros, ist Iguala das Einfallstor zur Region Tierra Caliente, wo die Kartelle synthetische Drogen produzieren und Marihuana anbauen”. Die Verflechtung von Mafia und Politik und die damit einhergehende Straflosigkeit ist in Iguala nahezu vollständig.
Dafür gibt es in der jüngeren Vergangenheit drei Beispiele: 2010 verhaftet das Militär in Iguala sechs Jugendliche wegen eines Bagatelldelikts; diese verschwinden spurlos, die Familienangehörigen erreichen trotz vieler Behördengängen gar nichts, die Tat bleibt ungesühnt. Im Frühling 2013 geht der inzwischen verschwundene Bürgermeister Abarca Velázquez auf seine Art gegen parteiinterne Kritiker vor: Sechs führende Mitglieder der sozialen Organisation Unidad Popular werden nach öffentlichen Protesten gegen die Korruption in Iguala entführt, drei von ihnen hingerichtet. Der altgediente Linke Arturo Hernández Cardona war das bekannteste Opfer, er soll vom Bürgermeister persönlich erschossen worden sein. Der Augenzeugenbericht ist notariell beglaubigt, bei der Bundesstaatsanwaltschaft eingereicht und wurde vor einem Jahr auch in der Lokalpresse veröffentlicht – dennoch bleibt die Tat straflos. Im Dezember 2012 erschießen Polizisten bei einer Demonstration in Chilpancingo zwei Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa. Der Mord bleibt straffrei, ein Einsatzleiter wurde inzwischen sogar befördert. Im Einsatz waren dabei unter anderem die G-36-Gewehre der deutschen Waffenschmiede Heckler & Koch, die illegal in den Bundesstaat geliefert wurden (siehe LN 477).
Bei genauer Betrachtung wird klar, allein mit der in Agenturmeldungen verbreiteten These der Brutalität des Drogenkriegs ist das jetzige Massaker von Iguala und die Situation in Guerrero nicht zu erklären. „Hier gibt es eine staatliche Politik, Anführer der sozialen Bewegungen zu ermorden und die Proteste zu kriminalisieren, um die soziale Unruhe im Zaum zu halten”, meint Abel Barrera, Direktor des Menschenrechtszentrums Tlachinollan. Das CCTI beschreibt die konkreten Auswirkungen dieser Politik: „Die Gesellschaft Guerreros ist gelähmt, paralysiert durch die Angst und den Terror, außer einiger weniger Sektoren mit langer kämpferischer Tradition, wie die Studenten und die Lehrer.” Hinzu kommt, dass genau diese gewerkschaftlich gut organisierten Sektoren durch die Massenmedien seit Jahren kriminalisiert werden. Einmal sind sie „arbeitsscheue Elemente”, ein anderes Mal „vermummte Vandalen”, oder die 17 im Land verteilten Landlehrerhochschulen werden gar pauschal als „Brutstätte von Guerilleros” bezeichnet. Hernández Navarro, einst selbst Lehrergewerkschafter, erinnert: „Schon vor dem 26. September wurden die Studenten der Landlehrerschulen dämonisiert. Über sie wurden haufenweise Verleumdungen verbreitet, ohne diese zu beweisen. Dafür sind die Unternehmer verantwortlich, angeführt von Claudio X. González und dessen Verein Mexicanos Primero, aber auch das Bildungsministerium und Politiker_innen aller Parteien”.
Seit dem Widerstand der radikalen Teile der Lehrer_innen und Pädagogikstudierenden gegen die Bildungsreform der Regierung Peña Nieto (siehe LN 469) hat diese Kampagne noch an Aggressivität zugenommen. Die Schüler des Internats in Ayotzinapa gehören zu den sichtbarsten Vertretern dieser Opposition: 1936 unter Präsident Cárdenas als streng sozialistische Ausbildungsstätten gegründet, halten sie das Ideal einer kostenlosen Ausbildung hoch und ermöglichen so mittellosen, meist indigenen Bauernsöhnen das Erlernen des Lehrerberufs für die Grundstufe.
Kriminalisierung der sozialen Bewegung, Kartellgewalt und Straflosigkeit, dieses Gemisch hat in Iguala zur Tragödie geführt. Aufgrund seiner Dimensionen, die eine sonst übliche Vertuschung unmöglich machen, erscheint das Massaker als ein „Betriebsunfall” im Krieg niederer Intensität der Regierung gegen soziale Bewegungen zu sein, ähnlich wie das Massaker von Acteal in Chiapas 1997. Wie in Acteal waren auch in Iguala Bundespolizei und Militär in Hörweite stationiert, unternahmen aber nichts, als Paramilitärs gegen ihre „Feinde” vorgingen. Damals wurden auf Druck der Öffentlichkeit einige Täter gefasst und für einige Jahre weggesperrt, sowie der Innenminister, Emilio Chuayffet, entlassen. Heute sind alle Täter, darunter auch geständige Mörder, wieder auf freiem Fuß, aufgrund von Verfahrensfehlern. Und Emilio Chuayffet ist inzwischen Erziehungsminister im Kabinett von Peña Nieto. Der Kreis schließt sich.
Aber vielleicht ist 2014 doch anders als 1997. „Wir werden keine weiteren Gräueltaten unter der Schirmherrschaft der Regierung und keine Straflosigkeit mehr zulassen”, warnt Tlachinollan in einem Appell an die Bevölkerung Guerreros. Das Menschenrechtszentrum ruft dazu auf, gemeinsam „die Grundfesten einer Macht auszuhebeln, die nur sich selber dient”. Es gilt dafür zu kämpfen, dass das Massaker von Iguala eben nicht den von den Tätern beabsichtigten demobilisierenden Schockeffekt erzielt. Sondern dass die sozialen Bewegungen Mexikos Auftrieb erhalten durch die Welle von Solidarität, die die Studenten von Ayotzinapa und ihre Familien in diesen Tage erfahren. So demonstrierten viele Menschen am 8. Oktober nicht nur in 64 Städten Mexikos gegen die Komplizenschaft der Regierung, sondern auch vor mexikanischen Vertretungen in Südamerika, Europa, Kanada und den USA.
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