// KEIN AUFATMEN IM HINTERHOF

Trump versus Clinton – wenn diese LN in den Briefkästen liegt, ist die Schlammschlacht um die US-Präsidentschaft zum Glück vorbei. Das Aufatmen könnte von kurzer Dauer sein, hält man sich vor Augen, was nun folgen könnte. Sexistisch, rassistisch, unberechenbar: Über Donald Trumps Charakter bestand schon lange Klarheit – vor seinen Beleidigungen mexikanischer Migrant*innen, vor seiner Forderung eines Mauerbaus an der Südgrenze, vor „Pussygate“, vor seinen Aussagen, dass er den Einsatz von Atomwaffen nicht ausschließen möchte. Im Vergleich zu Trump wirkt Hillary Clinton wie ein Hort der Vernunft: intelligent und rational, fähig zu Kompromissen und mit viel politischer Erfahrung. Je länger dieser Wahlkampf dauerte, desto leichter fiel es, in ihr nicht nur das kleinere Übel, sondern eine gute Wahl zu sehen. In Lateinamerika sehen das viele anders – aufgrund der Erfahrungen mit der Außenministerin Clinton.

Da ist das Beispiel Honduras: 2009 jagten Militär und alte Eliten den gewählten Präsidenten Manuel Zelaya mit einem Putsch außer Landes. Er stand für ein progressives Programm, das Ungleichheiten zwischen Arm und Reich abbauen und demokratische Teilhabe verbessern sollte. Offiziell verurteilte „Hillary the Killary“ zwar Zelayas Absetzung, nur um flugs zur „Normalisierung“, das heißt: faktischen Anerkennung der Putschisten, überzugehen. Die Militärhilfe wurde Zug um Zug aufgestockt – trotz aller Hinweise, dass Militär und Polizei an den vielfachen Morden an Gewerkschafter*innen, Polit- und Umweltaktivist*innen beteiligt sind.

Da ist das Beispiel Paraguay: 2012 erfolgte der sogenannte „Parlamentsputsch“ gegen den ebenfalls als progressiv geltenden Präsidenten Fernando Lugo. Den Vorwand für das „Express-Amtsenthebungsverfahren“ war das Massaker von Curuguaty. Dabei kamen elf Landlose und sechs Polizisten ums Leben, die Verantwortung für diese Gewalttat ist weiter ungeklärt. Mittlerweile regiert der konservative Horacio Cartes, dem Verbindungen zum Drogengeschäft nachgesagt werden. Das Land wird militarisiert, soziale Proteste der Landlosen kriminalisiert. Clinton hatte sich beeilt, die paraguayischen Regierungen nach dem Amtsenthebungsverfahren politisch wieder salonfähig zu machen.

Da ist das Beispiel Mexiko: Die Enthüllungen von Clintons E-Mail-Verkehr offenbaren, dass sich die Außenministerin von 2009 bis 2011 dort vehement einmischte, um die Privatisierung des Erdölsektors voranzubringen. Clinton hat ein Herz für die Wall Street, die Folgen der Liberalisierung für Mexikos Arme lassen sie kalt.

Spätestens seit Clinton Anfang dieses Jahres einen „Plan Colombia für Zentralamerika“ forderte, um der Ausbreitung der Drogenkriminalität Herr zu werden, schrillten bei sozialen Bewegungen die Alarmglocken. Zu gut sind die schlechten Erinnerungen an das Original präsent. Der von Hillarys schlechterer Hälfte Bill in dessen Präsidentschaft 2000 auf den Weg gebrachte „Plan Colombia“ führte zu einer Gewaltwelle gegen Gewerkschafter*innen, Landlose, Indigene und afro-kolumbianische Gemeinden. Massenvertreibungen führten zu weiterer Landkonzentration in den Händen von Agrarindustriellen, die mit Paramilitärs verbündet waren und sind. Die globale Drogenkriminalität wurde durch den Plan nicht gestoppt. Und nun fordert dies Clinton für Zentralamerika: Frieden schaffen mit noch mehr Waffen.

Egal, wie die Wahl am 8. November ausgegangen ist – Lateinamerika wird sich auch zukünftig mit einer offensiven hegemonialen Politik aus dem Norden des Kontinents auseinandersetzen müssen. Jede Bewegung mit auch nur halbwegs sozialrevolutionärem Anspruch wird aus dem Weißen Haus direkt oder indirekt bekämpft. Aufatmen ist in Lateinamerika nicht angesagt.

VERSPIELTE CHANCE?

Das ‚Nein‘ zu dem Friedensvertrag zwischen der Regierung und den bewaffneten Streikkräften Kolumbiens (FARC-EP) löste weltweit Bestürzung aus. Und angesichts des unerwarteten Ausgangs herrscht in Kolumbien jetzt vor allem Unsicherheit: Ist der Friedensprozess gescheitert oder bietet das ‚Nein‘ eine neue Chance für einen breiteren nationalen Konsens? In der kolumbianischen Bevölkerung gehen die Meinungen auseinander.

Der drohende erneute Griff zu den Waffen scheint zunächst abgewendet. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat die Waffenruhe mit der FARC-EP bis zum Ende des Jahres verlängert. Sowohl die Regierung als auch die Delegation der Guerilla in Havanna bemühen sich weiterhin um ein Gelingen des Friedensprozesses. Dazu sollen die Bedingungen des Vertrags neu verhandelt werden, um einen breiteren Rückhalt in der Bevölkerung zu erreichen.
Die zentrale Figur der Kampagne gegen den Friedensvertrag, jetziger Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, soll nun an den Verhandlungen beteiligt werden. Zudem hat die Regierung wenige Tage nach dem Plebiszit auch offizielle Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN), der zweitgrößten Guerilla im Land, aufgenommen. Dies wird als wichtiger Schritt hin zu einem dauerhaften Friedensprozess gewertet. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn der Verhandlungen zwischen FARC-EP und Regierung kritisiert, dass ein nachhaltiger Frieden und ein Ende der Gewalt ohne die Einbindung der ELN in die Verhandlungen nicht zu erreichen ist.
Jedoch birgt die Einbindung Uribes auch eine neue Bedrohung für den Erfolg des Friedensprozesses. Gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen wie den konservativen Eliten aus den ländlichen Gebieten Kolumbiens und den evangelikalen Bewegungen führte er einen regelrechten Propagandafeldzug gegen den Friedensvertrag. Zu den Argumenten gehörten neben der durchaus nachvollziehbaren Kritik an der Sonderjustiz für Ex-Kombattant*innen auch fragwürdige Behauptungen bis hin zu eklatanten Lügen. So machten besonders die evangelikalen Kirchen Stimmung gegen die im Vertrag verankerte Gleichstellung der LGBTI-Gemeinschaft und stilisierten den Gender-Diskurs zu einer Ideologie, der sich das kolumbianische Volk zu unterwerfen habe.
Uribe selbst beschwor ebenso immer wieder das Gespenst des drohenden „Chavismus“ herauf und mahnte, die Kolumbianer*innen würden venezolanische Verhältnisse erwarten, sollte die linksgerichtete FARC-EP das im Friedensvertrag zugesicherte Recht auf politische Partizipation erhalten. Der Ex-Präsident zielte damit auf die Angst vor politischer und ökonomischer Instabilität in der Bevölkerung, da Kolumbiens Nachbar Venezuela seit Monaten eine der schwersten Krisen seiner Geschichte erlebt.
Angesichts der Polarisierung im Land und der Unsicherheit gegenüber der weiteren Entwicklung des Friedensprozesses stellt sich die Frage, wie die Bevölkerung auf das ‚Nein‘ reagiert und welche Hoffnungen und Ängste die Kolumbianer*innen mit den aktuellen Entwicklungen verbinden. Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Unsicherheit im Land wird deutlich, wenn man mit Aktivist*innen spricht, die in den größeren Städten die Kampagne für den Friedensvertrag unterstützten. Da in den urbanen Zentren im Land mit Ausnahme der Hauptstadt Bogotá das ‚Nein‘ gewonnen hatte, sehen sie sich teilweise massiven Anfeindungen ausgesetzt. Eine Studentin in Bogotá, deren Familie in Medellín über Wochen für das ‚Ja‘ geworben hat, ist seit dem Plebiszit am Boden zerstört – nicht nur aufgrund der „vergebenen historischen Chance auf Frieden“, sondern auch, weil sie und ihre Familie seit dem Morddrohungen erhalten. Aus diesem Grund will sie ihren Namen in keiner Zeitung lesen.
Die indigenen Minderheiten im Land sind ebenso um die Sicherheit in ihren Gemeinden besorgt. Die häufig in Selbstverwaltung lebenden Gemeinschaften waren in der Vergangenheit immer wieder zwischen die Fronten geraten. Um die Menschen in ihren Gebieten vor den Auseinandersetzungen zwischen Guerilla, Paramilitärs und Militär zu schützen, versuchten sogenannte Guardias Indigenas (Indigene Wachen) im Konfliktfall die Kampfhandlungen von den bewohnten Gebieten fernzuhalten und die Menschen in Schulen oder Kirchen in Sicherheit zu bringen. In den letzten Monaten mussten sie dieser lebensbedrohlichen und extrem komplizierten Aufgabe nicht mehr nachkommen. Jetzt herrscht  die Angst, dass sie bald wieder ihr Leben für ihre Gemeinschaft aufs Spiel setzen müssen.
Dieser asymmetrische Charakter des Konflikts, dem in großer Zahl unbeteiligte Zivilist*innen, Aktivist*innen und auch Politiker*innen zum Opfer fallen, ist auch ein essentieller Teil der traumatischen Geschichte der Unión Patriótica (UP). Die Partei wurde 1985 als politische Exit-Option von demobilisierten Guerillakämpfer*innen gegründet. Die zu Beginn beachtlichen politischen Erfolge der Partei gingen jedoch in einem regelrechten Massenmord an ihren Mitgliedern unter. Zwischen 3.000 und 5.000 Personen wurden von paramilitärischen Todesschwadronen, Drogenhändlern und vom Militär selbst ermordet, teilweise im Rahmen blutiger Massaker mit bis zu 43 Toten.
Dementsprechend präsent waren die aktuellen Entwicklungen rund um den Friedensprozess auf dem jährlichen Treffen der Opfer am 21. Oktober in Bogotá. Dabei äußerte sich die Sorge um die Fortdauer des Prozesses in einem klaren Appell von allen Sprecher*innen an die Regierung Santos, die Friedensverhandlungen fortzusetzen und  die Sicherheit der demobilisierten Kämpfer*innen zu garantieren. Ex-Präsident Uribe, der zwischen 2003 und 2006 die Demobilisierung der hauptsächlich für die Massaker an den UP-Mitgliedern verantwortlichen Paramilitärs verhandelte, wurde dabei die Torpedierung des Friedens und seine auf Falschinformationen beruhende Kampagne vorgeworfen.
Viel Lob dagegen fand die „besonnene und dem Frieden zugewandte Reaktion der Unterhändler*innen in Havanna“. Eric Sottas, Direktor der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) wies darauf hin, dass man „die kleine Minderheit des ‚Nein‘-Lagers, die einen ohnehin unmöglichen militärischen Sieg verfolgt, isolieren und durch die Annäherung an die übrigen Vertreter*innen dieses Lagers die Chance auf einen besseren Friedensvertrag realisieren muss“.
Eine ähnliche positive Perspektive vertritt auch Eduardo Pizarro Leon Gómez, heute kolumbianischer Botschafter in den Niederlanden. Pizarro war von 2005 bis 2009 Vorsitzender der Nationalen Kommission für Reparation und Aussöhnung, die die rechtliche Aufarbeitung des Paramilitarismus in Kolumbien überwachte. Zwei seiner Brüder kämpften für die Guerilla und waren von Paramilitärs ermordet worden, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. „Das mit 50.000 Stimmen Vorsprung denkbar knappe ‚Nein‘ zum Friedensabkommen war zwar nicht der optimale Ausgang, stellt aber dennoch eine neue Chance dar“, so der Botschafter. „Dieses suboptimale Ergebnis zwingt uns dazu, einen nationalen Konsens zu finden. Hätte das ‚Ja‘ so knapp gesiegt, wäre dies dagegen ein katastrophaler Ausgang gewesen, da der Friedensvertrag so keine breite Legitimierung gehabt hätte, diese aber auch nicht durch Neuverhandlungen hätte erreicht werden können.“
Seine Deutung der geringen Wahlbeteiligung von knapp über 37 Prozent unterscheidet sich auch von der zahlreicher anderer Beobachter*innen: „Die Wahlbeteiligung war außerordentlich hoch. Da Kolumbien historisch ein enthaltsames Land ist, was Wahlen betrifft, war der Plebiszit geradezu dramatisch. Mit dieser Wahl wurde nicht über politische Ämter abgestimmt, weswegen es kaum zu einer Mobilisierung der Wählerschaft seitens der Politiker kam. Es war vielmehr eine reine Meinungswahl, bei der die Zukunft der Politiker nicht auf dem Spiel stand. Das war ein außerordentlicher Tag und ein Triumph für die kolumbianische Demokratie, der das Land mitten in einer politisierten Debatte zurückgelassen hat.“ Seine Einschätzung für die Zukunft des Landes ist ähnlich positiv. Er verweist auf das Potenzial, das mit dem Freiwerden von Kapazitäten im Sicherheitsapparat verbunden ist, sobald dieser nicht mehr durch den Konflikt mit FARC-EP und ELN gebunden ist. Kolumbien verfügt dank der cirka 6 Milliarden Dollar US-Militärhilfe, die im Rahmen des Plan Colombia ins Land geflossen sind, mit über 600.000 Mann über den größten Militärapparat Lateinamerikas.
Eine andere Position vertritt Jorge Gómez, einer der Gründer der Menschenrechtsorganisation Reiniciar, die unter anderem den jährlichen Kongress der UP-Opfer organisiert. Seiner Meinung nach birgt die Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft durch die aggressive Propaganda des ‚Nein‘-Lagers die Gefahr neuer Gewalt. „Aufgrund der Geschichte des Landes, die seit Jahrzehnten von politischer Gewalt geprägt wird, ist Kolumbien anfällig für Gewaltdynamiken, die aus politischen Disputen erwachsen sind“, so Gómez.
Darüber hinaus sieht er noch eine weitere Gefahr, die mit dem Friedensprozess verbunden ist: Seit dem offiziellen Ende der Demobilisierung der Paramilitärs im August 2006 haben sich zahlreiche neue bewaffnete Gruppen im Land gebildet und den zuvor von den Paramilitärs kontrollierten Drogenhandel unter sich aufgeteilt. Die Gruppen ständen bereits in den Startlöchern, um das Vakuum zu füllen, das eine Demobilisierung der FARC-EP hinterlässt. „Diese Gruppen dringen in die ehemals von der FARC-EP kontrollieren Gemeinden vor, mit den Worten ‚Wir sind gekommen, um zu bleiben‘“, warnt der Menschenrechtsaktivist.
Genau diese Befürchtung bestätigen auch Vertreter*innen der UP aus Urabá. Die für den Drogenhandel strategisch wichtige Region im Nordwesten des Landes liegt an der Grenze zu Panama. In der früheren Hochburg der Vereinten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) herrscht heute mit den Urabeños eine Gruppe, die sich nur im Namen von den früheren AUC-Gruppen in der Region unterscheidet. Sie kontrolliert die Bevölkerung und so gut wie jede ökonomische Aktivität. Ihre Mitglieder haben wichtige Positionen in der Gemeinschaft besetzt und pflegen enge Beziehungen zu den dortigen Eliten. Diese sind häufig Großgrundbesitzer*innen, Drogenbosse und lokale Politiker*innen, die durch die im Friedensvertrag verankerten politischen und sozialen Veränderungen nur verlieren würden.
„Polizei, Militär, Politiker, Großgrundbesitzer – sie alle stecken unter einer Decke mit den Urabeños.“  – so eine Aktivistin, die wegen der gefährlichen Sicherheitslage anonym bleiben möchte. „Ein Frieden mit der FARC-EP hat keine Bedeutung für uns, da er nichts an den bestehenden Verhältnissen in unseren Gemeinden verändern würde. Die Urabeños warten bereits darauf, in die Gebiete vordringen zu können, die zurzeit noch von der Guerilla kontrolliert werden“.
Und darin liegt das tragische der Ablehnung des Friedensvertrags: Ein offizielles Ende des Konfliktes zwischen FARC-EP und Regierung würde bestenfalls einen Teil der Gewaltdynamik in Kolumbien zum Stillstand bringen. Viel dramatischer ist die verpasste Chance auf einen politischen und sozialen Wandel im Land, den der Friedensvertrag in seiner ursprünglichen Form festschrieb.
Durch die Neuverhandlung des Vertrages und die Einbeziehung der konservativen Kräfte um Ex-Präsidenten Uribe sind zahlreiche Projekte wie die dringend notwendige Landreform, die Öffnung des politischen Systems für linke Positionen und die Ausdehnung der Versorgung mit öffentlichen Gütern in die ländlichen Gebiete in Gefahr. Ohne diesen Wandel werden Gruppen wie die Urabeños weiterhin in der Lage sein, gemeinsam mit den lokalen Eliten die Bevölkerung durch Gewalt zu kontrollieren.
Auch die Perspektive, dass sich der gesamte Sicherheitsapparat nach der Demobilisierung von FARC-EP und ELN auf die Verfolgung von Gruppen wie den Urabeños konzentrieren kann, scheint wenig Hoffnung auf eine Verringerung der Gewalt im Land zu geben. Zwar können kriminelle Gruppen im Gegensatz zur politisch motivierten Guerilla durch eine strafrechtliche Verfolgung bekämpft werden. Die militarisierten Strategien des kolumbianischen Sicherheitsapparates in Kombination mit der grassierenden Korruption und den engen Verbindungen zwischen Drogenhändler*innen, lokalen Eliten und Politiker*innen werden aber bestenfalls nur zu einer kurzfristigen Verdrängung von Gruppen wie den Urabeños in den Untergrund führen.
Während die Guerilla uniformiert und vor allem in dünn besiedelten Gebieten aktiv ist, sind die Mitglieder der neuen bewaffneten Gruppen nur schwer von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden und in beinahe allen Teilen des Landes aktiv. Sollte das Militär und die militarisierten Polizeieinheiten gegen diese Gruppen vorgehen, wird die asymmetrische Gewalt des Konfliktes um ein Vielfaches zunehmen und erneut besonders Zivilbevölkerung und Aktivist*innen treffen.
Wo also steht Kolumbien nach dem gescheiterten Versuch, einige der grundlegenden Ursachen für den bewaffneten Konflikt im Land durch einen Friedensvertrag und soziale wie politische Veränderungen zu neutralisieren? Präsident Santos hat trotz des ‚Neins‘ im Plebiszits den Friedensnobelpreis erhalten, die Verhandlungen in Havanna gehen weiter und mit dem ELN und Ex-Präsident Uribe werden nun weitere wichtige Partner in den Prozess mit eingebunden.
Gleichzeitig hat US-Außenminister John Kerry am 7. Oktober Uribe per Telefon wissen lassen, dass die USA weiterhin auf dessen Dialogbereitschaft und Engagement für den Frieden zählen. Dies deutet darauf hin, dass die Regierung von US-Präsident Barack Obama hinter den Kulissen Druck auf Uribe aufbaut um zu verhindern, dass dieser den Friedensprozess blockiert. Immerhin ist Kolumbien seit dem Beginn von Plan Colombia 2000 und den Milliarden von Dollar an Militärhilfe ein enger Verbündeter der USA im „War on Drugs“ und im „War on Terror“. Dass die USA mit dem Ende des bewaffneten Konflikts mit der FARC-EP zumindest formell einen partiellen „Erfolg“ ihrer Strategien verbuchen können, ist für den angeschlagenen Ruf der Weltmacht natürlich von großem Interesse. Ob dieser Druck von internationaler Seite ausreicht, um den dringend notwendigen politischen und sozialen Wandel in Kolumbien umzusetzen, bleibt abzuwarten. Gleiches gilt auch für die Hoffnungen, die viele in die Ausdehnung der Verhandlungen setzen. Sicher ist aber, dass solange paramilitärische Nachfolgeorganisationen wie die Urabeños weiterhin große Teile des kolumbianischen Territoriums kontrollieren und mit Gewalt gegen jeden gesellschaftlichen Wandel vorgehen, das Land nicht zur Ruhe kommen wird.

// „SIGGY POP” GEGEN GLOBALE GERECHTIGKEIT

Glück gehabt: Etappensieg für die Tabakgegner*innen, für das Gesundheitswesen, für die uruguayische Regierung. Am 8. Juli verlor der Tabakkonzern Philip Morris International einen Prozess gegen den Staat Uruguay. Nicht irgendeinen Prozess, sondern ein Verfahren vor dem bei der Weltbank angesiedelten internationalen Schiedsgerichtshof ICSID außerhalb der öffentlichen Rechtsprechung Uruguays. Vor dem ICSID hatte das Unternehmen 2010 gegen die in Uruguay seit 2005 erlassenen strengeren Gesetze zur Vermarktung von Tabakartikeln geklagt. 25 Millionen Dollar Entschädigung für potenziell entgangene Umsätze verlangte Philip Morris. Das Entscheidende dabei: Die Schweizer Tochterfirmen des Konzerns hatten sich bei der Klage auf ein bilaterales Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und Uruguay berufen.

Schiedsgerichte sind der Zankapfel bei den geplanten Freihandelsabkommen der Europäischen Union, ob nun bei jenem mit Kanada (CETA) oder jenem mit den USA (TTIP) – in allen bisherigen Freihandelsabkommen hat die EU Schiedsgerichte außen vor gelassen, schließlich steht der Rechtsweg vor öffentlichen Gerichten immer frei. Für die Befürworter*innen von Schiedsgerichten war der Urteilsspruch von Washington Wasser auf die Mühlen: Schiedsgerichte sind neutral, Unternehmensinteressen werden nicht per se begünstigt, wie das die Kritiker*innen unterstellen. Ein Kurzschluss: Der eigentliche Skandal ist, dass eine solche Klage überhaupt von einem Gericht zugelassen wird. Eine Klage, bei der staatliche Gesundheitspolitik den Profitinteressen eines einzelnen Konzerns im juristischen Duell gegenübersteht, als handele es sich um zwei gleich gewichtete Interessen.

Der Fall Uruguay-Philip Morris ist deshalb kein Grund zur Entwarnung: Es ist nicht mehr als ein richtiges Urteil zugunsten der öffentlichen Gesundheit auf fragwürdiger Rechtsgrundlage. Das hält die EU im besten Einvernehmen mit Kanada und den USA nicht davon ab, solche Schiedsgerichte in Freihandelsabkommen integrieren zu wollen, obwohl “weder eine Rechtsgrundlage noch eine Notwendigkeit für ein solches Gericht besteht“. Das sagt nicht irgendwer, sondern der nicht als besonders globalisierungskritisch bekannte Deutsche Richterbund.

Ein Freihandelsapologet wie Sigmar Gabriel lässt sich von solcher Kritik freilich nicht beeindrucken: Am 4. September hat der Wirtschaftsminister und SPD-Chef für CETA die Unterstützung des Parteivorstands erhalten. TTIP hält „Siggy Pop“ dagegen mit Bedauern für tot, weil sich die USA nicht bewegen. Mit Bewegung kennt sich der einstige Pop-Beauftragte der SPD aus. Und auf viel Bewegung von der Gegenseite muss sich Gabriel am 17. September gefasst machen: Gegen die demokratiefeindlichen Freihandelsabkommen finden in zehn deutschen Städten Großdemonstrationen statt.

Gabriel weiß sich mit der EU in bestem Einvernehmen, wenn es darum geht, im Ausland Märkte für europäische Profitinteressen zu öffnen. Auch im Globalen Süden. Den karibischen Staaten wurden die euphemistisch Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) genannten Freihandelsverträge schon aufgezwungen, afrikanische und pazifische Länder sollen folgen. Mehrfach wurden widerständige Länder mit zeitwilligem Entzug des Zugangsrechts für ihre Exportprodukte nach Europa auf Kurs gebracht – nahezu unter dem Radarschirm der hiesigen Öffentlichkeit. So werden neue Fluchtursachen geschaffen. Internationaler Widerstand ist gefragt: Für eine Freiheit, die sich auf Menschen und nicht auf Waren oder Dienstleistungen bezieht. Vom 17. September muss ein Signal für globale Gerechtigkeit ausgehen!

KEINE ENTSPANNUNG IN VENEZUELA

Der Ton in Venezuela wird spürbar rauer. „Für die Streitkräfte ist die Stunde der Wahrheit gekommen“, ließ Mitte Mai der oppositionelle Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski verlauten. Das Militär müsse sich entscheiden, ob es auf der Seite der Verfassung oder der durch Nicolás Maduro hervorgerufenen Krise stehe. Der venezolanische Präsident hingegen sieht sich und seine Regierung in der Opferrolle. „Die Kampagne gegen Venezuela zielt darauf ab, Chaos und Gewalt zu schüren, um so eine Intervention der US-Regierung zu rechtfertigen“, sagte der Staatschef ebenfalls Mitte Mai auf einer Pressekonferenz vor internationalen Medien.
Wenige Tage zuvor hatte Maduro den bereits seit Januar geltenden Wirtschaftsnotstand für weitere 60 Tage verlängert und um einen Ausnahmezustand erweitert. Dieser ermöglicht es der Exekutive in mehreren Themenbereichen, per Dekret zu regieren. Das Militär und zivile Basisgruppen erhalten zudem weitreichende Befugnisse wie die Verteilung von Lebensmitteln und Überprüfung der Produktion von Privatunternehmen. Capriles, der innerhalb der Opposition zum moderaten Flügel zählt, rief die Bevölkerung dazu auf, „dieses verfassungswidrige Dekret nicht anzuerkennen“.
Ein halbes Jahr, nachdem das oppositionelle Wahlbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen zwei Drittel der Sitze gewonnen hat, tragen die staatlichen Gewalten einen offenen Konflikt aus, der zunehmend an Schärfe gewinnt: Die Opposition machte bereits Anfang Januar keinen Hehl daraus, dass der Hauptzweck ihrer parlamentarischen Arbeit darin liegt, einen zeitnahen Regierungswechsel herbeizuführen. Das Oberste Gericht (TSJ) blockiert oppositionelle Gesetzesinitiativen wie eine Amnestie für die als politische Gefangene angesehenen Personen und die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus. Maduro regiert derweil mit Billigung des TSJ am Parlament vorbei. Dieses wiederum spricht den anderen politischen Gewalten die Legitimität ab, da sie jeweils mehrheitlich von Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez kontrolliert werden.

Venezuela in Not - Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen
Venezuela in Not – Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen (Foto: Carlos Diaz – CC BY 2.0)

Im März hatte sich der MUD nach internen Unstimmigkeiten über die Strategie für einen Regierungswechsel darauf geeinigt, drei Mechanismen in Gang zu setzen. Durch Straßenproteste soll Maduro demnach zum Rücktritt bewegt werden, während das Parlament einen Verfassungszusatz beschließen solle, der die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre begrenze. Einen Rücktritt schloss Maduro mehrmals kategorisch aus. Das TSJ hat klar gestellt, das eine mögliche Verfassungsänderung nicht für die laufende Amtszeit gelten könne. Als dritter Mechanismus bleibt ein Abberufungsreferendum. Seit Inkrafttreten der Verfassung von 1999 ist es möglich, alle Mandatsträger*innen nach Ablauf der Hälfte ihrer Amtszeit per Referendum abzuwählen. Um die Formalitäten und den zeitlichen Ablauf streiten sich nun Regierung, Nationaler Wahlrat (CNE) und Opposition.
Am 11. und 18. Mai mobilisierte die Opposition in allen Bundesstaaten vor die Büros des CNE, um ein baldiges Referendum zu fordern. Vor den Hauptsitz des Wahlrates in Caracas durften die Regierungsgegner*innen jedoch nicht ziehen. Denn im chavistisch dominierten Westen der Hauptstadt fanden zeitgleich regierungsfreundliche Demonstrationen statt. Nachdem es am 18. Mai auf der oppositionellen Kundgebung im Stadtzentrum zu Ausschreitungen gekommen war, untersagte das Oberste Gericht bis auf weiteres Demonstrationen, die den CNE als Ziel haben.
Die Opposition drängt auf einen Wahltermin in diesem Jahr und wirft dem chavistisch dominierten Wahlrat vor, auf Zeit zu spielen. Sollte Maduros mögliche Abwahl erst nach dem 10. Januar 2017 erfolgen, gäbe es keine Neuwahlen. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident dessen Amtszeit beenden. Für die Anhänger*innen der Regierung steht eine Menge auf dem Spiel. Sie fürchten einen Rückfall in neoliberale Zeiten, wenn die Opposition wieder an die Macht kommt.
Damit ein Referendum stattfinden kann, muss dies zunächst ein Prozent der Wahlberechtigten aus allen Bundesstaaten per Unterschrift einfordern. Bereits wenige Tage nachdem der Wahlrat die gültigen Vordrucke ausgegeben hatte, reichte die Opposition statt der erforderlichen 195.000 Unterschriften 1,85 Millionen ein. Laut Gesetz sind dazu 30 Tage Zeit. Der Wahlrat pocht auf die penible Einhaltung der Fristen und will den Prozess nicht beschleunigen, nur weil die Opposition dies fordert. Erkennt der CNE diese Hürde nach genauer Prüfung der Unterschriften als gemeistert an, müssen nochmal 20 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten unterschreiben, damit das Referendum stattfindet. Um dann Erfolg zu haben, muss bei einer Mindestwahlbeteiligung von 25 Prozent nicht nur die Mehrheit der Wahlberechtigten für Maduros Abberufung votieren. Denn für ein erfolgreiches Abberufungsreferendum schreibt die Verfassung als zusätzliche Hürde vor, dass mehr Menschen für die Abwahl der betreffenden Person stimmen müssen, als sie zuvor ins Amt gewählt haben. Maduro erhielt bei der Präsidentschaftswahl 2013 knapp 7,6 Millionen Stimmen. Bei den Parlamentswahlen im Dezember vergangenen Jahres votierten mehr als 7,7 Millionen Menschen für die Opposition.
Mehrere Mitglieder des Wahlrates deuteten bereits öffentlich an, dass die Opposition zahlreiche ungültige Unterschriften und teilweise leere Listen eingereicht habe. Der oppositionsnahe CNE-Rektor Luis Emilio Rondón zeigt sich hingegen davon überzeugt, dass das Referendum bis Ende Oktober stattfinden könne. „Es gibt weder einen technischen noch juristischen Aspekt, der verhindert, ein Abberufungsreferendum abzuhalten“.
Aus dem chavistischen Lager werden indes zunehmend Stimmen laut, die vor gefälschten Unterschriften warnen und ein Referendum in diesem Jahr allein aus logistischen Gründen ablehnen, da bis Ende des Jahres auch noch Gouverneur*innen- und Bürgermeister*innen-wahlen stattfinden müssen. „Sie wissen, dass es kein Referendum geben wird, weil sie es erstens zu spät begonnen, es zweitens schlecht gemacht und drittens Betrug begangen haben“, sagte der amtierende Vizepräsident Aristóbulo Isturiz Mitte Mai. Maduro betonte, Referenden seien nicht vorgeschrieben, sondern „eine wunderbare Option, aber um Realität zu werden, müssen das Gesetz und die Anforderungen befolgt werden“. Laut dem Abgeordneten Diosdado Cabello, den viele als den mächtigsten chavistischen Politiker neben Maduro ansehen, verschleiere das Referendum schlicht einen Putschplan der Opposition.
Tatsächlich hatten die Gegner*innen des Chavismus seit jeher ein rein strategisches Verhältnis zu demokratischen Prozessen. Ihnen deswegen ein Referendum zu verweigern, wäre allerdings absurd. Vor dem erfolglosen Versuch, Maduros Vorgänger Hugo Chávez 2004 per Referendum aus dem Amt zu drängen, hatte die Opposition zwei Jahre lang ebenso erfolglos versucht, den damaligen Präsidenten durch einen Putsch und eine Sabotage der Erdölindustrie zu stürzen. Auch damals war es im Vorfeld zu heftigen Diskussionen gekommen. Die Regierung warf der Opposition vor, Datenbanken geplündert zu haben, um auf die nötige Zahl an Unterschriften zu kommen. Die Opposition wiederum hat nicht vergessen, dass ein Abgeordneter der Regierungspartei die Unterschriftenlisten im Internet mit der Begründung veröffentlichte, auf Unregelmäßigkeiten hinzuweisen. Dennoch fand das Referendum letztlich statt – und führte dazu, dass die Opposition auf Jahre hinweg in der politischen Bedeutungslosigkeit versank.
Im Gegensatz zu Chávez wird es Maduro allerdings schwer haben, die Mehrheit der Bevölkerung bei einem möglichen Referendum hinter sich zu bringen. Dass die Regierungsgegner*innen trotz äußerst dürftiger politischer Performance nach anderthalb Jahrzehnten regelmäßiger Wahlniederlagen plötzlich derart an Rückhalt gewinnen konnten, liegt vor allem an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Seit Chávez‘ Tod im März 2013 hat sich die Lage stetig verschlechtert, ohne dass die Regierung Maduro adäquate Mittel gegen die Krise finden konnte. Sie lastet die dreistelligen Inflationsraten und die Knappheit bestimmter Lebensmittel vor allem einem Wirtschaftskrieg oppositioneller Gruppen und der Privatwirtschaft an. Der verhängte Wirtschaftsnotstand und zaghafte Reformen zeigen keine merklichen Erfolge. Durch den niedrigen Weltmarktpreis des Erdöls, dem zentralen venezolanischen Exportgut, hat die Regierung kaum mehr finanziellen Spielraum. Spätestens nun rächt sich, dass es Chávez trotz ambitionierter Pläne nie gelungen ist, die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern.
Als wäre dies nicht genug, steht die Elektrizitätsversorgung des Landes nach der schlimmsten Dürreperiode seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Der venezolanische Strom wird zu 70 Prozent aus Wasserkraft erzeugt. Der Pegel des Guri-Stausees im südöstlichen Bundesstaat Bolívar liegt seit Wochen nur noch knapp über dem notwendigen Level, um die Turbinen des mit Abstand wichtigsten venezolanischen Kraftwerkes am Laufen zu halten. Die Regierung versucht sich durch Einsparungsmaßnahmen in die beginnende Regenzeit zu retten und hofft auf ergiebige Niederschläge im Süden des Landes. Seit Ende April wird in fast allen Landesteilen der Strom rationiert, was in einigen Städten zu Ausschreitungen und Plünderungen geführt hat. Angestellte des öffentlichen Sektors arbeiten seit dem 27. April bis mindestens Ende Mai zudem nur noch montags und dienstags.
Die politische Krise in Venezuela wird auch international mit Sorge verfolgt. Die Opposition drängt auf eine Aktivierung der Interamerikanischen Demokratiecharta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), was im äußersten Fall zu einem Ausschluss Venezuelas aus der von den USA dominierten Regionalorganisation führen könnte. Unterstützung erhält sie dabei unter anderem von OAS-Generalsekretär Luis Almagro, der US-Regierung und der neuen argentinischen Regierung von Mauricio Macri. Andere Akteure wie Papst Franziskus oder die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) bemühen sich derweil um einen Dialog zwischen Regierung und Opposition. Die Rhetorik in beiden politischen Lagern deutet zurzeit allerdings eher auf eine weitere Eskalation hin.

DER UNHEILSBRINGER

Selten hat man in Mexiko einen US-Vorwahlkampf mit so viel Aufmerksamkeit verfolgt. Dabei geht es lediglich um die Auswahl der beiden Kandidat*innen für die großen Parteien. Im Kern  ist es jedoch der republikanische Kandidat, dem das mediale Interesse gilt. Donald Trumps Eskapaden sind in aller Munde und auf allen Bildschirmen zu verfolgen. Die ablehnende Haltung der Mexikaner*innen gegenüber Trump scheint in der ansonsten tief gespaltenen Gesellschaft sogar Regierung und Opposition zu einen.
Zentral steht dafür Trumps Plan, den Grenzzaun zu einer Mauer entlang der 3144 Kilometer langen Grenze zwischen den USA und Mexiko auszubauen. Die abstruse Forderung machte weltweit in den Medien die Runde. „Lasst Mexiko für die Mauer bezahlen“, fordert Trump auf seiner Webseite. Illegale Migration sei für den Export von Verbrechen und Armut aus lateinamerikanischen Ländern genutzt worden. „Sie haben sogar Broschüren veröffentlicht, in denen erklärt wird, wie man illegal in die USA einreist“, heißt es weiter auf der Webseite. „US-amerikanische Steuerzahler wurden dazu aufgefordert, hunderte von Milliarden Dollar für das Gesundheits-, das Bildungs- und das Sozialwesen etc. in die Hand zu nehmen“ – eine Kritik an der aktuellen US-Politik. Ergänzend versucht Trump, die ohnehin schon marginalisierten Bevölkerungsgruppen der USA gegeneinander auszuspielen: „Die Folgen für Arbeitssuchende waren ebenfalls katastrophal, davon waren vor allem Afro-Amerikaner betroffen.“ Mexiko würde insbesondere profitieren, da durch die Geldrücküberweisungen der „illegalen Arbeiter*innen“ an ihre Familien das BIP und somit die Wirtschaftskraft des Landes gestärkt würden. Um Mexiko zu zwingen, die Mauer zu finanzieren, schlägt Trump unter anderem vor, „alle Geldrücküberweisungen zu blockieren“ und die Kosten für alle Visa mexikanischer Arbeiter*innen, Diplomat*innen und sonstigen Visa-Inhaber*innen zu erhöhen. So lange bis die mexikanische Regierung sich bereit erkläre, die Kosten für die Mauer zu übernehmen.
Keine Erwähnung findet in diesen Aussagen, wie stark die Agrar- und Dienstleistungssektoren vor allem in den grenznahen Regionen der USA von dieser „illegalen Einwanderung“ profitierten oderweiter profitieren. Seit der Einführung des Freihandelsabkommens NAFTA 1994 wurde Mexiko zudem zu einem Niedriglohnland nahezu ohne Steuerabgaben für US-amerikanische Firmen. Auch von den vielen Todesfällen an der Grenze wird hier nicht gesprochen. Broschüren wurden von den  mexikanischen Behörden tatsächlich herausgegeben – um weitere Tote zu verhindern.
Zum Auftakt seiner Kandidatur im letzten Jahr tat Trump seine Meinung über Mexikaner*innen offen kund: „Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger und einige, so nehme ich an, sind gute Menschen.“ Damit hebt er sich rhetorisch von denen der anderen Kandidat*innen ab – inhaltlich steht Trump mit dieser Haltung indessen gar nicht so alleine da.
Viele Mexikaner*Innen wie die Juristin Nelly Arellano betrachten ihn als „Unheilsbringer“. „Es geht dabei nicht bloß um Mexiko, sondern um uns Latinos im Allgemeinen“, sagt sie. Die soziale Aktivistin und Musikerin Vania Fortuna kritisiert: „Die Berichterstattung innerhalb Mexikos konzentriert sich nur auf Trump, nicht auf die anderen Kandidat*innen.“ Dabei vertreten auch die Hillary Clinton und Ted Cruz zweifelhafte Positionen. Cruz beispielsweise, selbst mit kubanischer Familie, ist strikt gegen jede Möglichkeit, dass sogenannte nicht-dokumentierte Immigrant*innen einen legalen Status erhalten oder dass in den USA geborene Kinder „ausländischer“ Eltern automatisch Staatsbürger*innen der USA werden können. Das Verhalten Hillary Clintons in Bezug auf ihre Einmischung bei der Umsetzung der letzten Energiereform in Mexiko beweist, dass sie als Präsidentin weiterhin an der imperialistischen Hinterhof-Politik festhalten würde.
Gewissermaßen könnte das Skandalpotenzial in Trumps Äußerungen und deren starke mediale Rezeption der mexikanischen Regierung gelegen kommen. So wird von den vielen internen Problemen und Ungereimtheiten abgelenkt – beispielsweise von dem Verschwindenlassen der 43 Studenten oder der steigenden Zahl ermordeter oder verschwundener Journalist*Innen.
Auf Regierungsebene Mexikos haben die Statements Trumps des Vorwahlkampfes Bewegung ausgelöst: Am 5. April wurden der Unterstaatssekretär der Abteilung Nordamerika des Außenministeriums sowie der mexikanische Botschafter in den USA ausgetauscht. Der Personalwechsel könnte stattgefunden haben, weil die Sorge der mexikanischen Regierung vor einem möglichen Wahlsieg Trumps ein neues diplomatisches Vorgehen erfordert. Die Haltung des bisherigen Botschafters Miguel Basáñez habe sein Desinteresse und seine Unkenntnis an den bilateralen Beziehungen bewiesen, so Proceso online. Nach Informationen dieses renommierten Magazins habe er lieber wissenschaftliche Reden gehalten als politisch zu agieren. Der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto äußerte sich knapp und chaotisch zur Causa Basáñez: „Ich habe viel Anerkennung und großen Respekt für unseren Botschafter Miguel Basáñez, aber ich glaube, in diesem Moment braucht es…Es handelt sich nicht um eine wirkliche Absetzung.“ Offiziell heißt es, die Berufungen von Paulo Carreño King zum neuen Unterstaatssekretär und Carlos Sada Solana zum neuen Botschafter seien Teil einer integralen Strategie der mexikanischen Regierung, um die Beziehungen zu den USA und Kanada zu stärken und um „die mexikanischen Interessen und das Ansehen Mexikos in beiden Ländern zu fördern.“ Carlos Sada arbeitet bereits seit 1989 für die mexikanische Regierung im nordamerikanischen Ausland, zunächst als Konsul in Toronto und später als Generalkonsul in verschiedenen Konsulaten in den USA. Nach seiner Bestätigung durch den mexikanischen Senat versprach er für die mexikanische Diaspora in den USA in Zukunft mehr Achtung einzufordern und dafür zu sorgen, dass Attacken auf sie nicht mehr so einfach hingenommen würden. Bei Trumps rassistischen Amokdauerläufen dürfte er viel zu tun haben.

RASANTE REFORMEN

100 Tage Regierung Macri, 40 Jahre Putsch, der Besuch des US-Präsidenten Barack Obama: Der März war in Argentinien politisch überfrachtet. Der neue Präsident Mauricio Macri baut das Land im Eiltempo um und zieht Teile der Opposition auf seine Seite, während die Linke noch nach geeigneten Strategien gegen die neoliberale Regierungspolitik sucht.

Immer wieder hallen Sprechchöre durch die überfüllten Straßen. Obwohl viele Argentinier*innen in der Osterwoche traditionell verreisen, ist es eng an diesem Gründonnerstag, dem 24. März. Am 40. Jahrestag des Militärputsches erinnern in zahlreichen Städten Argentiniens hunderttausende Menschen an die Opfer der letzten Diktatur (1976-1983). Auf der größten Demo in Buenos Aires ziehen Menschenrechtsgruppen, Anhänger*innen der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und soziale Bewegungen von der Avenida 9 de Julio im Zentrum zur Plaza de Mayo, wo sich der Präsidentenpalast Casa Rosada befindet. Viele Teilnehmer*innen beteuern, dass es mehr seien als jemals zuvor an einem 24. März. Das hat allerdings nicht nur mit dem runden Jahrestag zu tun. „Schon seit der Schulzeit gehe ich jedes Jahr zu dieser Demonstration, aber heute hat es einen besonderen Beigeschmack“, sagt Laura Corti, die mit ihrem zwei Monate alten Sohn im Tragetuch gekommen ist. „Wir haben eine neue Regierung und den Besuch des US-Präsidenten, der mir in diesem Kontext ein wenig provokativ erscheint.“
Tatsächlich ist die Ablehnung gegen die Regierung unter Mauricio Macri an diesem 24. März überall spürbar. Kirchneristische Gruppen skandieren kämpferisch den Slogan „Vamos a volver“ („Wir werden zurückkommen“). Auf der Tribüne vor der Casa Rosada verlesen Vertreter*innen von Menschenrechtsgruppen einen gemeinsam verfassten Text, der kein gutes Haar an Macris Politik lässt. Bereits am Morgen hatte US-Präsident Barack Obama am Erinnerungsort Parque de la Memoria gemeinsam mit seinem argentinischen Amtskollegen den Opfern der Diktatur gedacht. Die USA hätten „lange gebraucht“, um die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien zu kritisieren, räumte er ein und sagte die Freigabe weiterer Militär- und Geheimdienstdokumente über die Diktatur zu. Am Vortag hatte Obama bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Macri erklärt, „dass die Anerkennung der Menschenrechte in den 70er Jahren ebenso wichtig war, wie der Kampf gegen den Kommunismus.“ An Selbstkritik mangele es aber nicht.
An Kritik allerdings noch weniger. Nach dem Willen der argentinischen Regierung hätte Obama die ehemalige Mechanikerschule der Marine (ESMA) besuchen sollen, auf deren Gelände sich nach dem Putsch eines der wichtigsten geheimen Haftzentren Argentiniens befand. Doch Menschenrechts- und Erinnerungsorganisationen wie die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo oder H.I.J.O.S, die Organisation der Kinder von Verschwundenen, setzten sich erfolgreich dagegen zu Wehr. Daran, dass der US-Präsident auf dem ESMA-Gelände unerwünscht ist, erinnern dort in diesen Tagen an fast jedem Baum und jeder Wand US-kritische Flugblätter. Auch zu dem Akt im Parque de la Memoria erscheint trotz offizieller Einladung keine der Organisationen, die sich mit der Aufarbeitung der Diktatur beschäftigen.
Am 24. März 2004 hatte der damalige Präsident Néstor Kirchner das ESMA-Gelände an die Stadt Buenos Aires übergeben, um einen Ort der Erinnerung und zur Förderung der Menschenrechte zu schaffen. Heute haben die wichtigsten Menschenrechts- und Erinnerungsorganisationen hier ihren Sitz und verwalten das 17 Hektar große Grundstück gemeinsam mit der argentinischen Regierung und der Stadt Buenos Aires. Bis zum letzten Jahr arbeiteten die Organisationen eng mit Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner zusammen, der Ehefrau des 2010 verstorbenen Nestór Kirchner. Doch seit Macris Amtsantritt im Dezember vergangenen Jahres ist die Stimmung angespannt. Abgesehen davon, dass einige Organisationen von Regierungsgeldern abhängig waren, die nun ausbleiben, befinden sich auf dem Gelände auch staatliche Institutionen, die mittlerweile mit Gefolgsleuten von Macri besetzt sind. Dazu zählt etwa das Büro des neuen Menschenrechtssekretärs, Claudio Avruj. „Dieses Ambiente wurde durch Präsident Kirchner geschaffen. Die Menschenrechtsgruppen glauben, dass ihnen dieser Ort gehört“, kritisierte er die Ablehnung Obamas in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País. „Auch wenn wir hier zusammen leben, fehlt ihnen das Verständnis dafür, dass dies ein Raum des argentinischen Staates ist.“ Die Menschenrechtsorganisationen sehen das freilich anders. „Es gibt hier eine grundlegende Konfrontation mit der Macri-Regierung“, sagt Martín Ortíz, der auf dem ESMA-Gelände arbeitet, seinen richtigen Namen zurzeit aber lieber nicht in der Zeitung lesen will. „Unter Kirchner hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass es während der Militärdiktatur einen Staatsterrorismus gegeben hat. Nun wird zunehmend wieder die „Theorie der zwei Dämonen“ bedient, wonach die Gesellschaft Opfer der beiden Extreme Militär und linker bewaffneter Gruppen gewesen sei.“ Seit der Amtsübernahme durch die neue Regierung würden wieder Meinungen geäußert, die in den vergangenen Jahren im öffentlichen Diskurs tabuisiert waren.
Zum Beispiel von Darío Lopérfido, Kulturminister der von Macris Partei PRO (Republikanischer Vorschlag) regierten Stadt Buenos Aires. Die Zahl von 30.000 Verschwundenen bezeichnete er als „Lüge, die am Verhandlungstisch entstanden sei“, um internationale Aufmerksamkeit und Gelder zu erhalten. „Sie testen gerade die Grenzen aus“, ist sich Ortíz sicher. Die Arbeit auf dem ESMA-Gelände wird derweil zusätzlich durch diffuse Drohungen erschwert. Seit Anfang vergangenen Jahres, also auch noch während der Kirchner-Regierung, gingen etwa 50 telefonische Bombendrohungen ein. Jedes Mal musste das komplette Areal geräumt werden. Wer dahinter steckt, ist unklar. Nach Macris Wahlsieg blieb es eine Zeit lang ruhig, doch mittlerweile seien wieder regelmäßig Drohungen eingegangen. Dass Obama weitere Dokumente zur Militärdiktatur freigibt, begrüßt Ortíz zwar, schließlich hätten die Menschenrechtsorganisationen dies seit langem gefordert. „Aber er hätte sich zumindest für die damalige US-Politik entschuldigen sollen“, fügt er hinzu.
Neben der historisch symbolischen Bedeutung seines Besuches, geht es Obama vor allem darum, der rechten argentinischen Regierung politisch und wirtschaftlich den Rücken zu stärken. Mit dem Wahlsieg der argentinischen Rechten kehrt ein bedeutendes lateinamerikanisches Land in die Einflusssphäre der USA zurück. Macri hofft seinerseits auf eine enorme Investitionswelle und inszeniert das neue Argentinien wie die Rückkehr eines verlorenen Sohnes. Der US-Präsident selbst sprach bei seinem Besuch offen aus, warum er an den Río de la Plata gereist ist: „Wir sind von der Arbeit der ersten 100 Tage beeindruckt.“
In gut drei Monaten Regierungszeit gelang es Macris unternehmernaher Regierung in rasanter Geschwindigkeit zahlreiche Eckpfeiler der Kirchner-Ära zu demontieren, die meisten davon per Dekret. Gleichzeitig pflegt er einen gänzlich anderen politischen Stil als die Kirchners, indem er sich etwa gegenüber Teilen der Opposition dialogbereit zeigt, Pressekonferenzen abhält und reguläre Kabinettssitzungen einberuft.
Kurz nach Amtsantritt vereinheitlichte die Regierung zunächst die unterschiedlichen Wechselkurse des US-Dollars und gab den Devisenhandel frei. Dadurch zieht die ohnehin schon hohe Inflation weiter an, Macri verspricht eine signifikante Senkung in der zweiten Jahreshälfte. Es folgten die Abschaffung beziehungsweise Senkung von Exportabgaben auf Agrar- und Bergbauprodukte. Durch gestrichene Subventionen stieg der Strompreis um bis zu mehrere hundert Prozent, bei Gas, Wasser und dem öffentlichen Nahverkehr sind bereits ähnliche Maßnahmen ankündigt. Einige der kommerziellen Beschränkungen, die das progressive Mediengesetz aus der Kirchner-Ära den großen Medienkonzernen auferlegt hatte, hob Macri wieder auf. Zudem ging in seiner bisherigen Amtszeit bisher eine sechsstellige Zahl von Arbeitsplätzen verloren. Dies betrifft teilweise die Privatwirtschaft, auch weil beispielsweise Bauprojekte aus der Kirchner-Regierung nun nicht umgesetzt werden. Vor allem aber hat die Regierung massenhaft Staatsangestellte mit der Begründung entlassen, sie hätten ihre Posten von der Vorgängerregierung nur aus Gefälligkeit bekommen. In einem Fernsehinterview am 20. März beteuerte Macri, seine Regierung ermögliche den Entlassenen ein neues Leben, denn diese „gingen acht Stunden lang zur Arbeit, ohne irgendetwas zu tun. Das ist erniedrigend.“
Wie schon als Bürgermeister von Buenos Aires setzt Macri außerdem auf ein repressives Vorgehen gegenüber sozialen Protesten. Ein neues Sicherheitsprotokoll sieht eine harte Linie gegenüber den als piquetes bekannten organisierten Straßensperrungen vor. Zwar wurde es bisher noch nicht angewendet, macht staatlicher Repression aber den Weg frei.
Trotz dieser Bilanz sitzt der Präsident erstaunlich fest im Sattel. Zwar gab es seitens der Gewerkschaften Proteste gegen die Entlassungen, doch scheinen die Regierungsgegner*innen mit dem Reformtempo derzeit kaum mithalten zu können. Im Parlament brachte Macri einen Teil der Opposition hinter sich, um den jahrelangen Schuldenstreit mit den so genannten Geierfonds beizulegen. Diese hatten nach der Staatspleite Argentiniens 2001 Schuldentitel zum Ramschpreis aufgekauft und pochen jetzt auf die Rückzahlung des vollen Nominalwertes samt Zinsen. Um die Fonds auszahlen und das dafür nötige Geld auf dem Kapitalmarkt als Neuschulden aufnehmen zu können, müssen zwei Gesetze geändert werden. Macri verfügt jedoch in keiner der Kammern über eine eigene Mehrheit. Sollte mit den Geierfonds keine Einigung erzielt werden, drohten „Sparzwang oder Hyperinflation“, sagte er im Vorfeld der Abstimmung in der Abgeordnetenkammer. Dort stimmten Mitte März schließlich sowohl die Rechts-Peronist*innen um den Ex-Präsidentschaftskandidaten Sergio Massa, als auch die jüngste Abspaltung des Kirchnerismus, dem Bloque Justicialista um Diego Bossio, für eine Einigung mit den Geierfonds.
Selbst aus der kirchneristischen Frente para la Victoria (FPV) votierten sechs Abgeordnete für die Gesetzesänderungen. Im Senat, wo die FPV die absolute Mehrheit stellt, erreichte Macri Ende März mit 54 Stimmen gar eine Zweidrittelmehrheit, obwohl sein Bündnis Cambiemos (Lasst uns verändern) selbst hier nur über 15 Senator*innen verfügt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die im Senat vertretenen Provinzpolitiker*innen durch Argentiniens mögliche Rückkehr an die Kapitalmärkte neuen finanziellen Spielraum versprechen. Der durchschlagende Abstimmungserfolg bedeutet aber nicht, dass sich Macri nun auf stabile Mehrheiten verlassen könnte. Momentan sehen die meisten Akteur*innen innerhalb des breiten und teilweise diffusen peronistischen Spektrums ihren Gegner aber eher im Kirchnerismus als in Macri.
Für das ehemalige Regierungsbündnis FPV, das sich mehrheitlich der peronistischen Partei (PJ) zugehörig fühlt, steht eine Menge auf dem Spiel. „Entscheidend für die nächsten Jahre ist, wer jetzt die Oberhand gewinnt“, sagt Cristina Quiroga, Politikwissenschaftlerin und kirchneristische Aktivistin. Sollte sich bei den internen Wahlen der PJ am 8. Mai eine rechtsperonistische Führung durchsetzen, würden sich die progressiven Sektoren um die Jugendorganisation La Cámpora wahrscheinlich abspalten. „Das FPV-Bündnis droht dann auseinander zu brechen“, warnt Quiroga.
Argentiniens Linke betont derzeit vor allem die nötige Einheit. Doch daran, wie diese geschaffen werden soll, scheiden sich die Geister. „Optimistisch gesehen scheint es auf der Hand zu liegen, dass angesichts einer Strukturanpassung unter einer rechten Regierung Allianzen von unten geschaffen werden“, sagt die Soziologin und Bewegungsforscherin Maristella Svampa. Grundlegend für diese Allianz zwischen Kichnerismus und unabhängiger Linker sei aber eine Selbstkritik von ersterem und eine Praxis, die nicht auf eine Unterordnung der anderen Organisationen hinauslaufe.
Auch die Basisorganisation Frente Popular Darío Santillán (FPDS) fordert eine Selbstkritik der sozialen Bewegungen, die sich dem Kirchnerismus angeschlossen haben. „Die Grundlage für den Rechtsruck ist auch in den letzten zwölf Jahren gelegt worden, da die Kirchners das Wirtschaftsmodell nicht grundlegend verändert haben“, betont Florencia Puente, Aktivistin der FPDS. Gleichzeitig sei sie aber froh darüber, dass es neue Möglichkeiten gebe, um mit eben diesen Aktivist*innen wieder in Dialog zu treten. „Nur gemeinsam mit allen, die von der Politik Macris betroffenen sind, können wir einen breiten Widerstand aufbauen“. Nach Ansicht der FPDS und einiger anderer Bewegungen soll dieser Widerstand vor allem von einem alternativen Konsens in der Zivilgesellschaft ausgehen, der mittelfristig auch Grundlage für ein neues (Wahl-) Bündnis außerhalb des Peronismus sein sollte.
So viel Geduld haben andere nicht, auch wenn sie ebenfalls davon überzeugt sind, dass eine Alternative innerhalb der Zivilgesellschaft entstehen muss. „Nur basierend auf der Hegemonie des Kirchnerismus und der dadurch ermöglichten Selbstermächtigung von Teilen der Bevölkerung können wir eine starke Opposition aufbauen“, erklärt Facundo Taboada. Er ist Aktivist beim neu gegründeten Bündnis Proyecto Popular, dem Zusammenschluss einer kirchneristischen und einer unabhängigen Basisorganisation. Die politische Kehrtwende, die die aktuelle Regierung sowohl innen- als auch außenpolitisch bedeute, sei zu drastisch und erfordere eine unmittelbare strategische Einheit, die auf eine Regierungsübernahme ausgerichtet sein müsse. „Trotz aller Kritik ist die Frente para la Victoria momentan die einzige realistische Möglichkeit, die Regierung der neuen Rechten zu beenden“, so Taboada.
Die unterschiedlichen Strategien in der Linken schlugen sich auch am 24. März nieder. Während sich die Aktivist*innen von Proyecto Popular an der kirchnernahen Großdemonstration beteiligten, zogen die Aktivist*innen der FPDS mit anderen unabhängigen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien am späten Nachmittag vom Kongressgebäude zur Plaza de Mayo. Trotz einer ähnlichen Analyse und der allgemeinen Ablehnung der Macri-Regierung gelang es auch dieses Jahr nicht, eine zentrale Demonstration zu organisieren. Dass beide Demos letztlich zu einer verschmolzen, war nicht der politischen Strategie, sondern der massiven Teilnahme geschuldet.

VORPROGRAMM FÜR DIE STONES

Am Ende schien sich alles in Wohlgefallen aufzulösen. Während der Baseballpartie zwischen den Tampa Bay Rays und der kubanischen Auswahl im generalüberholten Estadio Latinoamericano in Havanna sah man US-Präsident Barack Obama und Kubas Staatschef Raúl Castro sich mehr als eine Stunde lang angeregt unterhalten. Eine Reihe dahinter waren die beiden Außenminister John Kerry und Bruno Rodríguez ebenfalls in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Einträchtige Bilder zum Ende des dreitägigen Obama-Besuchs in Kuba, der mehr kühle Gesten, ernste Gesichter und angespannte Treffen produziert hatte als erwartet worden war.
Nur wenige Stunden zuvor hatte Obama am 22. März in seiner mit Spannung erwarteten Rede an das kubanische Volk im Gran Teatro von Havanna die Kubaner zu Veränderungen aufgerufen. Er sei „hergekommen, um die Überreste des Kalten Krieges zu begraben“, sagte Obama. Die Politik der Anfeindungen und Blockade der Vergangenheit habe nicht funktioniert. „Wir müssen den Mut haben, das anzuerkennen und dürfen keine Angst vor Veränderungen haben.“ Er bezog sich dabei wohl nicht nur auf die USA. „Ich glaube an das kubanische Volk“, so Obama weiter. Er hob die Unternehmer*innen auf eigene Rechnung hervor, lobte das Improvisationstalent und die Kreativität der Kubaner*innen.
Erneut forderte er ein Ende der Blockade. „Das Embargo ist eine überkommene Belastung für das kubanische Volk“, sagte er und erntete dafür heftigen Applaus vom kubanischen Publikum. Aber es seien auch Veränderungen in Kuba nötig, mahnte er. Es müsse einfacher werden, Unternehmen zu eröffnen, er insistierte auf den Ausbau des Internets als Weg für die Entwicklung der Wirtschaft und des freien Austauschs von Ideen. „Ich glaube, dass Bürger frei sein sollten, ohne Angst ihre Meinung zu sagen, sich zu versammeln und ihre Regierung zu kritisieren.“ An Kubas Präsidenten Raúl Castro gewandt bemerkte er: „Ich sage Präsident Castro, dass er keine Bedrohung durch die Vereinigten Staaten befürchten muss. Die Veränderungen hängen vom kubanischen Volk ab. Wir werden nicht unser politisches oder wirtschaftliches System aufdrängen.“
Gleichzeitig gab sich Obama überzeugt, dass die Demokratie die beste Form sei, um die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Dabei verkaufte er die USA jedoch nicht als Paradies, sondern als eine Gesellschaft mit vielen Problemen, die aber in der Lage ist, sich zu entwickeln. „Es gibt noch viel zu tun in beiden Ländern. Wir werden weiter Differenzen haben“, so Obama. Er rief zur Versöhnung zwischen den Kubaner*innen in Miami und auf der Insel auf. Diese sei fundamental für die Zukunft. „Es ist Zeit, die Vergangenheit zu vergessen und in die Zukunft zu schauen“, so Obama.
Von den Kommentator*innen des kubanischen Fernsehens wurde Obamas Rede kritisch aufgenommen. Man könne nicht, wie von Obama gefordert, die Vergangenheit einfach vergessen, zumal die USA für zahlreiche Missstände verantwortlich seien. Bemängelt wurde auch, dass Obama sich nicht für die Schäden durch die US-Blockadepolitik entschuldigt habe. Immer wieder schimmerte das weiterhin bestehende Misstrauen gegenüber den Absichten der USA durch. Letztlich gehe es den Vereinigten Staaten um Hegemonie: Die Taktik sei neu, die Ziele aber dieselben. Es wurde daran erinnert, dass, wenn Obama die Geschicke in die Hände der Kubaner*innen legen wolle, er die Finanzierung der gegen Havanna gerichteten TV- und Radioprogramme beenden und die Schaffung von dissidenten Journalist*innennetz-werken und Zahlungen an Systemoppositionelle einstellen müsse.
In der Bevölkerung dagegen stieß Obamas Rede auf viel Zustimmung. „Ich habe das Gefühl, die kubanische Regierung ist nun in der Defensive“, sagt Carlos Castañeda, der als Fassadenkletterer arbeitet, seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will. Die Rede des US-Präsidenten hat er zuhause am Fernseher verfolgt. „Obama hat wichtige Dinge angesprochen und viele Wahrheiten gesagt.“ Auch der Mediziner Rubén Vazquez zeigte sich zufrieden mit der Obama-Rede. „Er hat den richtigen Ton getroffen.“ Sein Vater Ramón dagegen bemängelte, dass der US-Präsident Guantanamo nicht erwähnt habe. Auch könne man die Geschichte nicht einfach beiseite schieben. „Ich habe aber das Gefühl, Obama meint es ehrlich.“
Große Wendungen im Annäherungsprozess hat die Obama-Reise nicht gebracht, aber das war auch nicht zu erwarten gewesen. Die erste Reise eines US-Präsidenten auf die Insel nach 88 Jahren war ein wichtiges Zeichen an die US-Öffentlichkeit, dass der Annäherungsprozess unumkehrbar ist und auch von seinem Amtsnachfolger nicht zurückgedreht werden kann. Die kubanische Regierung wiederum machte klar, dass das politische System nicht zur Disposition stünde und hob die weiterhin bestehende Differenzen hervor.
So war es vor allem eine Reise der Zeichen und Gesten. Das ging damit los, dass am Freitag vor der Obama-Visite überraschend Venezuelas Präsident Nicolás Maduro nach Havanna gekommen war. Von Raúl Castro bekam er den José-Martí-Orden, die höchste Auszeichnung Kubas verliehen; Fotos seines Besuches bei Revolutionsführer Fidel Castro gingen um die Welt. Demonstrativer Schulterschluss.
Obama und seine Familie wurden zwar freundlich, aber ohne offizielle Zeremonie begrüßt. Dass weder Präsident Raúl Castro noch sein Vize Miguel Díaz-Canel zum Flughafen gekommen waren und Obama stattdessen von Kubas Außenminister Bruno Rodríguez empfangen wurde, sorgte für Gesprächsstoff. Auch die Festnahme von rund 60 Systemoppositionellen beim sonntäglichen Marsch der „Damen in Weiß“ am 20. März nur wenige Stunden vor Obamas Ankunft brachte Aufregung und unschöne Bilder. Die Dissident*innen bekamen durch die Festnahmen – wenig später wurden sie wieder freigelassen – die erhoffte Aufmerksamkeit der internationalen Medien; die kubanische Regierung wiederum machte klar, dass sie sich von den USA in Menschenrechtsfragen nicht unter Druck setzen lassen würde.
Ein bemerkenswerter Moment war die gemeinsame Pressekonferenz von Raúl Castro und Barack Obama am Montag. Dabei musste sich Kubas Präsident Raúl Castro kritische Fragen zur Menschenrechtssituation auf Kuba gefallen lassen. Auf die Frage eines CNN-Reporters nach politischen Gefangenen entgegnete Castro aufgebracht: „Welche politischen Gefangenen? Geben Sie mir Namen. Noch vor heute abend werden sie freigelassen.“ Eine entsprechende Liste blieb der Fragesteller jedoch schuldig. Obama seinerseits blieb von Fragen zu politischen Gefangenen der USA in Guantanamo verschont. Kuba wird immer wieder wegen Festnahmen von Systemoppositionellen kritisiert. In ihrem Menschenrechtsreport von 2015/16 verzeichnet Amnesty International keine politischen Gefangenen in Kuba; Kritiker*innen der kubanischen Regierung sprechen dagegen von bis zu 90 politischen Häftlingen. Die kubanischen Behörden verweisen jedoch darauf, dass diese wegen allgemeiner Delikte verurteilt wurden. Auch wenn viele Kubaner*innen die Schwierigkeiten im täglichen Leben beklagen: Mangelwirtschaft, Korruption, niedrige Einkommen, genießen die Systemoppositionellen in der kubanischen Bevölkerung kaum Sympathien.
Und auch die USA scheinen immer weniger auf die Dissident*innen zu setzen und ihre Aufmerksamkeit auf andere Sektoren der kubanischen Gesellschaft zu richten, die als Motoren der Veränderung in Frage kommen. In seinen Reden erwähnte Obama die Dissident*innen kaum. Auch das Treffen mit ausgewählten Vertreter*innen systemkritischer Gruppen verlief eher diskret. Stattdessen betonte Obama immer wieder den Ausbau des Internets, den freien Austausch von Ideen sowie die Bedeutung der Arbeiter*innen auf eigene Rechnung, wie die kubanischen Kleinunternehmer*innen bezeichnet werden.
Obama versprach während seines Besuches mehrfach, die künftigen Geschicke Kubas lägen in den Händen des kubanischen Volkes. Mit der Kranzniederlegung am Ehrenmal des kubanischen Nationaldichters José Martí bezeugte er Respekt vor der kubanischen Unabhängigkeit und setzte ein wichtiges Zeichen, dass er die Souveränität Kubas und das Prinzip der Nichteinmischung respektiert.
Begleitet wurde Obama auf seiner Reise von US-Außenminister John Kerry, US-Landwirtschaftsminister Tom Vilsack, US-Handelsministerin Penny Pritzker, der Nationalen Sicherheitsberaterin Susan E. Rice sowie vierzig Kongressabgeordneten beider Parteien.
Vilsack und sein kubanischer Amtskollege Gustavo Rodríguez Rollero unterzeichneten ein Memorandum zur Kooperation in der Landwirtschaft. Zudem kündigten eine Reihe von US-Unternehmen künftige Geschäfte auf Kuba an. Bereits am Samstag vor der Obama-Visite hatte Starwood Hotels, das unter anderem die Hotel-Ketten Westin und Sheraton betreibt, eine millionenschwere Vereinbarung zum Betrieb von zwei Luxushotels in Havanna bekannt gegeben. Das Reiseportal Airbnb wiederum darf künftig Reisenden aus aller Welt Privatunterkünfte in Kuba anbieten. Bisher galt dies ausschließlich für US-Reisende. Beide Unternehmen erhielten spezielle Genehmigungen durch die US-Regierung. Darüber hinaus kündigte US-Präsident Obama an, dass Google Breitbandinternet auf der Insel ausbauen werde, ohne jedoch weitere Details zu nennen. Das zur Priceline-Gruppe gehörende Webportal booking.com wiederum wird künftig Online-Hotelreservierungen für Kuba managen und Western Union erlaubt künftig Geldüberweisungen aus aller Welt nach Kuba, nachdem die US-Regierung Restriktionen auf Transaktionen in US-Dollar aufgehoben hatte.
Raúl Castro wiederholte die kubanische Position, dass die Aufhebung der Blockade und die Rückgabe von Guantanamo essenziell für eine Normalisierung der Beziehungen seien. Der kubanische Intellektuelle Luis Suárez sagte gegenüber der spanischen Tageszeitung Público, man müsse eine „Anormalisierung“ statt der „Normalisierung“ der bilateralen Beziehungen suchen, da in der Vergangenheit die USA sich das Recht anmaßten, sich in die inneren Angelegenheiten Kubas einzumischen.
So oder so liegt ein langer Weg vor beiden Ländern – es wird wohl einer der kleinen Schritte werden, das hat der Obama-Besuch klargemacht. Das jahrzehntelange Misstrauen auf beiden Seiten verschwindet eben nicht über Nacht.

EINSAMKEIT UND WAHNSINN

Wie lebt man in einer Region mit den weltweit höchsten Mordraten? Wie lebt man unter Drogenmafias, korrupter Polizei und kriminellen Politiker*innen? Diesen Fragen geht der salvadorianische Journalist Óscar Martínez in seinem kürzlich ins Deutsche übersetzte Buch nach. Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika sind vierzehn Reportagen, die Martínez zwischen 2011 und 2015 verfasst hat. Er analysiert darin die Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten. Die einzelnen Geschichten nehmen dabei immer wieder aufeinander Bezug und zeichnen ein lebhaftes, tiefgründiges und kritisches Bild der Misere, mit besonderem Fokus auf El Salvador, Guatemala und Honduras.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil,„Einsamkeit“, handelt von den „Regionen, aus denen sich die Regierungen verabschiedet oder in denen sie sich mit dem Organisierten Verbrechen arrangiert haben“, so Martínez in der Einleitung. Eine dieser Reportagen erzählt vom guatemaltekischen Departamento Petén. Hier haben sich Drogenbarone illegal und zum Teil in Naturschutzgebieten riesige Anwesen errichtet, während der Staat dies aus Angst toleriert oder aus Komplizenschaft schützt. Gleichzeitig werden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit Verweis auf den Naturschutz vom selben Staat verjagt und so entweder in die Arme eben jener Drogenbanden getrieben. Oder in die Arme der Agroindustrie, die in diesen Naturschutzgebieten Palmöl anbaut. Trotz der unerträglichen Zustände gelingt es Martínez nicht zynisch zu werden, sondern so lange weiter zu recherchieren, bis die Geschichten mit all ihren Aspekten erzählt sind. Die Gewalt ist bei Martínez nie monokausal, nie ohne Kontext und immer ist mehr als ein Akteur involviert.
Der zweite Teil des Buchs heißt „Wahnsinn“. In diesem Teil möchte der Autor mit eigenen Worten „die Sinnlosigkeit, die extreme Gewalt, in der uns die Einsamkeit versinken lässt“ beschreiben. Eine der Reportagen handelt vom jahrelangen verzweifelten Kampf eines Gerichtsmediziners, der Leichen aus einem Brunnen bergen möchte. Er will damit Beweise gegen mareros, Mitglieder von Banden, sammeln um ihre Verurteilung zu erreichen. Der Protagonist erhält dabei von keiner staatlichen Stelle ernsthafte Unterstützung. Am Ende muss er aufgeben und die Mörder werden aus Mangel an Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen. Dieser Wahnsinn sei symptomatisch für ein ganzes Land, schreibt Martínez über El Salvador.
Der dritte Teil des Buchs trägt den Titel „Flucht“ und „berichtet von denen, die dem Wahnsinn entfliehen wollen“, wie es in der Einleitung heißt. Die Reportagen handeln von Fluchtversuchen in die USA, von Menschenschmuggler*innen oder von dem Ex-marero namens El Niño, der Kronzeuge in vielen Prozessen gegen die Mara Salvatrucha und  gegen kriminelle Polizist*innen ist. Es ist die „Geschichte eines Mannes, von dem auch ich wusste, dass man ihn ermorden würde“. Martínez betont, dass El Niño selbst ein Mörder war. Er hätte als Kronzeuge aber auch unter dem Schutz des Staates stehen müssen, um im Kampf gegen Gewalt bei der Aufklärung zu helfen.
Martínez klagt auf vielfältige Weise an und gibt nur selten Grund zur Hoffnung. Vor allem versucht er aber die Komplexität zentralamerikanischer Gewalt zu verstehen und zu vermitteln. Die Empathie, die er seinen Gesprächspartner*innen und Protagonist*innen entgegenzubringen weiß, machen seine Erzählungen eindrucksvoll. Die Gewalt in Zentralamerika erhält in Martínez‘ Reportagen Gesichter, die man beim Lesen zwar nicht zu mögen, aber in ihrem Handeln zu verstehen beginnt. Zu einer eindrucksvollen Lektüre trägt schließlich auch die exzellente Übersetzung von Hans-Joachim Hartstein bei.

Geschmierte Eliten

Ein Jahr ist es nun her, dass Michelle Bachelet zum zweiten Mal das Amt der Präsidentin Chiles übernommen hat. Gut zwei Drittel der Chilen*innen gaben ihr in der Stichwahl Ende 2013 gegen die konservative Kandidatin Evelyn Matthei ihre Stimme. Gegen die soziale Ungleichheit wollte sie kämpfen, das Bildungssystem reformieren und eine neue Verfassung erarbeiten. Bis Anfang dieses Jahres sah es für die Agenda der Mitte-Links Regierung auch gar nicht so schlecht aus. Sie reformierte das Wahlsystem aus Zeiten der Pinochet-Diktatur, führte das Recht auf eingetragene Lebenspartnerschaften für Homosexuelle ein, liberalisierte das Abtreibungsverbot und begann mit der Reformierung des Bildungssystems. Trotz durchaus starker Kritik an einigen der Reformen hätte wohl noch Ende Januar kaum jemand vermutet, dass Chile bereits wenige Wochen später bis zum Hals in einer Regierungskrise stecken würde. Was als Ermittlungen wegen des Verdachts auf Steuerbetrug gegen einige chilenische Unternehmen begann, mündete in eine politische Krise, die einige für die schlimmste seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 halten.

Lange galt Chile als ein Land ohne eine nennenswerte Korruptionsproblematik. Im Korruptions-Wahrnehmungsindex von Transparency International für Amerika belegt es nach den USA und Kanada den dritten Platz. Diese Zeiten scheinen nun vorbei zu sein. Bereits im letzten Jahr wurde bekannt, dass die Finanzholdinggruppe Penta mehrere Millionen US-Dollar an Steuern hinterzogen hat. Nachdem der ehemalige Direktor des Unternehmens, Hugo Bravo, der Staatsanwaltschaft gegenüber erklärte, dass ein großer Teil dieses Geldes der illegalen Wahlkampffinanzierung der chilenischen Rechten im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahlen gedient habe, wurde der Fall zum politischen Skandal.

Die bereits erfolgten Ermittlungen brachten E-Mails zwischen der Unternehmensführung und verschiedenen Politiker*innen zutage, aus denen hervorgeht, dass Penta in großem Umfang Gelder an die rechtskonservative Unabhängige Demokratische Union (UDI) und einzelne Politiker*innen gezahlt hat. Im Gegenzug versorgten die Politiker*innen das Unternehmen mit vertraulichen Informationen und stellten gefälschte Rechnungen über nie erbrachte Dienstleistungen aus, die Penta zwecks Steuerbegünstigungen beim Finanzamt einreichte. So informierte der mittlerweile zurückgetretene Vorsitzende der UDI, Ernesto Silva, die Unternehmensführung etwa über den Fortgang von Gesetzesinitiativen und erhielt im Gegenzug Honorare für angebliche Beratungstätigkeiten. „Unrechtmäßige Gelder, die in einigen Fällen für politische Kampagnen um öffentliche Ämter benutzt wurden“, so das Urteil der Staatsanwaltschaft.

Wasserwerfer und Tränengas. Die Regierung setzt bislang mehr auf Repression als auf Dialog. Foto: Arturo Ledezma/El Ciudadano (CC BY-NC-ND 2.0)
Wasserwerfer und Tränengas. Die Regierung setzt bislang mehr auf Repression als auf Dialog. Foto: Arturo Ledezma/El Ciudadano (CC BY-NC-ND 2.0)

Schnell wurde bekannt, dass Penta nicht das einzige Unternehmen ist, das auf diese Weise Steuern hinterzogen und die Politik geschmiert hat. Auch das Bergbauunternehmen Soquimich (SQM), unter der Führung von Julio Ponce, Ex-Schwiegersohn von Augusto Pinochet, hat Gelder gegen gefälschte Rechnungen verteilt. Bis zu zehn Millionen US-Dollar jährlich, wie Ponce nun gegenüber der Staatsanwaltschaft aussagte. Das Finanzamt hat der Staatsanwaltschaft kürzlich eine Liste mit Namen von Politiker*innen, Funktionär*innen, Berater*innen und Familienangehörigen aus der aktuellen sowie der vergangenen Regierung übergeben, die zwischen 2009 und 2013 vermutlich gefälschte Rechnungen für SQM ausgestellt haben. Ebenso wie die Penta-Geschäftsführer Carlos Alberto Délano und Carlos Eugenio Lavín, die mit Pinochet zwar nicht verwandt sind, aber doch zu dessen Anhänger*innen gezählt werden, wollte Ponce die langjährigen direkten Beziehungen in die Politik wohl angemessen pflegen. Wie Penta hat auch SQM in den 1980er Jahren stark von den Privatisierungen durch die Militärdiktatur profitiert; beide Unternehmen gehören heute zu den größten Multikonzernen Chiles.

Der Einfluss der Privatwirtschaft auf die chilenische Politik in den letzten zehn Jahren war, wie nun öffentlich wird, massiv. Ohne Ausnahme haben alle großen Konglomerate Kampagnen und einzelne Politiker*innen finanziert und dafür wahrscheinlich nicht nur von Steuerbegünstigungen profitiert. Der Ärger der Bevölkerung gegen die wirtschaftliche und politische Elite ist groß. Man habe genug von den immer gleichen Personen, die seit vierzig Jahren das Land bestimmen, so der Grundtenor bei der Demonstration in der Hauptstadt Santiago am 16. April. Die Studierenden, die zu den Protesten aufgerufen hatten, kämpfen seit Jahren für eine Bildungsreform, die ihnen eine qualitative und kostenfreie Bildung garantieren soll. Aber nun lehnten sie jede Reform ab, die von korrupten Politiker*innen beschlossen würde. Dahinter steht die Befürchtung, dass von einer solchen Reform wieder nur die Falschen profitieren werden. „Que los corruptos no decidan!“ – „Dass die Korrupten nicht entscheiden!“, stand auf vielen Plakaten und Transparenten.

Diese Sorgen sind nicht unbegründet, denn es ist nicht nur eine Hand voll Politiker*innen der rechten Opposition, die unter dem Verdacht der Korruption stehen. Dreizehn Senator*innen und ein Drittel des Parlamentes sind in den sogenannten „Pentagate“-Skandal oder den „Fall SQM“ involviert, vor allem Politiker*innen der UDI. Den Parteien des regierenden Mitte-Links Bündnisses Nueva Mayoría war es so zunächst ein Leichtes mit dem Finger auf den politischen Gegner zu zeigen. Aber der Rückenwind für die Regierung Bachelets war nur von kurzer Dauer, denn längst gibt es auch jede Menge Vorwürfe gegen Politiker*innen aus den eigenen Reihen. So sollen auch Abgeordnete der Sozialistischen Partei (PS), der Christdemokraten (PDC), der Partei für Demokratie (PPD) und der Sozialdemokratisch-Radikalen Partei (PRSD), wenn nicht von Penta, dann doch von SQM finanziert worden sein. Unter ihnen auch drei Minister der aktuellen Regierung Bachelets, darunter Innenminister Rodrigo Peñailillo. Unter den Parteien der Regierungsallianz ist derzeit allein die Kommunistische Partei (KPC) nicht betroffen.

Gegen Michelle Bachelet selbst gibt es bislang keine entsprechenden Vorwürfe, dennoch steht sie stark in der Kritik. Im Februar wurde bekannt, dass ihr Sohn, Sebastián Dávalos, Einfluss auf die Vergabe eines 10-Millionen-Dollar-Kredites für ein Immobiliengeschäft von der privaten Banco de Chile an das Unternehmen Caval genommen hatte. Letzteres gehört zu 50 Prozent seiner Ehefrau Natalia Compagnon. Im Gegensatz zu den meisten UDI-Politiker*innen trat Dávalos innerhalb kurzer Zeit von seinem Posten als Leiter der Präsidialabteilung für Soziales und Kultur zurück. Dennoch, und trotz der Bemühungen der Regierung, öffentliche Vergleiche des „Pentagate“-Skandals mit dem „Fall Caval“ als unbegründet abzutun, haben die Regierung, und Michelle Bachelet ganz persönlich, an öffentlichem Ansehen verloren.

Innenminister ohne weiße Weste.  Bachelt und Peñailillo bei dessen Amtsübertragung. Foto: Gobierno de Chile (CC BY 2.0)
Innenminister ohne weiße Weste.
Bachelt und Peñailillo bei dessen Amtsübertragung. Foto: Gobierno de Chile (CC BY 2.0)

Die Präsidentin behauptet nach wie vor, von dem Geschäft nichts gewusst und erst durch die Medien von den Korruptionsvorwürfen gegen ihren Sohn erfahren zu haben. Das glaubt ihr in Chile jedoch kaum jemand. Auch in Bezug auf die Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder ihres Kabinetts werden von ihr eine stärkere Stellungnahme und mehr Entschlossenheit gefordert. Stattdessen äußerte sie sich tagelang gar nicht, sodass manche schon mit ihrem Rücktritt rechneten. Dieses Gerücht hat sie mittlerweile aus der Welt geschafft und bekräftigt, sie werde ihr Mandat bis zu Ende führen. Dennoch zog sie persönliche Konsequenzen und kündigte wenige Tage nach den Massendemonstrationen an, „nie wieder für irgendetwas zu kandidieren“.

Bachelets Einschätzung scheint realistisch: Laut Umfragen ist ihre Beliebtheit seit Beginn des Jahres drastisch gesunken. Nur 30 Prozent der chilenischen Bevölkerung stehen noch hinter ihrer Präsidentin. Die meisten haben kein Vertrauen mehr – weder in die Präsidentin noch in den Rest des aktuellen politischen Machtapparats. Sie sehen kaum eine andere Möglichkeit, sich für Veränderungen im Land einzusetzen als auf die Straße zu gehen.

Doch die Regierung setzt bislang mehr auf Repression als auf Dialog. Bei den Demonstrationen am 16. April setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein, es gab circa 135 Festnahmen und mehrere Verletzte. Angeblich richteten sich diese Aktionen ausschließlich gegen vermummte Steine- und Molotowcocktail-Werferinnen. Augenzeuginnen berichteten jedoch auch von Schlagstockeinsätzen gegen friedlich Demonstrierende und dem gezielten Einsatz von Wasserwerfern gegen Unbewaffnete, die dabei zum Teil schwer verletzt wurden. Manches erinnerte an die massiven Studierendenproteste von 2011, die seit Bachelets Amtsantritt einiges an Kraft verloren hatten. Doch die Korruptionsskandale haben die Zivilbevölkerung wachgerüttelt. So beteiligten sich neben den Studierenden die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen an den Protesten.

Die Demonstrierenden zeigten sich fest entschlossen, die wichtigen Entscheidungen über die Zukunft Chiles nicht der vorherrschenden Elite zu überlassen und forderten neben der Absetzung aller korrupter Politiker*innen vor allem eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung bei den grundlegenden Reformen. „Ohne die Menschen, die heute hier demonstrieren, kann man zu keinem Einverständnis kommen und keine Politik machen. Die Regierung muss die Bildungsreform zusammen mit den Studierenden, die Arbeitsreform zusammen mit den Arbeitern und die Verfassungsreform zusammen mit dem chilenischen Volk machen“, äußerte sich auch Gabriel Boric, linker unabhängiger Abgeordneter und ehemaliger Studierendenanführer bei der Demonstration in Santiago.

Momentan ist die Regierung aber vor allem damit beschäftigt, den ihr verbliebenen Rest an Glaubwürdigkeit aufrecht zu erhalten – ebenso wie die komplette politische Elite. In einer gemeinsamen Erklärung bekannten sich Regierungs- und Oppositionsparteien zu ihrer Verantwortung und geloben Besserung, doch von Konsequenzen ist keine Rede. „Ohne mit dem Finger auf einige zu zeigen, hoffen wir, dass jeder selbst Verantwortung übernimmt“, heißt es darin. Die Präsidentin räumte ein, dass die Beziehungen zwischen Politik und Privatwirtschaft in Chile nicht immer korrekt verliefen und man es bisher versäumt habe, „die unethische Weise, Geschäfte zu machen, rechtzeitig und mit aller Kraft zu verurteilen“. Dennoch hält sie sich mit konkreten Verurteilungen weiter zurück und ruft dazu auf, auf die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu warten. Doch das kann dauern. Immerhin sind es mehrere hundert Namen, die die Staatsanwaltschaft vom Finanzamt auf verschiedenen Listen erhalten hat und denen nun nachgegangen werden muss.

Und fast täglich tauchen neue Informationen über bislang unbekannte Verbindungen zwischen Politik und Privatwirtschaft auf. So wurde Ende April auch bekannt, dass selbst der aktuelle Direktor der Steuerbehörde, Michel Jorratt – der eine Schlüsselrolle in der Aufklärung der Korruptionsvorwürfe spielt – fragwürdige Rechnungen an eine zu SQM gehörende Firma ausgestellt hat. Anstelle sich zu positionieren und ihren Willen zu einer lückenlosen Aufklärung zu zeigen, zog es Michelle Bachelet jedoch vor, auf die Unbewiesenheit der Vorwürfe zu verweisen und Jorratt öffentlich im Amt zu bestätigen. Man müsse abwarten, dass die „Institutionen funktionieren“, so ihr Appell. Um das Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen, oder zumindest nicht weiter zu strapazieren, hat Bachelet nun eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die der Korruption in Chile künftig einen Riegel vorschieben sollen. Sie will für mehr Transparenz sorgen, die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft stärker regulieren und härtere Sanktionen bei Verstößen ermöglichen. Unternehmensspenden an Parteien sollen grundsätzlich verboten werden und Politiker*innen, die „das Vertrauen der Öffentlichkeit missbraucht haben“, werden ihre Ämter niederlegen müssen. Ob diese Maßnahmen ausreichen werden, um die politische Krise in den Griff zu bekommen, ist schwer abzuschätzen. Klar ist, die Karten in Chile werden neu gemischt und die Politik steht unter scharfer Beobachtung. Weder Bachelet noch ihr Vorgänger Sebastián Piñera, der schon seine erneute Kandidatur für die nächsten Präsidentschaftswahlen angekündigt hatte, werden in näherer Zukunft für politische Topämter in Frage kommen. Denn wie kaum anders zu erwarten, ist auch Piñera in den Skandal verwickelt. Noch während seiner Präsidentschaft transferierte er Ende 2013 öffentliche Gelder über gefälschte Rechnungen an eines seiner Privatunternehmen, das damit über anonyme Spenden den Wahlkampf der rechten Präsidentschaftskandidatin Evelyn Mathhei finanzierte. Piñera hat seine Kandidatur inzwischen zurückgezogen. Was einen grundlegenden Wandel der politischen Landschaft als Ganzes betrifft, sind viele Chilen*innen jedoch nur verhalten optimistisch. Zu stark verflochten scheinen die zum Teil jahrzehntealten Beziehungen zwischen fast allen politischen Parteien und den 18 größten Multikonzernen Chiles zu sein. Und zu wenig glaubwürdig die Eingeständnisse und Versprechungen der Regierung.

Steilvorlage für Maduro

Es klingt so martialisch wie paranoid: Anfang März stellte Barack Obama in einem offiziellen Dekret besorgt fest, dass „die Situation Venezuelas eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“ darstelle. Als hätte die venezolanische Luftwaffe gerade die ersten Angriffe auf das Weiße Haus gestartet, rief der US-Präsident „einen nationalen Notstand“ aus, „um mit dieser Bedrohung umgehen“ zu können. Doch weder hat sein venezolanischer Amtskollege Nicolás Maduro zum antiimperialistischen Erstschlag ausgeholt, noch Obama die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt. Vielmehr werfen die USA Maduros Regierung vor, Menschenrechte zu verletzen und oppositionelle Kritiker*innen gewaltsam zu verfolgen. In Caracas wurde die wenig schmeichelhafte Einstufung als Affront wahrgenommen. Maduro wirft der US-Regierung – angesichts der langen Tradition US-amerikanischer Einmischung in Lateinamerika nicht unbegründet – vor, die Opposition zu unterstützen, um ihn stürzen zu können (siehe Artikel S. 34).

Oberflächlich betrachtet hat die Obama-Administration zunächst „nur“ ihren Job gemacht. Bereits Ende letzten Jahres hatte der Kongress Sanktionen gegen ranghohe Militärs und Regierungsmitglieder Venezuelas beschlossen. Um die Sanktionen rechtskonform umzusetzen, muss Obama aber erst eine Bedrohung der nationalen Sicherheit feststellen. Verständlicherweise löste diese Formulierung nicht nur auf diplomatischem Parkett Unverständnis aus, auch wenn das Weiße Haus beteuert, „missverstanden“ worden zu sein.

Obamas verbale Attacke kam dem innenpolitisch angeschlagenen venezolanischen Präsidenten ziemlich gelegen. Sie lieferte ihm eine unverhoffte Steilvorlage, um von den eigenen Problemen ablenken und seine Bündnispartner*innen hinter sich gegen die „imperialistische Aggression“ aus dem Norden versammeln zu können. Neben der üblichen Rhetorik auf schnell organisierten Demonstrationen und einer Twitter- und Unterschriftenkampagne gegen die Sanktionen wandte sich Maduro in einem offenen Brief auch an die US-amerikanische Öffentlichkeit. In der New York Times klärte er in einer Anzeige darüber auf, dass Venezuela „in zwei Jahrhunderten Unabhängigkeit nie eine andere Nation angegriffen“ habe und auch weiterhin friedlich und ohne Massenvernichtungswaffen (sic!) auskommen möchte.

Was auch immer Obama genau mit seinen Drohungen erreichen wollte, bewirkt haben sie vor allem eins: Lateinamerika und die Karibik stehen nun geschlossener denn je hinter Maduro. Umgehend bekräftigen die Castro-Brüder auf Kuba ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit der Regierung in Caracas. Dilma Rousseff, Daniel Ortega und Evo Morales folgten gerne Maduros Aufruf, ihm den Rücken zu stärken und Obamas Dekret in einer gemeinsamen Reaktion zu verurteilen. Aber nicht nur die üblichen Verdächtigen der links regierten Länder des ALBA-Bündnisses reagierten pikiert auf die semantische Schärfe Washingtons. Von der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), über die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), bis hin zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierten alle regionalen Bündnisse das Vorgehen der US-Regierung.

Die regionale Integration Lateinamerikas hat ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den USA hervorgebracht. Das zeigt sich nicht nur an Worten: Kuba nimmt im April zum ersten Mal seit 1962 an einem OAS-Gipfel teil – auf Einladung des Gastgebers Panama und auf ausdücklichen Wunsch der Lateinamerikaner*innen. Alle diplomatischen Versuche der USA vergangenen Herbst, diese Aufwertung der sozialistischen Karibikin-sel abzuwenden, schlugen fehl. Amerika verändert sich.

Obama isoliert im Hinterhof

Die USA fühlen sich bedroht. Dies allein wäre kaum eine Meldung mit Neuigkeitswert, doch lauert die Gefahr dieses Mal direkt vor der eigenen Haustür, im häufig als Hinterhof der USA bezeichneten Lateinamerika. Am 9. März erklärte US-Präsident Barack Obama die Situation in Venezuela zur „außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“. Zugleich verhängte er Sanktionen gegen sieben venezolanische Funktionär*innen. Die US-Regierung wirft ihnen Verletzung von Menschenrechten bei der Unterdrückung oppositioneller Proteste sowie Korruption vor. Die venezolanische Regierung sieht sich hingegen von dem US-Vorgehen bedroht, das sie als Vorbereitung auf eine militärische Invasion wertet. Es sei „der aggressivste Schritt“, den „die USA jemals gegen Venezuela unternommen haben“, sagte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Obama werde „wie Präsident Nixon in Erinnerung bleiben“, warnte er in Anspielung auf den gewaltsamen Sturz Salvador Allendes in Chile 1973.
Obamas Bedrohungsvokabular entspringt dem International Emergency Economic Powers Act, einem US-Gesetz aus dem Jahre 1977, mit dem der Präsident im Falle einer erklärten Bedrohung ohne Zustimmung des Kongresses Sanktionen verhängen kann. Neben Venezuela gelten derzeit unter anderem Iran, Syrien, Nordkorea und Russland als „außergewöhnliche Bedrohung“. Der US-Kongress selbst hatte bereits im vergangenen Dezember Sanktionen gegen venezolanische Funktionär*innen beschlossen. Ende Februar konterte Venezuela mit Gegensanktionen, nachdem Maduro die US-Regierung bezichtigt hatte, in einen kürzlich aufgedeckten mutmaßlichen Putschplan verwickelt zu sein. Es kam zur Verhaftung mehrerer Militärs und des Bürgermeisters des Großraums Caracas, Antonio Ledezma. Über gegenseitige Botschafter*innen verfügen beide Länder bereits seit eines Streits über den designierten US-Botschafter im Jahr 2010 nicht mehr.
Sollte Obama sich im Zuge der politischen Annäherung an Kuba erhofft haben, Venezuela in Lateinamerika isolieren zu können, ging der Schuss nach hinten los. Für die innerhalb wie außerhalb Venezuelas stark in der Kritik stehende Regierung Maduro wirken die Sanktionen aus Washington fast wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur die Linke Lateinamerikas stellt sich in dem Konflikt kategorisch hinter Venezuela. Keine einzige Regierung des Subkontinents unterstützt das einseitige Vorgehen der USA. Die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) forderte die Aufhebung des Dekretes, sprach sich deutlich gegen „äußere Einmischung“ sowie „einseitige Maßnahmen“ aus und mahnte zum Dialog. UNASUR-Generalsekretär Ernesto Samper warnte, die Sanktionen könnten in „der bereits polarisierten Situation“ dazu beitragen, „die Gemüter zu radikalisieren“. Die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), der alle lateinamerikanischen und karibischen Länder des Kontinents, nicht jedoch Kanada und die USA angehören, hatte im Februar bereits die Sanktionen des US-Kongresses zurückgewiesen. Die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) forderte Obama ebenfalls dazu auf, die Maßnahmen zurückzunehmen und sprach sich für einen Dialog aus. Auch José Miguel Insulza, scheidender Generalsekretär der US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bezeichnete Obamas präsidiale Verfügung als „sehr hart“. Selbst aus den Reihen des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) kamen vereinzelt kritische Töne. Der Gouverneur des Bundesstaates Lara, Henri Falcón, sprach von einem „schlechten Dienst für die venezolanische Opposition“.
Maduro selbst ging in die Offensive und beantragte in der Nationalversammlung umgehend legislative Vollmachten, um „den Frieden zu sichern“. Bereits sechs Tage nach Obamas Verfügung bewilligte das Parlament das thematisch breit formulierte „antiimperialistische“ Bevollmächtigungsgesetz. Bis Ende Dezember kann Maduro nun Dekrete mit Gesetzesrang in den Bereichen „Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Immunität, territoriale Integrität, nationale Selbstbestimmung und Frieden“ erlassen.
Es ist bereits das zweite Mal, dass Maduro mit Vollmachten regiert, die das Parlament dem Präsidenten laut venezolanischer Verfassung verleihen kann. Ende 2013 hatte ihm die Nationalversammlung für zwölf Monate Vollmachten in den Bereichen Wirtschaft und Korruption erteilt, die er für insgesamt 50 Dekrete und Gesetzesänderungen nutzte. Spürbare positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage oder die Korruption konnten dadurch bisher nicht erreicht werden. Bereits auf Grundlage der alten Verfassung von 1961 nutzten verschiedene Präsidenten die Möglichkeit, sich zeitlich begrenzte gesetzgeberische Vollmachten erteilen zu lassen. Maduros Vorgänger Hugo Chávez ließ sich zwischen 1999 und 2013 viermal bevollmächtigen. Wenngleich das gewählte Parlament über präsidiale Dekrete nicht debattiert, könnte die Bevölkerung laut der Verfassung von 1999 sogenannte Aufhebungsreferenden über einzelne Gesetze und Dekrete erzwingen. Bei Gesetzen, die durch Präsidialdekrete zustande gekommen sind, müssten dies fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler*innen per Unterschrift einfordern. Gebrauch gemacht wurde von diesem direktdemokratischen Recht bisher allerdings noch nie.
Für Maduro könnten es vorerst die letzten Vollmachten sein. Voraussichtlich Ende des Jahres wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt. Auch wenn noch nicht absehbar ist, ob die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten ihre Mehrheit verlieren, so ist es zumindest wahrscheinlich, dass sie die zur Erteilung von Vollmachten nötigen drei Fünftel der Abgeordneten nicht erreichen werden.
Die Opposition wirft Maduro vor, mit den Vollmachten gegen kritische Stimmen vorgehen zu wollen und die Konfrontation mit den USA dazu zu nutzen, von internen Problemen abzulenken. Seit dem Tod des damaligen Präsidenten Hugo Chávez vor gut zwei Jahren steckt Venezuela in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Die gesellschaftliche Polarisierung führt immer wieder zu gewalttätigen Protesten und harten Reaktionen seitens der Sicherheitskräfte. Wenngleich die Grundversorgung mit Lebensmitteln in Venezuela weiterhin sichergestellt ist, sind einige Produkte wie Milch, Kaffee, Maismehl sowie verschiedene Hygieneartikel rar und sorgen für lange Schlangen vor den Supermärkten. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr gut 64 Prozent und bedroht mittlerweile die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära. Das auf mehreren parallelen Kursen basierende Wechselkurssystem und die Devisenkontrollen begünstigen kleine wie große Betrügereien. Der zurzeit niedrige Erdölpreis trägt zu einer Verschärfung der Situation bei, indem die Staatseinnahmen sinken und die für Importe nötigen Devisen weiter verknappt werden. Dringend notwendige, aber aufgrund der direkten sozialen Folgen schwierig durchsetzbare Reformen schiebt die Regierung hingegen immer wieder auf. Dazu zählt etwa eine Preisanhebung des innerhalb Venezuelas bisher beinahe gratis verteilten Benzins und eine grundlegende Überarbeitung des Wechselkurssystems (siehe LN 487). Die Regierung wirft oppositionellen Kreisen und privaten Unternehmer*innen vor, einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung zu führen und das Warenangebot gezielt zu verknappen. Dass viele Unternehmen die mit staatlichen Petrodollars erworbenen Produkte horten oder mit deutlich höherer Gewinnspanne über die Grenze nach Kolumbien schmuggeln, ist tatsächlich kein Geheimnis. Doch das allein kann die Krise nicht erklären. Das erdölbasierte Wirtschaftsmodell Venezuelas bleibt auch mit sozialistischem Anstrich weiterhin kapitalistisch und die extrem unterschiedlichen Wechselkurse bieten enorme Anreize für krumme Geschäfte. Wer für den Import von Lebensmitteln etwa Devisen im Wert von 6,30 Bolívares pro US-Dollar erhält, fährt durch den Verkauf zumindest eines Teils der US-Dollar auf dem Schwarzmarkt gigantische Gewinne ein. Mitte März lag der Schwarzmarktkurs mit um die 250 Bolívares pro Dollar etwa bei dem 40-fachen des günstigsten offiziellen Kurses.
In diesem Kontext scheint Obamas Schritt, Venezuela zur „Bedrohung“ zu erklären, allein dazu zu dienen, die venezolanische Krise anzuheizen. Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 sind die Beziehungen zwischen den USA und ihrem zuvor engen Partner Venezuela angespannt. Den gescheiterten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 unterstützte die US-Regierung logistisch und finanziell. Immer wieder lieferte sich der frühere venezolanische Präsident mit der US-Regierung rhetorische Auseinandersetzungen, bezeichnete Obamas Vorgänger George W. Bush öffentlich als „Esel“, „Teufel“ und „Mr. Danger“. Gleichzeitig gelang es ihm, den US-Einfluss in der Region deutlich zurückzudrängen. Die von den USA propagierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheiterte 2005. 2004 gründete sich als solidarischer Gegenentwurf das Staatenbündnis ALBA. Im Jahr 2008 folgte UNASUR und 2011 CELAC.
Bei allen politischen Differenzen bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen jedoch intakt; mit keinem Land treibt Venezuela mehr Handel als mit den USA. Wenngleich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen ist, bleibt Venezuela innerhalb Lateinamerikas nach Mexiko und Brasilien der drittgrößte Handelspartner der USA. Im Jahr 2014 flossen täglich 740.000 Barrel in den Norden. Nach China gingen 536.000 Barrel pro Tag. Nach dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 hatte es zwischen den USA und Venezuela zunächst nach Entspannung ausgesehen. Der US-Präsident versprach Lateinamerika eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Es blieb allerdings bei der Rhetorik. Heute scheint Obama in Lateinamerika isolierter zu sein, als es sein Vorgänger Bush je war. Nun liegt es an den Bemühungen der unterschiedlichen regionalen Integrationsbündnisse auf dem amerikanischen Kontinent, einen ernsthaften Dialog in Gang zu bringen. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño erklärte sich auf Maduros Vorschlag hin dazu bereit, eine Vermittlungsgruppe zu koordinieren. Ecuador hat zurzeit die temporäre Präsidentschaft der CELAC inne. Spätestens auf dem kommenden Amerika-Gipfel am 10. April in Panama könnten sich Vertreter*innen der US-amerikanischen und venezolanischen Regierung direkt begegnen. Den wichtigsten Beitrag zu einem Dialog müsste Obama wohl selbst leisten, indem er seine umstrittene Verfügung zurücknimmt. Die venezolanische Regierung will nun zehn Millionen Unterschriften sammeln, um ihn davon zu überzeugen. Das US-Außenministerium zeigte sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich bereit zu einem Dialog. Dieser könne jedoch „nicht die Probleme in Venezuela lösen“. Dafür sei ein Dialog innerhalb Venezuelas nötig.

Weil die Familie Dollars braucht

„Pacquiao! Pacquiao?“ Während der Großvater in Sonntagskleidung am Baum im Garten uriniert, ruft Mateo vergeblich nach seinem Hund. „Ich habe ihn in die Kiste gelegt. Jemand scheint ihn vergiftet zu haben.“ Was der Großvater nicht weiß, ist, dass Mateo mit dem Tod seines Hundes für seine „Feigheit“ büßt. Denn im letzten Moment ließ er die Pistole fallen und machte sich aus dem Staub, als er den Mann auf der Straße umlegen sollte. Es wäre die letzte Tat gewesen, um in die Gang aus jungen Männern des Dorfes aufgenommen zu werden. Stattdessen muss Mateo nun Rache fürchten.
Der 17-jährige Protagonist in Damian John Harpers Filmdebüt Los Ángeles hat bis auf den nächtlichen Mord alle abverlangten Taten ausgeführt, um Mitglied der Gang zu werden. Was ihn trieb, war der Gedanke, über deren Netzwerke Unterstützung zu bekommen, wenn er erst einmal in Los Angeles sein sollte. Denn so will es die Mutter und so hat es der Großvater entschieden: Nachdem der Vater die Familie im Stich gelassen hat, soll ihm Mateo als ältester Sohn folgen, an seiner Stelle in den USA arbeiten und Geld nach Hause schicken. Die Stadt Los Angeles steht als Synonym für das Überleben der Familie, ja des ganzen Dorfes.
Die Dollars, die emigrierte Familienmitglieder nach Hause schicken, sind am realen Drehort des Films, in einem Dorf im Süden Mexikos, überlebenswichtige Einkommensquelle. Nach seinem Studienabschluss in Ethnologie lebte Regisseur Harper für ein Jahr im zapotekischen Santa Ana del Valle im Bundesstaat Oaxaca. Nach über zehn Jahren freundschaftlicher Verbindungen entschloss er sich zu seinem Drehbuch. „Ihre reziproken Strukturen gesellschaftlicher Organisation, ihre starken familiären Werte und ihre jährliche fiesta faszinierten mich“, so Harper. Indem er sämtliche Rollen mit Dorfbewohner*innen, also Laien, besetzte, die sozusagen sich selbst verkörpern, ging er ein Wagnis ein. Aber gerade dadurch ist Los Ángeles so nah an der realen Lebenswelt seiner Charaktere, wie es für einen Spielfilm nur vorstellbar ist. Neben einer packenden Handlung gewinnt der Film auch an dokumentarischem Wert.
Unterschiedliche Facetten der Migration werden durch die verschiedenen Charaktere des Films sichtbar. Neben dem jungen Protagonisten Mateo, der sich auf seine Ausreise vorbereitet, ist da der soeben zurückgekehrte Familienvater Marcos. Die Schwierigkeiten, sich in seiner alten Umgebung zurechtzufinden, machen Konflikte unausweichlich. Parallel wird im Dorf laut über den abwesenden Lino spekuliert, er mache in Los Angeles einen auf fiesta. Leise steht zugleich die Sorge um ihn im Raum. Dass er weinend auf den Anrufbeantworter gesprochen hat, dass er im Gefängnis um sein Leben fürchtet, verheimlicht Mutter Lidia.
Nicht ein einziges Mal taucht das wahre Los Angeles in den Bildern des Films auf; die Situation der Emigrierten in den USA bleibt durch Stimmen am Telefon nur angedeutet. Eine wacklige Handkamera folgt den Figuren von der Haus- zur Feldarbeit, von der Kirche zum Dorffest. Wenn auch Hintergrundkenntnisse für das Verständnis des Films hilfreich sind, ist es Damian John Harper gelungen, ein Stück der mexikanischen Realität mit größter Authentizität zu verfilmen: Der Gedanke an die Emigration bringt Unruhe in den Alltag, die Abwesenheit der Emigrierten lastet auf den Familien. Neben mehreren Preisen bei Filmfestivals wurde Los Ángeles mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ der Deutschen Film- und Medienbewertung ausgezeichnet. Ab 29. Januar 2015 wird die ZDF-Koproduktion in den deutschen Kinos laufen.

Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.

Afrobolivianische Identität im plurinationalen Staat

Schotterstraßen, Serpentinen und steile Berghänge. Der Ort Tocaña liegt mit 160 Einwohner*innen rund drei Autostunden von La Paz entfernt im subtropischen Norden Boliviens. Die kleine Häusersiedlung erstreckt sich auf einem mächtigen grünen Hügel voller Vegetation: Lemongras und Lianen wuchern an den Abhängen. Der Blick vom Dorfplatz schweift über die benachbarten Berggipfel, die von dichten Wolken bedeckt werden. Eine mächtige Kulisse. Doch der Ortskern von Tocaña wirkt öde: eine verriegelte Kirche, ein überdachter Beton-Sportplatz, zwei winzige Lebensmittelläden, kaum Menschen. Auf den ersten Blick hat die kleine Gemeinde nichts zu bieten. Dennoch: Tocaña ist anders als die meisten Ortschaften in der Umgebung. Das liegt an den Bewohner*innen.
„Wir sind gar nicht ursprünglich von hier“, sagt Jhony Perez. Dabei ist der 39-Jährige in Tocaña aufgewachsen. Es ist Sonntagnachmittag, 17 Uhr. Etwa 15 Dorfbewohner*innen haben sich neben dem Bolzplatz versammelt und trinken Bier aus Plastikbechern. Jhony Perez sitzt auf einer alten Schulbank aus Holz, die als Sitzgelegenheit aufgestellt wurde. Mit „nicht ursprünglich von hier“ meint er seine Vorfahren. „Die wurden hergebracht“, sagt er. Wie fast alle Menschen im Dorf ist Jhony Perez Nachfahre afrikanischer Sklav*innen. Im 16. und 17. Jahrhundert verschleppten die spanischen Kolonisator*innen massenhaft Frauen und Männer aus Afrika nach Bolivien. Der Plan der Konquistador*innen: Sie sollten sich in den Silberminen von Potosí für den Reichtum des spanischen Königshauses abarbeiten. Doch Höhenluft, Kälte und miserable Arbeitsbedingungen trieben viele in den Tod. Daraufhin wurden die versklavten Afrikaner*innen in den wärmeren Norden verkauft, um in den subtropischen Yungas in der Landwirtschaft ausgebeutet zu werden – vor allem in Anbau von Kaffee und Zitrusfrüchten.
Jhony Perez erzählt, seine Vorfahren kämen wahrscheinlich aus Mosambik. Das hätte vor ein paar Jahren mal jemand anhand der Untersuchung seines Kiefers festgestellt. Bei anderen Dorfbewohner*innen sei das Ergebnis der Kongo, Angola oder Nigeria gewesen. „Die spanischen Kolonisatoren haben absichtlich Sklaven aus verschiedensten Ländern verschleppt“, sagt Perez. „Damit sie sich nicht verständigen konnten und keine Rebellion starteten“. Die Frage der Ahnenforschung – wer jetzt aus welchem Land kommt – interessiert in Tocaña aber ohnehin keinen so wirklich. Keiner ist je nach Afrika gereist.
Unter den damals verschleppten Sklav*innen war auch der Thronfolger einer senegalesischen Ethnie. So jedenfalls erzählt der Mythos unter den Afrobolivianer*innen und so berichten bolivianische Medien, die BBC und die ARD. Seit dem offiziellen Ende der Sklaverei im Jahr 1826 wird auch unter den Nachfahren der Sklav*innen in Bolivien wieder ein König gekrönt, der König für die ganze afrobolivianische Community sein soll. Zwar wurde der Thron lange nicht vom bolivianischen Staat anerkannt, aber die Königsdynastie gab Anlass zu einer gemeinsamen afrobolivianischen Identität. Der US-amerikanische Anthroploge Norman E. Whitten schrieb etwa über den im 20. Jahrhundert thronenden Bonifaz, er sei ein black leader gewesen, den die Afrobolivianer*innen noch bis nach seinem Tod verehrt hätten.
Bis heute währt das Königreich. Im Internet präsentiert sich die Casa Real Afroboliviana (Afrobolivianisches Königshaus) mit eigenem Wappen und Throngeschichte. Der amtierende König, Don Julio Pinedo, wohnt in Murrata, rund zwei Stunden Fußmarsch von Tocaña entfernt. Der 72-jährige ist seit 1992 auf dem Thron und seit 2007 staatlich anerkannt. Er soll in einem kargen Eckhaus nahe des Dorfplatzes wohnen. Doch die Tür öffnet eine alte, dunkelhäutige Frau im traditionellen bolivianischen Pollera-Rock. Der König sei nicht da, sagt Königin Angélica. „Er arbeitet schon seit dem frühen Morgen auf dem Feld“. Die meisten Afrobolivianer*innen in den Yungas leben von der Landwirtschaft. In einer Studie des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen von 2011 liegt der Verkauf von Koka als Einkommensquelle unter den Afrobolivianer*innen an erster Stelle, 75 Prozent der Befragten gab an, mindestens einen Teil ihres Einkommens durch den Verkauf der Pflanze zu erwirtschaften. So lebt auch die Königsfamilie von der Landwirtschaft. Die 70-jährige Angélica sitzt im Erdgeschoss ihres Hauses. Sie verkauft Sardinendosen, Nudeln und Koka-Blätter in ihrem kleinen Dorfladen und schaut dabei eine Telenovela. „Wir haben nur das Nötigste“, erklärt die Königin. Sie und ihr Mann stünden der Community zwar mit Rat und Tat zur Seite, leider seien die finanziellen Mittel aber begrenzt. Auch wenn der afrobolivianische König von der nationalen Regierung in La Paz offiziell anerkannt ist, hat er keine exekutive Macht. „Mein Mann hat repräsentative, aber keine politischen Funktionen“, resümiert Doña Angélica und ist erpicht darauf, jetzt weiter ihre Fernsehsendung zu schauen.
Zurück in Tocaña. Von den rund 35 Familien hier sind fast alle schwarz. Die Afro-Identität spielt eine entscheidende Rolle im Dorf. In ganz Bolivien gibt es nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischen 30.000 und 35.000 Afrobolivianer*innen. Beim bolivianischen Zensus 2012 gaben laut Nationaler Statistikbehörde INE rund 23.300 Menschen an, sich als Afrobolivianer*innen zu fühlen. Diese Daten wurden zum ersten Mal überhaupt erfasst, denn erst seit der plurinationalen Verfassung von 2009 sind die Afrobolivianer*innen eine der 36 staatlich anerkannten Ethnien in Bolivien. In der neuen Verfassung werden sie in Artikel drei explizit als Teil der Nation aufgeführt und in Artikel 32 werden ihnen die gleichen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Rechte zugesichert, wie der indigenen Bevölkerung.
Allein wegen dieser formalen Anerkennung hat Verfassungsvater und Präsident Evo Morales auch bei den Menschen in Tocaña einen Stein im Brett. „Früher mussten wir beim Zensus die Kategorie „andere“ ankreuzen. Wir waren nicht existent – Jetzt sind wir wer!“, freut sich Jhony Perez. Evo Morales’ Wertschätzung der afrobolivianischen Identität hat dafür gesorgt, dass so gut wie jede*r im Dorf den Präsidenten unterstützt. Landesweite Statistiken zum Wahlverhalten der Afrobolivianer*innen gibt es laut nationalem Wahltribunal zwar nicht, dennoch: „Wir Afrobolivianer haben bei den Wahlen 2014 vollends Evo Morales und seine Partei MAS unterstützt“, sagt Zenaida Avendaño Vasquez, eine Mitarbeiterin des Afrobolivianischen Zentrums (CADIC) in La Paz.
In Bolivien herrschte auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1826 noch eine extreme Abhängigkeit vom Großgrundbesitz. Zwar änderten sich die Besitzverhältnisse mit der Agrarreform von 1953, trotzdem gehören die Afrobolivianer*innen auch heute noch zum ärmeren Bevölkerungsteil Boliviens. NGOs und Internationale Organisationen wie die Minority Rights Group International oder das Welternährungsprogramm der UN gehen davon aus, dass Afrobolivianer*innen im Vergleich mit anderen Gruppen weniger verdienen und schlechteren Zugang zu Gesundheit und Bildung haben. Auch die Diskriminierung ist immer noch ein Problem, auch wenn 2010 ein Gesetz (Ley 045) verabschiedet wurde, das rassistische und diskriminierende Äußerungen und Handlungen mit einem Strafmaß von bis zu sieben Jahren Haft ahnden soll. Von den 135 angezeigten Verstößen gegen das Gesetz in den ersten 10 Monaten von 2013 wurden laut der Tageszeitung La Razon nur sieben tatsächlich verfolgt. Auch der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen kam 2013 zu dem Schluss, dass die Umsetzung des Gesetzes noch nicht funktioniere. In dem UN-Bericht heißt es: „Eine große Zahl der Afrobolivianer ist systematischer Ungerechtigkeit ausgesetzt, sie leiden unter fehlenden Meldemechanismen und mangelnder Unparteilichkeit von Behörden und Polizei“. Racial Profiling sei beispielsweise auch weiterhin ein großes Problem für die schwarze Bevölkerung. Jorge Medina ist der erste und im Moment einzige Afrobolivianer in der bolivianischen Abgeordnetenkammer und hat selbst am Gesetz 045 mitgearbeitet. Vier Jahre nach Verkündung des Gesetzes hätten rassistische Sprüche wie „¡Suerte negrito!“ zwar abgenommen, resümiert Medina auf seiner Website. Ein latenter Rassismus sei aber weiterhin vorhanden. Der spöttische Spruch, dem „kleinen Schwarzen“ Glück dabei zu wünschen, wenn er sich etwas anderem als der Feldarbeit widmet, charakterisiert den schwierigen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Institutionen für Afrobolivianer*innen. „Früher ging kaum einer auf die Universität“, erklärt Medina am Telefon. „Heute zieht es immer mehr junge Leute in die Städte, für ihre Ausbildung gehen sie nach La Paz, Cochabamba und Santa Cruz“. In der Hauptstadt verschaffen sie sich auch immer mehr politisches Gehör: Neben dem Abgeordneten Medina setzt sich auch das Afrobolivianische Zentrum für ihre Belange ein. „Bolivien befindet sich in einer Transformation,“ fasst Medina zusammen. „Es ist jetzt die Aufgabe von Politik und Medien die Möglichkeiten der neuen Gesetze zu verbreiten, damit sie dann auch richtig angewendet werden“.Zurück in Tocaña. Hier sind es auch 188 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei immer noch die Afrobolivianer*innen, die die Felder bestellen. Sie züchten heute vor allem la coca. „Die kann man drei bis vier Mal im Jahr anbauen“, sagt Reyna Ballivián, eine weitere Bewohnerin Tocañas, die seit sie denken kann auf dem Feld steht. Reich ist sie davon nicht geworden. Die 40-Jährige schaut aus einem kleinen Fenster ihrer Küche aus Lehmziegeln. „Mein Bruder arbeitet für die Regierung in La Paz, meine Schwester lebt in Spanien“, sagt Reyna. Auch sie wäre gern rausgekommen. Mit dem Koka-Anbau kann die alleinerziehende Mutter aber immerhin ihre zwei Kinder durchbringen. Früher habe die Dorfbevölkerung hauptsächlich Kaffee gepflanzt. Doch in den 90ern sei der von Schädlingen befallen worden. Ohnehin ist es in Bolivien – spätestens seitdem der Präsident selbst ein ehemaliger Koka-Bauer ist – lukrativer, die grünen Blätter anzubauen. Von den USA gestützte Anti-Koka-Kampagnen der Vorgänger-Regierungen beendete Evo Morales – auch deshalb sind ihm viele afrobolivianische Koka-Bauern und Bäuerinnen treu. In der neuen Verfassung genießt die Koka-Pflanze den Status eines Kulturerbes und ist in ihrer traditionellen Form ausdrücklich kein Betäubungsmittel. 2013 erreichte Bolivien für den legalen Koka-Anbau sogar eine Ausnahmeregelung im UN-Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel.
Auch Jhony Perez lebt vom Koka-Strauch. Schon als Achtjähriger hat er auf dem Acker mitgeholfen. Während er spricht, kaut er immer wieder auf einem dicken Koka-Knäuel herum. In seiner linken Backenhälfte klemmen mindestens 20 Blätter, denen er den grasig schmeckenden Saft entzieht, die gegen Höhenkrankheit und Müdigkeit helfen. Diese kaubaren Energie-Booster kann Jhony Perez auch gut gebrauchen. Seine Ex-Frau ist mit einem anderen Mann nach Chile abgehauen und Perez muss seinen vier Kindern das Internat finanzieren. Tagsüber arbeitet er deshalb von 9 bis 17.30 Uhr auf den Koka-Feldern Tocañas. Nachts fährt er runter ins Tal, um in einer Mine Gold abzubauen. „Manchmal komme ich erst um sieben Uhr morgens nach Hause“, sagt Perez. Zwei Stunden später beginnt schon wieder die Feldarbeit.
Macht ihn die Schufterei nicht kaputt? „Nein“, betont der 39-Jährige später am Abend bei einer kleinen Feier in seinem etwa zehn Quadratmeter kleinen Zimmer. Es gibt Bier, Koka-Blätter und Gitarrenmusik. „Tocaña, meine Liebe, du bist meine Inspiration, singen Jhony, Reyna und die anderen. An der Wand hängen Fotos von Perez‘ Kindern. „Es ist schlicht hier, aber mir fehlt es an nichts“, sagt er gelassen. Zwei Mittzwanzigjährige kommen noch auf ein Bier vorbei. Sie sind in Tocaña aufgewachsen, aber haben sich in der nahegelegenen Provinzstadt Coroico mit einem kleinen Laden selbständig gemacht. „Das ist die neue Generation“, freut sich Jhony Perez, auch wenn sein eigener Alltag ein anderer ist: Am Tag nach der Feier in seinem Zimmer wollte Jhony Perez eigentlich zum Abendessen ins Dorf kommen. Aber dann kann er doch nicht. Es gebe viel Arbeit unten im Tal, sagt er am Telefon. „Ich muss heute Nacht in der Mine schlafen“.

„Des Weltfriedens wegen“

Mitte Oktober reisten Vertreter_innen aus 32 Ländern, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie diverser regionaler Organisationen nach Havanna. In der kubanischen Hauptstadt nahmen sie an einem Treffen der Staaten der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) zur Prävention von Ebola in der Region teil. Verabschiedet wurden auf der zweitägigen Konferenz eine Reihe von Maßnahmen, um eine Ausbreitung des Ebola-Virus auf dem amerikanischen Kontinent zu verhindern. Unter anderem sollen nationale Zentren zur Bekämpfung von Ebola geschaffen werden, um die Präventionsmaßnahmen zu koordinieren und den Informationsaustausch zu verbessern; die Zusammenarbeit bei der Entwicklung neuer Impfstoffe und Medikamente soll ausgebaut, die Informationspolitik verbessert sowie einheitliche Standards zum Schutz des medizinischen Personals geschaffen werden.
Mehr als die Ergebnisse des Treffens aber machte allein die Anwesenheit zweier US-Regierungsbeamter Schlagzeilen. Nun handelte es sich bei den Herren zwar keineswegs um Top-Diplomaten, trotzdem: US-Vertreter auf einem Treffen des von Venezuela und Kuba ins Leben gerufenen Staatenbundes ALBA – das schien bisher undenkbar. Vereinzelte Empörung, etwa des kubanischstämmigen republikanischen US-Kongressabgeordneten Mario Diáz-Balart ging jedoch in den allgemein wohlwollenden Kommentaren unter. Sowohl US-Außenminister John Kerry als auch die US-amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen (UN), Samantha Power, lobten das Engagement Kubas im Kampf gegen Ebola als vorbildlich.
Nachdem zunächst vor allem die USA und Großbritannien auf den Ruf nach internationaler Hilfe für die betroffenen Länder reagierten hatten, treffen mittlerweile auch chinesische, schwedische und deutsche Ärzt_innen in der Krisenregion ein. Doch die westlichen Regierungen scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, die Epidemie von den eigenen Grenzen fernzuhalten, als die Seuche in Westafrika direkt zu bekämpfen. So waren in den USA wie in Europa Forderungen zu hören, Direktflüge aus Westafrika zu streichen und keine Menschen aus der Region mehr einreisen zu lassen. Es war dagegen das kleine Kuba, das mit gutem Beispiel voranging. Dabei ist die Karibikinsel alles andere als ein wohlhabendes Land. Das Bruttoinlandsprodukt bewegt sich nach Zahlen der Weltbank in etwa auf dem Niveau von Weißrussland. Und doch stellt Kuba in der von der Epidemie betroffenen Region mehr Ärzt_innen als Großbritannien und Australien zusammen. Seit Anfang Oktober helfen 256 kubanische Mediziner_innen und Krankenpfleger_innen in Sierra Leone, Liberia und Guinea bei der Eindämmung des Ebola-Virus – nach Angaben der WHO das größte Kontingent an medizinischem Personal eines einzelnen Landes. Ca. 200 weitere Hilfskräfte sollen folgen. „Hoffen wir, dass das Beispiel Kubas hilft, die Furcht vor der Arbeit in Westafrika zu beseitigen. Vielleicht würden die Leute, wenn sie weniger Angst hätten, eher die Herausforderung annehmen und der afrikanischen Bevölkerung medizinische Hilfe leisten“, sagte Dr. José Luis Di Fabio von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (Organización Panamericana de la Salud, OPS).
Sowohl Kubas Präsident Raúl Castro als auch Fidel Castro haben die Bereitschaft ihres Landes zur Zusammenarbeit mit den USA bei der Bekämpfung von Ebola geäußert. „Gern kooperieren wir mit dem US-amerikanischen Personal bei dieser Aufgabe – und das nicht im Bemühen um Frieden zwischen zwei Staaten, die so viele Jahre Kontrahenten gewesen sind, sondern in jedem Fall des Weltfriedens wegen, ein Ziel, das angestrebt werden kann und sollte“, schrieb der mittlerweile 88-jährige Fidel Castro in einer Kolumne, die von der kubanischen Tageszeitung Granma veröffentlicht wurde. Die USA und Kuba unterhalten seit 1961 keine diplomatischen Beziehungen mehr. In dem Artikel versicherte Castro, dass durch die Kooperation mit den Vereinigten Staaten die Ausbreitung des gefährlichen Virus in Lateinamerika verhindert werden könne. Die USA hatten Mitte September entschieden, 4.000 Soldat_innen nach Westafrika zu entsenden, die dort Krankenstationen errichten sollen. Die Vereinigten Staaten waren nach Spanien das zweite nicht-afrikanische Land, in dem Fälle einer Ansteckung mit Ebola bekannt wurden.
Castros Angebot war keineswegs das erste dieser Art. Bereits nach dem Hurricane Katrina, der 2005 New Orleans verwüstete, hatte Kuba den USA angeboten, medizinisches Personal zu schicken. Das war von der damaligen US-Regierung abgelehnt worden. Bei der Bekämpfung der Cholera-Epidemie nach dem Erdbeben in Haiti 2010 haben kubanische und US-amerikanische Teams dann zusammengearbeitet.
Nun bietet ausgerechnet die Ebola-Krise der US-Regierung einen Vorwand für einen pragmatischeren Umgang mit Kuba. Und nach anfänglichem Zögern scheint sie sich genau dazu durchgerungen zu haben. „Wir sind bereit, mit allen zu kooperieren, die in der Region arbeiten, um sicher zu gehen, dass wir auf globaler Ebene eine effiziente Antwort auf das Virus haben“, erklärte Arboleda, Zentralamerika-Direktor der US-Regierungsbehörde „Zentren zur Kontrolle und Prävention von Krankheiten“ (Centers for Disease Control and Prevention, CDC) bei seinem Auftritt in Havanna. „Die Ebola-Epidemie ist von weltweiter Dringlichkeit, daher sind wir bereit unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet mit den kubanischen Missionen und Brigaden und der internationalen Gemeinschaft zu koordinieren“.
Kuba hat eine lange Tradition in ärztlicher und humanitärer Hilfe in Afrika und anderen Teilen der Welt. Seit den 1960er Jahren haben knapp 80.000 kubanische Mediziner_innen in 39 afrikanischen Staaten geholfen. Darüber hinaus exportiert das Land medizinische Dienstleistungen in alle Welt. Mehr als 50.000 kubanische Ärzt_innen und medizinisches Personal arbeiten derzeit in 66 Ländern weltweit, davon knapp die Hälfte in Venezuela. Im Gegenzug liefert Caracas Erdöl nach Kuba. Brasilien wiederum hat mehr als 11.000 kubanische Mediziner_nnen für sein Programm „Mais Médicos“ (Mehr Ärzte) angeworben. Im Rahmen der „Operación Milagro“ (Operation Wunder) führen kubanische Ärzte kostenlose Augenoperationen für Menschen aus Entwicklungsländern durch. Geschädigte des Reaktorunfalls in Tschernobyl werden in Kuba kostenlos behandelt.
Die WHO hat Kubas langfristig angelegtes Engagement wiederholt gelobt und die beeindruckenden Fortschritte Kubas im Gesundheitssektor seit der Revolution herausgestellt. Vor der Revolution im Jahre 1959 gab es auf Kuba kaum 6.000 Ärzt_innen, von denen die Hälfte nach dem Triumph der Revolution das Land verließ. Heute ist die medizinische Versorgung in Kuba kostenlos und die Lebenserwartung sowie die Kindersterblichkeit haben trotz aller Engpässe europäisches Niveau. Das staatliche Gesundheitswesen verfügt nach offiziellen Angaben über rund 77.000 Ärzt_innen, 15.000 Zahnärzt_innen und mehr als 88.000 Krankenpfleger_innen – und das bei einer Bevölkerung von knapp elf Millionen. Kuba gehört damit zu den fünf führenden Staaten mit der höchsten Ärzt_innen-pro-Kopf-Ratio weltweit. Zum Vergleich: In Liberia, das von Ebola am schlimmsten betroffen ist, gab es vor dem Ausbruch der Epidemie gerade einmal 51 Ärzt_innen für mehr als fünf Millionen Menschen.

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