Guerilleros im Festivaldschungel

Aus Argentinien waren die Filme “Moebius” und “Picado Fino” zu sehen – interessanterweise beides Low-Budget-Produktionen von FilmhochschulabsolventInnen. Beide Filme bedienen sich einer kühlen, verrätselten Ästhetik, um labyrinthische Innenwelten metaphorisch widerzuspiegeln, die ihre äußere Entsprechung in den abweisenden Fassaden moderner Stadtlandschaften finden, “Moebius”, ein physikalisch-philosophisch angehauchter Thriller, spielt zum größten Teil im U-Bahnsystem von Buenos Aires: Ein junger Topologe erhält den Auftrag, einen im Untergrund verschollenen Zug zu suchen und taucht in doppeltem Sinne immer weiter ab. Thomas, der 18jährige Protagonist von “Picado Fino” (“Weißes Pulver”) zirkuliert dagegen rast- und schlaflos durch die abgewrackten, von Verkehrzeichen und rätselhaften Symbolen dominierten Straßen einer tristen Industriestadt, verschlingt “Ulisses” von James Joyce und träumt davon, in den Norden abzuhausen. Esteban Sapirs collagenhafter Schwarz-Weiß-Film ist ein Trip auf der Kippe zwischen surrealem Witz und bedeutungsschwangerer Überfrachtung. In beiden Filmen findet sich der politische Impetus, der vor 30 Jahren das Neue Lateinamerikanische Kino prägte, allenfalls in Form verrätselter Spurenelemente wieder: So betont das Studentenkollektiv von der Universidad del Cine in Buenos Aires, das “Moebius” inszenierte, das Verschwinden des U-Bahnzuges sei eine Metapher für das Verschwinden von Menschen während der Militärdiktatur.
Im Gegensatz zur Epoche der Militärdiktaturen ist es heute der ökonomische Druck des “freien Marktes”, der das Filmschaffen in fast ganz Lateinamerika gnadenlos kleinhält. Von Argentinien und Brasilien abgesehen sieht die filmerische Landkarte des Kontinentes zur Zeit recht finster aus: Die Filmproduktion Mexikos, traditionell neben Brasilien, Argentinien und Kuba das vierte wichtige Kinoland auf dem Kontinent, ist seit dem “Tequila-Crash” vor gut zwei Jahren wirtschaftlich sehr angeschlagen. Der kubanische Film liegt ebenfalls seit Jahren aus den allseits bekannten ökonomischen Gründen weitgehend brach. Wenn größere Filme entstehen, dann fast immer als Koproduktion mit dem Ausland. So plant zur Zeit der kubanische Regisseur Daniel Díaz Torres (“Alicia im Ort der Wunder”) einen Film in Zusammenarbeit mit einer deutschen Produktionsfirma. Aus den anderen lateinamerikanischen Ländern, wo die Filmindustrie noch kleiner und krisenanfälliger ist als in den vier oben genannten Fällen, wurden nach Angaben der Programmgestalter vom Internationalen Forum des jungen Films nur wenige Bewerbungen eingereicht.

Das neue Cinema Novo Brasiliens

Dank eines neuen Fördersystems, das seit 1995 in Kraft ist, gelingt es dem brasilianischen Film allmählich, sich von dem kulturellen Kahlschlag zu erholen, den die Amtszeit des Neoliberalen Collor de Mello hinterließ. Der hatte nämlich 1990 unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung das staatliche Institut Embrafilme aufgelöst und nebenbei sämtliche Filmförderungsgesetze liquidiert. Für das brasilianische Kino eine Katastrophe. Die Filmproduktion sank zwischen 1990 und 1994 fast bis auf den Nullpunkt, viele Projekte mußten für Jahre auf Eis gelegt werden.
Erst in den letzten zwei Jahren ist durch eine neue Filmförderungspolitik wieder Leben und Dynamik in die brasilianische Kinoszene gekommen. Zum einen richteten das Kulturministerium sowie mehrere Bundesländer Filmförderungsfonds ein, deren Volumen im vergangenen Jahr umgerechnet 120 Millionen Mark umfaßte. Des weiteren wurde 1995 ein neues Filmförderungsgesetz verabschiedet. Dessen Richtlinien setzen allerdings weniger auf staatliche Unterstützung als vielmehr darauf, steuerliche Investitionsanreize für Wirtschaftsunternehmen zu schaffen, die im Filmbereich investieren. Laut Aussagen des Regisseurs Joao Batista de Andrade sind es zur Zeit allerdings in erster Linie staatliche Unternehmen wie PetroBras, ElectroBras oder RadioBras, die im Filmbereich investieren. Des weiteren erlaubt der Artikel 3 des Audiovisionsgesetzes ausländischen Verleihern, bis zu 70 Prozent der Einkommenssteuer, die sie für ihre Profite aus einem brasilianischen Film entrichten müßten, stattdessen in eine neue einheimische Produktion zu investieren. “Die Guerilleros sind müde” von Bruno Barreto, der als brasilianischer Beitrag im Wettbewerb der Berlinale lief, war der erste Film, der von dieser Klausel profitierte.

Exotismus als grelle Farce

So konzentrierte sich der Blick des Festivalpublikums über den großen Teich also auf Brasilien. – “Ich war nie in Brasilien, weil ich gehört habe, daß dort riesige Schmetterlinge den Leuten das Gehirn auslutschen”, meint die zehnjährige Schottin Yolanda gruselnd, als ihr in dem Film “Carlota Joaquina, Prinzessin von Brasilien” (Carlota Joaquina, Princesa do Brasil”) die unglaubliche Geschichte einer spanischen Infantin aus dem 19. Jahrhundert erzählt wird: Während der napoleonischen Kriege mußte besagte Carlota mit ihrem Gatten, dem debilen portugiesischen Prinzen Joao, in die Kronkolonie Brasilien fliehen. Der Film von Carla Camurati ist eine lustvoll, opulent und schrill inszenierte historische Farce, ein grell kolorierter karikaturhafter Bilderbogen. Der Blick der gekrönten Häupter, die nach langer Überfahrt verlaust am Strand von Rio de Janeiro landen, auf das tropische Völkergemisch ist konsterniert und fasziniert zugleich. Der Film, der in Brasilien zum Kassenschlager wurde, wirft einen bitterbösen, aber gleichzeitig äußerst amüsierten Blick auf die Kolonialgeschichte. Er führt die exotischen Stereotype, die die Europäer auf Brasilien projizierten, vor und kokettiert gleichtzeitig mit ihnen.
Auch “Der Indio Brasiliens” (“Yndio do Brasil”) von Silvio Black, eine Collage aus Dokumentar- und Spielfilmmaterial ist eine schonungslose, aber gleichzeitig humorvoll-unterhaltsame Abrechnung mit Rassismus und Exotismus, romantischer Verklärung der “edlen Wilden” und paternalistischer Zwangsbeglückung.

Von Blinden und Gläubigen

Ganz anders dagegen der Tonfall bei “Der Sertao der Erinnerungen” (“O Sertao dos memorias”). José Araujos Essay über den kargen brasilianischen Nordosten erinnert in seiner intensiven, symbolhaften Bildsprache an Klassiker des brasilianischen Cinema Novo. Gleichzeitig ist das Ganze von einer starr-religiösen, voraufklärerischen Geisteshaltung durchdrungen, die trotz sozialer Kritik weit hinter bereits existierende Filme zurückfällt. Auch bei “Glaube mir” von Bia Lessa, einem bei Workshops auf dem Lande entstandenen Film, der durch die Erzählung “Der Erwählte” von Thomas Mann inspiriert ist , mischen sich paradoxerweise eine experimentierfreudige, poetische Inszenierungsweise und ein krudes Beschwören religiöser und archaischer Elemente. Das Problematische bei beiden Filmen ist nicht, daß sie sich mit einem im Volk verankerten Mystizismus beschäftigen, sondern, daß sie sich unreflektiert und distanzlos hineinfallen lassen.
Bei “Der Blinde, der nach Licht schrie” (“O cego que gritava luz”) fällt ebenfalls die Liebe zum Symbolismus ins Auge: Ein Blinder, der seit Jahren vergeblich nach einem Mörder sucht, ein trauriger alter Geschichtenerzähler, der beim Erzählen eben jener Mordgeschichte regelmäßig die Fassung verliert und nicht mehr weitersprechen kann, ein Seegrundstück, um das vor Jahren ein Kampf zwischen Spekulanten und Landbesetzern entbrannte. Altmeister Joao Batista de Andrades melancholischer Abgesang auf herumirrende Gestalten und ihre gescheiterten Hoffnungen hat starke und intensive Momente. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist die Dramaturgie jedoch so offenkundig, daß man schon blind sein müßte, um nicht den weiteren Verlauf vorauszusehen.
Die stilistische Bandbreite der acht Filme, die das diesjährige Forum präsentiert, ist enorm, die Themenpalette so heterogen wie die gesellschaftliche Topographie Brasiliens. Eine kleine Sensation ist – nicht für brasilianische (Geschlechter)Verhältnisse in der Medienbranche, sondern auch im internationalen Vergleich – daß die Hälfte der in Berlin präsentierten Werke von Regisseurinnen stammen. Keiner der acht Forums-Filme ist von seiner Bildsprache her besonders experimentell, alle scheinen sich – wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund des durch das neue Filmförderungsgesetzes etablierten Vermarktungsdrucks – um ein breiteres Publkum zu bemühen.

Reality-TV ist immer dabei

So bedient sich beispielsweise auch Lúcia Murat in ihrem Film “Süße Mächte” (“Doces Poderes”), der eine intelligente, schonungslose Abrechnung mit den Verflechtungen zwischen kommerziellen Fernsehsendern und korruptem, populistischen Polit-Business darstellt, einer an den Sehgewohnheiten von Fernsehzuschauern orientierten Bildsprache.
Auch bei “Ein Himmel voller Sterne” (Um céu de estrelas”) und “Wie Engel geboren werden” (“Como nascem os angos”), wird die Rolle des Fernsehens nicht gerade positiv dargestellt. Beides sind Großstadtfilme, die Geiselnahmen als Verzweiflungstat zum Thema haben – und immer ist ein geiferndes Reporterteam des Fernsehens sofort zur Stelle. In “Ein Himmel voller Sterne” versucht ein junger Arbeitsloser mit allen Mitteln, seine Ex-Freundin zurückzuerobern. Die Klaustrophobie eines schäbigen Appartments, die eskalierende Haßliebe zwischen den beiden wirde von der jungen Filmemacherin Tata Amaral atmosphärisch dicht inszeniert – mit verwackelter Handkamera und in Echtzeit. Sex and Crime. Die Regisseurin bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Erotisierung von Gewalt und gnadenlosem Blick auf desperates Machotum.

Geiselnahmen und Geschlechterkampf

Bei “Wie die Engel geboren werden” von Murilo Salles schlittern zwei Dreizehnjährige in die Rolle von Geiselnehmern hinein, als sie mit dem flüchtigen Drogenboß ihres Viertel unterwegs sind. Das Kidnapping eines reichen Nordamerikaners und dessen verwöhnter Tochter gerät für beide Seiten zu einer Begegnung der dritten Art, einer Mischung aus Annäherung, Aberwitz und sinnloser Gewalt. Der größte Wunsch der Kidnapperin Branquinha ist, ins Fernsehen zu kommen. Und wie bei “Ein Himmel voller Sterne” tun ihr die Medien den zweifelhaften Gefallen, sind als sensationslüsterne, verständnislose Zaungäste mit von der Partie.
Auch “Die Guerilleros sind müde” (“O que é isso, companheiro?”) von Bruno Barreto, der als brasilianischer Beitrag im Wettbewerb präsentiert wurde, handelt von einer Geiselnahme – allerdings einer politisch motivierten aus der Zeit der Militärdiktatur. Der Film über die Entführung des US-amerikanischen Botschafters Charles Burke Elbrick durch linke Guerilleros 1969 in Rio ist der Versuch, sich mit einem politischen Reizthema auseinanderzusetzen und gleichzeitig “ausgewogen” zu sein. So saßen in der Berlinale-Pressekonferenz der Ex-Guerillero Francisco Gabeira, nach dessen Literaturvorlage der Film entstand, und die Tochter des Entführten gemeinsam auf dem Podium, um den Film zu präsentieren.

Im Schatten von “Mars Attacks”

Auch die größere Präsenz Lateinamerikas auf dieser Berlinale hat noch nichts an der Grundproblematik geändert, daß Filme und Themen aus diesem Teil der Welt inmitten des Berlinalezirkus ein peripheres Dasein führen. Oder, um es netter mit den Worten des Ex-Tupamaro Pepe Mujíca auszudrücken – “man fühlt sich ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß”. Weltbewegende Konflikte wie der Krieg der menschlichen Zivilisation gegen glitschige giftgrüne Alienmonster wie bei “Mars Attacks” – ein der US-amerikanischen Wettbewerbsbeiträge – saugen natürlich weitaus mehr Presse und Publikum an. Oder der bizarre Rummel um den “Hustler”-Gründer und Porno-Veteranen Larry Flynt: Im Kielwasser von Milos Formans kontrovers diskutiertem und schließlich mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Film avancierte Larry Flynt für Teile der linksliberalen Kulturschickeria zu einer Mischung aus standfestem Bürgerrechtler und ulkigem Spaßguerillero.
Neben dem uruguaischen Ex-Tupamaro Pepe Mujíca, der eingeladen war, um den deutsch-schweizerischen Dokumentarfilm “Tupamaros” von Heidi Specogna und Rainer Hoffmann vorzustellen, waren dieses Jahr mit Fernando Gabeira und Lúcia Murat, der Regisseurin von “Süße Mächte”, zwei weitere lateinamerikanische Ex-Guerilleros als offizielle Festivalgäste anwesend. Auch wenn diese drei von ihrer Persönlichkeit und ihren derzeitigen politischen Aktivitäten her sehr unterschiedlich sind – siehe LN-Interviews – ist dies doch ein interessantes Zusammentreffen. Einerseits ist es sehr begrüßenswert, wenn ein Filmfestival einem so wichtigen Abschnitt lateinamerikanischer Geschichte wie der Guerilla zu Zeiten der Militärdiktatur ein Forum gibt. Gleichzeitig könnte man auch polemisch sagen “Die Guerilleros sind salonfähig” – zumindest diejenigen, deren bewaffneter Kampf der Vergangenheit angehört und daher den vielbeschworenen “historischen Abstand” ermöglicht. Ob sich die Festivalleitung wohl auch trauen würde, einen Film über aktuellere Entwicklungen in Lateinamerika zu zeigen und dazu jemanden von der mexikanischen EZLN oder der peruanischen MRTA aufs Podium zu bitten? Wahrscheinlich müssen wir aber noch etliche Jahre warten, bis die Botschaftsbesetzung in Lima oder die Lebensgeschichte von Comandante Marcos verfilmt wird. Schade, denn dem wäre bei der Berlinale die Aufmerksamkeit von Presse und Publikum sicher.

Verschollen in der Einseitigkeit

Der Blick ist auf die Beine ge­rich­tet und jeder Schritt des Man­nes, der da eben der U-Bahn ent­stie­gen ist und, den Bahnsteig in Zeitlupe durchschreitend, auf den Zuschauer zu­kommt, hallt lan­ge nach. “Ein seltsames Spiel. Wir gehen durch ein schwei­gen­des Labyrinth, ohne uns und un­se­re Situationen zu kennen. Oh­ne zu ahnen, daß wir mit je­dem Um­stei­gen unser Schicksal für im­mer verändern”, heißt es aus dem Off.
Und schon rast der Zu­schau­er in schwindelerregen­der Ge­schwin­dig­keit durch das fahl­blau er­leuchtete U-Bahn-Netz von Buenos Aires. Sugge­stiv-dra­mati­sche Klänge kündi­gen das be­vor­stehende Unheil an. Es ge­langt zunächst als Nachricht durch die Tele­fondrähte des U-Bahn-Sy­stems in die kargen Höh­len der Aufse­her und Depot-Wäch­ter und läßt diese ver­stum­men: ein ganzer U-Bahn-Zug mit drei­ßig Pas­sagieren ist ver­schwunden.

Donnernde Metapher

Pro­ta­go­nist Daniel Pratt (Guillermo Angeletti), der von Be­ginn an über das schweigende La­by­rinth und das Schick­sal der Men­schen sinniert, erhält von U-Bahn-Direktor Blasi den Auf­trag, die Kon­struktionsplä­ne des U-Bahn-Sys­tems auf­zu­trei­ben und dem Ver­schwin­den des Zu­ges auf den Grund zu ge­hen.
Pratt ist To­po­lo­ge, ei­ner der, wie ihm der Kon­strukteur des neuen Au­ßen­rin­ges der U-Bahn be­schei­nigt, Rech­nungen und For­meln über die Oberflä­che er­stellt und die­se dann in Schub­laden steckt. Das klingt nach schlech­ten Aus­sichten für eine Lö­sung des Fal­les durch Pratt, doch drückt ihm der Kon­strukteur so­gleich ein geheim­nis­vol­les Spiel­zeug in die Hand, das die Wahr­nehm­ungsfähig­keit ver­bes­sern soll. Es deutet sich an: das Rätsel, das sich hier stellt, for­dert über plausible Gedanken­struktu­ren hin­ausgehende Erklä­rungen. Die Kamera entfernt sich und zeigt Pratt und den Kon­strukteur unmittelbar vor dem gäh­nenden Ab­grund einer ab­geschnitte­nen Autobahnbrücke – noch­mals der bildliche Hinweis darauf, daß die ra­tional-men­sch­liche Kon­struktion hier ins Leere führen wird.
Seine Nachforschungen füh­ren den Pro­tagonisten Pratt schnell auf die Spur des ver­schwun­denen Wis­senschaftlers Hu­go Mistein. In dessen Woh­nung findet er die ersten Hin­weise darauf, daß der ver­schwundene Zug in eine Möbi­usschleife geraten ist: jenes ein­seitige Band, das nach dem Leip­ziger Ma­thematiker benannt ist, und bei dem man ohne Über­schreitung des Randes an jeden Punkt der Oberfläche gelangen kann. Der Gei­sterzug, der wie un­sichtbar im komplexen Au­ßenring der U-Bahn dahinrast, und von dessen Existenz nur das Um­springen der Signale und ein fernes Donnern künden, ist aller Wahr­scheinlichkeit nach in eine Dimension höherer Ord­nung ge­sprun­gen.
Aus in­terpretatorischer Sicht liegt die andere – politische – Di­men­sion auf der Hand: der ver­schwundene Zug ist eine klare Metapher für die desapare­cidos Argentiniens und spielt im­mer wieder mehr oder weniger deut­lich auf dieses Thema an. In den Gän­gen der U-Bahn hängen Pla­ka­te mit dem Foto eines Ver­schwun­denen, der Zug ver­schwand an der Station Plaza de Mayo und am Ende formu­liert der Bür­ger­meister von Buenos Aires lakonisch ein recht be­kanntes Prin­zip der Ver­gan­gen­heitsbewälti­gung: “Meine Her­ren, hier ist nichts vorgefallen.”

Atmosphärische Teamarbeit

Der Film “Moebius”, als Kol­lektivarbeit von 45 Stu­denten der “Universidad del cine de Bue­nos Aires” unter Leitung des Re­gie-Dozen­ten Gustavo Mosquera R. ent­standen, ist ein span­nendes, sehr atmosphäri­sches Werk.
In küh­lem Blau­grün ge­haltene Bil­der, rasende Kame­rafahrten und lang anhaltende Blicke in die be­droh­liche Leere der U-Bahn-Schächte fan­gen perfekt das La­byrinthartige, Un­heilvolle des U-Bahn-Systems ein.
Viele der Ein­stel­lungen, ins­besondere bei den Wechseln vom harten Nah der Ge­sichter zur Weite des U-Bahn-Uni­versums, sind kunst­voll gelun­gen. Sämtliche Cha­rak­tere des Filmes sind sorgsam heraus­gear­beitet und her­vor­ragend besetzt. So wird die hektisch ein­berufene Kri­sen­ver­samm­lung der staat­li­chen “Ver­ant­wort­lichen”, des U-Bahn-Di­rektors Bla­si mit dem Bür­ger­mei­ster und zwei Herren vom Mi­li­tär­kran­kenhaus und ei­ner Versi­cherungs­anstalt, zu ei­nem hin­tergründig-ironi­schen Ver­gnü­gen.
Und das Mäd­chen, das Pratt bei der Suche begegnet und fortan begleitet, umstrahlt eine wunderbar geheimnisvolle Aura. Lediglich die Bot­schaft des Filmes, daß wir in einer Welt le­ben, die nur noch dem Plausi­blen Glau­ben schenkt, kommt am En­de doch et­was plakativ daher. Die Ent­schlüsselung des Ge­heim­nisses um den ver­schwun­denen Zug und Professor Mistein findet ihren Ausgangs­punkt an der Sta­tion Borges und ist un­ter­legt von den Klängen eines Tan­gos. Gau­kelt der Tango niemals ein Welt­bild vor, in dem alles sein gu­tes Ende findet, so hat Bor­ges in seinen Phantasmen das Uni­ver­sum schon immer als chaotisch-irrationales La­by­rinth er­klärt, das der menschliche Geist nicht zu durchdringen vermag.
Doch Pratt stellt sich der Her­ausforderung und steigt ein in den Geisterzug Nr. 86 – für ihn be­ginnt damit eine Reise oh­ne Wie­derkehr in eine andere Di­men­sion von Raum und Zeit, wäh­rend sie für den Zuschauer kurz darauf jäh enden wird.

“Moebius”; Regie: Gustavo Mos­quera R.; Argentinien 1996; Farbe, 88 Minuten.

Feines Dadapulver

Der 18jährige introvertierte Tomás (Facundo Luengo) lebt mit seiner jüdischen Familie in ei­nem industriellen Vorort von Villa Linch und fristet dort eines be­klemmenden Daseins der un­ge­lebten Möglichkeiten. Er ist so et­was wie ein moderner, schlaf­lo­ser Melancholiker, der durch den Mikrokosmos der Vorstadt irrt und dessen großer Traum es ist, irgendwann in den Norden zu ge­hen.
Dort, glaubt er, könne et­was wirklich Neues in sein Le­ben einbrechen, das die bisherige Leere füllen würde: “Ich weiß, dort wird es einen Platz für mich ge­ben.” Seine schwangere Freun­din Ana (Belen Blanco) will da­gegen ein Glück zu dritt im Hier und Jetzt und entgegnet ihm: “Du mußt aufwachen, das Le­ben ist kein Traum.”

Fragmentierte Welt des Rausches

Doch für Tomás sind Traum und Wirk­lich­keit un­trennbar verbunden – wie im “Ulysses” von James Joy­ce, den er schon zum Frühstück ver­schlingt, überlagern sich bei ihm die ver­schiedenen Bewußt­seins­ebenen. Seine Sehnsucht nach dem Nor­den scheint schließ­lich in Erfül­lung zu ge­hen, als er sich in Alma (Marcela Guer­ty) ver­liebt, die ihn mit dem Ko­kaindealer Merkin zu­sam­men­bringt.
Mit einem Budget von gerade ein­mal 23.000 US-Dollar drehte der 29jährige Kameramann und Re­gisseur Esteban Sapir den ex­pe­rimentellen und nicht ganz ein­fach zugänglichen, aber um so eindringlicheren Film “Picado Fino” (“Feines Pulver”). Nicht nur die Hauptfigur Tomás, sondern auch der Zuschauer durchlebt in dem Film Surrealistisches. Die zum Teil brillant eingefangenen Schwarz-weiß-Bilder sind grob­kör­nig bis unscharf und zeigen ei­ne fragmentierte Welt aus Or­ten (Küche, Schlafzimmer, Bar), Ob­jekten (Eier, Wecker, Tele­fon), Symbolen (Judenstern, Frauen- und Mannessymbol) und Schil­dern (zumeist leinwandfül­len­de Pfeile).
Zu Beginn wirkt der Film überfrachtet und sein Sym­bolismus ziemlich aufdring­lich: da wird das Zerschlagen ei­nes Eis mit dem gellenden Schrei ei­nes Babys verknüpft, die schmerz­hafte Entjungferung ei­nes Mädchens durch das Einbre­chen eines Daumens in den Dek­kel eines Yoghurtbechers illu­striert und der Orgasmus von Tomás spritzt per überschäu­men­der Sektflasche über die Lein­wand. Doch mehr und mehr ver­dich­ten sich Bildästhetik und Ton und entfalten eine sogartige, rausch­hafte Wirkung. Insbeson­dere ist dies dem wahrhaft hyp­no­tischen Ton des Filmes zuzu­schrei­ben, für dessen Verarbei­tung Sapir ganze zwei Jahre ver­wen­dete.
Er setzt sich zu­sammen aus Sequenzen mono­ton-techno­ar­tiger Rhythmen, ei­nem immer wie­derkehrenden Froschquaken, dem Schrillen ei­nes Weckers, wir­kungsvoll ver­zerrten Ge­räu­schen sowie einem knisternden “Nichts”. All diese Töne ver­lei­hen dem Film die Qualitäten ei­nes Fiebertraumes und hin­ter­las­sen auch noch lange nach Film­en­de anhaltende Spu­ren im Ge­hör.

Dadaismen und Sprachlosigkeiten

Kommunikation gibt es in “Pi­cado Fino” fast ausschließlich über das Telefon oder aber in je­ner Bar, in der sich Tomás und Ana immer wieder verabreden. Selbst dann fallen allerdings nur we­nige spröde Sätze, häufig sind Wor­te oder Schreie trotz aller An­strengungen des sich Äußern­den zwar sicht -, aber nicht hör­bar. Innen- und Außenwelt der Cha­raktere brechen hier ausein­an­der. Sapir erklärte auf der Ber­li­nale mit einem Augenzwin­kern, daß er beim Dreh nur über eine Ka­mera verfügte, deren Motor der­art laut war, daß die Schau­spie­ler ihre eigenen Worte nicht ver­stehen konnten.
Also habe sich die Sprachlo­sigkeit förmlich auf­gezwungen. Doch fielen wohl Pro­duktionsbedin­gungen und Phi­losophie des Filmes zu­sam­men, denn Phäno­mene wie Sprach­zerfall und An­tisprache tau­chen an vielen Stellen des Fil­mes auf. So blen­det Sapir wie­der­holt da­daistische Sprach­fet­zen wie “Bla Bla” in die Hand­lung ein, und in einer etwas Ver­wir­rung hinterlassen­den Szene über­schüttet Tomás mit der ver­zerr­ten Stimme Hit­lers einen fuß­ballspielenden Jun­gen mit haß­erfüllten Worten – dieser ant­wor­tet mit einem Griff in den Schritt und langen krei­senden Hand­bewegungen.
Am bizarren Ende des Filmes ste­hen eine Sonnenfinsternis, ein Stra­ßenreinigungswagen, der Tomás fast mit seinem Metall­rüs­sel aufsaugt, ein Geigenkasten oh­ne Geige und die Geburt des Kin­des von Ana und Tomás.
Für Este­ban Sapir und sein Experi­men­tieren unter mehr als dürfti­gen finanziellen Vor­aus­setzun­gen stand am Ende der Ber­li­nale eine lobende Erwäh­nung bei der Ver­gabe des Staudte-Preises im In­ternatio­nalen Forum. Ein Zu­schau­er stellte dem Regisseur zu­letzt die Frage, ob er sich denn sei­ner Ex­perimentierlust in “nor­ma­lem” Geisteszustand hin­ge­ge­ben habe. Ganz so dilettan­tisch oder fern­liegend wie es das Rau­nen im Publikum Glauben ma­chen wollte, war die Frage nun wirk­lich nicht – Sapir wäre kaum der erste Künstler, der sich im Rausch dem Rausche stellt. Aber auch das ist nicht neu: der Kün­stler schwieg und kehrte damit zur filmischen Sprachlo­sigkeit zurück.

“Picado fino”; Regie: Esteban Sapir; Argentinien 1996; schwarz-weiß, 80 Minuten.

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

Präsidentenpoker

Am 5. Februar gingen über zwei Millionen EcuadorianerInnen auf die Straße, um gegen das von Präsident Abdalá Bucaram durchgeboxte Reformpaket und seine Person selbst zu demonstrieren. Ihre Botschaft war eindeutig: “¡Que se vaya! Weg mit Bucaram!” Die harten wirtschaftlichen Anpassungsstrategien der Regierung Bucaram waren zweifelsohne ein Grund für diese Forderung. Aber vor allem die zunehmende Unglaubwürdigkeit des Präsidenten durch Korruptionsvorwürfe, Vetternwirtschaft und Mißbrauch öffentlicher Gelder sowie die immer neuen Peinlichkeiten Bucarams, der mit seinem Image als el loco – der Verrückte – spielt, hatten bereits Anfang des Jahres zu landesweiten Protestdemonstrationen geführt, die im Generalstreik am 5. Februar gipfelten. Der Streik, an dem mehr als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung Ecuadors teilnahm, wurde von den Gewerkschaften, StudentInnen, LehrerInnen, indigenen Gruppierungen und anderen sozialen Bewegungen getragen, aber auch von der katholischen Kirche und dem privaten Sektor befürwortet.

Amtsenthebung wegen “geistiger Unfähigkeit”

In einer Sondersitzung beriet das Parlament das weitere Vorgehen. Bereits seit einigen Wochen standen seitens der Opposition Forderungen nach der Amtsenthebung Bucarams im Raum, und nun mußte eine schnelle Lösung zur Stabilisierung der innenpolitischen Situation auf den Tisch. Politische Amtsenthebungsverfahren sind in Ecuador durchaus verbreitet, sie sind jedoch langwierig und bedürfen der Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten. Eine Abkürzung des Verfahrens nach Artikel 100 der Verfassung, der eine Amtsenthebung bei “physischer oder mentaler Unfähigkeit” mit einer einfachen Mehrheit vorsieht, schien da ein probates Mittel. Mit 44 Stimmen bei 34 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen wurde Bucaram am 6. Februar seines Amtes enthoben. Parlamentspräsident Fabián Alarcón wurde im gleichen Zug mit einfacher Mehrheit zum Interimspräsidenten bestimmt.

Drei Möchte-gern-Präsidenten über Nacht

Daß sie die Stimme des Volkes nicht vernommen hätten, kann den Abgeordneten der Opposition wohl kaum vorgeworfen werden, dennoch ist ihr Vorgehen juristisch sehr umstritten und die Uneigennützigkeit fraglich. Die Entscheidung des Parlamentes fiel in eine verfassungsrechtliche Grauzone und verhalf Ecuador über Nacht zu drei Möchte-gern-Präsidenten. Am 8. Februar 1997 meldete neben dem Ex-Präsidenten Bucaram, der seine Amtsenthebung nicht anerkennt und sich zeternd im Präsidentensitz verbarrikadierte, sowie dem frischgewählten Fabián Alarcón, nun auch Vizepräsidentin Rosalía Arteaga ihren Anspruch auf das höchste Amt an.
Das Militär bleibt neutral
Unerwartet vermochten vermittelnde Impulse seitens des Militärs die Situation zu entschärfen. Mit der Erklärung des Ausnahmezustands am Tag nach der Amtsenthebung durch den Verteidigungsminister Bayas im Namen Bucarams, war dem Militär Tür und Tor geöffnet, die Situation nach ihrem Gutdünken zu beenden. Der “Rat der Admiräle” betonte jedoch, das Militär werde neutral bleiben: Es sei Aufgabe des Parlaments, einen rechtmäßigen Nachfolger zu ermitteln. Bucaram wurde zwar militärischer Geleitschutz gewährt, aber gleichzeitig signalisiert, man sehe ihn nicht mehr als Präsidenten an. Zwischen Arteaga und Alarcón wurde unter Vermittlung des Militärobersten General Paco Moncayo ein Kompromiß vereinbart, der Arteaga als Vizepräsidentin zur rechtmäßigen Nachfolgerin Bucarams auf strikt begrenzte Zeit machte. Und zwar solange, bis das Parlament die verfassungsrechtlichen Unklarheiten beseitigt und einen Interimspräsidenten per Wahl bestimmt hat.

Arteagas Tage im Amt sind gezählt

Allem Anschein nach hatte Arteaga jedoch nicht damit gerechnet, so schnell die gerade eingenommene Position zu verlieren. Am Montag, den 10. Februar, hielt sie eine Antrittsrede und begann mit der Ernennung von Kabinettsmitgliedern. Sie protestierte heftig gegen das Vorgehen der Abgeordneten hinsichtlich der Amtsnachfolge und forderte eine Volksabstimmung, signalisierte aber letztendlich, das sie sich der “Diktatur des Kongresses” beugen werde. Nach nur zwei Tagen Arteagas im Amt wurde per Resolution mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Weg frei für eine zweite Wahl im Parlament, in der Fabián Alarcón nunmehr verfassungskonform mit 57 von 82 Stimmen zum Interimspräsidenten bestimmt wurde. Die Partei Bucarams, die PRE, nahm nicht an der Abstimmung teil.
Die Verfassung sieht vor, daß ein neugewählter Präsident sein Amt am 10. August, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, antritt. Dieser Termin und die Einhaltung bestimmter Fristen für Wahlankündigung, Wahlkampf, Vorwahl und Stichwahl determinierten das Datum für 1998, da in diesem Jahr die Fristen bereits verstrichen sind.

Unpopulärer Populist

Wie aber konnte es dazu kommen, daß der erst im Juli vergangenen Jahres gewählte Populist Abdalá Bucaram seinen Rückhalt in der Bevölkerung dermaßen verspielt hat? Nach der Stichwahl am 7. Juli 1996, in der sich Bucaram eindeutig gegen seinen Kontrahenten, den Konservativen Jaime Saadi Nebot, behaupten konnte, verkündete er souverän den “Sieg der Armen”. Seine theatralischen Auftritte, wirren Äußerungen zu wirtschaftlichen Zielen, sein unberechenbares Temperament und die wüsten Beschimpfungen politischer Gegner klassifizierten das neue Staatsoberhaupt als einen nicht zu unterschätzenden Unsicherheitsfaktor, der sich in nervösen Kursschwankungen an der Börse und angespannter Marktlage manifestierte. Er werde “die Oligarchie und die Korruption bekämpfen” und “für die Armen regieren”, so das Leitmotiv seiner Wahlveranstaltungen, zu denen der 45jährige Anwalt aus der Küstenstadt Guayaquil auch gerne mal im Batman-Kostüm aufkreuzte.

Bucaram als das “kleinere Übel”

Nach Schätzungen des Ökonomen Jaime Zeas würde es fast zwei Drittel des Haushaltsbudgets ausmachen, wolle Bucaram seine blumigen Wahlversprechen – unter anderem Lohnerhöhungen, Straßenbau, erweiterte Sozialversicherung, Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Häuserbau – einlösen. Zwar ist Bucaram für seine Irrationalität bekannt und seine schwammigen Regierungsperspektiven wenig ernstzunehmen, dennoch gelang es ihm, sich nach dem Ausscheiden der beiden Hochlandkandidaten Freddy Ehlers des neugegründeten links-indigenistischen Movimiento Nuevo País-Pachakutik und Rodrígo Paz der Zentrums-Partei Democrácia Popular gegenüber dem Rechtsaußen Jaime Nebot als das “kleinere Übel” zu profilieren und vor allem WählerInnenstimmen der ärmeren Bevölkerung zu mobilisieren. Nebot galt eher als Kandidat der Geschäftsleute und oberen Schicht. Die Furcht vor einem autoritären, menschenrechtsverachtenden Regime und der harte neoliberale Kurs, mit dem Nebot ins Feld zog, hatten zu einer breiten Stop Nebot!-Koalition unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen geführt.

Kehrtwende nach dem Wahlsieg

Kaum hatte er die Wahlen gewonnen, versicherte Bucaram eifrig, den eingeschlagenen neoliberalen Kurs seines Amtsvorgängers Sixto Durán-Balléns fortzuführen, das Land für ausländische Investitionen zu öffnen und die Auslandsschulden zu verringern. Die Privatisierung von Staatsbetrieben werde fortgesetzt und öffentliche Ausgaben radikal eingeschränkt. Seinem Beraterteam für Wirtschaftsfragen gehörten drei Banker an, was Seriösität per se vermitteln sollte, genau wie Bucarams Zugeständnis, ein Ministerium für Indígenas einzurichten, einen multikulturellen Anstrich suggerierte. Wie die meisten seiner Wahlversprechen entpuppten sich auch diese als reine Augenwischerei und bewirkten einen starken Popularitätsabfall wenige Wochen nach der Wahl. Der private Sektor, um dessen Kooperation das neue Staatsoberhaupt sich redlich bemühte, drängte auf Fakten statt Beteuerungen. Bucaram hatte sich kurz nach seinem Amtsantritt mit einer Runde illustrer Wirtschaftsgrößen anderer lateinamerikanischer Staaten umgeben, dessen prominentester Vertreter der inzwischen in seiner Heimat in Ungnade gefallene argentinische Ex-Wirtschaftsminister und Architekt des Konvertibilitätsprogramms Domingo Cavallo war.

Cavallo-Plan für Ecuador

Trotz der prominenten Berater ließ das angekündigte Wirtschaftskonzept der Regierung Bucaram auf sich warten. Der Termin wurde mehrfach verschoben, so daß es zu einer nervösen Anspannung, Spekulationen und scharfer Kritik seitens der Opposition kam. Die uneinheitlichen Aussagen der Regierung zum neuen Wirtschaftsplan trugen nicht gerade zur Vertrauensbildung bei potentiellen Investoren bei: während Finanzminister Pablo Concha Mitte Oktober von harten aber notwendigen Anpassungsmaßnahmen sprach, entwarf Bucaram die Vision eines Currency Boards nach argentinischem Vorbild, das die bei 25 Prozent liegende Inflation mit einem Schlag beenden und auch alle anderen Probleme aus der Welt schaffen würde. Zum ersten Juli sollten drei Nullen weggestrichen und der Sucre in einem Verhältnis von 4:1 an den US-Dollar gekoppelt werden.
Der ehemalige Zentralbankchef Eduardo Valencia bezeichnete Bucarams Pläne als absurd, für Ecuador seien andere Instrumente von Nöten als für Argentinien. Eine neue Währung würde nur die heimische Industrie zerstören und zunehmende Arbeitslosigkeit bewirken. Der Herausgeber der Tageszeitung HOY, Ben Ortiz, kommentierte, ein Konvertibilitätsprogramm setze absolute Disziplin und politische Ethik voraus, und die Regierung Bucaram verfüge weder über das eine noch das andere. Mehrfach mußte der Finanzminister die Versprechen seines Präsidenten im nachhinein revidieren: die Subventionierung von Kochgas werde abgeschafft, auch wenn Bucaram das Gegenteil verkünde. Auf Zigarretten und Alkohol sollten Steuererhöhungen von bis zu 300 Prozent entfallen. Weitere Erhöhungen von grundlegenden Ausgaben wie Transport und Telefon waren geplant, um das staatliche Haushaltsdefizit von vier Prozent auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken. Neben Privatisierung und Finanzmarktliberalisierung gehört auch die “Flexibilisierung” des Arbeitsmarktes zu den Pfeilern des Plans.
Im Dezember kam es nach scharfer Kritik an den wirtschaftlichen Plänen der Regierung zu einem Sozialpakt von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften, die Lohnerhöhungen von zehn Prozent im öffentlichen Sektor durchsetzen konnten. Angesichts der brutalen Preiserhöhungen durch den Wegfall von Subventionen wirkt die zehnprozentige Lohnerhöhung jedoch lächerlich.
Zum ersten Januar traten weitreichende Preiserhöhungen in Kraft: 550 Prozent für Elektrizität und 270 Prozent für Kochgas, die Ende Dezember nach drei abgelehnten noch drastischeren Vorlagen vom Kongreß verabschiedet worden waren.

Korruption und Vetternwirtschaft

Parallel zu immer neuen preislichen Belastungen der Bevölkerung erhärtete sich der Korruptionsverdacht gegen das Staatsoberhaupt, der sich allem Anschein nach noch skrupelloser aus den staatlichen Töpfen bediente als seine Vorgänger. Bucarams Sohn Jacobo wurde der Beteiligung an Zollbetrug größeren Ausmaßes verdächtigt. Abdalá Bucaram hatte mit einer seiner ersten Amtshandlungen das Zollverfahren dem Militär unterstellt, um die dort vermutete Korruption “in den Griff zu bekommen”.
Seinem Kabinett gehörten sein Bruder Adolfo Bucaram und sein Schwager Pablo Concha als Finanzminister an, der bereits in früheren Regierungen im Finanzressort tätig war. Auch andere Verwandte und enge Freunde Bucarams wurden mit wichtigen Positionen bedacht, von denen Energieminister Alfredo Adum besonders umstritten war. Zumindest schien er der einzige, der dem Präsidenten im Punkte unflätige Beschimpfungen das Wasser reichen konnte. Bucarams Schwester Elsa, die seit einiger Zeit in Panamá lebt, um den Korruptionsvorwürfen aus der Zeit als Bürgermeisterin von Guayaquil zu entgehen, wurde von Bucaram rehabilitiert. In der Bevölkerung machte sich zunehmend der Eindruck breit, Preiserhöhungen fänden nur statt, um die Extravaganzen der Bucaram-Sippe zu finanzieren.
Am 8. Januar und an den folgenden Tagen kam es zu zunächst friedlich verlaufenden Demonstrationen, schließlich aber zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen StudentInnen und der Polizei, die zahlreiche Leute festnahm. Seit Mitte Januar streikten landesweit die LehrerInnen und StudentInnen, die Gewerkschaften verkündeten den Generalstreik für Anfang Februar. Längst hatte die scharfe Kritik am autoritären und unverantwortlichen Regierungstil Bucarams an soviel Eigendynamik gewonnen, daß dessen versöhnlicher Tonfall Ende Januar unbeachtet blieb: Die monatlichen Erhöhungen der Benzinpreise sollten eingestellt werden und Abhilfe für die besonders von der Erhöhung der Kochgaspreise betroffenen armen Familien in Form von speziellen Rabattmarken geschaffen werden. Bucaram kündete Kabinettsumbildungen für Februar an, erklärte aber, in jedem Fall an seiner Währungsreform festzuhalten.

Besuch bei Fujimori

Im April sollte in einer Volksabstimmung über die Währungsreform befunden werden. Ein mögliches “Nein” kam dabei für ihn nicht in Betracht, so daß die Tageszeitungen spekulierten, er werde notfalls der Entscheidung à la Fujimori nachhelfen.
Der ganz und gar autoritäre Regierungsstil Bucarams hatte von Anfang an deutlich gemacht, daß er von Kompromissen überhaupt nichts halte, sondern seine Entscheidungen durchsetzen werde. In anderen Bereichen wiederum wurde seine Dialogbereitschaft heftig kritisiert, so seine Offenheit gegenüber dem peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori, den Abdalá Bucaram als erstes ecuadorianisches Staatsoberhaupt in Lima besuchte. Seine Verhandlungsbereitschaft gegenüber dem starken Nachbarn Peru, mit dem Ecuador einen lange schwelenden Grenzkonflikt hat, war vielen suspekt und das Gespenst des Vaterlandsverrats trieb wieder sein Unwesen. Während Bucaram und Fujimori in Lima Einigkeit demonstrierten und Bucaram tröstende Worte für seinen “amigo Alberto” anläßlich der MRTA-Geiselnahme in der japanischen Botschaft fand, drohte der Unmut auf den Straßen Quitos, Guayaquils und Cuencas endgültig überzukochen. Am 31. Januar signalisierte die Vereinigung ehemaliger Angehöriger der Streitkräfte ihre Unterstützung der öffentlichen Proteste, indem sie die Regierung aufforderte, die Maßnahmen zu korrigieren und der sich verbreitenden Unsicherheit zu begegnen.

Bucaram plant sein Come-back

Nachdem er seines Amtes durch das Parlament enthoben worden war, verbarrikadierte Abdalá Bucaram sich unter Protest in seiner Residenz. Als er am darauffolgenden Samstag Quito verließ und in seine Heimatstadt Guayaquil flog, wurde dies als Zeichen einer eingestandenen Niederlage gewertet. Doch Bucaram denkt nicht daran, seinen Anspruch aufzugeben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Panamá, weilte Bucaram in Buenos Aires und ließ sich von Carlos Menem den Rücken stärken. Er sieht sich als Opfer eines Komplotts und will die Verschwörung gegen ihn beweisen.

Schmale Basis für Politik

Nach Ansicht des Journalisten Carlos Arcos Cabrera hat die Regierung Bucaram den Verfall des politischen Systems zwar beschleunigt, die Zerrüttung der demokratischen Substanz dauert jedoch schon länger an. Die Fähigkeit des politischen Systems, einen Legitimierungsanspruch aufrechtzuerhalten und glaubwürdig zu vertreten, hat in den vergangenen Jahren rapide abgenommen. Die überwältigende Manifestation des Unmuts weiter Teile der Bevölkerung am 5. Februar galt zwar besonders Bucaram, aber auch der verfilzten Polit-Oligarchie Ecuadors insgesamt. Alles in allem bleibt das dumpfe Gefühl, das der “Rechtmäßigkeit” verschiedener Entscheidungen gehörig auf die Sprünge geholfen wurde, unabhängig von der Person Bucarams, der vollkommen unglaubwürdig ist.

Bucaram ist weg, die Probleme bleiben

Auch wenn Bucaram vorerst von der Bildfläche verschwunden ist und Ecuador erleichtert aufatmet: der wirtschaftliche Spielraum bleibt trotz allem extrem begrenzt, und Korruption und Mißbrauch staatlicher Gelder hat Abdalá Bucaram nicht für sich allein gepachtet. Alarcón ist als gewiefter Taktiker bekannt, konnte sich aber möglicherweise auch deshalb als Kompromißfigur profilieren, weil seine Partei politisch so unbedeutend ist, daß die großen Parteien ihre Interessen für die kommende Wahl durch ihn in keiner Weise gefährdet sehen. Nur die gemeinsame Ablehnung der Person Bucaram hat die ansonsten zersplitterte Opposition andere Streitigkeiten vergessen lassen. Auch wenn dieses Bündnis Alarcón ins Präsidentenamt verhalf, ist es eine sehr schmale Basis für zukünftiges politisches Manövrieren.

KASTEN:
Abdalá Bucaram – Batman auf CD

Abdalá Bucaram ist alles andere als ein Unbekannter im ecuadorianischen Polit-Business. Der 45jährige Mango-Millionär aus der Küstenmetropole Guayaquil wettert sich seit Jahren durch die Ämter und beschenkt die Armen in spektakulären Aktionen. Der ehemalige Sportler, heute aber behäbige Abdalá ist Mitbegründer der Partido Roldosista Ecuatoriano (PRE), einer populistischen Partei, die an den Regierungsstil des 1980 bei einem Flugzeugabsturz getöteten populistischen Präsidenten Jaime Roldos, Bucarams Schwager, anknüpft. In den 80er Jahren verbrachte der unberechenbare Hitzkopf mehrere Jahre in Panamá, da ihm Korruption und Mißbrauch öffentlicher Gelder in seiner Funktion als Bürgermeister von Guayaquil vorgeworfen wurde. 1988 kehrte er nach Ecuador zurück und wurde vom Präsidenten León Febres-Cordero nicht nur rehabilitiert, sondern auch für die Präsidentschaftswahlen zugelassen. Vermutlich geschah dies, um dem Kandidaten Rodrigo Borja der linken Izquierda Democrática bei den unmittelbar bevorstehenden Wahlen das Wasser abzugraben. In seiner dritten Kandidatur 1996 gewann Abdalá Bucaram am 7. Juli die Stichwahl gegen den PSC-Kandidaten Jaime Nebot und wurde am 10. August in das Amt eingeführt. Außer der Kehrtwende hinsichtlich des wirtschaftlichen Kurses, war seine Amtszeit von Anfang an durch unkohärente populistische Aktionen gekennzeichnet, seinem exzentrischen Charakter entsprechend. Ab Mitte September wurde billige Milch mit dem Portrait des Präsidenten unter dem Namen Abdalact in den armen Vierteln angeboten. In einem spektakulären Fernsehauftritt ließ er sich sein Bärtchen abrasieren und versteigerte es für über 740.000 US-Dollar zugunsten kranker und bedürftiger Kinder. Immer wieder verschenkte er bündelweise Geld an die Armen und widmete ihnen seine CD Un Loco que ama, die Bucaram zusammen mit der urugayischen Band Los Iracundos aufnahm. Seine Vorliebe, politische Kontrahenten zu beschimpfen, und auch von den Medien keinerlei Kritik zu dulden, führte zu Spannungen mit der Tageszeitung HOY und einem Radiosender, der seine Schimpftiraden nicht länger ausstrahlen wollte.

Rosalía Arteaga – Präsidentin für 48 Stunden

Rosalía Arteaga bildete zusammen mit Abdalá Bucaram ein Team für die Präsidentschaftswahlen und wurde so zur ersten Vizepräsidentin Ecuadors. Doch schon bald mußte sie feststellen, daß die Aufgabenverteilung Bucarams für sie nur Unwesentliches vorsah, und er nicht daran dachte, sich an die ausgemachte Ressortaufteilung zu halten. Die Rechtsanwältin und engagierte Christin aus Cuenca, die Abdalá Bucaram als Zugpferd für Wählerstimmen aus dem Hochland einsetzte, war Erziehungsministerin der Regierung Sixto Durán-Ballén. Es kam zu mehreren heftigen Auseinandersetzungen Arteagas mit Bucaram und dem Energieminister Adum, gegen die sie ihre Meinung durchzusetzen versuchte. Sie kritisierte Bucarams Entscheidungen und Vorhaben mehr als einmal, blieb aber dennoch im Amt. Alarcón und andere Abgeordnete verdächtigte sie der Verschwörung und der Vorbereitung eines Staatsstreiches. Nach Bucarams Amtsenthebung am 6. Februar sah sie zu Recht ihre Sternstunde gekommen, die jedoch trotz Rückendeckung des Militärs nur von kurzer Dauer sein sollte. Voller Bitterkeit verkündete sie: “Ich wurde nicht gewählt, weil ich eine Frau bin”. Ihre rechtlichen Bedenken und ihr scharfer Protest sind bei genauem Hinsehen nicht unbegründet. Als Hauptargument gegen Arteaga wird aber ihr Bündnis mit Abdalá ins Feld geführt, denn damit erlösche ihr “moralischer” Anspruch auf das höchste Amt im Staat. Für das Amt der Vizepräsidentin unter Alarcón steht Rosalía Arteaga dennoch zur Verfügung.

Fabián Alarcón: Der geschickte Taktiker ist auf seinem Karrierehöhepunkt angelangt

Der vom ecuadorianischen Nationalkongreß am 5. Februar 1997 als Nachfolger von Bucaram und als Interims-Präsident bis August 1998 bestätigte Fabián Alarcón Rivera (50) ist in der politischen Klasse Ecuadors kein unbeschriebenes Blatt. Als Sohn des konservativen Diplomaten Ruperto Alarcón beginnen seine ersten politischen Schritte sehr früh. Seine erste erfolgreiche Wahl bestreitet er 1984 für die Demokratische Partei (PD), als er für die Provinz Pichincha zum Präfekten nominiert wird. In den 70er Jahren ist er aktives Mitglied in der Patriotischen Volkspartei (Partido Patriótico Popular). In den 80er Jahren gewinnt er das Bürgermeisteramt in Quito, das er allerdings 1988 an den Christdemokraten Rodrigo Paz wieder verliert. 1990 tritt er zum ersten Mal als Abgeordneter in den Nationalkongreß ein, und obwohl er einem kleinen Minderheitsblock angehört, gelingt es ihm, zum Parlamentspräsidenten gewählt zu werden. 1992 tritt er erneut, dieses Mal als Mitglied der Radikalen Alfaristen-Front (Frente Radical de los Alfaristas) zur Bürgermeisterwahl von Quito an, muß sich aber gegen Jamil Mahuad (Democracia Popular), heute noch amtierender Bürgermeister, geschlagen geben. Obwohl seine politische Karriere oft von Erfolg gekrönt ist, wird Alarcón nachgesagt, daß die einzige Konstante dabei “das Fähnchen im Wind” sei. Er habe Parteien und Fronten so oft gewechselt wie andere ihre Hemden und sei “der beste Wendehals der Politik”, so wie seine Partei (FRA) als “Wendepartei” betitelt wird. 1996 gelingt ihm ein erneuter Coup im Nationalkongreß: Obwohl nur mit zwei weiteren Abgeordneten in einem Block vertreten, verhilft ihm eine Allianz mit Abdalá Bucaram erneut zur Wahl zum Parlamentspräsidenten. Ironie des Schicksals, daß Alarcón eben diese Position am 5. Februar 1997 in die Lage versetzt, einem Mißtrauensvotum im Kongreß gegen seinen ehemals Verbündeten stattzugeben und ihn in eigener Person als Staatspräsident zu ersetzen?
Mit allgemeiner Skepsis werden seine ersten Amtshandlungen betrachtet: Die neue Regierung Alarcón hat Entlassungsdekrete durch die Administration Bucaram rückgängig gemacht und die Schaffung einer Finanzkomission zur Kontrolle der eigenen Regierung angekündigt. Die ersten offiziellen Besuche Alarcóns gelten den Bürgermeistern von Quito, Cuenca und Guayaquil. Alles Schritte, um Vertrauen in die eigene Politik zu schaffen, die das Begehren des Volkes respektieren und mehr, die sozialen Gruppen des Landes einigende Partizipation schaffen will? Die Bildung eines Kabinetts über viele politische Fronten hinweg gestaltet sich schon von Beginn an schwierig, da die großen Parteien wie ID, PSC und Pachakutik ihre Regierungsmitarbeit schon ausgeschlossen haben.
Die zahlreichen hupenden und fahnenschwenkenden Autokolonnen, die in der Nacht vom 5. Februar die Straßen Quitos und anderer Städte füllten, feierten ausgelassen die Absetzung Bucarams und den Sieg des Volkes in der Straße, nicht aber die Wahl Alarcóns zum Präsidentennachfolger. In diesem Sinne gilt der an eine Straßenmauer geschriebene Satz: “Paß auf Alarcón, das Volk bleibt auch nach dem 5. Februar wachsam.”
Andrea Kuhlmann

Globale Kungelei am Biobío

Der Biobío-Fluß, etwa 500 Kilometer südlich von Santiago gelegen, soll durch sechs Staudämme zu einem der wichtigsten Stromlieferanten des Landes werden (vgl. LN 235). Auftraggeber der Wasserkraftwerke ist ENDESA, eine 1989 privatisierte Elektrizitätsfirma, die quasi monopolistisch die gesamte chilenische Stromerzeugung und -verteilung kontrolliert. Ihr gelang es 1991, sowohl die Genehmigung für “Central Pangue”, den ersten Staudamm, als auch die Finanzierung durch die Weltbank und europäische Geldgeber zu regeln. Von den insgesamt etwa 470 Millionen US-Dollar Baukosten übernimmt die Weltbank-Tochter IFC (International Finance Corporation) 70 Millionen. Schweden und Norwegen sind mit 28 beziehungsweise 14 Millionen dabei, zehn europäische Banken mit weiteren 100 Millionen. AEG liefert technische Ausrüstung im Wert von 7,72 Millionen. Für 6,56 Millionen davon gibt die Bundesregierung eine Hermes-Bürgschaft; das bedeutet, daß im Falle der Zahlungsunfähigkeit von ENDESA der Betrag aus dem Bundessäckel bezahlt wird.
Ohne juristische Tricks ging das Genehmigungsverfahren nicht ab. Üblicherweise sind bei Finanzierungen durch die IFC Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) erforderlich, und zwar immer dann, wenn es sich um Großprojekte handelt. ENDESA gab jedoch “Central Pangue” 1991 noch als Einzelprojekt aus und konnte so die hinderliche UVP umgehen. Zu diesem Zeitpunkt lagen allerdings die Pläne für fünf weitere Staudämme am Biobío schon in den Schubladen. Ein klarer Rechtsbruch, um den es jetzt bei den Aktivitäten der StaudammgegnerInnen vor allem geht.

Kungelei bei den UVPs

Die Umweltverträglichkeitsprüfungen sind keine bloße Formsache: werden einem Projekt zu scherwiegende Umweltfolgen bescheinigt, kann daran das ganze Unternehmen scheitern. Die für den zweiten Staudamm “Ralco” nunmehr durchzuführende UVP ist zur Zeit in der Diskussion. Eine erste UVP fiel negativ aus und das Projekt schien zu scheitern. Jetzt wird allerdings eine neue UVP erstellt und zu Recht befürchten die StaudammkritikerInnen, daß diese durch die Kungelei zwischen den ausschlaggebenden wirtschaftlichen und politischen Kreisen positiv für ENDESA ausfallen wird.
675 Personen, davon 445 Indígenas, die den Pehuenche angehören, sind durch Umsiedelungen direkt vom Staudammprojekt “Ralco” betroffen. Etwa 80 Prozent der BewohnerInnen haben ein Entschädigungsangebot von ENDESA bereits akzeptiert und entschieden, ihr Land zu verlassen. Da die Region zu den ärmsten des Landes gehört, werden die Entschädigungszusagen ein wesentliches Argument für diese Entscheidung gewesen sein. Aber von ENDESA soll auch schon behauptet worden sein, daß der Bau des zweiten Staudammes bereits beschlossen sei, was nicht der Wahrheit entspricht. Nach dem umstrittenen und nach vielen Widerständen durchgesetzten Bau des ersten Staudammes “Pangue” sieht es nun so aus, als ob Umweltschutzgesetze und Indígena-Rechte gegen den Großkonzern nicht durchzusetzen wären. Nur noch ein Fünftel der BewohnerInnen, Tendenz fallend, ist sich sicher, daß sie ihre Rechte durchsetzen und unter allen Umständen auf ihrem Land bleiben wollen. Sie werden dabei von verschiedenen NGO’s unterstützt, vor allem vom Grupo de la acción por el Biobío (GABB), der seit 1991 gegen das Großprojekt arbeitet.

Bau trotz enormer Umweltschäden

Aber nicht nur die Pehuenche sind vom Staudammbau betroffen, sondern eben auch für die Umwelt sind gravierende Folgeschäden zu erwarten. Einige Pflanzenarten sind in dem Gebiet, das überflutet werden soll, einzigartig. Die von ENDESA versprochene Ökostation, in der alle vorkommenden Pflanzenarten dokumentiert und bewahrt werden sollen, ist kein Ersatz für die ursprüngliche Vielfalt. Aber die Folgeschäden reichen über das unmittelbare Staugebiet hinaus. Die angestauten Wassermassen werden den Fluß in ein vorwiegend stehendes Gewässer verwandeln. Der Sauerstoffgehalt nimmt dadurch ab, Sedimente und Minerale werden von den Staumauern zurückgehalten. Der Biobío mündet in den Golf von Arauco, der als Fischereigebiet für Chile von enormer Bedeutung ist. Der Nährstoffgehalt des Golfes wird durch den verminderten Eintrag des Biobío stark reduziert werden.
Ende 1995 wurde von den Pehuenche und NGO’s eine Klage beim Beschwerdebüro (Inspection Panel) der Weltbank gegen die IFC eingereicht, weil die bankinternen Vorschriften beim “Pangue”-Staudamm nicht eingehalten worden sind. Die Klage wurde zunächst mit der Begründung zurückgewiesen, daß das Inspection Panel für die IFC nicht zuständig sei, und erst bei weiterem Insistieren durch den GABB versprach Weltbank-Chef James D. Wolfensohn im Sommer 1996, sich persönlich für den Fall einzusetzen. Wolfensohn beauftragte Dr. Jay Hair als unabhängigen Berater, untersuchen zu lassen, ob Umsiedelungs- oder Umweltschutzvorschriften verletzt worden sind. Das Ergebnis ist entscheidend für die Planung und den Bau weiterer Stauelemente. Es wird jedoch noch geheimgehalten.
Bisher ist demnach auch nicht klar, welche Konsequenzen aus dem Gutachten gezogen werden. Daß Kredite für “Pangue” durch Umgehung von Vorschriften bewilligt wurden, zeichnet sich bereits ab, auch wenn der volle Wortlaut noch nicht bekannt ist. Fakt ist hingegen, daß am Biobío gebaut wird und Tatsachen geschaffen werden, deren Ungesetzlichkeit im nachhinein lediglich festgestellt werden kann. Die Schäden werden davon nicht kleiner.
Studien (siehe Anm.) belegen, daß es zur Stromgewinnung aus den Wasserkraftwerken Alternativen gibt: Zum einen könnte Gas aus Argentinien importiert werden, zum anderen ließe sich durch Effizienzsteigerung langfristig achtmal so viel Energie einsparen, wie ein Staudamm in der Größe von “Ralco” produzieren würde.

Anmerkung: Die erwähnten Studien stammen vom “Consejo de Defensa de los Recursos Naturales” (NRDC, ansässig in den USA), dem “Programa de Investigaciones en Energía de la Universidad de Chile” (PRIEN) und dem “Instituto Internacional para Conservación de Energía” (IIEC).

Weißes Gold

Nach 200 Metern Staubpiste versperrt eine Schranke den Weg. Der dahinter liegende Ort wirkt gespenstisch, weit und breit keine Menschenseele. Die Stille wird nur vom böigen Wüstenwind und dem Scheppern der Wellblechplatten unterbrochen. Staub wirbelt um die Ecken und Wände verfallener Gebäude. Die perfekte Kulisse für einen Western! Die Sonne brennt erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Keine Wolke weit und breit. Im Osten läßt sich die Silhouette der Andenkordillere erahnen. Die wenigen Bäumchen haben sichtlich Mühe, unter den unwirtlichen Bedingungen zu gedeihen. Der verlassene Ort läßt nichts von dem lebendigen Treiben früherer Jahre ahnen. Einzig an den Eintragungen im aufgeschlagenen Gästebuch in der Eingangshütte ist zu erkennen, daß sich vor kurzem Menschen in dieser Geisterstadt aufgehalten haben müssen.
Ein überdachtes achteckiges Holzpodest, auf dem in den meisten Städten des Andenstaates längst unaufhörlich dröhnende Lautsprecher die Musikkapellen ersetzt haben, läßt die freie Fläche unschwer als typisch chilenische Plaza de Armas erkennen. Sie wird beherrscht von dem dreistöckigen Theaterbau mit seinen drei Bögen und zwei Ecktürmen. Die Plaza liegt zwischen ehemaligen Fabrikanlagen und den Wohnvierteln. Die nahegelegenen Arbeiterhäuser sind weitgehend verfallen, die Dächer und Wände eingestürzt. Überall warnen Schilder vor dem Betreten. Doch etwas abseits finden sich komplett erhaltene Blocks. In Form eines großen L sind jeweils zwei Dreizimmerwohnungen um einen Innenhof angeordnet. Auf einem offenen Platz, der sich in besonderer Weise als Appellplatz eignete, liegen verstreut die traurigen Reste einer verrosteten Dampfmaschine. Die berühmteste Geisterstadt in der chilenischen Wüste wirkt faszinierend und gleichzeitig bedrückend auf den Besucher. Das unaufhörliche Scheppern der Wellblechplatten, das Wehen des Wüstenwindes in der Einsamkeit der Ruinen scheint nicht von dieser Welt zu sein.

Kulisse für einen Western

Plötzlich ertönt ein Pfiff. In der Ferne winkt ein unverkennbar menschliches Wesen. Roberto Zaldívar hat sich für ein Leben fernab der Zivilisation entschieden. Seit Mitte 1991 lebt er in der Einsamkeit der Ruinen und Wellblechdächer, bis vor kurzem ohne Strom und fließendes Wasser. Im Auftrag des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Santiago hütet er die verlassene Salpeterstadt. Fast sieben Jahre geht das Engagement der deutschen Kulturvertretung in der Atacama-Wüste zurück. Seither bemühen sich die BetreiberInnen, die Ruinenstadt vor dem Schicksal der allermeisten anderen oficinas zu bewahren. Denn wie an keiner anderen Stelle kristallisieren sich in Chacabuco die Salpetergeschichte, die ArbeiterInnenbewegung und politische Unterdrückung in Chile.
Mit dem Export des ‘weißen Goldes’ betrat die einstige spanische Kolonie zum ersten Mal die Bühne des internationalen Handels. Um die Vorkommen in der Atacama-Wüste wurden Kriege geführt, die entstehende Gewerkschaftsbewegung spürte hier den mächtigen Arm von Militär und Polizei. Viele Jahre später, als der Salpeterboom lange vorüber war, stellte die sozialistische Regierung von Salvador Allende die oficina unter Denkmalschutz. Kaum zwei Jahre später diente Chacabuco den putschenden Generälen um Augusto Pinochet als Gefangenenlager. Viele prominente politische Häftlinge wurden hier im extremen Wüstenklima zwischen Stacheldraht und Minenfeldern eingepfercht. “Die Idee bei der Erhaltung von Chacabuco ist es zu verhindern, daß die Erinnerung an das größte Konzentrationslager in der Geschichte Chiles in Vergessenheit gerät,” erklärt Roberto Zaldívar, der Wärter der Gedenkstätte. “Gleichzeitig ist die historische Bedeutung von Chacabuco unschätzbar, denn es ist fast die letzte erhaltene Salpeterstadt.”
Vom Winde verweht sind mittlerweile die allermeisten der ehemals über 100 Wüstensiedlungen. Allein Mauerreste und Abraumhalden in Form überdimensionaler Torten erinnern an die aufgegebenen oficinas. Und die gottverlassenen Friedhöfe, deren Holzkreuze und Eisenrosetten dem Wüstensand trotzen. Die einzige und letzte Erinnerung an die Menschen, die an dieser unwirtlichen Stelle des Globus gelebt und geschuftet haben. Nur die letzte Ruhestätte ist ihnen geblieben, ihre Heimat hat längst die Wüste geschluckt. Keiner kümmert sich um die Gräber, weil niemand mehr da ist. Ein unheimliches Gefühl beschleicht den Betrachter: Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens wird dem Besucher hier bedrohlich nah vor Augen geführt.
Dabei macht gerade die trockenste Wüste der Erde Vergängliches auf besondere Art unvergänglich. Bei der extrem niedrigen Luftfeuchtigkeit, die jeden Schweißtropfen sofort auf der Haut verdunsten läßt, haben mumifizierte Atacameños die Jahrtausende ebenso unbeschadet überstanden wie die Salpeterarbeiter. Die menschlichen Zeugen vergangener Epochen hatten auch entscheidenden Anteil an der Entstehung des Chacabuco-Projekts. Der langjährige Leiter des Santiagoer Goethe-Instituts, Dieter Strauß, war von den Wüstenregionen derart fasziniert, daß er bei jeder Gelegenheit in Chiles unwirtlichen Norden reiste. “Eine Mumie auf einem der Salpeterfriedhöfe wird es gewesen sein, die mein Interesse an der versunkenen Salpeterwelt erweckte”, erinnert er sich. “Als dann noch die Geschichte ‘hinzutrat’, war es um mich geschehen.” Die Idee zum Erhalt der Salpeterstadt war geboren. Seither warb er in Chile wie in Deutschland für die Restaurierung der Werksanlage, hüben wie drüben gab es erhebliche Widerstände zu überwinden. Michael de la Fontaine, der Nachfolger von Dieter Strauß, setzte das Wüstenprojekt mit ungemindertem Elan fort: “An diesen Salpeterstädten ist vor allem interessant, daß sie nicht einfach industrial plants sind, sondern wirklich ganze Städte im Niemandsland. Sie lassen die gesamte Sozialstruktur erkennen.”

Die Anfänge reichen weit zurück

Als eins der jüngsten Salpeterwerke entstand Chacabuco zu einem Zeitpunkt, als das große Geschäft mit dem weißen Gold seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte. Die Geschichte der Salpeternutzung geht weit zurück in die Zeit vor der Ankunft der Spanier. Frühe atacamenische Kulturen verwendeten das natürliche Nitrat als Düngemittel und allem Anschein nach auch als Sprengstoff, die Inkas übernahmen bei ihrem Vorstoß nach Süden deren Techniken. Bereits 1571 sicherte König Philipp II. der spanischen Krone die Rechte am Salpeterabbau, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen von den Jesuiten betrieben wurde. 1809 entwickelte der reisende böhmische Naturwissenschaftler Thadäus Haenke ein Verfahren, das die systematische Nitratgewinnung durch Erhitzen des Rohmaterials caliche erlaubte. Ab 1920 begann der Salpeterexport, allerdings zunächst in sehr bescheidenem Umfang. Zudem mußten unvorhergesehene Schwierigkeiten überwunden werden. Als die ersten Frachtschiffe mit ihrer weißen Ladung in englischen Häfen einliefen, sahen sich die Hafenarbeiter vor ein unüberwindbares Problem gestellt: Wie sollten sie den riesigen verbackenen Klumpen aus dem Schiffsleib herausbekommen? Das Salpeterpulver war durch die Feuchtigkeit auf See steinhart geworden, die Schiffe mußten auf offener See versenkt werden. Seither geht das Salpeter als Granulat auf die lange Reise.
Ein wichtiger Schritt zur industriellen Salpeterherstellung gelang 1876 dem Chilenen britischer Herkunft, Santiago Humberstone: Durch ein Rohrsystem leitete er Wasserdampf ein, um das Salpeter aus dem caliche herauszulösen. Dieses Verfahren war wesentlich ökonomischer und erlaubte die Ausbeutung der natürlichen Nitratvorkommen in großem Stil. Mit der Industrialisierung in Europa waren immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen, die Landwirtschaft mußte effektiver arbeiten. Der Gießener Chemiker Justus von Liebig wies Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorzüge von Nitratdünger für den Ackerbau nach. Damit war der Weg zur weltweiten Vermarktung von Naturdünger geebnet. Als Rohstoffquelle für die Herstellung von Schießpulver erlangten die Salpeterfelder zudem strategische Bedeutung.
Mit dem Geschäft wuchsen die Begehrlichkeiten. Die größten Salpetervorkommen lagerten in der ehemaligen peruanischen Provinz Tarapacá und in der bolivianischen Atacama-Wüste. Deren Ausbeutung lag in dieser Zeit vorwiegend in der Hand chilenischer Unternehmer, die Nachbarstaaten kassierten Ausfuhrsteuer. Als Bolivien einseitig die Zollgebühren anhob, besetzten die Chilenen am 14. Februar 1879 kurzerhand den wichtigen Ausfuhrhafen Antofagasta. Im April folgte die offizielle Kriegserklärung an Bolivien und das verbündete Peru. Der Pazifikkrieg war nach zwei Jahren mit dem Einmarsch der nach preußischem Vorbild aufgebauten chilenischen Armee in Lima praktisch entschieden. Mit den beiden nördlichen Provinzen Atacama und Tarapacá hatte der Andenstaat seine Fläche um ein Drittel vergrößert und sich vor allem die reichen Salpetervorkommen einverleibt.

Rohstoff für Dünger und Sprengstoff

Im folgenden halben Jahrhundert brachte das Salpetermonopol dem Land einen Aufschwung unbekannten Ausmaßes. Zunächst schnellte der Export des weißen Goldes von Jahr zu Jahr in die Höhe. Doch bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Nachfrage nach dem Rohstoff für Dünger und Sprengstoff zunehmenden Schwankungen unterworfen. Der Erste Weltkrieg bewirkte anfangs einen deutlichen Anstieg der Exporte. Doch die Seeblockade des Deutschen Reichs, des bisherigen Hauptabnehmers, traf die chilenische Salpeterindustrie kurz darauf empfindlich, bevor der steigende Düngemittelimport der Entente-Staaten die Verluste wieder ausglich. Allerdings hatte die Blockade eine Entwicklung in Gang gesetzt, die das Schicksal der chilenischen Salpeterwirtschaft endgültig besiegeln sollte.
Bereits 1912 war den beiden Ingenieuren Friedrich Haber und Karl Bosch in den Hauptwerken der BASF in Ludwigshafen ein bahnbrechender Erfolg gelungen: Sie entwickelten das nach ihnen benannte Verfahren zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. In Ermangelung des Rohstoffs für Sprengstoffe setzte die preußische Kriegswirtschaft alles daran, sich von den ausbleibenden Salpeterlieferungen unabhängig zu machen. Mit dem Bau der beiden großen Nitratwerke in Oppau und Leuna machte sich das Reich vom chilenischen Salpeter unabhängig. Die anderen Länder zogen nach. Der chilenische Boom ging ebenso jäh zuende, wie er begonnen hatte. Mit Justus von Liebig sowie Haber und Bosch standen somit deutsche Chemiker an der Wiege und gleichzeitig an der Bahre des Salpeters.
Der Leiter des Naturhistorischen Museums in Santiago, Luis Capurro, kann sich denn auch nicht von dem Gedanken frei machen, hinter dem Engagement der Deutschen stünde der Versuch einer Wiedergutmachung. In seiner Würdigung des Chacabuco-Projekts heißt es: “Vielleicht wollten sie damit die Schuld bezahlen, die sie gegenüber Chile wegen des Zusammenbruchs der Natursalpeterindustrie haben.” Diese Art von Schuldgefühlen dürfte die Betreiber des Projekts weniger bewegen als das Ziel, welches Capurro im Anschluß formuliert: “Die derzeit restaurierte oficina salitrera sollte ein großes Kulturzentrum werden, das einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes bewahrt, dessen Erhalt die Bewahrung der Identität eines Landes ermöglicht.” Der Weg dahin ist noch weit, aber die ersten Schritte sind getan. Zunächst wurde das großzügige Theater wieder aufgebaut, in dem einst in- und ausländische Künstler für Angestellte und Arbeiter des Werks auftraten. Kürzlich wurde die Restaurierung der angrenzenden Philharmonie abgeschlossen, deren Dach vor langem auf die Parkettbestuhlung heruntergestürzt war.

Gedenkstätte Chacabuco

Kaum ein Ort in Chile ist besser als Gedenkstätte geeignet als das vergleichsweise gut erhaltene Chacabuco. Wie keine andere verlassene Salpeterstadt symbolisiert es die bewegte Geschichte des Landes mit der verrückten Geographie. Das Musterwerk der Salpeterindustrie ist ein einzigartiges Denkmal der chilenischen Industriegeschichte. Es ist das größte und eins der letzten Werke, das nach dem englischen Shanks-System arbeitete. Dabei wird das salpeterhaltige Mineral mit Wasserdampf gelöst und aufbereitet. Für eine Million Pfund Sterling errichtete die britisch-chilenische Lautaro Nitrate Company zwischen 1922 und 1924 eine komplette Industrieanlage einschließlich Wohnungen für über 3000 Arbeiter und mehrere Hundert Angestellte. Nur wenige Meter neben den letzten Wohnhäusern zieht das dunkle Band der Panamericana entlang, der einzigen Landverbindung zwischen Santiago und dem Großen Norden. Eine architektonische Besonderheit prädestinierte Chacabuco ein halbes Jahrhundert später für den Mißbrauch als Konzentrationslager: Wie eine Industriefestung inmitten der Wüste war die oficina rundherum von einer Mauer eingefaßt, die gleichzeitig die Außenwände bildete.
Das Werk Chacabuco arbeitete mit modernster Technologie der 20er Jahre. Obwohl unter der Regie einer englischen Firma betrieben, enthält die Anlage vorwiegend deutsche Maschinen, Turbinen und Kessel, mehrheitlich von Siemens. Daß dieser Industriestandort nur 14 Jahre in Betrieb bleiben sollte, ahnte in der Bauphase wohl niemand. Nicht nur der weltweite Rückgang des Bedarfs an natürlichem Dünger trug zu dem raschen Ende von Chacabuco bei, sondern vor allem die hohen Stromkosten beim Betrieb dieser Anlage. Ab 1930 begann nämlich die US-Firma Guggenheim & Sons mit dem Aufbau neuer Werke, in denen unter Ausnutzung der Sonnenwärme mit wesentlich weniger Energie Salpeter aus minderwertigerem Rohmaterial gewonnen werden konnte. Die damals gegründeten Werke Pedro de Valdivia, María Elena und Coya sind als einzige bis jetzt in Betrieb und bilden das Rückgrat der heutigen Salpeterindustrie Chiles. Chacabuco dagegen stellte schon 1938 die Produktion ein. Ein Teil der Geschäftsleitung verblieb in der Stadt, so daß die Infrastruktur lange erhalten blieb. Die Armee schlug hier regelmäßig bei Manövern ihre Zelte auf.
Dadurch war die Salpeterstadt auch 33 Jahre nach Einstellung der Produktion noch in einem hervorragenden Zustand, als sie die Unidad-Popular-Regierung von Salvador Allende 1971 unter Denkmalschutz stellte. Der zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, Waldo Suárez, konnte damals nicht ahnen, daß er nur zwei Jahre später als einer der ersten Häftlinge in das neu gegründete Gefangenenlager der Militärdiktatur in Chacabuco verschleppt werden sollte. Erst zwei Tage vor seinem Tod entließen ihn die Militärs aus der Gefangenschaft, schwerkrank wurde er nach Antofagasta gebracht, um dort zu sterben. Mehr als 3000 politische Gefangene wurden nach dem 10. November 1973 monatelang in dem Lager festgehalten, unter ihnen der Präsident des Abgeordnetenhauses. Der Journalist Guillermo Torres war fast ein Jahr in Chacabuco, bevor er ausreisen konnte und in Ostberlin politisches Asyl fand. Heute arbeitet er halbtags als Pressereferent im Rathaus von Santiago und die übrige Zeit als Redakteur bei der Tageszeitung La Nación. Er begrüßt die Initiative des Goethe-Instituts, denn die Erinnerung muß wachgehalten werden, auch und gerade wenn sie so belastend ist. “Das schlimmste war,” so erinnert er sich, “daß den Soldaten eingeimpft wurde, wir wären ganz gefährliche Verbrecher. Aber nach ein oder zwei Wochen hatten sie gemerkt, daß wir ganz normale, ganz harmlose Menschen waren. Darum wurde das Wachpersonal jeden Monat ausgewechselt.”

Pulverfaß in der Wüste

Das Militär gab das Gefangenenlager Chacabuco Ende 1976 auf, doch der Ort blieb noch bis 1989 oder 90 in Händen der Armee. Der lange schwelende Grenzkonflikt mit Argentinien hätte in den 80er Jahren beinahe zum offenen Krieg mit dem Nachbarland geführt. “Chacabuco verwandelte sich damals von einem Gefangenenlager in das größte Pulverfaß der Wüste,” erklärt Roberto Zaldívar vor einem riesigen Schuppen voller verrosteter Maschinen, “hier lagerte das gesamte Kriegsgerät für eine Invasion in Nordargentinien. Nach dem Ende der Diktatur stand der verlassene Ort eine Zeitlang allen offen, es wurde gestohlen, geplündert, zerstört und gesprengt.” Die häufigen Erdbeben in dieser Region taten ein übriges. Chacabuco verfiel binnen kurzer Zeit und verwandelte sich in die Ruinenstadt, die heute den Besucher mit ihren vielen Geheimnissen und allgegenwärtigen Spuren der Vergangenhheit in ihren Bann zieht. Nur das Theater am zentralen Platz erstrahlt seit kurzem in neuem Glanz und erinnert an das kulturelle Leben vergangener Tage.
In den abgeschiedenen Städten, in denen die Menschen den Unbillen des lebensfeindlichen Wüstenklimas trotzten, waren kulturelle Veranstaltungen eine überaus willkommene Abwechslung. In der Regel standen sie allen BewohnerInnen gleichermaßen offen. Zweifellos ein Ergebnis der langen sozialen Kämpfe. Zwar waren die sozialen Unterschiede zwischen Firmenleitung und Arbeitern auch in Chacabuco offensichtlich. Dennoch konnten die englischen Betreiber nicht mehr an den Erfahrungen jahrzehntelanger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vorbeigehen. Die wilden Jahre des unregulierten Kapitalismus waren auch in Chile vorerst vorüber. Die Forderungen einer starken Gewerkschaftsbewegung und erste Ansätze einer effektiven Sozialgesetzgebung in Chile zwangen die Lautaro Nitrate Company, ihren Arbeitern akzeptable Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu bieten. Das war während des gut 50jährigen Salpeterbooms beileibe nicht immer so. “Die Salpetergeschichte war sehr blutig”, erklärt der Wärter Roberto beim gemeinsamen Rundgang durch die Ruinenstadt. “Aber gleichzeitig hat sie es möglich gemacht, das dieses Land trotz aller Vergeudung vorwärts kommen konnte.”
Die Geschichte des weißen Goldes ist geprägt durch die jahrzehntelange Ausbeutung der Arbeitskräfte, die überwiegend aus Zentral- und Südchile stammten und sich zumeist als Tagelöhner verdingen mußten. Die Abhängigkeit vom Werk und dessen Besitzer war vollkommen: Der Lohn wurde in fichas bezahlt, einer Art Lagergeld, das ausschließlich in dem ebenfalls werkseigenen Laden, der pulpería, ausgegeben werden konnte. Die Waren wurden dort üblicherweise zu überhöhten Preisen angeboten, unabhängige Händler ließ die Werksleitung regelmäßig vertreiben. Wer aufmüpfig wurde oder mehr Lohn verlangte, wurde kurzerhand entlassen und verlor damit automatisch seine werkseigene Unterkunft. Die Unternehmer in der Pampa bekämpften jeden Versuch der Arbeiter, sich zu organisieren, und zerschlugen anfangs auch alle entstehenden Gewerkschaften. Ging der starken Schwankungen unterworfene Salpeterabsatz im fernen Europa zurück, mußten viele Arbeiter wieder auf die Haciendas zurückkehren und dort für einen Hungerlohn weiterarbeiten. Die Schwerstarbeit in der trockensten Wüste der Welt, tagsüber unter der sengenden Sonne und nachts bei schneidender Kälte, wurde um ein Mehrfaches besser bezahlt als in der Landwirtschaft. Der durchschnittliche Tageslohn eines Salpeterarbeiters lag bei 6,13 Pesos, wenn er 300 Tage im Jahr arbeitete, brachte er 1838 Pesos zusammen, umgerechnet gerade einmal 82 Pfund Sterling.

Chilenische Salpeteraristokratie

Damit kam eine Familie der chilenischen Salpeterdynastie allerdings keine zwei Tage aus. Um es ihren Unternehmerkollegen aus England oder Deutschland gleichzutun, zogen viele der neuen Reichen dorthin, wo sie nach ihrer europaorientieren Auffassung standesgemäß leben konnten, nämlich nach Paris oder London. Auf 20000 Pfund werden die jährlichen Ausgaben einer einzelnen Familie geschätzt, allein im Jahr 1913 verpraßte die chilenische Salpeteraristokratie eine Million Pfund in den europäischen Metropolen. Der Grundstoff für Düngemittel und Sprengstoff warf in dieser Zeit ungeheure Profite ab. Der Große Norden Chiles, das sind die Provinzen Atacama und Tarapacá, war wirtschaftlicher und auch kultureller Mittelpunkt des Landes. Hier wurde das große Geld gemacht, nicht in Santiago oder auf den riesigen Haciendas im Süden. Den wohltemperierten Küstenort Iquique wählten die meisten britischen, chilenischen und später auch die deutschen Werksbesitzer zum Domizil. Sie lebten in ebenso großzügigen wie luftigen Palästen, die mit italienischem Marmor und kalifornischem Teakholz ausgestattet waren, gingen abends ins Theater, in dem sogar Caruso auftrat, oder tafelten im luxuriös ausgestatteten Spanischen Club.
Der Gegensatz zwischen der reichen Unternehmerkaste und den Lohnarbeitern konnte kaum eklatanter sein, und durch die enge Nachbarschaft in den Salpeterwerken war er für alle sicht- und spürbar. Um die Jahrhundertwende entstanden trotz massiver Attacken der Arbeitgeber erste größere Gewerkschaften in der Salpeterindustrie, die bessere Bezahlung und menschlichere Arbeitsbedingungen forderten. 1912 entstand in Iquique die Sozialistische Arbeiterpartei, die bereits 1920 der Dritten Internationale beitrat und aus der die mächtigste und größte kommunistische Partei in Lateinamerika hervorgehen sollte. Die Streiks häuften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts. Der Staat konnte zwar in einigen Fällen vermittelnd eingreifen, meistens schlug er sich jedoch auf die Seite der Unternehmer. Soldaten wurden als Streikbrecher eingesetzt, Armee oder Polizei griffen in 40 Prozent aller Streiks ein. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.
Der grausamste Militäreinsatz fand 1907 statt, als ein friedlich verlaufender Massenstreik in der nordchilenischen Hafenstadt blutig niedergeschlagen wurde. Es war kein gutes Jahr für die Salpeterindustrie. Die Ausfuhren gingen zurück. Die Konsequenz waren Massenentlassungen und Lohnkürzungen. In der Provinz Tarapacá traten daraufhin Salpeter-, Hafen und Transportarbeiter in den Ausstand, bald wurden alle oficinas der Region bestreikt. In Scharen zogen die Arbeiter, größtenteils mit der ganzen Familie, in die 40.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt. Ihre Forderungen erscheinen nach heutigem Verständnis recht gemäßigt: Lohnerhöhung oder Anpassung der Einkommen an das englische Pfund, Einlösung der fichas im Wert von 1:1 gegen Pesos, Kontrolle und Aufhebung des Monopols der firmeneigenen pulperías, Entschädigung bei fristloser Entlassung und Unfallschutzmaßnahmen. 10-15.000 Salitreros überschwemmten die Hafenstadt Iquique, in der sich die Gewinner des Salpeterbooms ihrem luxuriösen Leben hingaben. Mit ihren täglichen Demonstrationen legten sie den Verkehr und den Handel lahm, doch die überwiegend britischen Unternehmensleitungen waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Auf ihr Drängen verhängte die Regierung drei Tage vor Weihnachten 1907 den Ausnahmezustand. Der Militärkommandant ließ die Schule Santa María, die den Streikenden als Unterkunft diente, noch am selben Tag umstellen. Als sie sich weigerten, das Gebäude zu verlassen, eröffnete er das Feuer auf die unbewaffnete Menge. Mindestens 500 Menschen, nach anderen Schätzungen mehrere Tausend, fanden bei dem Massaker den Tod.
Der Aspekt der kämpferischen Sozialbewegung liegt den Betreibern der Gedenkstätte Chacabuco besonders am Herzen. Doch damit steht das Goethe-Institut ziemlich alleine da. Sieben Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur rührt kaum jemand an den dunkelsten Kapiteln der jüngeren chilenischen Vergangenheit. Michael de la Fontaine hat seine Werbung für das Projekt der Stimmung angepaßt. “Ich verkaufe in den letzten drei Jahren auch unter den höchsten Autoritäten Chacabuco als Beispiel der jüngsten Industriegeschichte,” gibt er unumwunden zu. “Für mich steht aber fest, daß ein solches schillerndes historisches Denkmal in mehreren Funktionen zum Leben erweckt werden muß: Als Kultur- und Industriedenkmal, als soziale Gedenkstätte und nicht zuletzt als touristisches Zentrum. Darüber kann, salopp gesagt, das empfindlichste Kapitel der jüngeren chilenischen Vergangenheit mitverkauft werden.”

Halbherzige deutsche Beteiligung

Auf Widerstand stieß das Chacabuco-Projekt nicht nur in Chile. Auch von deutscher Seite gab es mehr Behinderungen als Unterstützung. Zwar betont Michael de la Fontaine die Rolle der deutschen Botschaft als Wortführerin in Sachen Restaurierung und verweist darauf, daß mit Restaurierungsgeldern im Umfang von 200.000 DM aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amts ein beachtlicher Batzen Geld in die chilenische Wüste gesetzt wird. Dabei verschweigt er allerdings die Schwiergkeiten, die es mit der diplomatischen Vertretung in Santiago gab. Das Engagement für das Chacabuco-Projekt war bestenfalls gering. Botschafter Werner Reichenbaum konterkariert geradezu die hinter dem Chacabuco-Projekt stehende Idee. In seinem Grußwort zu Beginn des eigens dazu vom Goethe-Institut herausgegebenen Buches “Chacabuco – Stimmen in der Wüste” hebt er die Bedeutung des Ortes als Industriedenkmal hervor, von dem Gefangenenlager spricht er mit keinem Wort. Offenbar fühlt sich die deutsche Diplomatie in Santiago immer noch einer unheilvollen Tradition verbunden. Im Unterschied zu anderen europäischen Botschaften vermied die deutsche immer kritische Töne gegenüber den uniformierten Machthabern um General Pinochet.
Die Parallelen der Vergangenheitsbewältigung drängen sich an Hand des Chacabuco-Projekts auf. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland steht eine ernsthafte Aufarbeitung der jüngeren Geschichte immer noch aus. In Chile hat keine Abrechnung mit dem Militärregime stattgefunden, jeder noch so zaghafte Versuch wird durch lautes Säbelrasseln der nie entmachteten Armee im Keim erstickt. Und die Bevölkerung will endlich ihre neue Freiheit genießen können, kollektiver Gedächtnisschwund macht sich breit. “Ein großer Teil der Gesellschaft will nur eins: vergessen!”, meint denn auch Projektinitiator Dieter Strauß. “Die Vergangenheit will nicht vergehen. Weder in Chile noch in Deutschland! Und schon gar nicht die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen.”
In dieser Frage eine Hilfestellung zu geben und die Vergangenheit wach zu halten, dazu ist die Gedenkstätte Chacabuco wie geschaffen. Mahnend erhebt sich der dunkelbraune Schornstein in den strahlend blauen, wolkenlosen Himmel. Überdimensionalen Skeletten gleich ragen die Werkshallen und Wohnhäuser in die staubtrockene Luft. Seit kurzem beginnt sich dieses Fossil der Industrialisierung wieder mit Leben zu füllen. In einmaliger Lage, vor dem Panorama der schneebedeckten Andenkordillere, entsteht eine außergewöhnliche touristische Attraktion. In- und ausländische Besuchergruppen, Schulklassen und Einzelreisende sind hier zu einem kurzen Abstecher von der Panamericana eingeladen, um sich für einige Stunden in vergangene Zeiten versetzen lassen. Derzeit fehlt es allerdings noch an der notwendigsten touristischen Infrastruktur. Solange es keine Restaurants und Übernachtungsmöglichkeiten gibt, ist das ehrgeizige Projekt insgesamt gefährdet. Michael de la Fontaine vom Goethe-Institut bringt es auf den Punkt: “Wir können uns erst aus Chacabuco zurückziehen, wenn es ein McDonalds gibt!”

Die verlorene Liebe und das Segeln

Du sagst im Film “Tupamaros”, daß du dich als Abgeordneter im uruguayischen Parlament ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß fühlst. Wie ist es jetzt für dich, als geladener Gast auf einem Filmfestival zu sein ?

Es ist ein ähnliches Gefühl. Niemals wäre mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen. Ich bin hier aus einem großen Respekt heraus für jene Deutschen, die sich um die Probleme des Südens Gedanken machen und die zu erreichen versuchen, daß uns die europäische Welt versteht. Wir Lateinamerikaner, insbesondere wir Uruguayer, kennen Europa recht gut – wir sind Nachkommen von Emigranten, also in gewisser Weise verpflanzte Europäer. Europa aber verwendet umgekehrt sehr viel Zeit damit, in sich selbst hineinzuschauen und wenig darauf, eine Welt zu betrachten, an deren Schaffung es – im guten wie im schlechten – beteiligt war. Wahrscheinlich wird es die europäische Welt noch einiges kosten zu verstehen, daß ihr eigenes Glück auf lange Sicht dann weiterkommt, wenn wir alle, die wir sie umgeben, ein wenig glücklicher sind. Es gibt keine Lösungen nach innen, sondern nur nach außen gerichtete, globale Lösungen: In diesem Schiff, das sich Erde nen nt, sind wir alle gemeinsam unterwegs.

Was denkst du könnte der Film für die Menschen in Uruguay bedeuten ? Ist er dort schon gezeigt worden ?

Nein, in Uruguay kennt man ihn bisher noch nicht. Aber ich glaube auch, daß der Film hier in Europa wichtiger ist als in Uruguay. In Uruguay sind wir in das, was geschieht oder nicht geschieht, mit einbezogen. Wir sind präsent, und auf die eine oder andere Art beharren wir auf den Dingen, wir haben unser Gewicht. Doch die zentralen Schaltstellen der Welt sind nicht dort in Uruguay, sie sind hier in Europa – jedenfalls zum Teil.

In dem Film wird viel über die Zeit der Diktatur und Folter in Uruguay gesprochen. Welche Bedeutung hat heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen die Vergangenheit der Diktatur auf der einen Seite, der Kampf der Tupamaros auf der anderen Seite ?

Man muß aufpassen, daß sich die Erinnerungen nicht verlieren, zugleich aber auch, daß sie uns nicht lähmen. Ich denke, daß das Bewußtsein für das Vergangene eigentlich niemals ausreichend ist, sonst würden wir in einer anderen Realität leben. Doch momentan befinden wir uns mit der uruguayischen Linken, die etwa ein Drittel im Land ausmacht, in einem politischen Konglomerat, das uns die Perspektive eröffnet, an die Regierung zu kommen. Für uns wird irgendwann die Stunde der Wahrheit kommen, ja oder nein zu sagen. Und in diesem Moment können wir unsere gesamte Geschichte verwerten, können das, was wir einmal im Wesentlichen waren oder nicht, aufhören zu sein und uns der Zukunft stellen. Wir müssen dabei konsequent sein mit dem, was die Geschichte der Linken ist – ohne Fanatismus und ohne verbundene Augen.

War es sehr schwierig für dich und deine compañeras und compañeros, über die Folter und die anderen Leiden der Vergangenheit zu sprechen ?

Nein, wir sind in der Lage, uns diesen Dingen so oft wie nötig wieder zuzuwenden. Ob schlechte oder gute Erinnerungen, seinen Sinn hat unser Kampf in Richtung nach vorne. Wir versuchen, eine Zukunft aufzubauen. Das ist ähnlich wie in der Liebe: wenn du eine Liebe verlierst und dein ganzes Leben damit verbringst, dieser verlorenen Liebe nachzuweinen, baust du keine Zukunft für eine neue Liebe auf. Das Vergangene ist von Bedeutung und sollte intensiv gelebt werden, aber mit mehr Intensität müssen wir in Richtung dessen leben, was wir uns vorgenommen haben, wohin wir gehen wollen. Daher ist jeder Tag ein neues Abenteuer, jeden Tag geht es darum, eine Welt aufzubauen.

Heißt das, daß du niemals Wut oder Haß empfindest, wenn du an die Dinge zurückdenkst, die dir widerfahren sind ?

Haß empfinde ich gegenüber niemanden. Wenn du mit der Absicht kämpfst, etwas zu ändern, dann lassen es die Kosten dieses Kampfes nicht zu, Haß zu erzeugen. Du brauchst deine Energie für andere Ziele. Der Haß endet damit, dich selbst kleiner zu machen. Er ist eine Art, uns selbst mit Füßen zu treten. Man kann nicht leben, um zu hassen. Der Kampf erzeugt Wut in dir, und es bleiben natürlich die Leiden. Aber es gibt da kleine Pflänzchen, die zwischen den Steinen herauswachsen – mit gefolterten Wurzeln, und trotzdem wachsen Blumen aus ihnen, sie geben Schatten und vermehren sich. Es funktioniert, man muß sich nicht beim Psychologen auf die Couch legen, damit der viel Geld von dir verlangt. Wir haben eine Menge Dinge in unserem Land, um die wir uns kümmern, für die wir kämpfen müssen. Wenn wir uns aber von der Vergangenheit in die Falle locken lassen, bleibt uns keine Energie mehr dafür.

In den Gesprächen im Film fällt auf, daß ihr alle mit sehr viel Humor über die Dinge sprecht. Gab es diesen Sinn für Humor bereits während des Kampfes ?

Wir sind wie jeder andere: wir haben Spannungen, streiten uns, diskutieren. Aber in unserem Land ist es etwas wie eine nationale Charakteristik – keine spezielle Tugend von uns Tupamaros – alles mit Humor und Ironie zu beenden. Wir nehmen uns selbst auf den Arm und formen alles Dramatische ein wenig in Ironie um. Wenn du Che Guevara liest, wirst du sehen, wieviel Ironie in dem ist, was er schreibt. Der Humor ist Teil unserer Kultur. Er half uns sogar, mit unseren Folterern zusammenzuleben, und ihnen ging es letztlich genauso.

Du willst sagen, daß auch die Folterer Humor hatten ? Ist dies dann nicht eher Zynismus ?

Ja, da hast du schon Recht. Vielleicht sind wir alle ein bißchen humorvoll und gleichzeitig ein bißchen zynisch. Jedenfalls ist es in Uruguay eine allgemeine Tendenz, daß wir niemals etwas hundertprozentig glauben und uns ständig auf den Arm nehmen – auf allen Ebenen des Lebens. Es ist fast etwas wie unsere Art, national zu sein. Das hängt stark damit zusammen, daß wir ein Volk der Imigration sind. Zu Beginn des Jahrhunderts kamen jedes Jahr 50.000 europäische Emigranten nach Uruguay. Wir lernten daher, mit Menschen sehr verschiedener Ursprünge zusammenzuleben. So nahm eine nationale Gruppe die andere auf den Arm, machte sich über sie lustig. Und dies ist zu einem Bestandteil der nationalen Kultur geworden. In unserer Art zu sein – versteht mich nicht philosophisch oder ökonomisch – sind wir Liberale.

Aber wie läßt sich eine Militärdiktatur in einem Land mit solch einer liberalen Wesensart erklären ?

Das war ein Prozeß, den vor allem die ökonomischen und internationalen Probleme geprägt haben. Doch konnte beispielsweise in Uruguay die Diktatur niemals jene Dramatik und Grausamkeit annehmen, die sie in anderen Teilen Lateinamerikas hatte. Sie hatte ihre Grenzen. In Argentinien oder in Chile ist das Leben eines Menschen so viel wert wie das eines Hundes. In Uruguay hingegen ist es viel wert, für alle, wirklich für alle.

Dennoch wurden auch in Uruguay viele Menschen getötet.

Ja, aber bei weitem nicht so viele wie in anderen Ländern. Es gab etwa 200 Tote in acht Jahren des bewaffneten Kampfes – so viele wie in Buenos Aires in einer Nacht starben. Im Grunde waren wir Tupamaros auch nicht eine Guerillagruppe, sondern eine politische Bewegung mit Waffen. Wir versuchten, Gewalt und Grausamkeiten so weit es nur ging zu vermeiden. Und zwar aus politischen Gründen: Dinge, wie sie jetzt wieder im ehemaligen Jugoslawien geschehen sind, sind politisch unbegreiflich, die Menschen lehnen sie ab.

In dem Film schildern zwei deiner compañeras die Exekution des Folterwissenschaftlers “Mitrione”, der eure Geisel war. War dies dann also ein sehr umstrittener Akt unter euch ?

Mitrione war ein sehr spezieller Fall. Er war nordamerikanischer Sicherheitsbediensteter und durchreiste Lateinamerika, um Foltermethoden zu lehren. Nachdem er in Brasilien war, kam er nach Uruguay, um dort die Polizei zu instruieren. Mitrione trug immer eine Nadel in seinem Hemdkragen, damit er den Offiziellen jederzeit die neuralgischen Punkte des menschlichen Körpers zeigen konnte, an denen die Folter angewendet werden sollte: auf “wissenschaftliche” Weise. Er war also wirklich ein besonderer Gegner für uns. Doch kostete uns seine Exekution politisch eine Menge, weil danach eine Art Märtyrer und Heiliger aus ihm gemacht wurde – eine Kriegspsychologie, wie sie generell sehr viel verwendet wurde. Ich möchte solche Methoden nicht zur politischen Tugend erheben, sie sind eher eine Charakteristik der Geschichte dieses Jahrhunderts. Und eine politische Bewegung aus dem Volk wie die der Tupamaros ist Gefangene ihrer Zeit und der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist.

Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen: im Film wird ziemlich deutlich, daß dir die Arbeit als Abgeordneter im Parlament nicht besonders gefällt. Wie siehst du deine Zukunft als Revolutionär, als jemand, der in der Gesellschaft etwas ändern will ?

Weißt du, das Wichtige ist nicht, wo man ist, sondern wofür man da ist, wo man ist. Meine compañeros und ich, wir befinden uns im Parlament in einer Gefahr: es gibt einen großen Tisch und wir sind eingeladen teilzunehmen. Und das kann zu einer gefährlichen Falle werden, denn der Mensch ist ein eitles und frivoles Tier. Sie laden uns zum Essen ein, aber es ist und bleibt ihr Essen. Wir können keine anderen Dinge unternehmen, weil unser Volk dies nicht verstehen würde. Doch wir müssen um die Inhalte kämpfen, indem wir diesen Prozeß begleiten und vor allem auch dadurch, daß das Volk ihn mitlebt. Denn das Einzige, das ein wenig die Geschichte ändern kann, ist, daß viele Menschen hinter einem Vorschlag stehen. Wenn du dich von diesen Menschen isolierst, kannst du über schöne Ideen reden, aber du bleibst wie in einer Kapsel – vor dich hinphilosophierend. Wenn du dich dagegen in den Strom der parlamentarischen Szenerie begibst, läufst du zwar Gefahr, daß sie dich durch die Hintertür besiegen, indem sie dich absorbieren. Doch auch sie tragen im Gegenzug ein Risiko, nämlich, daß du nicht vom Volk isoliert bist.

Gibt es denn mittlerweile in Uruguay etwas wie eine demokratische Stabilität, oder würdest du das politische System – wie dies ein compañero von dir im Film tut – als völlig kastrierte Demokratie bezeichnen ?

Eine reale Demokratie existiert nirgends – sie ist eine Utopie. In Uruguay sind wir noch sehr weit davon entfernt, und ich weiß nicht, ob wir irgendwann ankommen werden. Es existiert eine gewisse Stabilität, eine Koexistenz verschiedener Dinge. Der Liberalismus bringt eine gewisse Freiheit mit sich, sich zu organisieren, seine Meinung zu äußern – solange du jedenfalls nicht zu sehr störst. Mit der Frente amplio haben wir versucht, diesen Freiraum zu nutzen, wissend, daß auch wir dabei benutzt werden. Wir haben einiges erreicht, aber natürlich noch lange nicht genug. Ich akzeptiere daher die Möglichkeit, daß wir jederzeit in einem Desaster enden können. Denn eines darf man nicht vergessen: unter den Armen im Süden dauern die wirklich großen Probleme fort. Es gibt nicht wie hier in Europa soziale Dämpfer für die Ausbeutung der Armen. Unsere Aufgabe sehe ich wie beim Segeln: wenn du segelst, mußt du auch die Kraft des Windes nutzen, der dir entgegenkommt, denn niemals fährst du den direkten Weg. Die Sache ist, daß du dabei nicht kenterst. Das ist unsere Herausforderung. Ob wir die Kraft dafür haben werden, weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht, im Moment habe ich keine bessere Antwort.

Übersetzung: Niels Müllensiefen

Ankläger argentinischer Absurditäten

“Er schrieb nicht für die Schriftstellerzirkel, für die Kritiker oder den literarischen Hühnerstall. Er schrieb für die Menschen und handelte nicht mit Populismus”, resümiert der Publizist José Pablo Feinmann über Soriano. Er war der Komplize der LeserInnen und sie vertrauten ihm. In den Contratapas, der Rückseite der von ihm mitgegründeten Tageszeitung Página /12, kommentierte er die Absurdität der tagespolitischen Vorfälle in Argentinien, mit besonderer Vorliebe die lokale Fußballszene oder schrieb über seinen Vater: Ein Don Niemand, wie Soriano erklärte, ein Angestellter bei den städtischen Wasserwerken, den schließlich alle LeserInnen liebten. Nichts war nicht tiefsinnig, jede kleine Begebenheit konnte er in eine Geschichte verwandeln.
Durch Soriano sei das Leben der Antihelden heroisch geworden, formulierte der Drehbuchautor Antonio Skármeta treffend. Soriano brachte das Leben von Marginalisierten der Gesellschaft und den Gescheiterten aufs Papier. Bezeichnenderweise war der Argentinier ein großer Fan von Stan Laurel und Oliver Hardy, dem er wohl seinen Spitznamen El Gordo – Dicker zu verdanken hat. Beide Darsteller von “Dick und Doof” sind als White Trash, als arme verachtete Weiße gestorben. Soriano, der Laurels Geschichten schätzte, weil sie die Gesellschaftsordnung und das Eigentum angriffen, brachte die beiden 1973 in seinem ersten Roman, Triste, solitario y final unter. Diese urkomische und eigenartige Geschichte des Scheiterns war von Anfang an ein Bestseller. “Heute scheint es einer der großartigsten und begrüßenswertesten Momente jener verkrampften Epoche zu sein”, blickt Sorianos Kollege von Página/12, Juan Forn, zurück. Der in der lateinamerikanischen Literatur neuartige Stil dieses Buches begründete das Género menor.
Soriano verstand die argentinische Seele wie kein anderer. Er beherrschte die Umgangssprache der Leute, kannte ihre Sitten und ihren Humor, den Tango und die Politik. Argentinien bedeutete für ihn eine leicht verrückte Heimat, auf die man sich keinen Reim machen kann. Der Journalist Jacobo Timmerman erklärt: “Soriano verstand diese Nation gut, die in vielen Aspekten absurd erscheint, weil er mit dem Absurden umzugehen wußte. Er hatte Symbole, Ausdrücke, Figuren, Gespenster geschaffen, und das war die Weise, in der er uns die Schwierigkeit, in Argentinien zu leben, verständlich machte. Und die Sehnsucht, in Argentinien zu leben.”

Diktatur, Exil, Rückkehr

Soriano wurde am 6. Januar 1943 in Tandil, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires, geboren. In seinem Geburtsort hatte er als Sportreporter bei dem Blatt “El Eco” angefangen und war mit 26 Jahren zum Schreiben nach Buenos Aires gezogen. Primera Plana, die Zeitung, die er zunächst aufsuchte, wurde kurze Zeit später von der Militärregierung Juan Onganías verboten. Bei der linken Zeitung La Opinión wurde er bald darauf zum Starredakteur für gesellschaftliche Angelegenheiten. Für seine Historias de la vida wählte er die Kolumnenform, damit ihm niemand reinreden konnte. 1978, zwei Jahre nach dem Militärputsch, zog Soriano über Brüssel nach Paris. Dort lernte er seine spätere Frau Catherine kennen.

Die Zeit im Exil

Während seines Exils arbeitete er unter anderen für Le Monde, Libération, Le Canard Echaine, Panorama und für Il Manifesto. Soriano war ein “Sozialist ohne Partei”, wie ihn sein Freund Pasquini Durán nannte. Er verteidigte die Freiheit und die Utopie einer glücklichen Gesellschaft, die ihn vor Zynismus bewahrte. Die Menschenrechte sah er als unerläßliches Fundament des Zusammenlebens.
Aus dem Exil heraus klagte er die Verbrechen der Militärregierung in Argentinien an. Sin Censura hieß die Exilzeitung, in der Soriano mit anderen politischen Flüchtlingen wie Carlos Gabetta und dem Schriftsteller Julio Cortázar über die Verbrechen von General Videla aufklärte. Wenn vor argentinischen Botschaften demonstriert wurde, war Soriano dabei, Flugblätter trugen seine Unterschrift.
Sein Einsatz gegen die Grausamkeit der argentinischen Politik spiegelt sich auch in seinen Werken wider. Er war der erste, der diese literarisch darstellte, besonders in No habrá mas penas ni olvido und Cuarteles de Invierno. Ersteres hatte er noch in Argentinien beendet, konnte es jedoch erst 1980 in Madrid veröffentlichen. Darin thematisiert Soriano die politischen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsperonisten in den 70er Jahren. Der auf diesem Buch beruhende Film von Héctor Olivera erhielt den Silbernen Bären auf der Berlinale.
“Mit Soriano sterben die Träume einer Generation, die auf ein gerechteres und würdigeres Argentinien vertrauten”, schrieb der Schriftsteller Tomas Eloy Martinez.
Soriano trug wesentlich zur Veränderung der argentinischen Presselandschaft in der Demokratie bei. 1984 kehrte er nach Buenos Aires zurück und gründete die inzwischen wieder eingegangene Wochenzeitung El Periodista und später die Tageszeitung Página/12. Schließlich zählte Soriano zu denen, welche die Vereinigung zur Verteidigung des Unabhängigen Journalismus, PERIODISTAS, ins Leben riefen. An dem Tag, an dem Soriano starb, stand seine Unterschrift neben 22 weiteren unter einer Erklärung an die argentinische Regierung. Darin versicherte PERIODISTAS, daß die argentinische Presse den vor kurzem ermordeten Fotografen José Luis Cabezas nicht vergessen wird und dessen Mörder zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Sorianos literarisches Werk

Seit seiner Rückkehr beglückte Soriano seine Fangemeinde mit vier weiteren Romanen. Für A sus plantas rendido un león, die Geschichte über einen argentinischen Konsul, der zur Zeit des Malvinenkriegs in Afrika steckt und in dessen Verlauf die afrikanischen Soldaten Gardel mit dem argentinischen Präsidenten verwechseln, erhielt der Autor eine in Argentinien unübertroffene Vorauszahlung von 120.000 US-Dollar. Es folgten Una sombra ya pronto serás (1990), El ojo de la patria (1992) und La hora sin sombra (1995). Auch brachte er vier Bücher mit gesammelten Zeitungsartikeln heraus.
Ob Buch oder Artikel – Soriano fiktionalisierte die Wirklichkeit, humorvoll und übertrieben, das Imaginäre stand nicht im Gegensatz zur Wahrheit.
In Argentinien wurde Soriano, jedenfalls von offizieller Seite, so gut wie ignoriert. Doch gestraft fühlte er sich wegen ausbleibender Preise nicht: “Es ist besser so. So ein Preis kompromittiert Dich. Du gehst hin, um ihn zu empfangen und mußt wer weiß welcher unerwünschten Gestalt die Hand geben.”

Anerkennung im Ausland

Dafür fand der Argentinier im Ausland umso mehr Anerkennung. Seine Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt. Besonders in Italien und Deutschland ist man von ihnen begeistert. 1993 erhielt der Raymond Chandler Verehrer Soriano die in Europa höchste Anerkennung für Kriminalautoren, den Raymond Chandler Preis. Für seine Artikelsammlung Cuentos de los años felices überreichten ihm die Italiener den Scanno Preis. Auf die Frage, was er mit den gewonnen drei Kilo Gold gemacht habe, erklärte der Geehrte: “Was in solchen Fällen angebracht ist: Ich habe sie auf einer Insel vergraben.” Erfolg und Geld interessierten ihn nicht. Während seines Exils erhielt Soriano lukrative Angebote von vielen großen italienischen Zeitungen, um ihn von Il Manifesto abzuwerben. Erfolglos, er blieb bei der linken Zeitung.
Osvaldo Sorianos Fan-Gemeinde würdigt seine unvergleichliche Art zu erzählen, von den einfachsten Dingen, stundenlang. Ein Mensch, der, wie Stan Laurel, andere zum Lachen bringen konnte, während er anklagte.

Mythos Evita

Alle wollen sie der Mann an ihrer Seite, der Schöpfer des Mythos Evita gewesen sein: “Ich habe Evita gemacht”, verkündete ihr liebender Witwer, der argentinische Präsident Juan Perón nach ihrem frühen Tod 1952. “Letzten Endes war Evita mein Produkt” behauptet ihr langjähriger Friseur Julio Alcaraz. Er sei auf die geniale Idee verfallen, ihr 1948 die Haare zu blondieren, er habe die strenge und schlichte Madonnenfrisur erfunden, mit der Evita zur Ikone wurde. “Ich machte sie zu einer Skulptur von höchster Schönheit”, behauptet Dr. Pedro Ara in seinen posthumen Memoiren. Im Auftrag Peróns war er nach Evitas Tod sechs Jahre damit beschäftigt, ihre Leiche samt innerer Organe zu konservieren. Parallel dazu fertigte ein Bildhauer drei täuschend echte Wachskopien an, die man nur durch Röntgenbilder von der Leiche unterscheiden konnte. Diesem Treiben wurde erst 1955 durch einen Putsch gegen Perón ein Ende bereitet. Aus Panik, die Volksmassen könnten sich der Mumie bemächtigen und sie in Protestzügen durch die Straßen tragen, versuchten die Putschisten, die vier Evitas bei Nacht und Nebel zu verscharren. Als dies mißlang, begann eine Odyssee der Särge durch verschiedene Länder. Jahrelang geisterten Gerüchte über den Verbleib des “Originals” durch die Weltpresse. Schließlich stellte sich heraus, daß die echte Evita unter dem Namen Señora Maggio auf einem Mailänder Friedhof ruhte. Das allerdings nicht lange: 1972 wurde die Mumie General Perón in sein Haus im Madrider Exil überstellt, wo er mit seiner dritten Ehefrau Estela Martínez lebte. Zwei Jahre später begleiteten ihre formalingetränkten Überreste Peróns triumphale Rückkehr nach Argentinien als wiedergewählter Präsident. Heute ruhen Evitas Überreste auf dem elegantesten Friedhof von Buenos Aires, der “Recoleta”. Die Legenden, die sich um fatale Unfälle bei den Leichentransporten ranken, könnten es durchaus mit dem Fluch der Pharaonen aufnehmen.

Aufsteigerin aus der Provinz

Für das Großbürgertum war Eva Perón, ein Emporkömmling. Zeit ihres Lebens sah sich Eva Perón, geborene Duarte, Klassenvorurteilen ausgesetzt: Ihr eigener Vater, ein konservativer Gutspächter, zeugte mit ihrer Mutter, einer Landarbeiterin, fünf Kinder. Das Jüngste, die 1919 geborene Eva, wollte er nicht als seine Tochter anerkennen. Der provinziellen Enge ihrer Umgebung versuchte Evita schon früh zu entfliehen und kam als Fünfzehnjährige nach Buenos Aires – mit dem besessenen Wunsch, wie ihre Idole Norma Shearer und Bette Davis Schauspielerin zu werden.
Unscheinbar, blass und dürr, aber unglaublich energisch soll sie damals gewesen sein. Jahrelang schlug sich die mäßig Talentierte mit Nebenrollen bei Theater und Film durch, bis sie endlich zum Radio gelangte. Als Sprecherin hatte sie Ausstrahlung. So viel, daß man ihr die Hauptrolle in der Serie “Die Amazoninnen der Geschichte” anbot. Eva Duarte war dabei, ihre Rolle im Leben zu kreieren.
Mit den entwaffnenden Worten “Danke, daß es Sie gibt”, ging Eva Duarte 1944 bei einem Wohltätigkeitsball auf den einflußreichen General Perón zu. Das aufstrebende Medientalent schnappte sich ein einflußreiches Mitglied der Militärjunta, einen 49jährigen Witwer. Klingt nach einem gezielten Coup, einer strategischen Allianz. Gleichzeitig bestätigen nicht nur Zeitzeugen, sondern auch die erhaltenen Liebesbriefe, daß Perón und Evita einander geradezu vergöttert haben müssen.
Für Peróns Offizierskollegen stellte Evita eine Schlampe mit dubioser Vergangenheit dar, ein Weibsbild, das unangemessene Courage an den Tag legte. Als sie zufällig mithörte, wie ein Offizier Perón nahelegte, sie nicht zu heiraten, überkübelte Evita ihn mit Hühnersoße. Perón soll sich vor Lachen geschüttelt haben.
Zwei Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen gegen das alte Establishment. Perón der kühlere, manchmal zauderne Stratege, Evita die weitaus leidenschaftlichere, dynamischere Kraft: Ihre Politik war die Kommunikation mit den Massen, die direkte Aktion. Sie agitierte erfolgreich auf Demonstrationen, als Perón im Oktober `44 von rivalisierenden Militärs verhaftet wurde und sie unterstützte seine Kandidatur bei den freien Präsidentschaftswahlen im darauffolgenden Jahr.
Eva Peróns Jahre als “la Presidenta” war eine rastlose Folge von Aktivitäten: Obwohl sie nie ein offizielles Amt bekleidete, wurde sie schnell zur Schlüsselfigur: Ihre Eva-Perón-Stiftung verschenkte in großem Stil Sachmittel an Bedürftige – von der Zahnprothese bis zur Wohnung. Viel Show war auch dabei. Bei ihren zahlreichen Touren durchs Land warfen ihre Helfer oft bündelweise Geldscheine aus dem Zug. Was aus heutiger Sicht wie das Helferinnensyndrom einer unausgelasteten Frau an der Seite eines mächtigen Mannes wirken könnte, stellte für das damalige argentinische Establishment eine politische Provokation dar. Das Angebot großbürgerlicher Damen, den Vorsitz in ihrem Wohltätigkeitsverein zu übernehmen, lehnte die Perón brüsk ab. Sie wollte keine mildtätigen Pflaster, sondern soziale Gerechtigkeit und vertrat dies mit Vehemenz und klassenkämpferischem Pathos. So lautete ein Spruch ihrer Gesundheitskampagne: “In Peróns Argentinien haben die Arbeiter vollständige Kauwerkzeuge und können ohne Armutskomplexe lächeln.”
Gleichzeitig spielte Eva Peróns verletzter Stolz eine wichtige Rolle, das Bedürfnis, es denen aus der Oberschicht mit gleicher Münze heimzuzahlen. Ihre Sucht nach luxuriösen Kleidern sorgte immer wieder für Schlagzeilen. So ließ sie anläßlich eines Balls ein monströs teures Dior-Kleid einfliegen. Die Selfmadefrau bastelte akribisch an ihrem Image: Stimmtraining, Diäten, ein rigides Selbstdisziplinierungsprogramm. Da blieb wenig Raum für die Laszivität und Lasterhaftigkeit, die ihre Gegner ihr unterstellten.

Mutter der Nation

In einer Machogesellschaft kreierte Evita Perón ein Image, das heroisch und stark, gleichzeitig aber von “weiblicher” Wärme geprägt sein sollte. Sie war keine Feministin, setzte sich aber gezielt für konkrete Dinge ein: Gründete eine peronistische Frauenpartei, setzte das Frauenwahlrecht durch, die Legalisierung der Ehescheidung und – was ihr den Zorn vieler bigotter Bürger einbrachte – die Gleichstellung unehelicher Kinder. Fast wäre sie sogar 1951 die erste Vizepräsidentin der Welt geworden: Drohgebärden der Militärs – für deren Machoehre es unerträglich gewesen wäre, eine Frau als stellvertretende Oberbefehlshaberin zu haben – und der Ausbruch ihres Krebsleidens veranlaßten sie allerdings, die Kandidatur zurückzuziehen. Eva Peróns Siechtum nahm den Charakter einer nationalen Tragödie an. Die Mutter der Nation, selbst kinderlos an Gebärmutterkrebs sterbend, strickte schon vor ihrem Tod an ihrem Mythos mit. Als die ersten Druckfahnen des erbaulichen Werkes “Der Sinn meines Lebens”, das Evita auf Anweisung Peróns einem offiziellen Biographen diktiert hatte, auf ihrem Krankenbett landeten, war sie trotzdem erschrocken und nannte das Werk verächtlich eine “Skulptur”. Heimlich machte die Sterbende eigene Aufzeichnungen und versteckte sie unter dem Kopfkissen.

Liebling der Medien

Evitas Beerdigung war ein Medienereignis, pompös und anrührend zugleich. Bereits vor ihrem Tod war der Papst mit Briefen eingedeckt worden, die Evita Wunder zuschrieben und um ihre Heiligsprechung baten. Eine halbe Millionen Menschen küßten während der zwölftägigen Totenwache den Sarg. Einige mußten sogar weggezerrt werden, weil sie sich zu Füßen der Aufgebahrten umbringen wollten.
“Don`t cry for me Argentina”: Im Heimatland von “Evita” war das Musical, mit dem Andrew Lloyd Webber und Tim Rice ab 1978 internationale Erfolge feierten, nie sonderlich beliebt. Für Tomás Eloy Martínez, den Autoren des Buches “Santa Evita”, ist das Opus eine “gesungene Das-Beste-aus-Readers-Digest-Story”. Für besondere Empörung sorgte der historisch haarsträubende, aber dramaturgisch wirkungsvolle Gag des Musicals, Evita mit Che Guevara zusammentreffen zu lassen. Zwei Ikonen made in Argentina, deren tragisch-romantisches Image sich fantastisch vermarkten läßt. Beide starben jung und schön “im Dienst ihrer Sache”: Der Vollblutrevolutionär Che Guevara, der bei einer aussichtslos erscheinenden Guerillamission im bolivianischen Dschungel ermordet wurde. Evita Perón, die von eisernem Willen beseelte Missionarin, die sogar nach Ausbruch ihres Krebsleidens noch bis zu zwanzig Stunden am Tag zwischen verschiedenen Aufgaben rotierte.
“Lebte Evita noch, so wäre sie Partisanin”, sangen argentinische Guerilleros in den Siebzigern während der Militärdiktatur. Als Vorbild der Linken ist Evita allerdings nur begrenzt tauglich: Zu stark war die Faszination Peróns für Mussolini, zu autoritär sein Vorgehen gegenüber Liberalen, Kommunisten und Sozialisten. Evita stattete sogar 1947 dem frankistischen Spanien einen Besuch ab – bei dem sie allerdings ständig ihre Gastgeber mit Hinweisen auf die dortige Armut brüskierte. Eva Perón war konservativ und autoritätsgläubig, gleichzeitig aber eine Gerechtigkeitsfanatikerin.
Am Stoff, aus dem die Mythen sind, stricken auch die Verfasser von Biographien mit. So sind die drei auf deutsch erhältlichen Evita-Biographien voluminöse, ausschweifende Mischungen aus Fakten und Fabeln, Report und Roman. Wer will schon bei Evita so kleingeistig sein, mit Fußnoten zu arbeiten? Mit ironischer Distanz beschreibt Eloy Martínez in seinem brillanten Buch “Santa Evita” sein Lavieren zwischen dem Versuch, den Mythos zu fassen zu bekommen, und dem faszinierten Eintauchen in die verschiedenen Facetten.
Starke, widersprüchliche Frauenrollen sind bekanntlich beim Film Mangelware. Kein Wunder, daß, wenn eine “Evita”-Verfilmung ausgerufen wird, sich die crème-de-la-crème der Schauspielerinnen darum reißt. 1981 verkörperte Faye Dunaway “Evita Perón” in einer US-amerikanischen Fernsehproduktion, bei der Marvin J. Chomsky Regie führte. Bei Alan Parkers Verfilmung des “Evita”-Musicals gelang es Madonna, die Hauptrolle zu ergattern. Die Dreharbeiten in Buenos Aires, Budapest und London gerieten zu einem Medienspektakel.
“Madonna raus! Evita lebt!” stand in großen Lettern auf argentinischen Häuserwänden. Präsident Menem, der sich trotz seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik gerne als Hüter des peronistischen Erbes inszeniert, stellte sich selbst an die Spitze einer offiziösen Kampagne gegen Madonna. Im Brustton der Überzeugung führte der notorische Frauenheld, der für seine operettenhaften Selbstinszenierungen berüchtigt ist, moralische Entrüstung ins Feld. Aber Madonna war cleverer. Während sie in Budapest durch Starallüren auffiel, bedachte sie ihr Gastland Argentinien mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit. Stundenlang unterhielt sie sich mit alten Peronisten, tauchte nachts unversehen in schlichten Tangobars auf. Auch äußerlich schien das “Material Girl” von Tag zu Tag mehr der Madonna der Armen zu gleichen. Die öffentliche Meinung kippte: “Madonna ist eine perfekte Evita”, verkündigte Angel Farías, Evitas ehemaliger Leibfotograf nach einem Zusammentreffen mit der Popdiva.
Nichtsdestotrotz lassen die Argentinier es sich nicht nehmen, in diesem Jahr mit zwei eigenen Evita-Verfilmungen aufzuwarten. Die bekannte Fernsehansagerin Susana Giménez, die seit 13 Jahren dieses Projekt verfolgt, erfüllte sich im Alter von 50 Jahren endlich “den Traum ihres Lebens”, Evita in einer dreiteiligen Fernsehserie zu verkörpern.
Eine ernsthafte Konkurrenz zu dem Alan Parker-Film stellt “Eva Perón” von Juan Carlos Desanzo dar. Der Film, dessen Drehbuch der bekannte Schriftsteller und Peronismus-Experte José Pablo Feinmann verfaßte, ist in Argentinien ein Publikumsrenner und wurde von der dortigen Filmindustrie stolz für die Oskar-Nominierung eingereicht. Kritiker bescheinigen der Hauptdarstellerin Esther Gorris, eine fantastische, facettenreiche und widersprüchliche Evita auf die Leinwand zu bringen. “Eva Perón lebt”, jubelte das Intellektuellenblatt Pagina 12.
Die Mumie und ihre drei Wachskopien sind endlich unter der Erde. Jetzt beginnt das Rennen der drei frisch abgedrehten Zelluloidkopien um die überzeugendste filmerische Reinkarnation der Frau, die Evita war – oder gewesen sein soll.

Bücher:
– Tomás Eloy Martínez: Santa Evita, Suhrkamp Verlag 1996, 431 Seiten, 48 DM.
– Alicia Dujoyne Ortíz: Evita Perón – Die Biographie, Aufbau Verlag 1996, 433 Seiten,
– Abel Posse: Evita – Der Roman ihres Lebens, Eichborn Verlag 1996, 408 Seiten.

“Evita” – Zwanghaftes Gefühlskino

Das Spektakel beginnt im Treibhaus der Mythen und Illusionen. Buenos Aires 1952: In einem Kino ergötzt sich das Publikum an einem Melodram. Plötzlich wird die Vorstellung abgebrochen. Wütendes Raunen im Saal. Dann gibt jemand bekannt, daß Eva Perón gestorben ist. Stille, dann fassungsloses Schluchzen, orchestriert von pompöser, gellender Musik.
“Evita”, Alan Parkers Verfilmung des Musicals von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice, läßt vom ersten Augenblick keinen Zweifel am Leitmotiv: Nicht klimpern, sondern klotzen. Madonna als Evita, Jonathan Pryce als Juan Perón – und last but not least Antonio Banderas als omnipräsenter kritischer Kommentator des Geschehens – eine Mischung aus jugendlichem Che Guevara und argentinischem Jedermann. Als Kellner, Dienstbote oder Journalist begleitet er die Stationen des kometenhaften Aufstiegs Evitas von der kleinen Schauspielerin zur Presidenta Argentiniens.
Ches Auftritte sorgen für wohltuende ironische Kontrapunkte in einem Spektakel, das ansonsten zu sehr bemüht ist, großes Gefühlskino darzustellen. Besonders der aufdringlich schwülstige und stilistisch diffuse Soundtrack, der musikalisch wenig mit Argentinien zu tun hat, sorgt zuweilen für unfreiwillige Komik – beispielsweise in der Szene, wo Evita und Perón sich das erste Mal begegnen. Wehmut kommt auf bei dem Gedanken, was beispielsweise Astor Piazzolla, der die phantastischen Soundtracks zu “Sur” und “Tangos – El exilio de Gardel” von Fernando E. Solanas komponierte, aus dem “Evita”-Stoff hätte machen können.
Das Dekors, die Massenszenen – das Argentinien dieser Zeit scheint bei Alan Parkers Monumentalepos äußerlich sehr detailliert rekonstruiert zu sein, wirkt jedoch trotzdem wie eine austauschbare Kulisse des Welttheaters in geschmackvollen Beige-Brauntönen. Evitas soziales und politisches Engagement, ihre Auseinandersetzungen mit den Militärs und gesellschaftlichen Eliten als brillant montierter, unterhaltsamer Clip, der die Zuschauer allerdings ziemlich im Unklaren läßt, ob es sich beim Peronismus um eine Art soziale Revolution oder Protofaschismus handelte. Gerade da, wo es interessant wird, wo Raum für Widersprüche und Zwischentöne sein könnte, kommt wenig Erhellendes.
Dagegen ist die Besetzung der Hauptrollen mit Madonna und Banderas aller Vorschußhäme zum Trotz ein gelungener Coup. Die Rolle der ehrgeizigen und gefallsüchtigen, gleichzeitig aber auch großzügigen und verletzlichen Eva Perón wird von Madonna so hingebungsvoll verkörpert, daß sie ihr wie auf den Leib geschnitten wirkt. Beispielsweise, wenn die Operetten-Evita sich vor dem Spiegel auf ihren letzten öffentlichen Auftritt vorbereitet und singt: “You must love me.”

“Evita”, USA/ Großbritannien 1996; Farbe, 135 Minuten; Regie: Alan Parker

Kleine Berlinale-Vorschau

Mit zehn Beiträgen ist der lateinamerikanische Film auf den 47. Internationalen Berliner Filmfestspielen vom 13. bis 24. Februar 1997 deutlich besser vertreten als im Jahr zuvor. Am Wettbewerb selbst wird kein Film aus Lateinamerika teilnehmen, sie werden im Forum und im Panorama gezeigt. Der kleine Wermutstropfen: Die Filme kommen aus nur zwei südamerikanischen Ländern. Acht Filme aus Brasilien und zwei aus Argentinien.
Darüberhinaus dokumentiert ein in deutsch-schweizerischer Gemeinschaftsproduktion entstandener Film die Geschichte der uruguayischen Stadtguerilla Tupamaros. Die beiden Filmemacher Rainer Hoffmann und Heidi Specogna, die unter anderem durch ihren Film “Tanja La Guerrillera” bekannt geworden ist, lassen vier Gründungsmitglieder der Tupamaros in sehr persönlichen Gesprächen ihren Weg vom bewaffneten Kampf im Untergrund der 60er und 70er Jahre über die Niederschlagung ihrer Revolution bis hin zu ihrer heutigen Einbindung in das parlamentarische System nachzeichnen. Hauptprotagonist des Films ist Pepe Mujica, der während der Militärdiktatur Uruguays 13 Jahre in völliger Isolierung inhaftiert war und heute Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio ist.
Da bis zum Redaktionsschluß der LN keine genauen Termine für die einzelnen Filme vorlagen, können wir unsere interessierten LeserInnen nur auf das Erscheinen des Berlinaleprogrammheftes vertrösten.

Die Gewerkschaften und der MERCOSUR

Der MERCOSUR birgt viele Ge­fahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Län­der. Der Druck der Welt­markt­kon­kurrenz veranlaßt die Re­gie­run­gen der MERCOSUR-Staa­ten, die nationale Wirt­schafts­po-litik maximal auf die Be­dürfnisse der inländischen Un­ternehmen aus­zurichten. Die In­teressen der ar-beitenden Be­völ­kerung fallen so wieder ein­mal unter den Tisch. Die Aus­gangs­situation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mit­gliedsstaaten von ho­her Arbeits­losigkeit betroffen. Schwarzar­beit und das Vorent­halten von So­zi­alleistungen ste­hen ebenso auf der Tagesord­nung wie un­sichere Arbeitsplätze und Ein­stellungen außerhalb der ta­rif­li­chen Bestimmungen und Ar­beits­gesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Ar­beitslosigkeit heute fast 20 Pro­zent. Die Regierung Menem hat mit Über­nahme liberaler Pro­gram­ma­tik die traditionelle Funktion der Peronisten, die so­zialen In­teressen der Bevöl­kerung zu ver­treten, aufgegeben. Große Be­völ­ker­ungsgruppen ver­fügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Ver­schlechterung ihrer Lebens­be­dingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft die­se Ent­wicklung zur Zeit noch im Zu­sammenspiel mit den ar­gen­ti­ni­schen Großunternehme­rIn­nen. So unterstützt die Regie­rung das von UnternehmerInnen­seite ge­for­derte Arbeitsflexibili­sie­rungs­pa­ket. Inhalt ist die Auf­hebung von flächendeckenden Tarifver­hand­lun­gen und -verträgen. Diese sollen zu­künf­tig in­ner­halb einzelner Un­ternehmen ge­führt werden. Zu­dem werden die Entschädigungs­re­gelungen bei Ent­lassungen mo­difiziert. Die Verwirklichung des MER­CO­SUR ist Teil der neo­liberalen Wen­de der Regie­rung Me­nems, die insbesondere auch mit um­fas­senden Privatisie­run­gen ar­gen­tinischer Staatsun­ter­nehmen einhergeht. So ent­stan­den in den letzten Jahren neue privat­wirt­schaftliche Mo­nopol- und Oligo­pol­gruppen, die häufig mit aus­län­dischen Unter­nehmen ver­floch­ten sind. Diese Gruppen pro­fi­tieren in erster Li­nie von der Au­ßenöffnungspoli­tik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzu­pas­sen.
Für den MERCOSUR insge­samt gilt, daß durch die unter­schiedlichen Lohnniveaus der Mit­gliedsländer (zum Beispiel lag der Mindest­lohn in Argen­tinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Stand­ort­verla­ge­rungen und Sozial­dump­ing zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte Wander­ar­beitneh­merInnen nicht nur aus den Mit­gliedsstaaten kommen, son­dern auch aus den Anrainer­staaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozi­alabkommen in Sicht. Auch die Ar­beit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spie­len. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offi­zielle Arbeitsmarkt keine Per­spektive und da­mit keine Existenzgrund­la­ge mehr bietet. Diese Ent­wick­lung wird durch die wachsende Konkurrenz zwi­schen den Un­ter­neh­men noch verschärft. Ent­las­sungswellen und Betriebs­schlie­ßungen bezie­hungsweise -ver­le­gun­gen sind als Folge dieser Markt­konstellation absehbar.

Gegenmacht durch Gewerkschaften?

Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach ge­sellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argenti­nien sind eine der gesellschaftli­chen Gruppen, die überhaupt Stel­lung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MER­CO­SUR-Projektes genommen ha­ben. Indes sind die wirtschaft­li­chen und politischen Bedin­gun­gen, die den argentinischen Syn­dikalismus entstehen ließen, im Lau­fe der Zeit fast vollstän­dig ver­schwunden.
Das grundlegende Modell der Ge­werk­schaftsbewegung ent­stand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Den­ken und Handeln nach euro­pä­ischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerk­schaf­ten, die sich in großen Dach­verbänden zusammen­schlossen.
Die Einflußnahme der Ge­werk­schaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höhe­ren Löh­nen und sozialen Absi­cherungen nieder. Und das in ei­nem wirt­schaftlichen Sze­nario, in dem die Löhne mit ihrer Wir­kung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Ent­wick­lungsfak­tor erachtet wur­den, da sie, inmitten einer binnenmarkt­orien­tierten Öko­nomie, in die “eigenen” Unternehmen zurück­flos­sen. Zu­sätzlich zeichnete sich Ar­gen­tinien bis in die sieb­ziger Jahre infolge wachsender Indu­stria­lisierung durch eine sehr ge­ringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerk­schafts­bewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine star­ke und mächtige institutio­nelle Funktion. Trotz der Staats­streiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wieder­holten Zeiten der Repression hat die­se vom Peronismus geschaf­fene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehn­ten hat sich die politische und wirt­schaftliche Landschaft im Co­no Sur verändert. Nicht zu­letzt die Schaffung des MER­COSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öff­nung ih­rer Ökono­mien für ausländ­ische Produkte und ausländ­isches Ka­pital an­streben. Die Löhne wer­den nun nur noch als Kosten­faktor gese­hen, die Bedeutung als Nachfra­ge­faktor wird ver­nachlässigt. Die so­zialen Kosten der Wirtschafts­politik der Regie­rung Menem sind enorm: Die Reallöhne in In­dustrie und Bau­gewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Pro­zent gefallen. Der Wohlfahrts­staat wurde de­mon­tiert: Schul­bil­dung und die Gesundheitsver­sor­gung sind für gro­ße Bevölke­rungsschichten un­erschwinglich ge­worden. Kein Wun­der, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens bezie­hen.
Infolge dem Schrum­p­fen der Produktions­sek­to­ren in den letz­ten Jahr­zehnten, verkleinerte sich die Klasse der In­dustriearbeiterIn­nen, die in ab­soluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Ar­gentiniens immer weniger Be­deutung hat.
In Argentinien war in den letz­ten 40 Jahren der Dachver­band CGT ohne Konkurrenz und pfleg­te immer sehr enge Bezie­hungen mit den Regierungen. Jahr­zehntelang galt der argenti­nische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonfor­men, kooperativistischen, par­tei­ab­hängigen Gewerk­schafts­mo­dells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offi­zielle Gewerkschafts­verbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Ar­gentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumin­dest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Kon­zept der Interessengruppen­ver­tre­tung, in­dem sie sogenannte In­dividualmitglieder, zum Bei­spiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT ver­steht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nati­onaler Ebene und dutzend­weise Un­ter­gliederungen im Landesin­nern.
Bis in die 80er Jahre organi­sierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordi­na­do­ra de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Ge­werk­schaftsver­bände Argen­tini­ens, Boliviens, Brasiliens, Chi­les, Paraguays und Uruguays um­faßt.
Im Hinblick auf die zu er­wartenden sozialen Folgen ver­ur­sachte der MERCOSUR große Ver­unsicherung: Welche Ar­beits­markteffekte, welche Loh­n­entwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungs­schichten ver­ändern? In Argenti­nien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Ka­pi­tal­gü­terindustrie durch den MER­COSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich An­fang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Aus­gleich struktureller Ungleichge­wich­te,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als Haupt­vertreterInnen in den MER­COSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtli­chen Bestimmungen aller Länder an das internationale Ar­beits­recht, sprich die Normen der In­ter­na­tionalen Arbeits­orga­ni­sa-tion ILO. Angestrebt wird eine So­zi­alcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaft­li­che Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und In­formationsstandes über den MER­COSUR.
Entweder gehen diese Aussa­gen und Forderungen an den ge­sell­schaftlichen Problemen vor­bei oder sie sind so allgemein ge­halten, daß die Gewerkschaf­ten keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MER­CO­SUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurück­zu­führen, daß die Schnelligkeit des Integrati­onsprozesses die ver­schie­denen Gewerkschafts­ver­bän­de über­rascht und deshalb über­fordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS be­stand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kur­zem und verfügte über keine kon­kreten gemeinsamen Hand­lungs­strategien. Bis heute be­wah­ren die Gewerkschaftsver­bän­de ihre nationale Ausrich­tung.
Entscheidend für die Schwä­che der Gewerkschaften ist au­ßerdem, daß sie unter fehlender An­erkennung in der Bevölke­rung leiden. Im Falle Argentini­ens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dach­ver­bandes, der in der CCSCS or­ganisiert ist, Korruption, unde­mokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteres­sen vorgeworfen.

Unkoordinierte Proteste

Im Zusammenspiel mit dem Ver­sagen traditioneller Gewerk­schafts- strategien scheinen ange­sichts des freien Spiels der Markt­kräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außen­öffnung kaum erfolgreiche Kon­zepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäf­tigung im Informellen Sektor so­wie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerk­schaf­ten zunehmend zu ständi­schen Ver­tretungen immer klei­ner wer­dender Interessensgruppen wer­den.
Die Angst der Bevölkerung in Ar­gentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares gewor­den.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unterneh­mens­interessen nur sehr schwa­chen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ge­werk­schaftsmitglieder eine mo­bili­sierbare Basis, wie sich unter an­derem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den So­zi­al­abbau gezeigt hat. Aufse­hen hat auch die einige Minuten dau­ernde “Dunkelheit” in Bue­nos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Pro­testmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unko­ordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuel­len Aktionen. Schon in den Zei­ten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Un­ruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plün­derungen von Supermärkten mün­deten. Diese Form von Pro­test wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentini­schen Hauptstadt plünderten. Ei­ne Protestaktion, die durch die An­kündigung erneuter Kündi­gungs­wellen und Rentenkürzun­gen durch Präsident Menem aus­gelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht al­so Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR auf­grund seiner Durchsetzung “von o­ben” nur ver­schärft werden kön­nen. Ein neu­er Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, kön­nte bei den (gewerkschaftlich ori­entierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Ar­gen­tinien ge­bildet haben und die ein ständi­sches Interessenver­tre­tungs­konzept abzulehnen be­ginnen.

KASTEN

MERCOSUR

Anders als frühere Integrati­onsprojekte in La­tein­amerika, die hauptsächlich auf den Ab­schluß ei­ner Freihandelszone ab­zielten, ist der MER­CO­SUR aus­drücklich nicht als Instrument eines de­fen­siven Regionalismus kon­zipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Para­guay und Uruguay in As­un­c­ión, Paraguay, den Vertrag, der den MER­CO­SUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR soll­te die suk­zes­sive ökonomi­sche Integration der beteiligten Staa­ten über die Etap­pen Frei­han­dels­zone, ge­mein­same Zollunion und ge­mein­sa­mer Markt sein. Mit dem Ver­trag von Asunción ent­stand ab dem 1. Januar 1996 der Bin­nen­markt für den freien Waren-, Diens­tleistungs- und Ka­pi­tal­ver­kehr. Jedoch offe­riert der Ver­trag jedem Land ei­ne Schutzklausel, um zeit­wei­lig Im­portquoten für bestimmte Güter fest­zu­setzen, falls eine Branche durch den drastischen An­stieg der Einfuhren aus ande­ren Mit­gliedsländern schwere Schä­den bei Produktion und Be­schäftigung erleiden würde. Da­mit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MER­CO­SUR-Mitgliedsländer Rech­nung ge­tragen wer­den: An dem gemeinsamen Bruttoinlandspro­dukt im Entstehungsjahr hat Bra­silien einen An­teil von fast 80 Pro­zent, Ar­gentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unter­schiedlich strukturierte Volks­wirt­schaften treffen aufeinan­der: Während Kapital­gü­ter und lang­lebige Kon­sumgüter vor al­lem aus Bra­silien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Le­bens­mittel aus Argen­tinien kommen, sind Para­gu­ay und Uruguay über­wiegend Rohstoffexpor­teu­re. Die Parlamente al­ler vier Mitgliedsstaaten ha­ben den TRATADO DE ASUNCION in­ner­halb von acht Monaten nach seiner Unter­zeich­nung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft tre­ten konnte. Seit diesem Zeit­punkt haben die Ins­titutionen des MER­COSUR ihre Arbeit aufge­nom­men. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Ge­meinsamen Marktes” CMC. Exe­ku­tiv­organ ist die “Gruppe des Gemeinsamen Mark­tes” GMC. Die Bearbeitung “fach­lich-tech­ni­scher” Aspekte des In­tegrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf ver­schie­den­en Arbeits­gruppen statt. Diese AGs erar­beiten Vor­schläge, welche für die GMC jedoch nur Empfeh­lungs­charakter haben. Nur in der 11. Ar­beits­gruppe (“Arbeitsbezieh­ung­en, Beschäf­ti­gung, Soziale Si­cherheit”), die den ab­surden An­schein erweckt, daß diese An­ge­legenheiten un­ab-hän­gig von den 10 Fachge­bieten (wie zum Bei-spiel Land­wirtschaft und Steuerpolitik) be­trachtet werden könnten, haben die Gewerk­schafts­ver­bän­de ein formelles Rede- und Vorschlags­recht. Als fünf­tes Land des ame­rikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MER­COSUR beige­treten. Da­durch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaf­fen. Außer­dem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbe­reitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Ge­gensatz zu früheren wirt­schaftlichen Inte­gra­tions­pro­jek­ten in Latein­amerika die Ziel­setzung sich nicht nur auf Zoll­präferenzen beschränkt, son­dern auch die politi­schen Gren­zen am Schluß überflüssig ge­worden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Je­doch hat – weder im voraus noch innerhalb des ge­schaf­fenen Institutionen­gebäudes – eine Kon-sul­tierung gesell­schaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensfüh­run­gen stattgefunden. Die Schaf­fung ei­nes gemeinsamen Gremi­ums, wie zum Beispiel ein ge­meinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion ein­neh­men könn­te, ist auch länger­fristig für den MER­COSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die süd­amerikanische Ant­wort auf die weltweite kapitali­stische Dynamik, in der sich zur Zeit re­gionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die natio­nalen Unternehmen für den in­ternationalen Wettbewerb stär­ken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähi­ger kosten­sen­ken­der Produkti­onskonzepte. Besonders großen An­reiz bietet die neue Freihan­delszone den mul­ti­na­ti­onalen Kon­zernen. Diese können nun ihre Pro­duktionen zentralisieren und dabei den kos­tengünstigten Standort wählen. Innerhalb der welt­weiten kapitalistischen Ar­beitsteilung kommt dem MER­COSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf stei­gende Exporte in die Indu­strienationen an­ge­wiesen. Sie er­füllen die Funktion eines “Hin­ter­hofes”, in denen die Multis profitabler pro­duzieren kön­nen. Der MERCOSUR, des­sen Mit­gliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen tra­di­ti­onell stark mit den USA verflochten sind, be­deutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Da­raus erklärt sich auch die sehr wach­same Hal­tung der Europäischen Union, die schon erste Ver­handlungen mit MERCOSUR-Ver­tre­terInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MER­COSUR-EUROPÄISCHE UN­ION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Ab­satz­markt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen wer­den.

Scheitern in der Autowerkstatt

“Bis vor die Tür des Lebens” habe sie das “verführerische Monster seines Schreibens” ge­trieben, beschreibt es Viviane Steiner. Die chilenische Schau­spielerin und Theater-Regisseu­rin hat in diesem Herbst in San­tiago Heiner Müllers Werk “Medea Material” inszeniert. In der Estación Mapocho wurde die Bühne in die Mitte des Saales verlegt, auf der verschiedene Szenen simultan gespielt wur­den. Die Zuschauer saßen auf drei verschiedenen Niveaus. Eher klassisch war hingegen die Inszenierung von “Quartett” durch Rodrigo Pérez in der Co­media. Zwei der renom­miertesten Schauspieler des Landes ließ der junge Regisseur als Haß-Liebes-Paar gegenein­ander antreten, voller Pathos und in üppig-historischen Kostümen. Und dann war da noch der Berli­ner Theater-Regisseur Alexander Stillmark, der zur gleichen Zeit eigens nach Chile gekommen war, um mit dem chilenischen Teatro La Memoria den “Auftrag” zu inszenieren. Auf einer leeren Bühne, auf der die ganz in weiß gekleideten Schau­spieler noch von den an die Wand projizierten Lichtbildern überlagert wurden.
Warum diese Heiner-Müller-Euphorie? Darüber machten sich bei einem Seminar des Goethe-Instituts in Santiago Ende No­vember Theaterleute aus ganz Lateinamerika Gedanken. Mül­lers Werk besteht aus Fragmen­ten – und das scheint ihn interna­tional so interessant zu machen. Revolution, Gewalt, Unterdrük­kung, das gibt es auf der ganzen Welt, und Müllers Texte lassen den Interpretierenden genug Luft, das Werk mit ihren ganz eigenen Erfahrungen auszuklei­den. In Lateinamerika gilt Heiner Müller keineswegs als einer, der sich an deutsch-deutschen oder europäischen Konflikten festge­bissen hat. Vielmehr reizen hier­zulande die Metaphern des Deut­schen, die Platz für die latein­amerikanische Wirklichkeit schaffen. Müller behandelt das Thema eines Landes, seines Landes, aber wie er es be­schreibt, gilt es für alle Länder.

“Hamletmaschine” in Ecuador

“Europäisches Theater mit Platzangebot”, so bezeichnet es der Berliner Literaturprofessor Frank Hörngk. Müllers Werke lassen sich nicht einfach spielen, sie müssen erkämpft werden. Sie müssen in Amerika wiederge­funden werden. So berichtet der argentinische Theaterregisseur Luis Fernando Lobo, wie er sich mit seiner Truppe im Argenti­nien des Jahres 1994, bei stünd­lich steigender Inflation, auf die Suche nach einem Raum des Scheiterns und der Niederlage gemacht hat. Ein Raum, in dem “Der Auftrag” sich entfalten konnte. Sie fanden ihn schließ­lich am Rande von Buenos Aires in einer Autowerkstatt, in die seit Monaten kein Auto mehr ge­bracht wurde. Von dieser Wirk­lichkeit ausgehend, so Lobo, ge­lang es ihnen dann, Zugang zu Heiner Müller zu finden.
Ende der 80er Jahre wurde Heiner Müller das erste Mal in Argentinien aufgeführt. Danach tauchten seine Stücke immer wieder auf den Spielplänen der kleineren Theater auf. Die Schauspieler hatten Gefallen an der Herausforderung gefunden. Das Publikum tat sich etwas schwerer, war es doch an leich­tere Kost gewöhnt. So wurde “Hamletmaschine” im Jahre 1991 in Quito ein großer Rein­fall, 1995 gab es in Ecuador einen neuen Heiner Müller-Ver­such mit “Der Auftrag” – diesmal mit Erfolg. Das Land befand sich mitten in einer schweren Krise, ein Minister nach dem anderen strauchelte im korrupten Regie­rungssystem, die Erdölarbeiter verharrten im Hungerstreik. Eine kaputte Welt, wie von Müller skizziert. In Quito hing in dieser Zeit ein Hauch von Revolution in der Luft, in der der Aufschrei “Unsere Hure, die Freiheit” (“Der Auftrag”) nicht ungehört verhallte.
Die Gewalt und der Kampf gegen die Unterdrückung, the­matisiert in Müllers Werken, ist in Chile auch sieben Jahre nach dem Ende des Pinochet-Regimes noch präsent. Mit seinen Szena­rien von Leere, Hoffnungs- und Ratlosigkeit trifft der deutsche Autor genau den Nerv der Zeit. Viele, die über Jahrzehnte gegen die Diktatur gekämpft haben, hat die Demokratisierung des Lan­des 1990 in eine Orientierungs­losigkeit fallen lassen. Zufrieden sind sie mit den Zuständen kei­neswegs, doch wie schwer fällt es, den Kampf, nachdem das Ziel doch eigentlich erreicht sein müßte, wieder aufzunehmen.
Die Dritte Welt hat bei Mül­ler, ähnlich wie bei Brecht, die Funktion, die europäische Tradi­tion in Frage zu stellen, meint der Berliner Regisseur Alexan­der Stillmark. Drei ganz unter­schiedliche Personen finden sich im “Auftrag” in Jamaica zur Sklavenbefreiung zusammen. Zur Zeit der französischen Re­volution, den Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit noch im Ohr, sehen sie sich vor die konkrete Frage gestellt: Sind wir denn gleich? Die Dritte Welt, das ist bei Müller gleichzeitig Auf­bruch und Zurücknahme, das Aufgeben einer Hoffnung. So geht es in “Der Auftrag” um den Aufstand in der Dritten Welt, um die “Schwarze Revolution”. Der schwarze Sasportas ist der neue Hoffnungsträger der Geschichte – und kommt schließlich um.
Jeder kann nach Meinung von Stillmark zum Sklaven Sasportas in “Der Auftrag” werden – weit über die soziale Metapher hinaus einfach aus dem Gefühl heraus, mißachtet zu werden. Sasportas ist der, der bis zuletzt an die große Revolution als Allheil­mittel, als Utopie glaubt und schließlich dafür stirbt. Daneben Debussant, der mitten im Stück die Bühne verläßt, weil er keinen Weg mehr sieht, der individuell konsequent bleibt. Und schließ­lich Galudec, der seinen revolu­tionären Auftrag zurückgibt. Für Hörngk ist das Müllers allge­meines revolutionäres Ver­mächtnis: Die Bitte zur Entlas­sung aus dem Auftrag. “Der Auftrag”, Mitte der 70er Jahre geschrieben, beschreibt die Selbstverleugnung des Individu­ums in der Revolution. Aber dann ist gerade das Abnehmen der Maske, das Gesicht-Zeigen in Zeiten der Niederlage die ein­zige Alternative zum Verrat.
Als Lichtbilder im Hinter­grund der Inszenierung hat Stillmark Impressionen aus Chambuco gewählt, Eindrücke aus der öden, harten und verlas­senen Salpeterwüste. Daneben Momentaufnahmen von der Bombardierung der Moneda in Santiago, deutsche KZ-Häft­linge, zerstörte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, das Stadion in Santiago nach dem Putsch, die Totenmaske Ul­rike Meinhofs. “Müller stellt uns alle vor die gleiche Barbarei”, beschreibt es ein Seminarteil­nehmer. Und dennoch gibt es un­terschiedliche Arten, damit um­zu­gehen. Müller hat dafür den Humor, die Ironie.

Aufzug nach Peru

Da steht ein Mann im Fahr­stuhl, ein Büroangestellter, die Aktentasche fest an die gerade zurechtgerückte Krawatte ge­drückt. Auf dem Weg zum Chef. Stolz, gleich einen wichtigen Auftrag zu bekommen. Verzwei­felt, weil ihm plötzlich, ir­gendwo zwischen dem vierten und zwanzigsten Stock, die Zeit wegrennt und seine Mission, noch bevor sie begonnen hat, scheitert. Daß weniger als fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit zu erscheinen schon beinahe die totale Niederlage bedeutet, wie soll man das in einem süd­amerikanischen Land vermit­teln?
Stillmark läßt in seiner Insze­nierung den Deutschen Deutsch sprechen und setzt einen Über­setzer daneben – der angesichts dieser nicht nachvollziehbaren Ängste seine professionelle Ge­lassenheit verliert und auch mal fragend die Stimme hebt. Schließlich landet der Ange­stellte statt beim Chef mit sei­nem Aufzug irgendwo in Peru, sein Auftrag ist passé, doch das Publikum hat sich köstlich amü­siert.
Das Scheitern, das sich in Heiner Müllers Texten wider­spiegelt, ist das Scheitern einer europäischen Linken, die von ei­ner sozialistischen Emanzipation geträumt hatte. Den Glauben an die Revolution hatte Müller al­lerdings schon lange verloren, im ungarischen Herbst 1956. Der späte Müller hat denn auch noch die letzte Hoffnung aufgegeben. Findet sich in den frühen Texten immmer noch ein Moment der Perspektive, eine mögliche Lö­sung, so zeichnet die späten Werke das verlorengegangene Vertrauen in Veränderbarkeit und auch eine Ratlosigkeit aus. “Verdammt noch mal, der wußte nichts mehr!”, so Hörngk. Der letzte Traumtext, Oktober 1995, beschreibt einen hilflosen Heiner Müller im Betonloch, hoch über ihm die kleine Tochter, die noch nicht hineingefallen ist.
Das ist die Hoffnung, die Müller bleibt- die Hoffnung auf die Nachwelt. Eine Aufforderung weiterzumachen, sich stets aufs Neue – nicht nur in Deutschland – an seinen Texten zu reiben. Und sie in aktuelle Kontexte zu stel­len, ohne dabei europäisch sein zu wollen. “Müller zu spielen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat an Müller”, mahnte der Berliner Literaturprofessor und Freund Heiner Müllers die jungen Schauspieler in Chile.

José Donoso ist tot

Der chilenische Schriftsteller José Donoso starb am 7. Dezember in Santiago.
Donoso, Jahrgang 1924, trat vor allem durch seine Romane hervor. Bereits Coronación (Krönung, 1957) wurde begeistert aufgenommen. Es folgten El lugar sin límites (Ort ohne Grenzen, 1967), El obsceno pájaro de la noche (Der obszöne Vogel der Nacht, 1970), Casa de campo (Das Landhaus, 1978) und Deseperanza (Die To­teninsel, 1986) – Bücher, die ihm den Ruf als einer der bedeutendsten Schriftsteller Lateinamerikas si­cherten.
Insbesondere Casa de campo und Desesperanza sind Bücher mit deutlichen Anklängen an Chile und seine jüngste Geschichte, und dennoch kann man Donoso wohl als Weltbürger par excellence bezeichnen. So schrieb der Anglist seine ersten Er­zählungen auf Englisch und veröffentlichte sie 1950 als Stipendiat in Princeton. Später lebte er in Argentinien, Me­xiko, den USA und schließlich lange in Spanien, bis er 1981 nach Chile zu­rück­kehrte. Das Werk Donosos ist in viele, auch außer­europäische Spra­chen übersetzt. Für die kom­men­den Jahre ist mit einigen weiteren, bis jetzt noch nicht auf Deutsch erschienenen Büchern zu rech­nen, so mit Donde van a morir los elefantes (Wo die Elefanten ster­ben, 1995) und den Memoiren Conjeturas sobre la memoria de mi tribu (Ver­mutungen über das Ge­dächtnis meines Stammes, 1996). In El Mocho, das in den nächsten Monaten auf Spanisch erscheinen soll, geht es um “Verschwundene” während der Pi­nochet-Diktatur.
Für das Februar-Heft der LN ist ein ausführli­cher Beitrag über José Donoso vorgesehen.

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