Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”

Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.

Quotierung von KandidatInnen

Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.

Freiwillige Quoten

Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”

Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg

Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.

Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament

Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”

Allheilmittel gegen Machismo…

Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.

… oder Gnade der Mächtigen?

Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”

Verändern Quoten Politik?

Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.

Der Vizegraf vom Río de la Plata

Der Vizconde de Lascano Tegui gibt Rätsel auf, und das nicht zu knapp. Nicht, daß er sich in seinem langen Leben (1887-1966) bewußt versteckt gehalten hätte nach Art eines B. Traven – daß er an die Stelle seines bürgerlichen Vornamens Emilio den behäbigen Adelstitel Vizconde setzte, klingt eher nach Selbstironie als nach einem Pseudonym. Es scheint Zufall gewesen zu sein, daß sein gutes Dutzend Bücher weder ein breites Publikum fand noch große Verlage auf ihn aufmerksam wurden. In den Literaturgeschichten und Autorenlexika sucht man seinen Namen jedenfalls vergeblich: er ist ein Vergessener. Mag sein, daß Lascano Tegui auch nicht das Bedürfnis verspürt hatte, für den eigenen Ruhm selbst zu sorgen.
Einige Philologen, mit detektivischem Scharfsinn ausgestattet, sind biographischen Einzelheiten des Argentiniers Emilio Lascano Tegui auch schon auf die Schliche gekommen. Langsam werden die Spuren sichtbar, die er hinterlassen hat, über die jedoch schon viel Gras gewachsen war.
“Von der Anmut im Schlafe” hingegen, und an seine Bücher sollten wir uns in erster Linie halten, ist ein kleines Verwirrspiel, dem nicht so leicht beizukommen ist.
Sollte es stimmen, was Lascano Tegui seinen Freunden von der Künstlergruppe “Pua” aus Buenos Aires in einer Widmung dem Buch voranschrieb, so hätte er “Von der Anmut im Schlafe” bereits 1914 geschrieben gehabt. Eine sehr verwirrende Behauptung, denn das Buch spielt in Bougival, einem Vorort von Paris, flußabwärts am linken Ufer der Seine gelegen. Lascano Tegui hatte im Gefolge von Rubén Darío die Hinwendung zu Frankreich und insbesondere Paris als “geistiger Hauptstadt” Lateinamerikas mitvollzogen, und es verwundert überhaupt nicht, daß die Handlung ebendort angesiedelt ist. Aber: “Von der Anmut im Schlafe” ist mit solcher Kenntnis der örtlichen Atmosphäre geschrieben, daß er eigentlich dort gelebt haben müßte.

In Europa

1908 und 1909 war er auf zwei längeren Reisen durch Europa unterwegs, aber erst 1914 siedelte er (wenn zutrifft, was wir bisher über ihn wissen) für mehr als zwanzig Jahre nach Paris über. Entstand das Buch nach intensiven Beobachtungen auf seinen ersten Reisen, las er es den Freunden in Buenos Aires vor – veröffentlichte aber erst, wie geschehen, 1925? Oder ist die Datierung von 1914 Fiktion, schrieb der Vizconde das Buch später, während des Frankreichaufenthaltes, als er eine zeitlang in Chatou wohnte, das Bougival gegenüber am anderen Seineufer liegt?
Auch wenn die Frage (noch?) offenbleiben muß, für das Nachdenken über das Buch ist sie nicht ohne Bedeutung.
Es könnte ein Entwicklungsroman sein, natürlich nicht in der realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, sondern ein moderner, reflektiver Roman: ein inwendig zurückgelegter, im Nachhinein und vom Ziel aus vermessener Weg; der Untertitel “Intimes Tagebuch” deutet darauf hin. Am Beginn steht die Ankündigung eines Mordes, am Ende seine Ausführung, ein Rahmen also. Dazwischen erzählt uns der Tagebuch-Schreiber sein Leben (“19. Mai 18.. – Ich bin in Bougival geboren”) wie eine stark fragmentierte Autobiographie. Es stehen eine Fülle von Begebenheiten und Beobachtungen aneinander, nachlässig chronologisch geordnet, zeitlich gebrochen durch detailversessene Momentaufnahmen, aber auch durch Auslassungen vieler Jahre. Als hätte sich einer hingesetzt und immer, wenn ihm etwas aus seiner Vergangenheit in den Sinn kommt, es unterm jeweiligen Datum festgehalten.
Aber diese Tagebuchebene wirkt nicht zuverlässig; so kann es sich eigenlich kaum verhalten haben. Besonders am Schluß des Buches, mit dem Wissen um den tatsächlich ausgeführten, grauenhaft kaltblütigen Mord an einer unschuldigen jungen Frau, drängt sich eher der Eindruck auf, es könnte sich doch um ein Schreiben vom Ende her handeln, um den Versuch zu erklären, wie es dahin gekommen ist und nun also das Bemühen, die wache Erinnerung des Mörders in der vergangenen Zeit zu fixieren, das Geschehen einsehbar werden zu lassen, nachvollziehbar, wenn schon nicht entschuldbar.
Zweierlei durchzieht die Aufzeichnungen und hält die – manchmal abstrus nebensächlich erscheinenden – Bruchstücke zusammen: das Sehen und Beobachten, und die Frage nach Unschuld und Schuld. Der Tagebuchschreiber ist ein begnadeter Seher (und der Vizconde de Lascano Tegui in dieser Hinsicht ein brillanter Autor), denn: Er sieht selbst. Er verfügt über eine bewundernswerte Leichtigkeit, Ideologien und Moralpostulate seiner recht muffigen Kleinstadtwelt zu ignorieren (an anderer Stelle klagt er sie deswegen an) und statt dessen, mit unvoreingenommenem, kindlichen Blick die Dinge zu sehen, wie sie ihm erscheinen. Dabei gelingen ihm feinfühlige Beobachtungen von liebenden Menschen genauso wie von verkrachten Existenzen, so über die frühe Greisenhaftigkeit von Wunderkindern (“Sie haben alle Genüsse kennengelernt ausser dem sinnlichen”). Aber es finden sich auch Zeilen – fast möchte ich sagen: Delikatessen – wie “das Geräusch, das eine Katze machen kann, die auf einer Zeitung eingeschlafen ist und sich umdreht”, oder: “Die Stimme schwindet die Treppe hinauf. Man hört eine Person laufen. Ihre Schritte scheinen an der Decke zu hängen.”
Dabei ist natürlich letzten Endes seine eigene Person das, was er sieht. Als er seine Unschuld verliert (dazu gleich), notiert er: “Ich kehrte nach Hause zurück und erkannte schnell an den Gesichtern derer, die mir nahe standen, die Größe meines Verlustes.” Die Welt sehen heißt, sich selbst sehen, sie ist dem Ich ein Spiegel. Die altvertraute Scheidung von Ich und Du ist aufgehoben, durch Freuds These von Ich, Über-Ich und Es zumal. So durchschlagend diese Erkenntnis ist, so abgrundtief ist der Schrecken über ihre Kehrseite: die Einsamkeit. Wenn alle Stricke reißen und die altverläßlichen Zusammenhänge sich auflösen, wird das Vertrauen auf liebende Geborgenheit und sichere Glaubensinhalte bitter enttäuscht. Weder die Kleinstadt Bougival noch der Tagebuchschreiber können daran etwas ändern.
In “Von der Anmut im Schlafe” korrespondiert diese Einsamkeit dem Problem des Schuldigwerdens. Während der Schreiber als Kind, in schlafender, anmutiger Unschuld, sich für sein Tun keiner Verantwortung bewußt ist und der Welt spielerisch begegnet, fällt in einem bestimmten Moment etwas von ihm ab “wie ein Fuchspelz von der fühllosen Schulter einer sportlichen Frau”. Es ist wie ein Erwachen, aber: Plötzlich weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Er ist allein.

Keine Blut-und-Boden-Dummheiten

Zum Militär nach Afrika eingezogen, findet er in einem Bordell zum ersten Mal eine große Liebe; als er nach Ende der Dienstzeit nach Frankreich zurückkehrt, hat er die Syphilis im Gepäck. Immer deutlicher zeichnet sich nun vor seinen Augen die Verderbtheit der Welt ab, dieser “Landschaft der Schlaflosigkeit”, und vor allem: Er ist deren Teil und kann gegen diese, scheint’s, schicksalhafte Zugehörigkeit nichts tun. Er beobachtet an sich Veränderungen und ist machtlos, ihnen entgegenzuwirken. “Die Männer sterben hundertjährig, ohne eine Frau kennengelernt zu haben”, sieht er. “Wir betreten eine neue Welt”, in der ein Zug fährt, “randvoll mit Kranken… Der Zug wird von einem Maschinisten gefahren, der unterwegs verrückt werden und durch die letzte Station rasen wird, ohne anzuhalten.” Das schreckliche, beziehungs- und lieblose Neue wird Synonym von Geschwindigkeit, Hast und Großstadt (ohne daß Lascano Tegui zum naiven Landidylliker oder gar zum Anhänger von “Blut und Boden”-Dummheiten geraten würde; seine Alternative liegt wohl eher innen), er beklagt die unvollkommen bleibenden Menschen; die Verkümmerung des Menschlichen ist ihm die eigentliche Unmenschlichkeit. Seine Antwort schließlich: “Ich befreie die Menschheit von einem unvollkommenen Wesen, von einem debilen Wesen.”
Ergo: Der Mensch in unserer Zeit ist nur harmlos, solange er kindlich “schläft”; sobald er erwacht, zerstört er. Eine bittere Analyse, wenn sie auch im Umfeld des Weltkrieges bestürzend klarsichtig ist. Vizconde de Lascano Tegui wird angesichts der Massenabschlachtungen auf den Kriegsfeldern zum Pessimisten – und sollte er das Buch tatsächlich vor 1914 geschrieben haben, könnte man ihm nicht nur Klarsicht, sondern auch eine gewisse Gabe zur Voraussicht zuschreiben.
Bei diesem “könnte” will ich es aber auch belassen, und mich beschleicht überhaupt ein Argwohn bei so einer schlüssig klingenden Interpretation – es kann auch ganz anders gelesen werden, natürlich. Der Herausgeber und Übersetzer Walter Boehlich zieht in seinem Nachwort von dem Mord eine literarische Parallele zu André Gides 1914 erschienenen Roman “Les Caves du Vatican” und erklärt beide Morde als “sinnlos und grundlos”. Abgesehen davon ist “Von der Anmut im Schlafe” voll von Abzweigungen, Andeutungen und Nebenschauplätzen, daß es nicht schwer sein dürfte, zu vielen anderen Lesarten zu finden. Ein Buch jedenfalls, das von der kleinen, feinen Friedenauer Presse sehr ansehnlich ediert wurde und für Gourmets wie Abenteurer Reize und Herausforderungen bereithält.
Das Essener “Schreibheft” legte in seinem diesjährigen Maiheft nach. Auf knapp 100 engbedruckten Seiten findet sich ein erstes exzellent geschriebenes Resumée über den derzeitigen Kenntnisstand betreffs Vizconde de Lascano Tegui (Dietrich Lückoff) und eine Sammlung von Auszügen aus seinen Werken – Gedichte, ein programmatischer Brief, journalistische Arbeiten, Romane. Sie geben den Blick auf die Vielfalt des Vizconde frei. Es gibt kaum ein Genre, in dem er nicht geschrieben hätte; thematisch bewegt er sich vorrangig in Argentinien, “Von der Anmut im Schlafe” ist da eine Ausnahme.
Da in Argentinien auch in diesem Jahr eines der Bücher des Vizconde neu editiert wurde (Mis queridas se murieron), darf man auf Weiteres in hiesigen Verlagen gespannt sein. “Von der Anmut im Schlafe” und das “Schreibheft”-Dossier sind ein gelungener Anfang.

Vizconde de Lascano Tegui: Von der Anmut im Schlafe. Intimes Tagebuch, herausgegeben und übersetzt von Walter Boehlich, Friedenauer Presse, Berlin 1995, 36,- DM. (ca. 18 Euro).
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Heft 49 (Mai 1997), Rigodon-Verlag Essen, 17,- DM. (ca. 9 Euro).

Die Flügel der Utopie

Fernando Birri, gebürtiger Argentinier, seit Jahrzehnten in verschiedenen Ländern Lateinamerikas und Europas zu Hause – oder unterwegs, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Einer der Väter des Neuen lateinamerikanischen Kinos, der während seiner mehr als vierzigjährigen Laufbahn ein stilistisches Spektrum entfaltete, das sich von sozialkritischen, vom Neorealismus inspirierten Werken wie “Gib ‘nen Groschen” (1958) bis hin zu psychedelisch angehauchten Experimentalfilmen wie “ORG” (1968-78) spannt. In besonders lebhafter Erinnerung ist Birri vielen als “Ein sehr alter Herr mit enormen Flügeln”: In seiner Verfilmung der tragikomischen Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez (1988) verkörperte er selbst einen Engel, den ein Unwetter in ein gottverlassenes Kaff an der kolumbianischen Küste verschlägt: ein Gestrandeter mit lädierten Flügeln und weisem Blick, der zunächst in den Hühnerstall gepfercht wird. Bis den Einheimischen das Kult- und Vermarktungspotential des seltsamen Heiligen dämmert und das Dorf sich in eine Mischung aus Pilgerstätte und Rummelplatz verwandelt.

Chemanía auch in Deutschland

Der bevorstehende Gedenktagsrummel um einen Mann, der nach seinem Tod zu einer Mischung aus Popstar und Säulenheiligen linker Widerstandskultur avancierte, war Anfang Juli dieses Jahres der Grund für Birris viertägigen Abstecher nach Berlin. Für sein Filmprojekt “Che: Tod der Utopie?” – das zu dessen dreißigsten Todestag im Oktober auch im bundesdeutschen Fernsehen gesendet wird – verfolgte Birri die Spuren, die Che Guevara in den Köpfen verschiedenster Personen hinterlassen hat: von dessen Geburtsland Argentinien bis ins entlegene bolivianische Dorf La Higuera im Valle Grande, wo Che als Guerillero umgebracht wurde, von Kuba, wo er die Anfangsphase der Revolution mitgestaltete, bis zu westeuropäischen Metropolen wie Paris oder Berlin, wo er zur Identifikationsfigur für eine ganze Generation wurde. “Es ist ein Film über die Erinnerung, weniger allerdings über die individuelle als über die kollektive Erinnerung. Was bleibt von diesem Bild, weniger in Hinblick auf den Mythos, sondern in Hinblick auf die Utopien zur Veränderung, zur Schaffung einer gerechteren, würdigeren, besseren Welt?”
Eigentlich habe er ja bereits mit seinem Dokumentarfilm “Mein Sohn, der Che” über den Vater von Che Guevara (1985) seine “persönliche und emotionale Pflicht” gegenüber Che Guevara beglichen, meint Birri mit einer Mischung aus Ernst und Augenzwinkern. Auch stehe er dem sich abzeichnenden Medienrummel – derzeit werden weltweit an die dreißig Filme über Che Guevara produziert, in Argentinien ist bereits von der Chemania die Rede – skeptisch gegenüber. “Als nach ’68 alle anfingen, T-Shirts mit Che Guevara-Aufdruck zu tragen, lag darin anfangs eine große Aufrichtigkeit, die sich später in ein Stereotyp, eine Mode verwandelte. Zur Zeit findet etwas statt, was ich für noch schlimmer halte, nämlich, daß der Che sich in ein Marketingobjekt verwandelt hat. Aber gleichzeitig habe ich die Hoffnung, daß auch inmitten dieses Marketings eine Figur wiederersteht, die kein Gespenst ist, sondern aus Fleisch und Blut.”

Metropolis” am Potsdamer Platz

Wenn das Gespräch auf die Dialektik der Geschichte kommt, ist Fernando Birri in seinem Element: “Es gibt eine weitverbreitete Art des Denkens, daß die Utopien für die glücklichen Momente der Geschichte stehen. Ich glaube dagegen, daß die Utopien in den schlimmsten Momenten geboren werden, wenn die Kreatur eine Krise sämtlicher Werte durchlebt.” Hinter uns liege “ein ungeheuerliches und furchtbares – und furchtbar schönes Jahrhundert”, eine Zeit permanenter Transformation und Wandel der Parameter. Entsprechend fasziniert und abgestoßen zugleich zeigt Birri sich auch angesichts des Berliner Spannungsfeldes zwischen musealen Trümmern des realexistierenden Sozialismus und kapitalistischer Boomarchitektur.
Als er auf dem Potsdamer Platz gedreht habe, sei ihm der Gedanke gekommen, hier würde eine modernisierte Version von Fritz Langs Metropolis entstehen. “Einerseits verzaubert und verführt dich diese urbanistische Eruption, denn sie vermittelt den Rausch des Destruktiven, des Dynamischen. Und diese Verführung ist sehr stark. Andererseits erscheint dies, wenn man mit etwas mehr Gelassenheit an die Zukunft denkt, auch ein bißchen schrecklich. Ich glaube ganz ehrlich nicht, daß man sich mittels dieser neuen, babylonischen Konstruktion dem Glück nähern wird.”

“Sie glauben an gar nichts mehr!”

Ist es naiv, angesichts des vorherrschenden Diskurses über Rentabilität und Machbarkeit, Sparzwängen und Krisenmanagement von Utopien, von Glücksvisionen zu reden? Birri nimmt diese Freiheit nach wie vor für sich in Anspruch: “Ich finde es falsch, daß inmitten der offenkundigen Entzauberung, dieser perversen Situation, viele europäische Intellektuelle Reife mit Zynismus gleichsetzen. Das heißt, sie glauben an gar nichts mehr. Ich glaube dagegen, dies ist der Moment, in dem man zu fühlen beginnt, daß irgend etwas sich unterirdisch bewegt, im kollektiven Unterbewußten der Menschen, der Geschichte, daß man beginnt, über andere Projekte nachzudenken.”
Auf der Suche nach dem “komplexen und nuancierten Diskurs” über Che Guevara und die Utopie scheint der alte Herr kaum so etwas wie elitären Dünkel oder Berührungsängste zu kennen. Die Palette der Interviewpartner für seine “Reportage-Collage” reicht von dem uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano, dem argentinischen Regisseur Fernando E. Solanas über den Chefredakteur von Le monde diplomatique, deutschen Filmemachern der 68-Generation wie Alexander Kluge und Peter Lilienthal bis hin zu Passanten, die er in Berlin an den Überresten der Mauer angesprochen hat. Birri liebt die assoziative Mischung, die Konfrontation der Kunst mit dem Alltag, das Cross-Over der Stile und Generationen: Begeistert erzählt er von einem Abend in der Volksbühne, wo er mitten in einer Vorstellung Christoph Schlingensief interviewt hat.
“Wenn dieser Film wirklich das würde, was ich möchte, müßte er dazu dienen, daß der Zuschauer denkt: Welche Antwort hätte ich gegeben, wenn man mich in diesem Moment nach Che Guevara gefragt hätte? Wenn man mich gefragt hätte, was Utopie bedeutet? Denn ich denke, daß diejenigen Sachen wesentlich wichtiger sind, die mehr Fragen als Antworten mit sich führen – und nicht umgekehrt.” – Sprach’s, und eilte zum Zug nach Bremen, um dort die Besucher eines Konzertes von Michael Jackson zu interviewen.

“Che: Tod der Utopie?” Argentinien/Deutschland 1997, Regie: Fernando Birri; Farbe, ca. 90 Minuten.

Der Himmel über Patagonien

Ciro Cappellari ist sowohl endlose Weiten als auch weite Entfernungen gewöhnt. Aufgewachsen ist er in der patagonischen Kleinstadt Ingeniero Jacobacci, wo sein Vater jahrelang als Dorfarzt arbeitete. Anfang der achtziger Jahre, als in Argentinien noch Diktatur herrschte, ist er nach Europa abgehauen, um Film zu studieren. Nach einem kurzen Intermezzo als Fotograf in München begann Ciro Cappellari an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin in Berlin zu studieren und machte sich im Laufe der Zeit auch als Kameramann einen Namen, unter anderem bei Pepe Danquarts Oscar-prämiertem Film “Schwarzfahrer”.
Aber bereits für sein erstes größeres Projekt, den Dokumentarfilm “Amor América”, zog es Cappellari 1989 wieder nach Argentinien. “Amor América” – eine Liebeserklärung an Patagonien und seine Bewohner, aber gleichzeitig eine schonungslose Abrechnung mit dem Fundus eurozentrischer Gründungsmythen, den sich weiße Soldaten und “Pioniere” in gnadenlosen Vernichtungsfeldzügen gegen die indianischen Ureinwohner zusammen plünderten. “Sohn des Flusses” (1991), Cappellaris erster Spielfilm, setzte sich mit der Suche eines indianischen Jungen nach seinem Platz in der Gesellschaft auseinander. Und nun als Abschluß der Trilogie “Sin Querer – Die Zeit der Flamingos”: Wiederum fokussiert Cappellari die Nahtstellen, an denen verschiedene argentinische Traditionen und Identitäten aufeinandertreffen, konzentriert sich aber stärker auf die europäischen Einwanderer, die es nach Patagonien verschlagen hat.
“Ich liebe diese Landschaft, obwohl sie so menschenfeindlich ist. Mein Kameramann Jürgen Jürgens hat etwas sehr Schönes gesagt, als wir diese endlose Steppe sahen, wo du das Gefühl hast, die Erde ist ganz klein und du bist noch kleiner, und dann hast du einen riesigen, drückenden Himmel über dem Kopf. Er sagte: Man fühlt sich hier dem Tod näher. Das habe ich auch gespürt, das ist auch nicht negativ gemeint. Man spürt sich in dieser Welt mehr mit der eigenen Existenz konfrontiert als in einer Großstadt, wo alles so selbstverständlich ist. Nichts schützt dich. Und das ergibt einen vollkommen anderen Lebenssinn. Die Menschen dort sind nicht sehr gesprächig, aber sehr freundlich und warm. Jedoch leben sie so, als ob sie von der Welt abgekapselt wären.” Mit dieser simplen und doch so mirakulös klingenden Botschaft taucht eines Tages ein junger Ingenieur namens Mario in dem patagonischen Kaff San Lorenzo auf, das mit der Außenwelt nur durch nichtasphaltierte Landstrassen und einen mittlerweile stillgelegten Bahnhof verbunden ist. Und nun dieses Projekt: Um einen Ausflugsdampfer zu einer Lagune landeinwärts zu transportieren, soll eine Überlandtrasse konstruiert werden. Was ein bißchen wie eine Inszenierung von Fellini oder eine Wahnidee von Fitzcarraldo klingt, weckt bei den DorfbewohnerInnen von San Lorenzo Hoffnungen und Sehnsüchte. Ehe er sich’s versieht, ist der Ingenieur zur Projektionsfläche verschiedenster Erwartungen geworden.

Ein Schiff wird kommen.

“Das Schöne bei den Leuten in Patagonien ist, daß es eine Poesie der Hoffnung gibt. Und das kann die geringste und die absurdeste sein. In “Sin Querer” ist es ein Schiff, das vorbeikommt. Es könnte auch etwas völlig anderes sein – wie beispielsweise die Sonnenfinsternis, die in dem Film vorkommt. Sämtliche Ereignisse, die von außen kommen, werden mit einer viel extremeren Wahrnehmung aufgenommen.”
Was haben wohl die Einwohner der verschlafenen und wirtschaftlich heruntergekommenen Kleinstadt Ingeniero Jacobacci gedacht, als auf einmal Ciro, der als Junge hier gelebt hatte, mit einer internationalen Crew aufkreuzte, um einen Film über eine ebensolche Kleinstadt zu drehen, die durch die Ankunft eines Ingenieurs wachgerüttelt wird? Für Cappellari zumindest war es eine faszinierende, manchmal auch befremdliche Begegnung mit der eigenen Geschichte. So habe er eines Tages während der Dreharbeiten mit seinem Vater – der eine “Gastrolle” als Dorfarzt spielt – an einer Lagune gestanden und einen Wochenendausflug inszeniert, als plötzlich beide das gleiche deja vu- Gefühl hatten: “Das haben wir gelebt. Wir sind diese Leute, die dort an diesem Teich sitzen. Solch eine Erinnerung unbewußt wiederherzustellen, das ist eine Form, sich selbst auf einer surrealen Ebene zu begreifen. Die Europäer und Araber, die in Patagonien leben, wiederholen Rituale, die nicht in dieser Landschaft entstanden sind, die hier vollkommen absurd erscheinen. Aber das müssen sie, das haben sie in sich drin. Das sagt für mich viel über die Kultur in Lateinamerika aus, besonders in Argentinien, das ein sehr europäisch geprägtes Land ist.”
“Sin Querer” – im Gegensatz zu dem pittoresken deutschen Untertitel “Die Zeit der Flamingos” steckt das spanische Original voller lakonischer Doppeldeutigkeit: “Sin Querer”, das kann sowohl ‘Ohne zu lieben’ heißen als auch ‘Ohne zu wollen’. Um beide Gefühlsphänomene kreist der Film auf sensible und beharrliche Weise, sucht und findet Spuren resignierter Leidenschaftlichkeit im Gesicht von Gloria (Angela Molina) oder in der verhärmten, altmädchenhaften Anständigkeit der Gattin des Bürgermeisters. Ohne zu wollen, aber auch ohne im entferntesten etwas daran zu ändern, scheint dieser dörfliche Mikrokosmos seit Jahren beständig um sich selbst zu kreisen. Die Rollen im Zentrum und an der Peripherie der gesellschaftlichen Hackordnung sind nach alter kolonialistischer Manier verteilt: Hier die Dorfhonoratioren und Geschäftsleute, die sofort versuchen, den Ingenieur und sein Projekt vor ihren jeweiligen Karren zu spannen, und dort, buchstäblich am Rande des Dorfes, die Indianerin, die sich von dem Fremden bei der Suche nach ihrem spurlos verschwundenen Vater Hilfe erhofft. Im Gegensatz zu den DorfbewohnerInnen spielt Mario, der Ingenieur eine ziemlich reaktive Rolle: “Er ist einfach überfallen worden. Sie haben sich auf ihn gestürzt und gesagt, du mußt für meine Sachen verantwortlich sein, du mußt mir meine Träume verwirklichen, du mußt mir die Justiz bringen.” Die Dorfälteste, die alles kontrollieren will, der Geschäftsmann, der seine dreizehnjährige Hausangestellte Juanita vergewaltigt und seinen latent schwulen Bruder nötigen will, ein richtiger Macho zu sein – auch wenn viele der Figuren bewußt als Prototypen angelegt sind, gelingt es Ciro Cappellari und den Schauspielern auf eine intensive und gleichzeitig unangestrengte Art, die Klippen der Klischeehaftigkeit zu umschiffen. Und das liegt besonders an dem Spannungsverhältnis zwischen einer atmosphärischen Dichte und Stimmigkeit und einer elliptischen Erzählweise, die zwar gezielt Fährten legt, aber der Phantasie noch Raum läßt. Vieles ist auf Abstand gefilmt, durch die Linse des Fernglases oder durchs Fenster. Oft scheint ein fast schmerzhafter Kontrast zu existieren zwischen der weiten, unwirtlichen Landschaft, der die Leute ausgesetzt sind, und ihrer inneren Begrenztheit und Klaustrophobie. “Das verstehe ich gerade als die Rettung vor dieser Weite: Sich ein Haus zu bauen und die Fenster zuzudichten, damit der Wind und diese harte Landschaft nicht reinkommen.”
So hängt vieles unausgesprochen in der Luft. Auch bei der Liebesgeschichte zwischen Mario und Gloria, die seit dreißig Jahren neben ihrem verhaßten Ehemann vor sich hin vegetiert, zeigt Cappellari lieber das “Davor” und “Danach”. Gloria, die von sich behauptet leben zu können, ohne zu lieben, scheint sich so sehr in der Nische ihres Kramladens festgekrallt zu haben, daß sie die Liebe als Bedrohung ihrer Existenz wahrnimmt. Das Spannungsfeld zwischen (Auf-) Begehren und Resignation manifestiert sich besonders in ihrer Geschichte und in derjenigen von Juanita, die wie ihr jüngeres Ebenbild wirkt: “In dem Film passiert zwei Frauen dieselbe Geschichte, nur löst sie sich am Ende ganz anders auf.
“Ausharren und erdulden oder gehen und den Kreis durchbrechen? Jetzt, wo der wirtschaftliche Boom, der in den 30er bis 50er Jahren Scharen von Einwanderern nach Patagonien lockte, längst wie eine Fata Morgana am Horizont entschwunden ist und nur leere Fabrikhallen zurückgelassen hat, stellt sich diese Frage für die Nachkommen der eu-ropäischen Emigranten erneut. Von den ehemals 300 Arbeitsplätzen am Eisenbahnknotenpunkt Ingeniero Jacobacci sind nur noch 30 übriggeblieben. “Es gibt eine Szene, wo Gloria sagt, daß sie damals gerne die Züge hörte, aber heute kämen sie nicht mehr. An dem Tag, wo wir die Szene drehen wollten, gab es einen Bahnarbeiterstreik, weil immer mehr Arbeitsplätze abgebaut wurden. Plötzlich hatten wir einen Zug auf den Schienen, wo wir drehen wollten. Nach großen Verhandlungen haben die Streikenden uns die Lokomotive weggefahren. Das war für mich ein Moment, wo Realität und Fiktion sich plötzlich gemischt haben, und ich dachte, in dreißig Jahren wird diese Geschichte, die ich erzähle, wahr. Alle werden schon Jahre nichts mehr mit der Welt zu tun gehabt haben, weil die Straßen nicht mehr repariert werden und die Züge nicht mehr fahren. Und dieser Ort, der reich gewesen ist, wird immer ärmer.”
Auch wenn Ciro Cappellaris eigener Lebensstil alles andere als bodenständig wirkt, ist doch auffällig, wie oft er das Wort ‘Wurzeln’ gebraucht, um seine eigene Idenität zu umreißen – und das keineswegs nur in Bezug auf Argentinien, sondern auch auf Berlin, das für ihn eine “zweite Heimat” geworden ist. Hier lebt seine französische Freundin, hier wachsen seine beiden Kinder auf. Stellt das Pendeln zwischen verschiedenen Ländern und das Großstadtleben in Berlin auch ein Gegengewicht dar zu der Einsamkeit, die er in Patagonien erlebt hat? “Wahrscheinlich. Ich mag es sehr, in Städten zu leben. Im Gegensatz zu städtischen Leuten, die gerne auf dem Land leben würden. Wenn man so viel Ruhe geschluckt hat, dann hat man andere Bedürfnisse.” Jedoch: “Daß ich immer wiederkomme, um in Patagonien Filme zu drehen, hat damit zu tun, daß ich davon nicht wegkomme.”

“Sin Querer”, Deutschland/ Argentinien 1997; Regie: Ciro Cappellari; Farbe: 96 Minuten.

Guerillero-Entsorgung

Im Morgengrauen des 23. Januar 1989 stürmten rund 60 schlecht bewaffnete meist junge Menschen der Oppositionsbewegung MTP die Infanteriekaserne Nr. 3 von La Tablada, einem Vorort der Hauptstadt Buenos Aires. Dreißig Stunden dauerte die darauf folgende von Rundfunk und Fernsehen live übertragene Schlacht zwischen den Angreifern, die eine beinahe leere Kaserne vorfanden, und den von außen attackierenden über 3000 (!) Militärs. Diese schlugen mit martialischem Aufwand – Panzer, Infanterie und Luftwaffe – den Angriff nieder, schossen die Kaserne buchstäblich in Schutt und Asche: 39 Tote, 70 Verletzte und 20 Gefangene waren die Bilanz (siehe LN 179, 180, 181). Die Angreifer wollten nach eigenen Angaben einem geplanten Militärputsch zuvorkommen. Informationen darüber seien ihnen aus zuverlässigen Kreisen zugespielt worden. Bis heute halten die überlebenden MTPistas an dieser Version fest, und auch an dem Glauben, daß vor mittlerweile mehr als acht Jahren tatsächlich eine Rebellion der nationalistischen Militärfraktion der Carapintadas bevorstand. Der Überfall auf La Tablada leitete 1989 die erneute Militarisierung Argentiniens und den unrühmlichen und vorzeitigen Abgang des damaligen Präsidenten Raúl Alfonsín ein (LN 183/4).
Schon damals zirkulierte das Gerücht, daß der vermeintliche Kopf hinter dem Angriff Gorriarán Merlo gewesen sei, der erfolgreich fliehen konnte. Merlo ist eine der schillerndsten Gestalten der argentinischen und lateinamerikanischen Guerilla-Bewegungen. Als enfant terrible tauchte sein Name in Argentinien immer dann auf, wenn die Militärs meinten, die auch in der Demokratie noch virulente Bedrohung durch den Linksradikalismus behaupten und diese “Subversion” bekämpfen zu müssen. Aber tatsächlich: In einem im Mai 1995 klandestin gegebenen Fernsehinterview gab Merlo nicht nur seine Beteiligung an La Tablada zu. Er war ebenfalls am erfolgreichen Attentat auf den geflüchteten nicaraguanischen Ex-Diktator Anastasio Somoza am 17. September 1980 in der paraguayischen Hauptstadt Asunción beteiligt.

25 Jahre “freie Gefangenschaft”

1970 war Merlo gemeinsam mit Roberto Santucho führendes Gründungsmitglied des trotzkistischen Ejército Revolutionario del Pueblo (ERP). Neben den peronistischen Montoneros war der ERP die wesentliche Guerilla Argentiniens der 70er Jahre. Derweil festgenommen, gelang Merlo 1972 mit fünf Mitgefangenen die Flucht aus dem Hochsicherheitsknast von Rawson per Flugzeug nach Chile und weiter nach Kuba. 1974 führt er einen mißglückten Angriff auf die größte argentinische Militärkaserne von Azul an, bei dem drei Soldaten und zwei Guerrilleros starben. 1979 wurde Merlo Mitglied der nicaraguanischen FSLN, verantwortlich für den Sicherheitsdienst. Zurückgekehrt nach Argentinien engagierte sich Merlo ab 1987 in der populären Basisbewegung MTP. Der MTP war eine weit verbreitete BürgerInnenbewegung in den Armenvierteln der Großstädte. Die Mitglieder arbeiteten in Basisgruppen für partizipative Demokratie, gegen soziale Ausgrenzung und Ungerechtigkeit und gegen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft.
Auf der Fahndungsliste stand Merlo nicht nur immer ganz oben, seit Beginn der 90er Jahre war er in Argentinien der einzige, der überhaupt noch darauf zu finden war – alle anderen waren tot, festgenommen, verurteilt oder – wie die meisten – verschwunden. Am 28. Oktober 1995 fand Merlos bewegtes Leben im Untergrund ein jähes Ende. Seit mehr als einem Monat war der argentinische Geheimdienst SIDE ihm auf den Fersen. Bei einem Besuch in Mexiko wurde er in einer heftigen Schießerei von 60 (!) Mitgliedern des mexikanischen und argentinischen Geheimdienstes gemeinsam festgenommen und kurzerhand im Flugzeug nach Argentinien abtransportiert. Diese binationale Entführungskooperation erregte damals weder eine zwischenstaatliche Krise noch internationales Aufsehen. 21 Tage lang wurde Merlo im Gefängnis des ehemaligen Konzentrationslagers von La Perla vernommen und nach eigenen Angaben von Angehörigen der Gendarmerie gefoltert. Danach saß er bis zum Prozeßbeginn am 20. Juni 1997 in Villa Devoto 577 Tage in Isolationshaft, mit abgeschotteter Einzelzelle, eingeschränkter Besuchserlaubnis und Bewegungsfreiheit, und begrenztem Postzugang. Merlos Ex-Frau Ana María Sívori war ebenfalls 1995 bei einem Besuch ihrer Mutter in Rosario festgenommen worden. Seit Jahren hatten beide keinerlei Kontakt mehr gehabt. Die Tatsache vor Jahren mit dem Guerillero verheiratet gewesen zu sein, war alleiniger Verdachtsmoment gegen Sívori. Später tauchte aus Polizeikreisen ein Beutel mit Dokumenten auf, der ihre angebliche Mitgliedschaft im MTP und Verbindung mit dem Angriff auf die Kaserne von La Tablada belegen sollte.

“Die Wunden schließen”

Unter Hubschrauberüberwachung, Militärpräsenz und mittels zahlreicher bewaffneter Polizeieinheiten wurde am 20. Juni 1997 der Prozeß gegen Merlo und Sívori im Vorort San Martín von Buenos Aires eröffnet. Einige Tage vor und während des Prozesses wurde in den Medien eine regelrechte Kampagne gestartet, die auf das Bild Merlos als durchgeknallter Fanatiker des militärischen Kampfes hinauslief. Entsprechend groß war das Interesse der Medien aber auch vieler gesellschaftlicher Kreise und Gruppierungen an dem Prozeß. Unter ihnen beispielsweise der ehemalige Verteidiger im Prozess gegen die Militärs Víctor Seguí: “Ich bin gekommen, weil dies eine historische Chance ist. Es hilft, die seit dreißig Jahren offenen Wunden zu schließen.”
“Wir sind politische Geiseln”, rief Sívori beim Betreten des Gerichtssaales, in dem vor acht Jahren bereits zwanzig Mitglieder des MTP von den selben Richtern und mit zum Teil identischen Anwälten in einem Farce-Prozeß unter der Regie der Militärs für den Angriff mit lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren (LN 186). Keine guten Vorzeichen, wie sich im weiteren Verlauf zeigen sollte.
300 Seiten stark war die Anklageschrift, die vom Staatsanwalt Pablo Quiroga an den ersten beiden Verhandlungstagen verlesen wurde. Sie begründete die über zehn Anklagepunkte aus der Sicht des argentinischen Staates. Neben unerlaubtem Waffenbesitz, schwerem Raub, illegaler Freiheitsberaubung, Rebellion, doppelt-schwerem Mord, Dokumentenfälschung und anderem lag der Schwerpunkt auf Bildung und Führung einer illegalen Vereinigung. Der MTP, so die Kernargumentation der Staatsanwaltschaft, habe sich nach dem Eintritt Gorriarán Merlos 1987 unter seinem Einfluß und seiner Führung in eine bewaffnete, illegale Vereinigung verwandelt, mit dem Ziel der Machtergreifung in Argentinien. Der Angriff auf La Tablada liest sich in dieser Sicht als geplanter Staatsstreich von links namens “Operation Tapir”. So war es laut Quiroga beabsichtigt, “die Universitäten, Militärkasernen, Radios, Fabriken, Ländereien, Wohnungen, Gerichte, öffentliche Einrichtungen, Presse und schließlich die Regierungsgebäude zu besetzen”. Ziel der Angreifer war demnach, mit in La Tablada geraubten Panzern auszurücken, bis sich schließlich die Regierung vor der Casa Rosada ergeben werde. “Es muß darauf hingewiesen werden”, so Quiroga, “daß es nur 150 Personen waren, die die Kaserne von La Moncada angriffen und die kubanische Revolution auslösten. Und nur zehn Mitglieder der Frente Sandinista de Liberación Nacional begannen deren öffentliche Aktivität”. Die “Bedrohung” der sechzig schlecht bewaffneten MTPistas wirkt wahrlich einleuchtend. Aber die waren in der offiziellen Version gar “bestens ausgerüstet und im Waffenumgang geschult”. Entlarvend war ebenso wie 1989 der Sprachgebrauch der Staatsanwaltschaft. So bezeichnete Quiroga Merlo und Sívori in guter diktatorischer Tradition als “subversive Elemente”.
Das aktenschwere “Beweismaterial”, auf das sich die Anklage stützte, war dasselbe wie schon beim 1989er Prozeß gegen die MTPistas. Es stammt nachweislich aus dubiosen Quellen rechtsextremistischer Militärs (Gruppe Albatros), die teilweise seit dem letzten mißglückten Putschversuch 1990 (LN 199) in Uruguay untergetaucht sind, um der Strafverfolgung zu entgehen. Darüber hinaus hatte der Geheimdienst SIDE die “relevanten” 900 von insgesamt 2650 Stunden Telefonabhörungen in Protokollform zur Verfügung gestellt. Über Jahre wurden nicht nur die Telefone der VerteidigerInnen und von Sívori abgehört – ein klarer Verstoß gegen internationale Rechtsstandards -, sondern von Dritten, allen Menschen, die mit diesen Personen in irgendeiner Weise telefonisch in Verbindung traten – JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen, StudentInnen etc. In den Protokollen wird nicht der Wortlaut der Telefongespräche wiedergegeben, sondern lediglich Zusammenfassungen der MitarbeiterInnen des SIDE. Darin liest sich unter anderem, die jeweilige politische Einschätzung der Personen (z.B. radikale Ideologie, über ein Mitglied der Oppositionspartei UCR). Und ein Attribut schien von “informativem Wert” bei der Freundin, einer Freundin der Schwiegermutter, einer Tochter von Merlo: “jüdisch”.
“Verhandelte Sache”
Die vier RechtsanwältInnen der Angeklagten stützten ihre Verteidigung auf drei Hauptelemente: Die Widerlegung des angeblichen Putschversuchs des MTP, die Illegalität des Prozesses aufgrund der Inhaftierungsweise der Beschuldigten sowie die Anklage der Unregelmäßigkeiten in Verlauf und Beweisführung dieses, wie des vorangegangenen Prozesses. In der Version von Verteidigung und MTP sollte die Kasernenerstürmung einem Militärputsch zuvorkommen. “La Tablada ereignete sich in einem spezifischen Kontext”, meinte Merlo in einem schriftlichen Zeitungsinterview mit der argentinischen Tageszeitung Página/12 kurz nach seiner Festnahme. Eine detaillierte Selbstkritik könne der MTP aber erst dann leisten, wenn es die Möglichkeit einer gemeinsamen Diskussion gäbe. Die Militärrebellionen der putschistischen Carapintadas von Semana Santa, Monte Caceros und Villa Martelli bildeten ab 1986 ein zunehmendes Klima politischer Unsicherheit und Angst. Der letzte Aufstand hatte Anfang Dezember 1988 ein extrem labiles politisches Klima hinterlassen. Viele hielten es 1989 für möglich, daß es zu einem weiteren Aufstand kommen würde, der erneut die taumelnde Demokratie beseitigen könnte. Tatsächlich erhoben sich die Carapintadas am 3. Dezember 1990 zu ihrer letzten Schlacht. Die nachgiebige Politik von Menems Vorgänger Alfonsín gegenüber den Militärs hatte ihrerseits schon vor der Amnestierung der wenigen verurteilten Hauptverantwortlichen durch Menem im Oktober 1989 zu breiter Frustration und Wut geführt: Nicht nur die Menschenrechtsbewegung und Angehörigen der über 30.000 während der Diktatur Verschwundenen reagierten mit Ohnmacht und Angst vor den kommenden Verhältnissen. In dieser spezifischen Situation erhielten die Mitglieder des MTP im Januar 1989 die Information über einen bevorstehenden erneuten Putschversuch. Sie rekrutierten damals innerhalb kürzester Zeit 60 Frauen und Männer, die zum Teil niemals zuvor eine Waffe in ihrer Hand gehalten hatten, und rüsteten sie teilweise mit schrottreifen, nicht funktionierenden Luftgewehren aus.
Bereits wenige Tage nach dem Angriff auf La Tablada wurde in verschiedenen Kommuniqués des MTP die Folterung und Exekution einiger MitkämpferInnen durch die Militärs bei der Niederschlagung denunziert: Erstaunlicherweise gab es auf Seiten der Angreifer keinen einzigen Verletzten. Mittels Foto- und Fernsehaufnahmen konnte in den folgenden Wochen und Monaten nachgewiesen werden, daß fünf MTPistas sich den Militärs ergaben und gefangen genommen wurden, wenig später aber unter den Toten zu finden waren. Daß dies nach wie vor ohne Konsequenzen geblieben ist, reklamierte die Verteidigung und forderte eine unabhängige Untersuchung sowie eine Wiederaufnahme des Prozesses von 1989. Darüber hinaus forderte sie einen Freispruch für Merlo und Sívori, da die Absicht des Überfalls auf La Tablada eine legitime Verteidigung der Demokratie gewesen sei.
Die Richter – zwei von ihnen hatten schon die 20 anderen MTP-Mitglieder verurteilt – gaben der Argumentation der Staatsanwaltschaft dahingehend statt, daß die “Sache La Tablada” keiner weiteren Beweiserhebung bedürfe, da Merlo bereits im Prozeß von 1989 in Abwesenheit mitverurteilt worden sei. Von Sívori kein Wort. Ihr Name fiel im Prozeßverlauf lediglich bei Anklage und Urteilsverkündung. Die somit “bereits verhandelte Sache” bedurfte keinerlei neuerer Beweisführung oder Hinterfragung – eigentlich, so die Botschaft, war für Richter und Staatsanwalt der ganze Prozeß überflüssig. Der dauerte entsprechend auch nur fünf Verhandlungstage, von denen zwei für die Verlesung der Anklageschrift und einer für die Plädoyers draufging.
Die Verteidigung scheiterte in den ersten drei Tagen mit allen Anträgen und Einwänden gegen das “Beweismaterial” aus den Händen der putschistischen Militärs, gegen Parteilichkeit und Befangenheit der Richter, sowie der Nichtigkeit des Prozesses, der auf der illegalen Entführung Merlos basiere. Da offensichtlich war, daß die Verurteilung von Merlo und Sívori bereits vor dem Prozeß feststand, entließen die Angeklagten am dritten Verhandlungstag ihre VerteidigerInnen. Diese hielten eine Pressekonferenz ab, auf der sie auf die gravierenden Verletzungen der Prozeßregeln verwiesen und ankündigten, beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof eine Klage gegen das Verfahren einzureichen. Die von den Richtern eingesetzte Pflichtverteidigerin las sich innerhalb von 48 Stunden in die 1.500 Seiten starke Prozeßakte ein und garantierte so den zügigen Fortgang des Prozesses bis zur Urteilsverkündung am 2. Juli: 18 Jahre Knast für Ana María Sívori wegen begleitender Mittäterschaft und lebenslänglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung für Enrique Gorriarán Merlo für Anführung des Überfalls und Bildung einer illegalen Vereinigung.
Merlo hatte nichts anderes erwartet: “Aus Überzeugung glaube ich nicht an die Gerechtigkeit dieser Justiz.”
Einen Tag nach der Urteilsverkündung übersandte die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH der argentinischen Regierung ihren Abschlußbericht der Untersuchung des La Tablada Prozesses von 1989. Darin führt sie zahlreiche Unregelmäßigkeiten in der Beweisführung an, die auch in diesem Prozeß die Grundlage bildeten und legt der Regierung nahe, die noch 16 Inhaftierten auf freien Fuß zu setzen und ihnen eine Entschädigung zu zahlen. Darüberhinaus fordert die CIDH eine juristische Untersuchung der behaupteten Vorwürfe der Exekution und Folterung von Gefangenen seitens der Militärs.
Bleierne Zeit
Entscheidend ist der Gesamtzusammenhang in dem der Prozeß gegen Merlo und Sívori vonstatten ging. Seit Beginn der Regentschaft Menems sind die ArgentinierInnen an regelmäßige Skandale in Politik und Justiz gewöhnt. Eine der ersten Amtshandlungen Menems war die Erhöhung der Mitgliederzahl des obersten Gerichtshofs. Die vier neuen RichterInnen ernannte selbstverständlich der Präsident höchstpersönlich und verschaffte sich damit von vornherein einen freien Rücken vor der rechtlichen Ahndung seiner Skandal-Politik. Die “demokratische Rechtsprechung” hat sich in diesen Jahren zunehmend als vollkommen korrumpiert und Farce erwiesen. Ein Prozeß wie dieser hat mit Demokratie gar nichts, dafür aber mit der Tradition militärischer Schauprozesse sehr viel gemein. Aber auch das internationale Kreuzfeuer in das Argentiniens Unrechtspolitik seit einiger Zeit geraten ist, läßt Menems Equipe kalt. Beirus Szmulke, Präsident der Amerikanischen Juristenvereinigung und Beobachter beim La Tablada Prozeß meint: “Hier steht die Legalität auf dem Spiel. Der Bevölkerung soll klar gemacht werden, daß es sehr gefährlich ist, das System herauszufordern, denn dieses respektiert die Normen der Legalität in keinster Weise.”
Seit einigen Monaten mobilisieren Teile der Bevölkerung offensiver als zuvor gegen die Regierungspolitik. So häufen sich die Aufstände und Unruhen in den Provinzen. Die RentnerInnen campieren – ähnlich wie schon 1992 – seit Monaten vor dem Kongressgebäude. Fast so lange, wie sie auf die ausstehenden Rentenzahlungen warten. StudentInnen und SchülerInnen solidarisieren sich mit ihnen und organisieren Demonstrationen mit Zehntausenden. Der oppositorische Flügel der zerstrittenen Gewerkschaftsbewegung hat sich am 14. August gar zum zweiten Generalstreik gegen Menem durchgerungen.
In diesem Jahr hat sich allerdings nicht nur der soziale Sprengstoff weiter verschärft. Justiz und Politik sind dabei sich vollständig zu diskreditieren. Es häufen sich Aktionen, die fatal an die Zeit der Diktatur erinnern: Anfang des Jahres wurde der Journalist Cabezas ermordet. Seine Leiche wurde verbrannt in seinem Auto aufgefunden. Bis heute ist in diesem Mord genauso wenig wie in anderen eine ernsthafte Untersuchung eingeleitet worden, auch wenn klar ist, daß es sich um einen organisierten politischen Mord handelt. Mitte Juli wurde der Chef der links-alternativen Tageszeitung Página/12 Jorge Lanata auf offener Straße überfallen und bedroht. Página/12 ist Menems Crew seit Jahren einer der heftigsten Dornen im Auge. Die Zeitung hat sich vorwiegend der Enthüllung eines Skandals nach dem nächsten gewidmet und ließ sich auch durch vorhergehende Zensurbemühungen in diesem Bestreben nicht einschüchtern. Drei Jahre nach dem fatalen Bombenanschlag auf die jüdische Kulturvereinigung AMIA steht inoffiziell fest, daß die Suche nach den Tätern direkt in Militär- und Polizeikreise führt, nur ist kein offizieller Vertreter bereit, diesen Spuren ernsthaft nachzugehen.
Gleichzeitig treten die Bemühungen einer direkten Rehabilitierung der Militärs immer offener zu Tage. Jüngster Fall, die beabsichtigte Beförderung von Enrique Villanueva zum General. Villanueva war führendes Mitglied der Alianza Argentina Anticommunista (AAA), die als paramilitärische Gruppierung Tausende von Menschen folterte und ermordete und ab 1972 in Vorbereitung des Putsches von 1976 ihren Terror über das gesamte Land ausbreitete. Der angehende General leitete während der Diktatur das berüchtigte Konzentrationslager La Perla.
In diesem Klima der Einschüchterung der demokratischen Opposition durch organisierte Gruppen mit direkten Verbindungen bis hinein ins Militär stößt der Präsident eines Landes, in dem innerhalb eines Jahrzehnts 30.000 Menschen verschwanden, in ein fatales Horn: “Wir akzeptieren die Kritik, aber wir müssen die Demonstrationen derjenigen zurückweisen, die nicht verstanden haben, was Demokratie ist. Das ist keine Kritik. Das ist Müll. Wir sollten ein Müllentsorgungsunternehmen damit beauftragen, diese Art von Kritik einzusammeln und in irgendeinem Ort der Provinz zu vergraben”.

Vielfältige Bündnisse

Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.

Erste Feministinnen

Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.

Die Themenpalette erweitert sich

Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.

“Proletarierinnen aller Länder…”

Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.

Errungenschaften der ersten Feministinnen

Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.

Institutionalisierung des Feminismus

Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.

Vielfältige Feminismen und Bewegungen

In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.

aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional

Für uns selbst

Es wird immer wieder in Frage gestellt, ob der Feminismus auch ein für Lateinamerika geeignetes Konzept sei. Ebenso wird behauptet, lesbische Liebe sei ein westliches Phänomen. Wie aber läßt sich dann die Existenz feministischer und lesbischer Organisationen erklären?
Erinnerungen an eine exotische Bewegung?
Die Organisation von Frauen in Lateinamerika und der Karibik ist sichtbar, vielschichtig und oft kämpferisch. Mit dem Kampf um das Überleben und Fortkommen ihrer Familien begannen Frauen am politischen Geschehen teilzunehmen. Sie kämpften in Gewerkschaften, Berufsverbänden und politischen Parteien. Dazu kam noch der Kampf der Feministinnen um die Durchsetzung von Frauenrechten. Von Anbeginn, das heißt seit den 70er Jahren schlossen sich Feministinnen den oppositionellen Strömungen an. Sie klagten Militärregimes, aber auch demokratische Regierungen wegen ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung an.
Die feministische Bewegung und ihr Leitmotiv, das Persönliche als politisch zu begreifen und den Alltag zu reflektieren, brachten neue Themen auf (Gewalt gegen Frauen, Sexualität, Reproduktion, Machtverhältnisse in der Familie). Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf andere Bewegungen -so auf die Lesben-und Schwulenbewegung -,wobei in jedem Land das eigene kulturelle, soziale und wirtschaftliche Umfeld eine Rolle spielte.
Seit Ende der 60er Jahre entstanden in einigen Ländern gleichzeitig Bewegungen, die für die Rechte der Lesben und Schwulen eintraten. Diese individuellen und kollektiven Prozesse stießen in der Öffentlichkeit auf Widerstände oder wurden negiert, in vielen Ländern dauert die Diskriminierung im kulturellen Umfeld, ja sogar in der Rechtsprechung noch an.
Auf ihrer langen Suche nach einem unabhängigen politischen Weg veranstalteten feministische Frauen aus Lateinamerika und der Karibik zu Beginn der 80er Jahre ihr erstes regionales Treffen. Thema sollte der Wandel der feministischen Politik und ihre Beziehung zu jenen Bewegungen sein, die ebenfalls für eine Welt ohne Ausgrenzung und Unterdrückung eintreten. Mittlerweile hat es sieben solche Treffen gegeben…..
Obwohl die feministischen Lesben auf vielfältige Weise aktiv in der Frauenbewegung mitgearbeitet hatten, wurde dies nur selten anerkannt. Einerseits gab es in den 80er Jahren noch immer gesellschaftliche sexistische
Unterdrückungsmechanismen,
andererseits hatten einige Feministinnen auch Angst davor, “beschuldigt” zu werden, Feminismus mit Lesbianismus gleichzustellen, oder als Männerhasserinnen zu gelten. Es wurde für Lesben notwendig, eigene Organisationsstrategien zu entwerfen. Das führte zu den Treffen der ” Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik, ‘ die daraufhin in Mexiko (1987), Costa Rica (1990). Puerto Rico (1992) und Argentinien (1995) stattfanden.
Lesben: Mehr als eine exotische Minderheit
Sexualität ist ebenso wie Freundschaft, Glaube und Liebe ein Teil der privaten Sphäre, und niemand hat das Recht, sich hier einzumischen. Frauen haben sich diesbezüglich Freiräume und Rechte erkämpft, die religiösen und konservativen Teilen der Gesellschaft ein Dom im Auge sind. Insbesondere lesbische Liebe wird von dieser Seite her als “unmoralisch, lasterhaft und schädlich für das soziale Leben und die Gesundheit” angeprangert. Tatsächlich hat die Bewegung für eine freie sexuelle Orientierung einen bislang unerforschten Freiraum eröffnet, von dem aus ein zentraler Aspekt der herrschenden Vorstellung über das menschliche Leben hinterfragt werden kann: die Sexualität. Solange die Sexualität nach wie vor Gegenstand autoritärer Unterdrückung und eines verzerrenden und verdammenden Stillschweigens ist, trägt die Möglichkeit, diese Sicht offen zu hinterfragen, zu demokratischeren Beziehungen und einem gesellschaftlichen Klima der gegenseitigen Achtung bei.
Die Lesbenbewegung bedroht somit das vorherrschende Muster der weißen, heterosexuellen, männlichen Dominanz. Daraus entstehen nicht nur gesellschaftliche Konflikte, sondern auch Konflikte in den verschiedenen Organisationen und Basisbewegungen, die sich mit partizipatorischen Konzepten, mit Meinungsvielfalt, mit verschiedenen Optionen und Lebensstilen auseinandersetzen müssen.
Diskriminierung passiert an vielen Orten -trotz verschiedener internationaler Abkommen und Erklärungen, die von der UNO festgelegt wurden. In Ländern wie Chile, Nicaragua, Ecuador und Puerto Rico herrscht eine repressive Politik, die Lesben und Schwulen das Recht auf Versammlungsfreiheit vorenthält. In anderen Ländern ist die Repression durch die Gesellschaft drückender als die gesetzlichen Regelungen. Die katholische Kirche nimmt eine starre Haltung ein. Die traditionelle Familienstruktur, die mangelnde Information und der fehlende Respekt vor anderen Lebensformen -all das sind Hindernisse für die Bewegungsfreiheit von Lesben.
Sag mir, mit wem du gehst…
Da die lateinamerikanischen Lesben in ihrem jeweiligen Umfeld unterschiedlicher sexueller und gesellschaftlicher Unterdrückung ausgesetzt waren, wurden sie zu Expertinnen im Verheimlichen und im Entwickeln verschiedener kleiner Signale zum gegenseitigen Erkennen.
Die beste Art sich zu treffen, war die Teilnahme an Frauenaktivitäten. In diesem Umfeld war es für uns leichter, uns zu er-kennen und dies mit unseren feministischen Aktivitäten zu verbinden. Über das gegenseitige Erzählen der Lebensgeschichte fühlten sich viele gestärkt, und es kam der bis dahin unerhörte Gedanke auf, eine Lesbengruppe zu gründen.
wir wollten dadurch auch diejenigen Lesben unterstützen, die Angst hatten, sich offen zu bekennen und andere zu suchen, um aus ihrer Isolierung heraus-zukommen oder auch um einfach einmal ein bißchen Spaß zu haben. Die Freiräume und Tätigkeiten der Lesbenorganisationen sind vielfältig; einige &von sind kurzlebig, andere wiederum gefestigt.
Das Auftreten der AIDS-Krise wurde in einigen Ländern zum bestimmenden Merkmal der Lesben-und Schwulenorganisationen. Eine der sozialen Folgen ist die Homosexualisierung von AIDS und die sich daraus ergebende Ablehnung oder Diskriminierung aller Personen, von denen man annimmt, daß sie homosexuell sind. Dies führte zu neuen, sozialen, politischen und humanitären Aktivitäten. Kampagnen zur AIDS-Vorbeugung richteten sich meist an die ge-samte Gesellschaft. Dadurch wurden Tabuthemen wie Sexualität und vor allem Homosexualität öffentlich diskutiert.
Erstes öffentliches Auftreten von Lesben
Verschiedene feministische Ereignisse waren für die Bildung einer Lesbenbewegung entscheidend und prägten die gegenseitige Beziehung von Frauen-und Lesbenbewegung.
Im Juli 1983 kamen 600 Frauen beim II. Feministischen Treffen in Lima zusammen. Die geplante Tagesordnung sah das Thema der Liebe zwischen Frauen nicht vor. Dennoch veranstaltete eine Gruppe unabhängiger Frauen einen kleinen Workshop über Patriarchat und Lesbianismus. Dort trafen verschieden Erwartungen, Neugier, Spannung und die unvermeidlichen neutralen Beobachterinnen zusammen. Der Workshop berührte viele, brachte sie einander näher, führte zu den verschiedensten Diskussionen. Es war ein wichtiger Versuch, aus der Isolierung auszubrechen und einander als lesbische Feministinnen mit verschiedenen Hintergründen zu begegnen. Es war das erste öffentliche Auftreten der Lesben und eine Herausforderung für die heterosexuellen Feministinnen. die sich dadurch mit ihrer Homophobie auseinandersetzen mußten. Aus diesem Treffen entwickelten sich Organisationen wie die Gruppe der selbstbewußten feministischen Lesben (Grupo de Autoconciencia de Lesbianas Feministas -GALF) in Peru und des Lesbenkollektivs Ayuquelen in Chile.

Lesbianismus als Politikum
Beim III . Feministischen Treffen in Bertioga/Sao Paulo in Brasilien (1985) organisierte GALF einen geschlossenen Workshop zum Thema “Wie organisieren wir Lesben uns?” Wir tauschten unsere Erfahrungen aus, aber das reichte noch nicht. Wir entschieden, ein eigenes Treffen zu organisieren – eine Idee, die auch 1986 auf der internationalen Konferenz von ILIS (International Lesbian Information Service) in Genf wieder auftauchte, an der mehr als 700 Lesben aus Asien, Afrika Ost-und Westeuropa. Lateinamerika und der Karibik teilnahmen. Es wurde beschlossen, das I. Treffen der Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik in Mexiko -parallel zum IV. Feministischen Treffen in diesem Land -abzuhalten.
Fast 220 Frauen trafen sich im Oktober 1987 in Cuemavaca, Mexiko. Dieses I. Treffen Fe-ministischer Lesben Lateinamerikas und der Karibik wurde zu einem der repräsentativsten überhaupt.

Als Folge entstand ein Netzwerk, mit dessen Hilfe die Isolierung durchbrochen und solidarische Beziehungen gestärkt wer-den sollten. Solche regionalen Treffen sollten in Zukunft regelmäßig, d.h. alle zwei bis drei Jahre, stattfinden. Zur Teilnahme aufgerufen waren feministische Lesben, aber auch Lesben. die sich in anderen Zusammenhängen bewegen. Die Beschlüsse sollten einstimmig gefaßt werden. Um den Informationsfluß zu verbessern, sollte ein halbjährlich erscheinendes Bulletin herausgegeben werden. Trotz des Widerstands seitens der Regierung, der Kirche und der Medien fand das II. lateinamerikanische Treffen der Feministischen Lesben in Costa Rica im April 1990 statt. Frau mußte zu einer heimlichen Strategie greifen, denn die Einwanderungsbehörden hatten die Weisung, keine alleinreisende Frau einreisen zu lassen. Zugleich sollte die persönliche Sicherheit der Frauen im Land gewährleistet werden, und alle Teilnehmerinnen mußten -um jedes Risiko zu vermeiden -am Veranstaltungsort bleiben. Ein Treffen unter solchen Bedingungen war schwierig. Neben kulturellen Veranstaltungen wurden Workshops durchgeführt. Themen waren unter anderem die nicht immer freundschaftlichen Beziehungen zwischen Feminismus und Lesbianismus, die Problematik der lesbischen Mütter und ihr Kampf um das Sorge- recht für ihre Kinder, die gesetzliche Unterdrückung und die internalisierte Lesbophobie.
Auf dem VI. feministischen Treffen in Cartagena / Chile im November 1996, an dem fast 600 Frauen teilnahmen. drehten sich die Diskussionen in erster Linie um die politische Verortung und die Autonomie der Frauenbewegung, um Führungsrollen und Vertretung nach außen, um Ethik und um finanzielle Ressourcen. Das Treffen war sehr spannungsreich und polarisiert. Es nahmen viele, vor allem junge Lesben teil. Trotz ihrer großen Präsenz und Energie, die sich nicht zuletzt in künstlerischen Beiträgen und in der Abendgestaltung manifestierte, waren sie nicht imstande, ihre Vorstellungen und Visionen als konkrete politische Vorschläge zu formulieren. Sie ließen sich vielmehr von einer destruktiven
wußte Sichtbarmachung Ausdruck der nach wie vor bestehen- den Diskriminierung innerhalb der Frauenbewegung ist. Es scheint aber auch, daß es einem nicht unwichtigen Teil der Lesbenbewegung schwerfällt, eine gewisse Opferhaltung zu überwinden.
Perspektiven

Im Zuge ihrer Selbstorganisation hat sich die feministische Lesbenbewegung gewisse Freiräume in der Gesellschaft schaffen können. Diese Freiräume entstanden nicht aufgrund der Aktivitäten der Frauenbewegung oder als Zugeständnis der Gesellschaft. Die Lesben haben hart gearbeitet, das zu erreichen -sowohl innerhalb der Frauenbewegung als auch gemeinsam mit anderen Minderheiten, mit Männem und Frauen, Feministinnen und nicht-feministischen Frauen, national und international. Die Solidarität von Lesben-und Schwulenorganisationen aus dem Norden hat ebenfalls zur Schaffung dieser Freiräume beigetragen.
Die Zunahme an Sichtbarkeit, Legitimität, Anerkennung und die Vielfalt von Aktionen der feministischen Lesben in ihren jeweiligen -zum Teil gemischten -Organisationen bringt neue Spannungen und Herausforderungen in Bezug auf Prioritäten, den Kampf ums Überleben, den ungleichen Zugang zu Ressourcen. die Autonomie der Bewegung, die Teilnahme an anderen Gruppen oder Netzwerken, aber vor allem in Hinblick auf organisierte Strukturen der Bewegung. Diese Aufgaben werden lösbar, wenn Frau die alte Rendenz überwindet, sich Opposition zur Macht zu begreifen, wie es die linken Gruppen tun, denn diese Dynamik schränkt ein und führt zur Erschöpfung. Es geht drum, von der Wut zur Selbstermächtigung überzugehen, und nicht erstere als permanenten emotionalen Zustand zu kultivieren.
Die Zukunft der feministischen Lesbenbewegung wird also von ihrer Fähigkeit abhängen, unterschiedliche ideologische Vorstellungen, die es in der Bewegung gibt, zusammenzubringen und sie in globalere Strategien einfließen zu lassen, um so Antworten auf die komplexe Realität zu finden. Das bedeutet, daß die bestehenden Gruppen gestärkt werden und sich erweitern müssen, um auch schwarze, behinderte oder indigene Frauen zu integrieren. Ziel muß sein, als Bewegung Strategien zu entwickeln, die sich von jenen der NGOs, der Institutionen und der politischen Parteien unterscheiden. Mithilfe dieser Strategien sollen Brücken geschlagen und verschiedene Allianzen und Kooperationen auf regionaler und internationaler Ebene aufgebaut werden.
Es ist eine beständige Herausforderung für uns alle, die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse so zu verändern, daß alle Menschen friedlich zusammenleben können.

Rebeca Sevilla

“Die Toten sind auch das Werk Ihrer Regierung”

Was ist die Absicht Ihrer Informations­reise?

Hebe de Bonafini: Wir, als “Madres” aus Argentinien, be­gleiten und unterstützen die pe­ruanischen Mütter, die noch nicht solch starke internationale Unterstützung haben wie wir, dabei, eine eigene Gruppe zu grün­den und Kontakte hier in Europa zu finden. Die Situation der Menschenrechte in Peru be­treffend, sind wir besorgter als je zuvor, denn Präsident Fujimori will rund 400 politi­sche Gefan­gene in das Gefängnis von Challa­palca hoch in den peruani­schen Anden ver­legen, in 5000 Metern Höhe ohne Heizung, Strom und fließend Wasser, was einem To­desurteil auf Raten gleichkommt. Unser Ziel ist es, weltweit eine Million Unter­schriften zu sammeln, um dies zu verhindern.
Felicitas Cartolini: Politische Gefangene in Peru sind innerhalb der Haftanstalten massi­ver Re­pres­sion ausgesetzt. Sie dürfen we­der Besuch von Angehöri­gen, noch vom Roten Kreuz oder Ärz­ten empfangen, selbst dann nicht, wenn sie krank sind. Die pe­ruanische Regierung will nicht, daß sich Menschen für diese Gefangenen einsetzen, be­schimpft uns “Madres” als “Ter­ro­ristenmütter” und be­zeichnet al­le, die gegen die Re­gierung sind, als Unterstützer des Ter­ro­rismus.

Von Ihrer Absicht, eine Or­ganisation der “Madres” für Peru zu gründen, war bereits die Rede. Wie weit sind diese Pläne schon fortgeschritten?

Lucia Cerpa: Es gibt in Peru bereits mehrere Organisationen von Müttern und Fa­mi­li­en­an­ge­hö­rigen Verschwun­dener und po­li­tischer Häftlinge, die Auf­klä­rung über das Schick­sal der “Des­aparecidos”, der Ver­schwun­denen, die Bestrafung der Täter und die Wahrung der Men­schen­rechte in den Ge­fängnissen for­dern. Sie werden jedoch in ih­rer Arbeit massiv be­hindert. Wir, als Flücht­linge, Exilierte, wollen di­ese Gruppen stär­ken, indem wir die interna­tionale Öffentlich­keit über das, was in Peru vor sich geht, infor­mieren. Dazu wol­len wir uns hier in Eu­ropa zusammentun und Kontakte nach Peru aufrechter­halten.

Sie wurden in Bonn recht fro­stig empfan­gen. Warum stützt Deutschland Ihrer Mei­nung nach so stark die Regierung Fujimoris?

F.C.: Darüber kann ich nur spekulieren: Es mögen wohl wirt­schaftliche Interessen sein. Eigentlich sollten Sie diese Frage Ihrer Regierung stellen.
H.B.: Wir haben hier in Deutsch­land viel Solidarität ge­spürt, doch es ist das einzige Land in Europa, in dem es keine Un­ter­stützergruppe für die “Madres” gibt. Und: Noch nie hat uns jemand ein Ge­spräch ver­weigert, außer: Fujimori – und der Unterausschuß für Men­schen­rechte des Deutschen Bun­destages. Es ist wohl eindeu­tig, daß Deutschland Fujimori unter­stützt, es hat viele wirtschaftliche Interessen. Das Le­ben unserer Angehörigen verwandelt sich für sie in Erdöl, in Geschäfte; Men­schen­rechte werden zu einer Fra­ge von Ölpreisen und Bör­sen­kur­sen. Die deutsche Regie­rung re­det soviel von Frieden, doch an­statt ihn zu praktizieren, verkauft sie Waffen an Län­der wie un­se­re. Die Toten sind auch das Werk der Bundesregierung. Ich ha­be keine Angst, dies laut zu sagen.

Für Präsident Fujimori, und eben­so für die deutsche Regie­rung, scheint die “Tatsache”, daß Sie mit “Terroristen” ver­wandt sind, zu reichen, Ihr An­liegen zu ignorieren.

H.B.: Wir werden von Präsi­dent Menem noch heute “Ter­ro­ri­stenmütter” genannt, das lenkt aber davon ab, daß es ei­gentlich um die Menschenrechts­frage geht, um Verschwundene, Folter, Haft­bedingungen. Die Mehrzahl un­serer Kinder waren Revolu­tio­näre, viele haben be­waffnet ge­kämpft. Wir Mütter betrachten al­le als gleich: Ob sie nun be­waff­net oder politisch ge­kämpft ha­ben, in der Guerilla, der Uni­ver­sität, oder der Kir­che, sie alle sind “verschwunden” oder tot, oder wenn sie noch in Haft sind, müssen wir verhin­dern, daß sie es werden. Der ein­zige Ter­ro­ris­mus in der Dritten Welt ist der Staatsterrorismus, der unter­drückt, der fol­tert, der aus­hun­gert, der tötet. Das Recht, sich ge­gen Unterdrückung zu ver­tei­di­gen, hat jeder Mensch, auf wel­che Art auch im­mer.

Hebe de Bonafini, als Vertre­terin einer international be­kannten Menschenrechtsorga­ni­sa­tion haben Sie versucht, wäh­rend der Geiselnahme in der japanischen Botschaft zwi­schen Fujimori und der MRTA zu vermit­teln. Welche Ein­drücke hatten Sie in Lima?

H.B.: Wir waren 12 Tage in Lima, ständig beobachtet und ver­folgt durch Polizei und Ar­mee, haben diese Stimmung von Angst und Terror gegen das Volk erlebt. Zweimal am Tag, mor­gens und am Nachmittag, sind wir zum Präsidentenpalast ge­fahren, um zu sehen, ob Fuji­mori uns empfängt und als Ver­mittlerinnen akzeptiert. Aber da er ein Mörder und ein feiger Mensch ist, hat er sich nicht ge­traut, uns “nein” zu sagen, hat uns immer nur wieder herbestellt und warten lassen, jeden Tag aufs Neue. Wir gingen auch an die Gefängnistore, herein ließ man uns nicht, und trafen dort sehr mutige Mütter, die vor der in­ternationalen Presse die Zu­stände in den Gefängnissen be­klagten. Dies laut zu sagen be­deutet ein hohes Risiko in einem Land wie Peru. Bevor wir nach Peru gingen, haben wir die Welt­ge­mein­schaft, die Friedens­nobel­preisträger, aufgefordert, hin­zu­schau­en, mitzukommen. Doch erst nach dem Massaker haben sich alle beteiligt an Märschen, De­monstrationen und Konsu­lats­be­setzungen, aber da war es schon zu spät. Das ist die Mit­telmäßigkeit der Linken. Des­halb ist es jetzt wichtig, zu ver­hindern, daß die politischen Ge­fan­genen in dieses un­mensch­liche Gefängnis verlegt werden. Jetzt, bevor sie tot sind!

Es gibt Gerüchte, daß nicht alle Mitglieder jenes MRTA-Kommandos in der Bot­schaft ge­tötet wur­den, sondern daß es Überlebende gab, die jetzt vom pe­ruanischen Ge­heim­dienst fest­ge­hal­ten und gefoltert wer­den. Was wis­sen Sie, Norma Ve­las­co, als MRTA-Ver­treterin, da­rüber?

Norma Velasco: Als die Be­setzung los­ging, wußten auch wir nur, daß es sich um eine Grup­pe von Com­pañeros von we­niger als fünf­zig Frauen und Män­nern handelte. Zwei Wochen nach der Erstürmung er­hiel­ten wir eine offizielle Nach­richt, daß es 14 Guerille­ros ge­we­sen seien, die getötet wurden. Wie­viele es wirk­lich waren, wis­sen nur Fu­jimori und seine Fol­terer. Der Staat ließ bei seinen Mas­sakern nie Gefangene oder Zeu­gen zu­rück, alle werden extra­legal hin­gerichtet. Der Un­ter­schied dieses Massakers zu den frühe­ren war, daß erstmals die gesamte Welt­öf­fentlichkeit auf den Fern­seh­schirmen zu­schau­en konnte, was passierte. Die Men­schen­rechts­organi­sa­tio­nen haben das Recht, von Fuji­mo­ri eine Ermittlung zu diesen Tat­sachen zu fordern. Denn die Mit­glieder des MRTA-Kom­man­dos waren, unabhängig von ih­rer po­litischen Position, mensch­li­che Wesen; sie haben das Leben ih­rer Ge­fangenen in der Bot­schaft bis zum letzten Au­gen­blick re­spektiert.

Yacyretá auf dem Prüfstand?

Der Yacyretá-Staudamm ist mit 2700 Megawatt geplanter Stromleistung einer der größten Staudämme der Welt. In den siebziger Jahren entworfen und seit 1983 im Bau sollte das Projekt am Rio Paraná mit der argentinischen Stadt Posadas auf der einen Seite des Flusses und dem paraguayischen Ort En­car­nación auf der anderen 2,6 Mil­liarden US-Dollar kosten. Mitt­ler­weile liegen die Kosten des als “Denkmal der Kor­rup­tion” be­kannt gewor­denen Dam­mes bei über acht Mil­liar­den US-Dol­lar.
Ginge es nach den beiden Regierungen, würden Damm und Kraftwerk privatisiert und der Wasserspiegel auf das geplante Endniveau von 83 Meter über dem Meeresspiegel angehoben – in den Augen der NROs eine Katastrophe. Die Umsiedlung von über 34.000 der 50.000 Menschen droht dann endgültig. Betroffene des Projektes und NRO hatten sich in den vergan­genen Jahren immer wieder an die beiden Banken, die Be­trei­bergesellschaft Entidad Bina­cio­nal Yacyretá und die Re­gie­run­gen gewandt und auf fehlende Kom­pensationen, Ver­treibung und ökologische Folgen auf­merk­sam gemacht.
Nachdem die Weltbank 1993 ihr Beschwerdepanel eingerichtet hatte, und die IDB mit einem so­ge­nannten Beschwer­de­me­cha­nis­mus folgte, war im September 1994 der Zeitpunkt gekommen. So­bre­vi­vencia legte den Banken in Vertretung mehrerer Be­trof­fe­ner eine ausführliche Be­schwer­de vor, in der sie auf­zeigte, wel­che Richtlinien die Banken bei der Durchführung des Pro­jek­tes verletzt haben.

Land unter

Die Liste ist lang und umfaßt die Bereiche Zwangs­um­sied­lun­gen, Umweltverträglichkeit, In­di­gene Völker, Kultur und nicht zu­letzt Beobachtung und Prü­fung des Projektes. So hatte bei­spiels­weise das mangelnde Ab­räumen der Vegetation vor der er­sten Flutung und ungeklärte Ab­wässer das See- und Grund­wasser verseucht.
Obwohl die Um­sied­lungs­richt­linie der Welt­bank vorsieht, daß Zwangs­um­sied­lerInnen nach der Maßnahme min­destens das glei­che Ein­kom­mens­niveau er­rei­chen wie vor­her, haben Tau­sende ihre Jobs ver­loren oder Ein­kommens­ein­ bu­ßen erlitten, ganz abgesehen von den zer­stör­ten Sozial­struk­tu­ren. Die über tau­send Kera­mik­ar­beiter der Ge­gend verloren ihr Arbeits­ma­te­rial, den Ton: im Was­ser ver­sun­ken. Andere verlo­ren Kunden oder hatten durch grö­ßere Entfer­nun­gen zu Ar­beits­platz und Schul­ort unvor­hergesehene Ko­sten, so daß auch mal der Schul­be­such eines Kin­des eingestellt werden mußte.
Während auf der Seite der Entschädigung offensichtlich ge­knausert wurde, investierten die Banken auf der anderen Seite aberwitzige Summen für frag­wür­dige Einrichtungen. Eine Fisch­leiter, die den aufwärts wan­dernden Fischen eine Hilfe sein sollte, kostete 30 Millionen US-Dollar und hat laut So­bre­vi­ven­cia kaum etwas be­wirkt. Erstens wurde die Leiter nur be­trieben, wenn Bankbesuch an­stand, zweitens erfassen solche Lei­tern nur Bruchteile der Fischmengen und drittens mi­grieren viele Fischarten den Paraná nicht nur hinauf, sondern auch hinunter – im Gegensatz zu den Fischen des nordamerikani­schen Columbia River, der als Vorbild gedient hatte. Strö­mungs­veränderungen, Was­ser­ver­schmutzung und man­geln­de Wan­dermöglichkeiten zeigten Wir­kung:
Die Anzahl der Fisch­arten und ihr Reichtum gingen zurück. In ihrer Schlußfolgerung for­der­ten die Kläger die Banken auf, die Verantwortlichen zu iden­ti­fi­zie­ren und einen Wei­ter­bau bzw. die Privatisierung so­lan­ge zu stop­pen, bis die Not­wen­digkeit nach­gewiesen und ein verant­wor­tungsvoller Um­gang mit Mensch und Natur ge­währ­leistet ist.

Beschwerde auf Umwegen

Die Weltbank reagierte unge­halten: Das Projekt sei ökono­misch sinnvoll und man habe sich kaum etwas vorzuwerfen. Wie in dem Beschwerdeprozeß bei der Weltbank üblich, wurden Klage, Verteidigung und erste Un­tersuchung mit einer Em­pfeh­lung des Beschwerdepanels dem Exe­kutivdirektorium zur Ent­schei­dung vorgelegt.
Erst lange Dis­kussionen und viel Über­zeu­gungs­arbeit brach­ten die hier ge­bil­deten klas­si­schen Lager der nörd­lichen und süd­lichen Re­gie­rungs­ver­tre­te­rIn­nen zu ei­nem Kon­sens. Im Fe­bru­ar 1997 haben die Exe­ku­tiv­di­rektoren der Welt­bank eine Prü­fung des Yacyretá-Stau­damm durch das welt­bank­ei­ge­ne In­spec­tion Pa­nel be­für­wor­tet, und da­mit auch die Inter­ame­ri­ka­ni­sche Ent­wick­lungs­bank massiv un­ter Druck gesetzt. Die­se hatte zwar nach der Ein­rich­tung des Welt­bank-Be­schwerdepanels 1993 flugs nach­ge­zogen, aber daß dieser nun tat­sächlich gefor­dert wurde, traf auf Un­willen.
Mit der end­gültigen Ein­wil­li­gung zu einer Unter­su­chung wird das erste Mal ein Mega­projekt der Ent­wick­lungs­hil­fe, an dem zwei Länder und zwei Banken be­tei­ligt sind, kurz vor seiner Fer­tigstellung un­ter­sucht. Damit, daß die Be­schwer­de­kommission die kleinen und großen Schwä­chen der Bank, der Be­treiber und der Regierungen bei der Prüfung nicht durchge­hen­lassen wird, kann gerechnet wer­den. Bei der Prü­fung eines ge­planten Stau­dam­mes in Nepal hat­te das ver­nich­tende Urteil der Kom­mission da­zu beigetragen, daß der Damm nicht gebaut wur­de. Eine Be­suchs­mission in das Pro­jekt­ge­biet wird nun in Kürze starten.

Open end

Der Endbericht der Unter­su­chung ökologischer und so­zialer Probleme und Vorschläge für adä­quate Maßnahmen wird für den 31. August erwartet. Mit die­ser ge­schickten Formulierung bleibt allerdings offen, ob die IDB tatsächlich die Erfüllung der ei­genen Richtlinien aufs Korn nimmt, geschweige denn, in­wie­weit sie für nachweisbare feh­len­de Kompensationen die Ver­ant­wor­tung übernimmt.
Die Argumentation des Ma­nage­ments gegenüber diesem er­sten “Fall” des Beschwerde­me­cha­nismus und der Ver­ant­wor­tung ist simpel: Als das Projekt An­fang der acht­ziger Jahre in An­griff genommen wurde, exi­stierten die meisten Richtlinien noch gar nicht, also sei man auch nicht zur Einhaltung verpflichtet. So­bre­vivencia hält dagegen, daß das allerdings kein Grund ist, nicht die Verantwortung für Feh­ler zu übernehmen und Schlim­me­res zu verhindern.
Wie die Untersuchungen nun aus­gehen werden, hängt von vielen Faktoren ab, schließlich sind die Ergebnisse der beiden Prüf­gruppen ein Politikum. Ei­ner­seits ist die IDB die größte Kreditgeberin in Lateinamerika und damit ein wichtiger Partner der Weltbank. Sie ist aber auch eine im Gegensatz zur Weltbank vom “Süden” dominierte Bank, in der gerade Argentinien eine wich­tige Rolle spielt.
Eine ver­nichtende Kritik durch das ei­gene Panel wird die Bank nicht akzeptieren, anderer­seits muß das Ergebnis ernstzu­nehmend sein, will man hinter der Welt­bank nicht zurückste­hen. Für die­se spielen noch an­dere As­pek­te eine Rolle: Welt­bank­präsident Wol­fensohn will Leichen aus dem Keller ho­len und der Bank ein besseres Image verschaffen. Die Mitglieder der Prüfgruppen wer­den sich einer­seits pro­fi­lie­ren, anderseits wird ein zu weites Herauslehnen auch zu zukünfti­gen Knebeln führen. Viel wird also davon abhängen, wie die NROs den Prozeß be­gleiten und be­werten und wie die Öf­fent­lich­keit in Argentinien und Para­guay, aber auch in allen anderen Mit­gliedsländern beider Banken den Fall bewerten.
Für die NROs ist jetzt erst ein­mal wichtig, daß der Prüf­me­cha­nis­mus der IDB ein­mal in Gang kommt. Das Bei­spiel Ya­cy­retá, so ist zu hof­fen, wird in der Region Schule ma­chen und Be­troffenen von Ent­wick­lungs­hil­feprojekten (wie­der) Mut, sich gegen die Projekte zu weh­ren, auch wenn es spät er­scheint. Un­ter­stützung finden sie da­für bei dem Netzwerk Red Ban­cos, ei­nem Zusammenschluß von NROs al­ler Couleur in der Re­gion mit der Zielsetzung, das Ver­halten von IDB und Welt­bank in La­teinamerika zu be­o­bach­ten.
Für deutsche NROs stellt sich die Frage, obwohl oder ge­rade weil die deutschen Ver­tre­ter in den Banken (Liptau in der IDB und Schaffer in der Welt­bank) sich in schon fast vor­bild­haft zu nennender Weise für die Überprüfung eingesetzt ha­ben, wann eigentlich die bila­te­ra­le Hilfe eine unabhängige An­lauf­stelle für Beschwerden ein­rich­tet – Problemprojekte gibt es wohl genug.

Tragische Königin im Zirkuszelt

Violeta Parra wurde 1917 in einem kleinen Ort im Süden Chiles geboren. Als ihr Vater, ein verarmter Dorflehrer, wenige Jahre später starb, besann sich ihre Mutter ihrer früheren Arbeit als Sängerin und tingelte mit ihren zehn Kindern jahrelang durch Zirkusarenen, Bars und Musikkneipen, den “Peñas”. Mit 15 Jahren kam sie nach Santiago, und gemeinsam mit ihrer Schwester trug sie in den Bars der Stadt die alten, von der Mutter gelernten Volkslieder vor und griff aktuelle Musik auf. Die dreißiger Jahre in Chile waren die Dekade der “Primera Onda Folklorica”, der ersten Volkslied-Welle. Das Volkslied war zu jener Zeit die Musik der städtischen Arbeiter und der Landarbeiterfamilien, die wegen der wirtschaftlichen Rezession in die Städte geflohen waren. Mit zwanzig heiratete sie einen fast doppelt so alten Eisenbahnangestellten, der ihr die Musik verbot, und bekam ihre beiden Kinder Angel und Isabel. Fast zehn Jahre sollte es dauern, bis sie sich aus dem Drama dieser Ehe befreite.

Volkslieder vor der Vergessenheit bewahren

Sie nahm ihre Gitarre bei der einen und ihre Kinder bei der anderen Hand und reiste kreuz und quer durch das Land, sang und begann, Lieder, die ihr unterwegs begegneten, aufzuzeichnen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das ursprüngliche Volkslied in Chile vor der Vergessenheit zu bewahren. So sammelte sie mehr als 3000 Lieder und bekam dafür bei Radio Chilena gar eine eigene wöchentliche Sendung. Zu dieser Zeit entstanden auch ihre ersten selbst geschriebenen Lieder, die den traditionellen Rahmen der Volksmusik überschritten: Lieder voll zornigem Sarkasmus über die gesellschaftlichen Verhältnisse, zarte Liebeslieder, die jedes Klischee sprengten, eine Rückbesinnung auf die Rhythmen und Instrumente der Andenvölker. Violeta Parra war es, die fast vergessene Instrumente wie das Charango, die Zampona und die Quena wieder populär machte. 1954 wurde sie mit dem “Premio Caupolicán”, dem bedeutendsten Volksmusikpreis in Chile, ausgezeichnet.

Reisen für die Musik

Es folgten Jahre des Reisens, bis nach Europa, Skandinavien, und in die Sowjetunion. Allein in Paris blieb sie zwei Jahre, lernte dort Malraux und Sartre, Picasso und ihr großes Vorbild, Edith Piaf, kennen. Zurück in Lateinamerika, durchzogen ihre Wege auf der Suche nach Musik den ganzen Kontinent: Argentinien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Bolivien. Wieder in Santiago, erkrankte sie schwer, blieb monatelang ans Bett gefesselt, lernte in der Zeit Töpfern, Malen und Weben, entfaltete darin ein derartiges Talent, daß sie bei ihrem zweiten Paris-Aufenthalt im weltberühmten Musée du Louvre ausstellte – als erste lateinamerikanische Künstlerin trat sie ein in den Pantheon der europäischen Kultur, damals eine Sensation.
Als sie 1964 abermals nach Santiago zurückkam, begann die Morgendämmerung der zweiten chilenischen Folklorewelle, die ohne sie nicht denkbar gewesen wäre. Zusammen mit ihren Kindern Angel und Isabel gründete Violeta Parra 1965 die legendäre “Peña de los Parra” im Zentrum Santiagos, und diesmal waren es die jungen Menschen, Arbeiter, Studenten, Schüler, die diese neue Bewegung emporhoben, die zu Violeta Parra kamen, um zu lernen: Victor Jara, Patricio Manns, die jungen Musiker von Illapu, Inti Illimani und Quilapayún. Sie errichtete am Rande von Santiago ein altes Zirkuszelt, Hommage an ihre Kindheit, und nannte es ironisch “La Carpa de la Reina”, das Zelt der Königin.

Selbstmord an der Schwelle zum Weltruhm

Hier fand man sie an einem lauen Sommermorgen des Jahres 1967 tot in ihrem Bett: Das Scheitern ihrer leidenschaftlichen Liebe zu dem Ethnologen Gilbert Favre, Geldsorgen, die Repressionen der Regierung Frei raubten ihr den Lebensmut, liessen sie sich selbst töten – an der Schwelle zum Weltruhm. Die Welle folkloristischer Musik, die Suche nach der Kraft der eigenen Wurzeln hatte den gesamten amerikanischen Kontinent erfaßt, für kurze Zeit die traditionellen kulturellen Grenzen überschritten. Posthum wurde ihr letztes Lied, interpretiert von der Nordamerikanerin Joan Baez, zu einem Welterfolg: “Gracias a la vida”.
In Chile selbst wurde sie zur Mutter des “Movimiento de la Nueva Canción Chilena”, der “Neuen Gesangsbewegung”, deren Schicksal sich eng mit dem Aufstieg und Fall von Salvador Allende, dem ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten Lateinamerikas, verbinden sollte. Allende war es dann auch, der gemeinsam mit Pablo Neruda den Trauermarsch für Violeta Parra durch die Straßen Santiagos anführte: Einen “Marsch tausender Menschen des Protestes, des unendlichen Bedauerns, der Blumen und der Tränen” (Patricio Manns).

Maestro Abbado mag keine Experimente

Manuel M. Ponce (1882-1948), Silvestre Revueltas (1899-1940) und Carlos Chávez (1899-1978) waren die Hauptfiguren des “musikalischen Nationalismus”, einer Bewegung, die sich im Zuge des kulturellen Aufbruchs nach der Revolution von 1910 bis 1920 in Mexiko formiert hat. Wie in der Wandmalerei eines Diego Rivera oder José Clemente Orozco wandte sich auch in der Musik der Blick nach innen auf die prähispanischen Wurzeln Mexikos und die eigene volkstümliche musikalische Tradition. Es kam zu einer Art Folklorisierung, die sich vor allem in der Übernahme melodischer Motive aus dem Bereich der Volkslieder oder -tänze bemerkbar machte. Aber auch in der Instrumentalisierung gab es den Versuch, vermehrt indigenen Instrumenten, vor allem Trommeln und Flöten, Gehör zu verschaffen. So verwandte Chávez in seiner Sinfonía India zusätzlich zu den vertrauten Maracas und der indianischen Trommel einen Wasserkürbis, eine Reihe von Wildhufen und Schmetterlingskokons, eine Raspel und weitere exotische Laute.

“Musikalischer Nationalismus”

Wie der Begriff “musikalischer Nationalismus” bereits andeutet, erfüllte diese Musik jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem auch eine politische Funktion. Die Mexikanische Revolution hatte nämlich, abgesehen von der Ära Cárdenas in den dreißiger Jahren, die soziale Situation weiter Teile der Bevölkerung kaum verändert. Um ihr trotzdem einen positiven Sinn zuzuschreiben – ein nicht allzu einfaches Unterfangen, schließlich war die Zerstörung und Zerrüttung des Landes nach zehn Jahren Bürgerkrieg enorm – wird vor allem ihre Bedeutung auf die Herausbildung einer mexikanischen Identität hervorgehoben. “Mexiko traut sich zu sein”, schreibt der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz in seinem Labyrinth der Einsamkeit. “Der revolutionäre Ausbruch ist ein einzigartiges Fest, in dem der Mexikaner, betrunken von sich selbst, endlich in tödlicher Umarmung den anderen Mexikaner kennenlernt.”

Es gibt ein mexikanisches Violinkonzert!

Dieses Kennenlernen macht sich vor allem in den Versuchen bemerkbar, der indigenen Tradition Mexikos in Musik und bildender Kunst Gehör beziehungsweise Gesicht zu verschaffen. Mexikanische Identität wird hier präsentiert als die Verschmelzung der europäischen und der indigenen Tradition zu einer gemeinsamen mestizischen Kultur. Jedoch handelt es sich dabei in erster Linie um ein ideologisches Konstrukt. Die Trommeln und Flöten in Chávez’ Sinfonía India oder das volkstümliche mañita-Thema im dritten Satz von Ponces Violinkonzert erfüllen neben der ästhetischen Neuerung vor allem die Funktion, die indigene Bevölkerung in das Symbolgeflecht der mexikanischen Nation zu integrieren. Vom Populismus der postrevolutionären Regierungen, die in erster Linie die Einigung und Zentralisierung der Nation unter dem Banner des Adlers mit der Schlange (Mexikos Nationalwappen) anstrebten, wurden die Werke der Nationalisten gnadenlos ausgeschlachtet. Volkstümliche und indigene Kultur werden emblematisch zur Schau gestellt, um deren soziale und politische Ausgrenzung vom nationalen Projekt zu verschleiern.
Ob dies bereits die Intention der damaligen “nationalistischen” Künstler war, ist sicherlich mehr als zu bezweifeln. Was jenseits jeglicher politischer Funktionalität jedoch feststeht ist, daß diese Bewegung Werke von größter ästhetischer Qualität hervorgebracht hat, die es nicht verdienen, im tauben Fleck eurozentristisch geprägter Hörgewohnheiten zu verschwinden.
Ihren Anfang nahm die Bewegung zu Beginn des Jahrhunderts mit Manuel M. Ponce. Er war, wenn auch nicht der erste, so zumindest derjenige, der sich noch vor der Revolution am eifrigsten mit der mexikanischen Folklore auseinandersetzte, zahlreiche Abhandlungen verfaßte und sich auch in seinen Kompositionen von ihr inspirieren ließ. Er beeinflußte mit seinem “Nationalismus” nicht nur die ihm nachfolgenden Komponisten in Mexiko, sondern wurde zum Vorbild für ganz Lateinamerika.
Wer nun meint, bei Ponces Musik handele es sich um mit Geigen, Flöten und Pauken gespielte Volksliedchen, hat sich allerdings getäuscht. Sowohl sein Gitarrenkonzert Concierto del Sur, das 1942 mit dem weltberühmten spanischen Gitarristen Andrés Segovia in Montevideo uraufgeführt wurde, als auch sein 1943 entstandes Violinkonzert stehen vor allem auch in der Tradition der Romantik und des französischen Impressionismus und stehen Werken von Maurice Ravel oder spanischen Komponisten wie de Falla, Albéniz oder Rodrigo in ihrer mitreißenden Ausdruckskraft und gleichzeitig kunstvollen Verarbeitung lokaler und volkstümlicher Elemente in nichts nach.
Überhaupt erinnern viele Werke der mexikanischen Nationalisten in gewisser Weise an die Musik der Spanier aus der selben Zeit. Beide stehen in einer Tradition, die mit Ravels Rhapsodie espagnole ihren Anfang nahm. An die Stelle der Flamenco-Themen und Kastagnetten bei Albéniz und de Falla treten nun bei Ponce, Chávez und Revueltas die mexikanische Folklore und indianischen Schlaginstrumente. Kennt man de Fallas Dreispitz, seine 7 volkstümlichen Lieder oder Rodrigos Concierto de Aranjuez, kann man sich auch ungefähr vorstellen, was einen bei Chávez’ Ballettsuiten, Revueltas Liedern oder Ponces Konzerten erwartet.

Eurozentristische Taubheit?

Der große Unterschied besteht nun jedoch darin, daß es die Werke der spanischen Meister in Deutschland durchaus zu einem recht hohen Bekanntheitsgrad gebracht haben. Der Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Frühbeck de Burgos, bringt regelmäßig spanische Musik in Berlins Konzertsäle, und auch bei den CDs gehört sie mittlerweile zu den Classic Essentials und ist für 10 Mark pro Stück zu haben. Wenn man jedoch nach CDs von Chávez oder Revueltas fragt, erntet man meist unverständliches Kopfschütteln, und selbst bei ausgewiesenen Klassikspezialisten lautet die Antwort: Ham wa nich, kriegn wa ooch nich mehr rin!
Hier scheint Ursachenforschung angesagt! Sicherlich, es gibt bereits aus Europa derart viel interessante Musik, daß es in gewisser Weise nicht verwundert, daß für mexikanische Klassik kein Markt besteht. Und dennoch: Warum ist die Klassik vom Boom lateinamerikanischer Musik in Deutschland ausgeschlossen? Dies könnte zum einen an den Projektionen der Europäer liegen, die mit Lateinamerika Sambatrommeln und Gitarrenklänge, nicht aber klassische Orchestermusik verbinden. So haben Komponistengrößen wie der Brasilianer Heitor Villa-Lobos oder der Kubaner Leo Brower Werke für Solo-Gitarre geschrieben, die sicherlich dem Bereich der E-Musik zuzurechnen sind und die auch in unseren Breiten durchaus bekannt sind. Sieht man jedoch mal von Ariel Ramírez’ Missa Criolla ab, die mittlerweile zum allweihnächtlichen Klassik-pflichtprogramm avanciert ist, findet lateinamerikanische Orchestermusik hier jedoch fast keinerlei Beachtung.

Überraschungen

Diese Form selektiver Wahrnehmung ist auch Ausdruck eines tiefsitzenden Eurozentrismus, der in Europa nicht nur die Wiege und das Zentrum klassischer Musik vermutet, sondern den “periphären” Kulturen, wenn auch unausgesprochen, solche schöpferischen Höhenflüge eigentlich gar nicht zutraut. Zwar erkennt man Künstlern aus Lateinamerika durchaus die Fähigkeit zu, ein Klavierkonzert von Beethoven gut zu spielen oder eine Bach-Arie schön zu singen; die große Zahl der Auftritte lateinamerikanischer Solisten in Deutschland zeugt davon, und der aus Argentinien stammende Berliner Publikumsliebling Daniel Barenboim ist nur ein prominentes Beispiel. Aber selbst klassische Musik zu komponieren, das scheint den Europäern vorbehalten zu sein. Umso überraschter und verwunderter sind die KritikerInnen dann, wenn sie tatsächlich etwas “Ernstes” aus Lateinamerika zu hören bekommen. Im April 1994 präsentierte der mexikanische Dirigent Antonio López Rios mit der Berliner Sinfonietta lateinamerikanische klassische Musik in der Philharmonie. Der Berliner Tagesspiegel reagierte entzückt und sprach von “weißen Flecken auf der musikalischen Weltkarte”. Insbesondere Silvestre Revueltas habe sich als “Geheimtip des Abends” entpuppt.

Statistenrolle im Indianerkostüm

Revueltas hier präsentiert zu bekommen, ist allerdings ein äußerst seltenes Vergnügen. Der Blick in die Programmzeitschriften der Multi-Kulti-Hauptstadt Berlin zeigt es: Ponce, Revueltas, Chávez? Fehlanzeige! Und auch die ansonsten sehr um die Verbreitung mexikanischer Klassik verdiente Kulturreferentin des mexikanischen Konsulats beteuert, nicht ein einziges Konzert mit einem mexikanischen Komponisten ausgeschrieben gesehen zu haben, das sie nicht selbst mit initiiert hätte. Das renommierteste Orchester Deutschlands, die Berliner Philharmoniker, hatten Chávez mit der Sinfonía India sage und schreibe 1962 das letzte Mal im Programm. Damals kam der Leiter des Sinfonie-Orchesters von Mexiko-Stadt selbst nach Berlin, um sein Werk zu dirigieren. Das Motto des großen Maestro Abbado heute scheint jedoch zu lauten: Keine Experimente!

Und wer kennt ostasiatische Klassik?

Etwas experimentierfreudiger scheint das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zu sein. Hier gab es zuletzt ebenfalls die Sinfonía India unter Milan Horvat, und zwar zur 500-Jahr Feier der “Entdeckung” Amerikas, am 12. Oktober 1992. Daß in beiden Fällen die Sinfonía India ausgewählt wurde, eines der mit dem meisten Lokalkolorit versehenen Stücke, verdeutlicht, daß das Interesse mehr auf den exotischen Charakter gelenkt werden sollte als auf die Musik selbst. Klassik aus der Dritten Welt hat, wenn überhaupt, nur dann eine Chance, wenn sie im Indianerkostüm daherkommt.
Generelle Diskriminierung lateinamerikanischer klassischer Musik will der in Berlin lebende López Rios zwar nicht erkennen, schließlich sei auch japanische Klassik hier sehr unbekannt, aber eine gewisse Form des Eurozentrismus bei den Hörgewohnheiten hat auch er festgestellt. Auf seinen Vorschlag, mexikanische Musik im Berliner Konzerthaus aufzuführen, zeigte sich dessen Programmdirektor zwar durchaus beflissen und interessiert, kam auf das Angebot jedoch nicht mehr zurück. Auch ein weiterer Versuch des Mexikaners, dem Berliner Publikum klassische Musik aus Lateinamerika zu Ohren zu bringen, scheiterte leider. Zu diesem Ziel gründete er ein kleines Orchester, die bereits erwähnte Berliner Sinfonietta. Der anfängliche Elan war schnell verflogen, denn obwohl das Publikum wie auch die Kritik die Werke sehr begeistert aufnahmen, blieb es das größte Problem López Rios’, dafür Veranstalter zu finden. Diese, meint er, hätten zu große Angst, sich finanziell in die Nesseln zu setzen. Mittlerweile spielt die Berliner Sinfonietta eben auch Mozart.
Die Radiostationen sind hier bereits weiter: Den MusikredakteurInnen des SFB scheint der Name Silvestre Revueltas eher ein Begriff zu sein als der Intendanz der Berliner Philharmoniker. Beim SFB erinnerte man sich sofort, vor etwa zwei Jahren eine zweistündige Portrait-Sendung zu Revueltas ausgestrahlt zu haben, und auch im normalen Sinfonie-Programm werden gelegentlich Stücke von ihm gespielt. Natürlich hängt es auch hier vor allem sehr stark vom Interesse der RedakteurInnen ab, ob solche bisher noch unbekannten Komponisten ins Programm kommen oder nicht. Insgesamt scheint die Tendenz zu bestehen, daß die klassische Musik aus Lateinamerika trotz der Weltmusik-Bewegung auf der Strecke bleibt. Radio-Programme wie SFB 4 Multi-Kulti, in denen viel Weltmusik gesendet wird, sehen sich für den gesamten E-Musik-Bereich ganz schlicht nicht zuständig, und im normalen Kulturprogramm spielt klassische Musik aus Lateinamerika trotz einiger Ausnahmen nach wie vor eine Statistenrolle. Schade drum.

CD-Empfehlungen:
Manuel M. Ponce. Concierto del Sur, Piano Concerto, Violin Concerto. ASV Ltd. England
Música Mexicana, Vol.1: Chávez, Chapultepec “Republican Overture” – Ponce Ferial, Instantaneas Mexicanas – Revueltas, Toccata – Ponce Estampas Nocturnas.
Vol.2: Ponce, Concerto for Violin and Orchestra – Chávez, Sinfonía India – Revueltas La Noche de los Mayas. ASV Ltd. England

Schneller, breiter, größer, besser?

Fünf Länder sind an dem Projekt beteiligt: Bolivien, das über einen Kanal mit dem Rio Paraguay verbunden ist, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Ausgangspunkt ist der bolivianische Ort Cáceres, der Zielhafen am Atlantik ist Nueva Palmira in Paraguay.
Als infrastrukturelles Rückgrat des Mercosur soll die Mega-Wasserstraße die Wettbewerbsfähigkeit des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses auf dem Weltmarkt stärken. Verkürze sich, wie geplant, die 45-tägige Schiffsfahrt von Caceres nach Nueva Palmira um die Hälfte – so die beteiligten Regierungen – würden die Exportprodukte preislich attraktiver und die Region für Investoren lukrativer. Geltend gemacht werden zudem noch länderspezifische Interessen: Bolivien hätte endlich freie Bahn zum Meer, Argentinien verspricht sich Exportverbesserungen, für Brasilien bieten sich geopolitische Vorteile (bessere Kontrollmöglichkeit über die Nachbarländer) und auch Paraguay lockt ein besserer Meereszugang. Ein zwischenstaatliches Hidrovía-Komitee koordiniert die Vorhaben und Studien und beteiligt sich außerdem an der Suche nach Finanzquellen. Zugleich fungiert es als Ansprechpartner für Nichtregierungsorganisationen (NROs) und als Organisator von sogenannten Partizipationstreffen.

Flüsse für die Schiffe statt Schiffe für die Flüsse ?

Bisher besteht das Projekt aus 90 Einzelvorhaben, wie Eindeichungen, Begradigungen, Stillegung von Seitenarmen, Hafenbau, Baggerarbeiten zur Vertiefung und die Sprengung störender Felsformationen. Die Kosten werden sich (nach Berechnungen von 1989) auf 1,3 Mrd. US-Dollar belaufen, mit danach folgenden Unterhaltungskosten von ca. 3 Mrd. US-Dollar jährlich. Wer das finanzieren soll, ist zur Zeit noch unklar; gerechnet wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Weltbank und verschiedener bilateraler Geber, die sich teils mit Projekten, teils mit Exportbürgschaften beteiligen. Auch von der EU sind – als zukünftigem Handelspartner – Hilfen zu erwarten.
Aus den selben Töpfen finanzierten sich die in den letzten zwei Jahren unter Beteiligung von norwegischen und nordamerikanischen Beratern durchgeführten Umwelt- und Durchführbarkeitsstudien.Zur Zeit werden die Studien von verschiedenen Gruppen und Institutionen evaluiert. So untersucht der World Wildlife Fund for Nature (WWF), ob die ökologischen Folgen realistisch abgesehen wurden, die holländische Regierung schätzt Kostenpläne ein, Nichtregierungsorganisationen vor Ort untersuchen die Verläßlichkeit der Studien. International anerkannte Hydrologen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank herangezogen wurden, beschrieben die Durchführbarkeits- und Verträglichkeitsstudien in einem vorläufigen Dokument als “simplifizierend” und kritisierten, daß die komplexen Wasser- und Strömungsverhältnisse nicht ausreichend beachtet wurden. Sie forderten dazu auf, “die Schiffe den Flüssen anzupassen und nicht die Flüsse den Schiffen”.
Trotz der aufkommenden Protesten haben die Präsidenten der Länder im Februar 1997 eine pressewirksame “Eröffnung” des Projektes inszeniert, um Tatsachen zu schaffen. Diese Eröffnung, die mit Ausschreibungen von Ausbaggerungsarbeiten einhergeht, steht im Widerspruch zu den Versprechungen des Hidrovía-Komitee, nicht vor Ende der Studien- und Evaluierungen mit der Umsetzung zu beginnen und eine ausreichende Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den Auswirkungen des Projekts muß man zwischen jenen unterscheiden, die sich unmittelbar aus dem Flußausbau ergeben und solchen, die als mittelbare Folgen abzusehen sind. Beide Flüsse zusammen haben ein Einzugsgebiet von ca 720.000 km2 (entspricht etwa der doppelten Fläche der Bundesrepublik). Auf diesem Gebiet leben 40 Millionen Menschen direkt an den Flüssen, 14 Millionen sind in ihrer Lebensweise eng an die Flüsse gebunden. Unter ihnen sind zahlreiche indigene Gemeinden.

Ein Feuchtgebiet liegt auf dem Trockenen

Eine ökologische Katastrophe wartet auf das Pantanal. Hier, im größten Feuchtgebiet der Erde, leben zahlreiche Menschen vom Fischen, Sammeln, Jagen, Ökotourismus und kleiner Landwirtschaft. Sie alle würden Land und ihre Erwerbstätigkeit verlieren. Für die inianischen Völker bedeutet die Terstörung ihrer Umwelt darüber hinaus den Verlust einer kulturellen Umwelt. Von einer Kompensation wurde bisher nicht gesprochen. Die geplanten Sprengungen während des Baus der Hidrovía würden sozusagen den “Pfropfen” aus dem Gebiet ziehen. Das Zukunftsszenario: Weite Teile des Feuchtgebietes trocknen aus, umliegende Strömungsverhältnisse verändern sich, da das Pantanal seine Funktion als Wasserschwamm verliert. Im Unterlauf ist dann entsprechend mit riesigen Überschwemmungen zu rechnen. Veränderte Strömungsverhältnisse bedeuten aber auch Versalzung, Versandung und Erosion in der Umgebung der Flußufer. Fischbestände und Fischreichtum werden beeinflußt. Der bisherige Transport, Einnahmequelle für tausende, wird gefährdet, statt dessen wächst mit den Riesenfrachtverbänden die Unfallgefahr.
Offiziell soll im Pantanalgebiet nicht gearbeitet werden, der Hafen von Descalvados soll aus den Planungen herausgenommen werden. Zweifel kommen jedoch auf seit oberhalb des Pantanals am bolivianischen Tamengokanal ausgebaggert wird. Diese Arbeiten sind nicht zu erklären, wenn die Schiffe nicht auch Fahrterleichterungen durch das Pantanal bekommen.
Weitreichendere Folgen sind abzusehen: geplant ist eine Vergrößerung und damit ein Heranrücken der Agrarfront an die Flußufer. Die Landspekulation beginnt bereits. Dank ungesicherter Eigentums- und Verfügungsrechte der Kleinbauern und indigenen Gruppen, vertreiben Großfirmen in den betreffenden Gebieten die Menschen mittels Gewalt, Druck oder Geld mit Leichtigkeit von ihrem Land. Die erhofften Arbeitsplätze werden ausbleiben: Großplantagen wie die geplanten, die Frachtverbände bis zu 16 Schiffen füllen sollen, sind hochmechanisiert. Dazu kommt die Wasserbelastung durch den Transport, den Pestizideinsatz, die Abwässer aus Minen und aus Häfen. Es werden Straßen in umliegende Waldgebiete getrieben und damit indianische Gebiete zerstört.

…. auch die sozialen Unterschiede werden tiefer

Die Nachhut bilden in solchen Fällen weitere Entwaldung, Brandrodung, Erosion, Aufgabe der Subsistenzwirtschaft, die Anlage illegaler und legaler Minen, die Ausbreitung von Krankheiten und sozialen Konflikten durch die Zunahme Landloser und WanderarbeiterInnen – und führt letztendlich zu einer weiteren Konzentration produktiver Ressourcen in den Händen weniger.
Von den offiziellen Stellen werden der Zusammenhang Hidrovía und nachfolgende Entwicklung ignoriert. Partizipative Planungsmethoden existieren höchstens als selektive Alibiauslese, die Betroffenen wissen in der Mehrheit kaum um das Projekt.

Soja für Europa

Problematisch ist Hidrovía allerdings nicht nur als Einzelprojekt. Bei einer Betrachtung der Hintergründe wird deutlich, daß sich die ganze wirtschaftliche Struktur der Region verändern wird. Geplant sind Agrar-, Holz- und Bergbauprojekte in der gesamten Region, privat, staatlich oder durch Entwicklungshilfe finanziert. Drei Ölfirmen haben ihre Kapazitäten verdreifacht, und es gibt neue Holzeinschlagskonzessionen in Formosa. Die Produkte sollen auf der Hidrovía bzw. Zugangsflüssen,-kanälen und Zügen transportiert werden. Ziel der Transporte: die EU, mit der Mercosur zur Zeit ein Sonderabkommen aushandelt. Absurd erscheint in diesem Zusammenhang, daß in weiteren Teilen Südamerikas Flüsse in Wasserstraßen umgewandelt worden sind oder werden sollen, also eine direkte Konkurrenz darstellen. Darunter sind die beiden Wasserstraßen Madeira-Amazonas und Toncantins-Araguaia in Brasilien, die den Norden des Landes nach Westen öffnen.
Die einseitige Exportorientierung von Produkten, die sowieso schon von mehreren Ländern in Masse exportiert werden, wird zum Preisverfall auf dem Weltmarkt führen. Kommt noch der – allerdings schleppende – Subventionsabbau in der EU, und das Aufholen der osteuropäischen Staaten bei der Agrarproduktion.
Exportiert werden soll vorrangig eins: Soja. Schon seit Jahren gehört Brasilien zu den drei größten Sojaproduzenten der Welt – Spitzenreiter sind die USA. Als Exportschlager, um Devisen zur Schuldenreduzierung zu bekommen, um Importe zu ersetzen, und um billiges Sojaöl zur Verfügung zu haben, ist die Sojaproduktion in Brasilien mit Subventionen und Krediten massiv gefördert worden. Paraguay, stets wachsam angesichts der Konkurrenz, hat das Programm des Nachbarn importiert, große, kapitalkräftige brasilianische Firmen ins Land gelockt und ebenfalls mit Soja expandiert.
Auch im Osten Boliviens soll der Sojaanbau massiv ausgeweitet werden. Dazu wird die Hafenkapazität in Caceres verdreifacht – mit Hilfe der größten Agrarfirma der Welt, Cargill aus den USA, die 51 Prozent am Hafen besitzt. Ab März 1997 sollen über den oben erwähnten Transportweg Madeira-Amazonas 750 Tonnen Soja pro Tag verladen werden – das ist eine LKW-Ladung alle 2 Minuten.

Widerstand – die Rios-Vivos Koalition

Gegen das Projekt wenden sich mittlerweile viele NRO. Gegen HPP haben sich über 300 Gruppen aller fünf Länder, darunter indigene Organisationen, soziale NROs und Umweltorganisationen zu einer Koalition namens Rios Vivos zusammengeschlossen. Sie versuchen, das Projekt und die Bandbreite der Folgen in der Bevölkerung bekannt zu machen, organisieren Seminare, auf denen sich zum Beispiel Indígenas aus mehreren Ländern treffen, um gemeinsame Positionen zu überlegen. Sie bündeln und koordinieren die Kritik der NROs und haben international Kontakt mit Organisationen aufgenommen, um von außen Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen auszuüben. Zu Rios Vivos gehören daher mittlerweile auch eine europäische und eine amerikanische Organisation.
In der Bundesrepublik halten mehrere Organisationen ständigen Kontakt zu Rios Vivos und arbeiten mit ihnen zusammen. So waren im Frühjahr 1996 fünf Vertreter von Rios Vivos in der Bundesrepublik und haben das BMZ und andere Institutionen der Entwicklungshilfe besucht und über die fehlende Vorabinformation und Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt aufgeklärt.

Kein Fortschritt ohne Aufklärung

Rios Vivos ist nicht grundsätzlich gegen den Transport auf den Flüssen, da diese seit Jahrhunderten genutzt werden. Die Organisation wendet sich aber dagegen, daß ohne jede Mitwirkung und voraussichtlich ohne jeden Nutzen für die regionale Bevölkerung ein Megaprojekt durchgezogen wird. Sie fordern daher eine umfassende Information über HPP und alle angekoppelten Projekte. Sie fordern eine Beteiligung und Einbeziehung der Menschen und eine Diskussion über das mit HPP vorgegebene Entwicklungsmodell. In den Worten einer Resolution, die 70 VertreterInnen von 22 indianischen Gruppen im Mai herausgegeben haben, sieht das so aus: “Erlaubt uns, den Regierungen zu mißtrauen angesichts der Gleichgültigkeit, die sie uns bei anderen Großprojekten entgegengebracht haben, die sie uns immer als positive Projekte dargestellt haben und die uns nie etwas Positives gebracht haben. Wir wissen, daß der Fluß vertieft wird, und wir fürchten, daß unser Land austrocknet. Wir wollen, daß die Regierung uns garantiert, daß sich die Flüsse nicht verändern und wir wollen wissen, was getan wird, um unser Leben zu verbessern. Wir verlangen, daß mit HPP nicht eher angefangen wird, als bis gründliche Umweltstudien fertig sind, die die Belange der Anwohner und unsere miteinbeziehen. Wir wollen, daß unsere Territorien bestätigt werden. Wir empfinden HPP als Angriff auf das sozioökonomische und kulturelle System der indigenen Völker, weil es uns ein Entwicklungsmodell auferlegt, daß einem adäquaten Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen fremd ist.”

Hidrovía und Deutschland

Die Bundesrepublik ist bisher nicht direkt an der Finanzierung und den Bauvorhaben beteiligt, wird aber als “reiches Land” als eine potentielle Finanzquelle betrachtet. Finanzierungen könnten dabei über die offizielle Entwicklungshilfe oder Exportbürgschaften laufen. In Betracht gezogen werden muß dabei, daß es nicht nur um die Finanzierung der Flußarbeiten geht, sondern auch um Anschlußprojekte wie Bergbau und Agrobusiness.
Indirekt ist die Bundesregierung allerdings schon jetzt an dem Projekt beteiligt – und zwar über ihre Beteiligung an der Interamerikanischen Entwicklungsbank, dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (8,9 Prozent Beitragsanteil 1993) und der EU. Letztere hat für Studien zur Modernisierung mehrerer Häfen entlang der Flüsse 850.000 ECU zur Verfügung gestellt. Die Durchführung der Studien, die bis September 1997 fertiggestellt werden sollen, obliegt der deutschen Consulting Rogge Marine in Bremerhaven. Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik ausserdem der wichtigste Handelspartner für Lateinamerika, besonders für Agrarimporte: 28 Prozent aller Agrareinfuhren stammen aus der Region, davon sind 30 Prozent Futtermittel, also auch Soja. Vor dem Hintergrund wachsender Handelskontakte zwischen EU und Mercosur würden nicht nur substantielle Handelsinteressen der EU befriedigt, sondern wären auch millionenschwere Aufträge für europäische Firmen zu erwarten. Nur einige, durch die Erfahrung mit dem Erzabbauprojekt Grande Carajas in Brasilien mißtrauisch gewordene EU-ParlamentarierInnen haben sich vorsorglich in einer informellen Hidrovía-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen.
Auf Nichtregierungsebene haben sich ca. 15 deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, darunter der WWF, KoBra (Koordination der Brasiliengruppen) und Pro Regenwald. Die Gruppen machen in der Bundesrepublik und auf EU-Ebene Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Gesucht wird auch der Kontakt zu Gruppen, die sich in Deutschland mit der Problematik Wasserstraßen, also dem geplanten Ausbau der letzten Kilometer freifließender Flüsse und dem Rückbau kanalisierter Flüsse beschäftigen, um den Partnern in Lateinamerika Vergleichsmöglichkeiten und Kritikpunkte bieten zu können.
Ob HPP in der jetzigen Form verhindert werden kann, hängt zu einem grossen Teil davon ab, ob und wie europäische und dabei besonders deutsche Gruppen und Personen anfangen, Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf PolitikerInnen auszuüben. Die weltweite Degradierung von Flüssen zu Verkehrswegen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Natur führt in eine Sackgasse. Transport muß nicht billiger und schneller werden, sondern anders: vermieden, wo nicht notwendig und vor allem so teuer wie es den ökologischen und sozialen Schäden entspricht, die er verursacht.

Volkstribun und “Stimme Gottes”

Für seine Gegner war er ein Verführer und Demagoge, für viele seiner Anhänger eine fast christusähnliche Lichtgestalt. Nicht wenige in der Masse der Trauernden, so der bolivianische Journalist Rafael Archondo in der Tageszeitung La Razón, hof­ften auf seine Wiederaufer­stehung. Mit Carlos Palenque ist ein Politiker gestorben, der einen neuen Stil in die bolivianische Politik eingeführt hat, ein geni­aler Kommunikator, der in kur­zer Zeit mit den Stimmen der städtischen Aymara seine Partei CONDEPA (Gewissen des Va­terlandes) zur führenden politi­schen Kraft in La Paz gemacht hat. Gleichzeitig blieb er immer den traditionellen Mechanismen der bolivianischen Politik ver­haftet, ein Caudillo, der alle Macht auf seine Person konzen­trierte.
Grundlage seiner Popula­rität war seine Arbeit als Radio- und Fernsehmoderator, die Kunst der Selbstinszenierung be­herrschte er perfekt. Jetzt stellt sich die Frage nach der Zukunft seiner politischen Erbschaft, der Wahl­kampf für die Parlaments­wahl am 1. Juni hat eine uner­wartete Wendung genommen.
Mit dem Showgeschäft kam Palenque schon früh in Berüh­rung. Als Mitglied der Musik­gruppe “Los Caminantes” sammelte er 1968 seine ersten Medienerfahrungen in der Ra­diosendung “La Hora del Folk­lore” (Die Stunde der Folklore) in Buenos Aires, einer Mittags­sendung für die in Argentinien lebenden Bolivianer. Ende 1968, nach der Rückkehr nach La Paz, folgte eine ähnliche Sendung bei Radio Chuquisaca. 1973 wagte Palenque den Schritt ins Fernse­hen. In der “Hipper Show” im staatlichen Kanal 7 begann er zum ersten Mal, Betroffene selbst von ihren Sorgen und Pro­blemen berichten zu lassen und daraufhin Solidaritätsaktionen zu starten.

Vom Musiker zum Fernsehstar

1980 gründete Carlos Palen­que seine erste eigene Radiosta­tion: Radio Metropolitana. Zwar hatte er nicht viel Kapital, aber er stieß mit seinen Sendungen in eine Marktlücke. Kein Radio­sender richtete sich so direkt an die städtischen Aymara, an die BewohnerInnen der ärmeren Viertel von La Paz. Die “Tribuna libre del Pueblo” – die “Offene Bühne des Volkes” – schallte um die Mittagszeit in den Markt­vierteln aus allen Radios. Die Hörerinnen und Hörer hatten einen Ort, an dem sie ihre Sor­gen loswerden konnten, und im Zentrum stand, väterlich und um die Sorgen der Menschen be­müht, der “compadre” Carlos Palenque.
Die Bezeichnung “compadre” zeigt deutlich, wie geschickt Pa­lenque andine Symbolik in seiner Radioarbeit aufnahm. Der “compadrazgo” in den Anden ist ein System fiktiver Verwandt­schaften. Macht man jemanden zum compadre oder zur co­madre, besteht eine gegenseitige Verpflichtung, ähnlich, als ob es eine direkte Verwandtschaft gebe.
Palenque machte sich selbst erfolgreich zum idealtypischen compadre und deckte damit gleichzeitig die Schwachstelle der etablierten Radiostationen auf, die sich durchweg am spa­nischsprachigen, kulturell mesti­zisch geprägten Stadtpublikum orientierten.

Der Politiker Palenque

Das Erfolgsrezept übertrug Palenque auf seinen eigenen Fernsehkanal: Canal 4, gegrün­det 1985. Damit war der Me­dienkonzern RTP komplett: Si­stema Radio y Televisión Popu­lar war in La Paz ein Machtfak­tor, sein unumstrittener Chef: Carlos Palenque Avilés.
Den ersten Ausflug in die Po­litik hatte Palenque schon 1980 unternommen. Er kandidierte bei den Parlamentswahlen für die alte Revolutionspartei MNR. Auf die Wahl folgte der Putsch von García Meza, der allen parteipo­litischen Ambitionen ein vorläu­figes Ende bereitete. Während viele demokratische Politiker verfolgt und einige ermordet wurden, durfte Radio Metropo­litana weiter senden, einzige Be­dingung: Die offiziellen Nach­richten mußten vom staatlichen Ra­dio Illimani übernommen werden. Palenque war flexibel genug.
Gründung und Erfolg von CONDEPA sind ohne die Me­dienmacht von RTP nicht erklär­bar. Zum Schlüsselmoment wurde ein direkter staatlicher Angriff auf RTP im Jahr 1988. Die seit 1985 amtierende, demo­kratisch gewählte MNR-Regie­rung unter Víctor Paz Estenssoro nahm ein telefonisches Interview mit dem damaligen Drogenzar Roberto Suárez zum Anlaß, die Medien des compadre zu schlie­ßen. Das Ergebnis: Die Aymara in La Paz gingen auf die Straße, um “ihren” compadre zu vertei­digen. Versuche, Palenque zu verhaften, scheiterten daran, daß Menschenmengen sich vor ihr Idol stellten. Als im August 1988 RTP wieder auf Sendung gehen durfte, sprach Padre David Mal­donado, ein Palenque verbun­dener Priester, davon, in diesem Fall sei “die Stimme Palenques Gottes Stimme”. Palenque selbst nahm solche Worte nie direkt in den Mund, aber er widersprach auch nicht. Die Selbstinszenie­rung als quasi-religiöse Füh­rungsfigur war längst gelungen.

Starke Regionalpartei im Stammland der Aymaras

Sorgfältig organisiert wurde bei den Massendemonstrationen zum ersten Mal der Ruf “Palenque Presidente” laut, und schon am 21. September 1988 folgte die Gründung von CON­DEPA in einer symbolgeladenen Zeremonie in Tiahuanaco, der präkolumbianischen Ruinenstadt auf dem Altiplano in der Nähe von La Paz.
CONDEPA ist seitdem eine feste Größe in der bolivianischen Politik. In La Paz wurde die Partei schnell zur stärksten Kraft, schließlich stellen die Aymara die eindeutige Mehrheit der Be­völkerung. Die Konzentration auf La Paz macht allerdings auch die entscheidende Schwäche von CONDEPA als Partei auf natio­naler Ebene deutlich. Palenque setzte immer so stark auf den kulturellen Kontext der Aymara, daß die Quechuas der Täler und erst recht die Mestizen und Indi­genas des östlichen Tieflandes wenig damit anfangen konnten. RTP war ohnehin außerhalb von La Paz nicht zu empfangen, erst in den letzten Jahren betrieb Pa­lenque die Ausdehnung des Sen­debereiches. So konnte CON­DEPA trotz eindeutiger Wahl­siege in La Paz auf nationaler Ebene nicht über Wahlergeb­nisse von rund 14 Prozent hin­auskommen.
Ideologisch hat CONDEPA nichts indigenistischen oder in­dianistischen Programmen zu tun. “Endogene Entwicklung” propagieren die Intellektuellen der Partei – übrigens samt und sonders, genauso wie Palenque selbst, keine Indígenas, sondern spanischsprechende Mestizen. Das Politikverständnis von CONDEPA hat nichts mit Basis­demokratie auf lokaler Ebene, mit Emanzipation des indigenen Boliviens zu tun. Es ging immer darum, die Massen um den Füh­rer Palenque zu scharen. Seine Führung stand innerhalb von CONDEPA nie zur Disposition. Von der Struktur der Partei bis zum Auftreten in seinen Medien bewies Palenque immer eins: Seine Rolle war die des autoritä­ren, aber wohlwollenden Über­vaters, der über seine “Kinder” die schützende Hand hält. Er war der Erlöser aus der Misere, der es nicht nötig hatte, sich demo­kratisch bestätigen zu lassen. CONDEPA ist, so gesehen, eine durch und durch traditionelle bolivianische Partei, zentrali­stisch organisiert und völlig aus­gerichtet auf die Führungsfigur und dazu noch ausgestattet mit einer gehörigen Portion Oppor­tunismus.
Ein Beispiel dafür nennt Mi­guel Urioste, inzwischen Prä­sidentschaftskandidat der sozial­demokratisch ausgerichteten MBL (Bewegung Freies Boli­vien) und Koalitionspartner des MNR in der gegenwärtigen Re­gierung. 1993 brauchten MNR und MBL noch einen Koaliti­onspartner, zur Auswahl standen CONDEPA und die UCS des in­zwischen verstorbenen Brauerei­besitzers Max Fernández. UCS sei nur deswegen vorgezogen worden, so Urioste, weil sie we­niger Posten forderte. Wäre CONDEPA Regierungspartei geworden, wären die Reformen der letzten Jahre in RTP mit Si­cherheit wohlwollender kom­men­tiert worden. Aber CON­DEPA verblieb in der Op­position – und RTP machte Front gegen den “Ausverkauf des Va­terlandes”.

Hat CONDEPA eine Zukunft?

Es ist schwer vorstellbar, daß eine Partei, die so stark auf ihren Gründer und Chef ausgerichtet war, dessen Tod unbeschadet übersteht. Es wird für CON­DEPA darauf ankommen, Palen­que zum Mythos zu verklären. Für die bevorstehende Parla­mentswahl ist die Frage, ob der Trauereffekt noch bis zum Juni anhält, und CONDEPA ein au­ßer­gewöhnliches Wahlergebnis be­schert. Die Zukunft CONDE­PAs als Partei wird sich erst später entscheiden.
Neue Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidatin ist, nachdem Palenques Ehefrau Mónica sich vor wenigen Mo­naten unter dramatischen Um­ständen von ihrem Mann ge­trennt hat, Remedios Loza, für das RTP-Publikum bekannt als “comadre Remedios”.
Die Nachfolgerin: Remedios Loza
Sie war schon in den 70er Jahren Mitar­beiterin von Palen­que in Radio und Fern­sehen. Remedios Loza ist im Ge­gen­satz zu anderen CONDEPA-Spi­tzen­politikern tatsächlich eine Ay­mara und war 1989 die erste weib­liche Abge­ordnete, die in der Aymara-typi­schen Kleidung im Parlament auftrat. Remedios Loza ist be­kannt, sie kann, geübt durch lange Fernseherfahrung, sehr gut reden, und sie hat Erfah­rung mit dem politischen Be­trieb. Für die CONDEPA-Kli­entel kommt dazu, daß sie in al­len Krisen immer hundertpro­zentig loyal auf der Seite des compadre stand, besonders wäh­rend des Trennungsdramas der Eheleute Palenque.
Aber Remedios Loza muß es erst schaffen, die ihr bislang fest zugewiesene Rolle in der zwei­ten Reihe abzuschütteln. Sie war immer die Frau hinter dem compadre, jetzt muß sie sich als po­tentielle Landesmutter präsentie­ren. Und sie wird mit dem Pro­blem kämpfen müssen, als Ay­mara nur schwer zur Integra­tionsfigur für ein Wachstum CONDEPAS in anderen Regio­nen Boliviens werden zu können.
Auf einen Faktor aber, der den Zugang zur Macht erleich­tern wird, kann sich Remedios Loza verlassen: CONDEPA wird nach der Wahl im Juni als mög­licher Koalitionspartner mit im Spiel sein, für welche der alten Parteien auch immer. Denn für jede Partei muß die Aussicht at­traktiv sein, die Medienmacht von RTP im eigenen Lager zu wissen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß nicht Mónica Palenque die Kontrolle über RTP an sich reißt, der Kampf um das materielle Erbe ist noch nicht entschieden. Anders dagegen die Auseinandersetzung um das po­litische Erbe. Das Begräbnis Pa­lenques, so Rafael Archondo, hat gleichzeitig die politische Gruft für die Ambitionen von Mónica Palenque fest verschlossen, nicht selten war im Trauerzug “Mörderin Mónica” zu hören. Der compadre ist weder Präsi­dent noch Minister geworden, hier aber hat er einen letzten Sieg errungen.

Zwischen Unnachgiebigkeit und Selbstisolierung

Auf der Plaza de Mayo, auf ihrem Platz, finden sich jeden Don­nerstag die Mütter, Groß­müt­ter und andere Fami­li­en­angehörige der während der Mi­li­tärdiktatur (1976-83) “Ver­schwun­denen” zusammen mit Sym­pathisantInnen ein. Es ist eine zum Symbol für Men­schen­würde gewordene halbe Stunde – Don­nerstag für Donnerstag, von halb vier bis vier Uhr. Es ist ein an­dächtiges Gehen über die Pfla­stersteine, auf die alle paar Meter das weiße Kopftuch gemalt ist. Das weiße Kopftuch als Symbol für den Frieden und gegen den Ter­ror. Gegen das Vergessen des Ter­rors.
Am 30. April 1977, während der blutigsten Zeit der argen­ti­ni­schen Militärdiktatur, trafen sich ei­nige Mütter zum ersten Mal auf dem Hauptplatz von Bue­nos Ai­res, der in Erinnerung an die Re­volution vom 25. Mai 1810 “Mai­platz”, Plaza de Mayo, heißt. Enttäuscht angesichts der ver­geblichen Suche nach ihren “ver­schwundenen” Kindern, oh­ne Auskunft auf den Poli­zei­sta­tio­nen, im Innenministerium oder an anderen Stellen.
Einige Mütter entschieden schließ­lich, zusammen nach ih­ren Kindern zu suchen. Bei den teil­weise bestehenden Men­schen­rechtsgruppen fühlten sie sich nicht gut aufgehoben, “es gab immer einen Schreibtisch zwi­schen uns, es hatte immer etwas Bürokratisches”, wie die Prä­sidentin der Vereinigung Müt­ter der Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, sagt. “Aber auf dem Platz, da waren wir gleich, allen haben sie Kinder weggenommen, al­le waren wir auf der Suche, al­le gingen wir zu den selben Stel­len. Deshalb haben sich die Müt­ter zusammengefunden. Bald wur­de der Donnerstag festgelegt, halb vier Uhr auf dem Platz. Mitte Juni 1977, als wir so 60 bis 70 Mütter waren, kam ein Poli­zist und sagte, daß der Ausnah­mezustand bestehe und wir uns hier nicht versammeln könnten. Wir müßten zumindest gehen. Und so fingen wir an, um die Mai­ensäule zu gehen.”
Als eine Mutter einmal ver­haftet wurde, gingen die anderen mit zu dem Polizeigebäude und ver­langten, eingesperrt zu wer­den. Eine Mutter, alle Mütter. So ver­hinderten sie immer wieder län­gere Verhaftungen. Als da­mals der US-amerikanische Re­gie­rungsvertreter Terence Tod­man nach Argentinien kam, pro­te­stierten die Madres als ein­zige öffentlich. Soldaten um­stellten die Mütter und forderten sie auf, den Protest aufzulösen. Als sie sich weigerten, sagte der Be­fehlshaber “Anlegen!”. Und die Ma­dres riefen “Feuer!” Das er­regte bei den anwesenden in­ter­nationalen MedienvertreterIn­nen Auf­merksamkeit. Sie kamen von der Casa Rosada herüber und wur­den so auf den Protest auf­merksam. Immer wieder nahmen die Madres an Jubelfeiern oder De­monstratio­nen für die Mili­tärregierung teil, um anderen mit­zuteilen, was im Land vor­ging.

In der Welt bekannt – zu Hause verschwiegen

Und im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 nahm die Repression eneut zu. Das Land sollte sich von “seiner be­sten Seite” zeigen, weswegen das sportliche Großereignis auch mit der Olympiade 1936 in Berlin ver­glichen wurde. Die Armen­vier­tel, die an den Wegen lagen, auf denen sich die ausländischen Be­sucher bewegten, wurden mit Boll­dozern plattgemacht, die dort lebenden Menschen verjagt. Die Mütter wurden bei ihren wö­chentlichen Protesten geschlagen und immer häufiger festgenom­men. Am schmerzlichsten war, so Hebe de Bonafini, daß die Ju­bel­orgie von der Bevölkerung mit­getragen wurde, daß die ar­gentinischen Medien kein Wort über die Diktatur verloren. Dafür kamen verstärkt ausländische Me­dien ins Land, von denen ei­nige auch über die Madres be­richteten. Die holländischen Na­tionalspieler gingen sogar ganz bewußt zur donnerstäglichen Ma­ni­festation, um ihre Solidari­tät zu bekunden. Und nicht um­sonst wurde bald in Holland das erste Solidaritätskommittee ge­grün­det. Während die Madres längst in der ganzen Welt be­kannt waren, nahm die argentini­sche Gesellschaft erst gegen En­de der Militärdiktatur Notiz von dem seit Jahren währenden Kampf.
Das weiße Kopftuch, das Symbol der Madres: “Con vida se los llevaron, con vida los queremos – Lebend sind die gegangen, lebend wollen wir sie zurück.”

Erfolge und Spaltung

Die inzwischen politisch er­fahrenen Mütter standen in der ersten Reihe, als es ab 1982 um die Art und Weise der Demokra­tisierung ging. Und sie haben nicht zuletzt dazu beigetragen, daß in Argentinien zum ersten Mal in der Geschichte Latein­ame­rikas die Militärs sich nach­träg­lich vor einem zivilen Ge­richt verantworten mußten – und ver­urteilt wurden. Den Bericht Nunca Más! der CONADEP lehn­ten die Mütter ab. Er be­richte zwar viel über die Opfer und über das System des Terrors, aber sage nichts über die Täter. Die nationale Kommision für die Ver­schwundenen CONADEP wur­de 1983 von der Regierung Al­fonsín eingerichtet.
In den 80er Jahren spalteten sich an der Frage des Umgangs mit der Vergangenheit durch die Alfonsín-Regierung auch die Ma­dres. Eine Linie, die “Grün­der­innen” (Línea Fundadora), sah es als durchaus legitim an, die vom Staat er­kämpften Zu­ge­ständnisse zu ak­zeptieren. Be­son­ders um die Fragen, ob Ent­schädigungen ak­zeptiert werden sol­len oder nicht, ob Aus­gra­bungen und die Identi­fikation der Leichen zugelassen werden sol­len, ob Verhandlun­gen mit der Re­gierung Sinn ma­chen, ent­brannte der Streit. Ei­nige mein­ten, daß das eine indi­viduelle Ent­scheidung sein müsse, Ent­schä­digungen und Ausgrabungen zu befürworten. Andere argu­men­tierten, daß erst die Täter be­nannt und verurteilt werden müß­ten. Die Annahme von Geld und die Untersuchung der Über­reste gehe darüber hin­weg und ak­zeptiere Tatsachen.
Ein schmerzhafter Prozeß be­gann, der schließlich zur Tren­nung der Mütter in zwei ver­schie­dene Organisationen führte. Auf der einen Seite die Línea Fundadora, die Gründerinnen, die individuelle Entscheidungs­mög­lichkeiten offen lassen wol­len. Auf der anderen Seite dieje­nigen mit der unnachgiebigen Po­sition in der Asociación Ma­dres de Plaza de Mayo um Hebe de Bonafini, die öffentlich prä­senter und in der Regel als Madres bekannt sind.
Auch die Großmütter der Kin­der von Verschwundenen, die Abue­las de Plaza de Mayo, hat­ten sich organisiert. Viele Ge­fangene hatten kleine Kinder oder waren gar schwanger und ge­baren vor ihrer Ermordung. In vie­len Fällen adoptierten Militärs die Säuglinge. Auch andere Fa­mi­lienmitglieder schlossen sich in den 80er Jahren zusammen, um für die Aufklärung des Schick­sals ihrer verschwundenen Ver­wandten zu kämpfen.
Die Mütter sind heute ein Sym­bol für Menschenrechte in al­ler Welt. Sie selbst sind natür­lich alt geworden. Ihre Kinder wa­ren damals Mitte/Ende der 70er Jahre selbst mindestens 15 Jahre alt. Hebe de Bonafini ist zweifellos der politische und in­tel­lektuelle Kopf der Madres. Zwei Söhne und eine Schwie­ger­tochter von ihr sind “ver­schwunden”, und sie sagt von sich, daß sie durch den Verlust ihrer Kinder erst geboren wurde. Erst damals sei sie politi­siert wor­den und trage die politi­schen Überzeugungen ihrer Kin­der wei­ter.
Die Madres der Asociación ha­ben ein politischeres Ver­ständnis von Geschichte, wäh­rend die Gründerinnenlinie sich eher als “klassische” Menschen­rechtsgruppe versteht und ihre le­gitimen Rechte einklagt. Die Müt­ter der Asociación kämpfen nicht nur gegen das Vergessen, sondern gegen einen gesell­schaftlichen Zustand, der das Ver­gessen zuläßt. Gegen die stän­dige subtile Drohung, daß end­lich Ruhe einkehren müsse, um die Mörder nicht wieder zu pro­vozieren. Sie spielen im Kampf gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit neolibera­ler Politik und des globalen Mark­tes, denen sich offenbar al­les zu unterwerfen hat, eine wichtige Rolle. Sie beziehen sich wie viele andere Gruppen auch auf die kollektiven Erfahrungen, die zu Beginn der 70er Jahre ge­macht wurden: Daß nämlich eine breite Politisierung und de­mo­kratische Organisierung die herr­schen­den Strukturen durch­aus in Frage stellen können. Diese Mög­lichkeit, die in Zeiten großer Mobilisierungen und umfassen­der Lernprozesse besteht, mußte physisch vernichtet werden. Das war die Essenz des Militärput­sches von 1976.
Aber an einer Erfahrung kom­men auch die Madres nicht vor­bei: Daß nämlich nicht nur sie al­lein aufgrund ihrer Erfah­rungen die politischen Strategien und Kampfformen bestimmen kön­nen, daß sie nicht allein fest­legen können, was Radikali­tät in Zei­ten des Neoliberalismus heißt.

Zwischen Instrumentali­sierung und Selbstisolierung

Das Dilemma zwischen der po­li­tischen Bedeutung der Ma­dres und der Unnachgiebig­keit ihrer Positionen wurde zum 20. Jahrestag des Putsches of­fenbar. Der 24. März 1996 fiel auf einen Sonntag und ein breites Bündnis von über 200 politi­schen, so­zialen und Menschen­rechts­grup­pen, von linken Par­teien und un­abhängigen Gewerk­schaften rief zu einer Kundge­bung auf, an der über 100.000 Menschen auf der Plaza de Mayo teilnahmen. Die Madres der Asociación be­setzten bereits am Donnerstag vorher den Platz und ver­an­stalteten eine dreitägige Mani­festation. Zum abschlie­ßenden Rockkonzert Samsta­gnacht ka­men ähnlich viele und junge Menschen, die größtenteils auch am Sonntag wieder da wa­ren. Sam­stagnacht hielt die Prä­si­dentin Hebe de Bonafini eine mit­reißende Rede gegen das Ver­gessen und gegen die Art der Auf­arbeitung der Vergangenheit. Am Sonntag da­gegen war die Aso­ciación nicht unter den auf­rufenden Gruppen zur Großde­mon­stration. Das po­litische Spek­trum sei ihnen zu breit ge­wesen, viele aufrufende Gruppen wür­den sich nur pro forma an­hän­gen und hätten an­sonsten keine radikale Position in Sachen Menschenrechte. Die anderen Frau­en der Plaza de Mayo, die Müt­ter der Gründer­innenlinie, die Großmütter, die Familienan­gehörigen, sie alle riefen mit auf. Und: Kaum je­mand hat es be­merkt. Fast alle wähnten die Müt­ter der Asocia­ción dabei, nah­men deren Selbstisolierung nicht wahr.

Gegen die Vereinnahmung

Manche schieben diese Art der Politik auf die ziemlich re­so­lute Hebe de Bonafini, andere auf die Enttäuschung über die Ent­wicklungen in den letzten zehn Jahren. Das Dilemma be­steht aber auch darin, daß die Madres sich immer wieder gegen Versu­che der Vereinnahmung und In­stru­mentalisierung wehren mußten. Eine der weltweit be­kanntesten und integersten Men­schenrechtsgruppen, mit der sich die Mächtigen gerne mal publi­kumswirksam ablichten lassen und das Wort Menschenrechte im Mund führen. Aber, so die Kri­tik vieler, Bündnisse führen ja nicht zur Aufgabe der eigenen politischen Positionen.
Menschenrechtspolitik ist in der Tat nicht gleich Menschen­rechts­politik. Wenn die Mütter bis heute Aparición con Vida (etwa: Sie sollen lebend zurück­kommen) auf dem großen Trans­parent bei Demonstrationen vor sich hertragen, dann bedeutet das vor allem die Infragestellung “des Systems”. Das System, das nicht nur in einer bestimmten Zeit gefoltert und gemordet hat, sondern das heute mit anderen Mit­teln Menschen tötet, das Hun­ger und Armut vor allem bei Kin­dern erzeugt – wogegen schon die eigenen Kinder der Madres gekämpft haben – hängt mit der grundlegenden sozialen und politischen Verfaßtheit Ar­gentiniens und der Welt zusam­men. Das ist die Botschaft. Und politisch folgt daraus, Wider­stand dagegen zu organisieren. Deshalb akzeptieren die Mütter der Asociación vom “System” we­der Entschädigungen, noch Ver­handlungen mit der Regie­rung, weder Ausgrabungen der Lei­chen zu ihrer Identifikation, noch die Begnadigung der Mili­tärs.
Die kämpferischen Mütter werden nicht so schnell zur Ge­schichte gehören, sondern wei­terhin einen schmerzenden Sta­chel der Vergangenheit im heuti­gen Argentinien bilden. Doch wenn Radikalität den Blick für Bündnisse und demokratische Politik verliert, stellt sich sie sich selbst in Frage. Die Mütter ver­schen­ken damit vielleicht eine wich­tige Rolle, indem sie sich zu stark von Bündnissen ausschlie­ßen und zu sehr von anderen Grup­pen die Übernahme ihrer Positionen for­dern. Ihre politi­sche Unnach­giebigkeit verstehen auch viele der­jenigen nicht, die sich den Müt­tern solidarisch ver­bunden fühlen. Ob die Madres um Hebe de Bonafini solch einen Lernpro­zeß nochmal durchma­chen wer­den, ist fraglich. Was jedoch den Re­spekt vor dem zwanzigjähri­gen Kampf mit ei­nem sehr radi­kalen Verständnis von Men­schen­rechten nicht min­dern sollte.

Die Kinder der Verschwundenen

Warum habt ihr H.I.J.O.S. ge­gründet und ar­beitet nicht in ei­ner der bestehenden Men­schen­rechtsorganisationen mit?

Nach einer Reihe von Ge­denk­veranstaltungen für “Ver­schwun­dene” unter der Mili­tär­diktatur gab es Ostern 1995 von der Stadt La Plata aus die In­iti­ative zur Gründung von H.I.J.O.S. Derzeit gibt es un­gefähr 15 Regionalgruppen und da­rin sind über 1.000 Leute or­ganisiert, in Buenos Aires-Stadt kom­men zu den Treffen zwi­schen 70 und 100 Leu­ten. Einige von uns haben bei anderen Men­schen­rechts­gruppen mitgemacht.
Ich bin in Kuba aufgewachsen, nach­dem wir in den 70er Jahren flüch­ten mußten. 1993 kam ich zu­rück nach Argentinien und ar­bei­tete bei den Madres mit. Aber vie­le der Kinder von Ver­schwun­den­en machen nichts, und so ver­suchen wir, eine Art politischen Kri­stal­lisationspunkt zu schaf­fen. Bei H.I.J.O.S. arbeiten Kin­der von Ermordeten, Ver­schwun­denen, politischen Gefan­ge­nen und Exilierten während der letz­ten Militär­dik­tatur mit. [siehe LN 262] Die mei­sten sind so um die 20 Jahre und ha­ben wenig politische Er­fah­rung.

Wie geht das zusammen und welches sind eure Schwer­punkte?

Wir sind in der Tat sehr hete­ro­gen. Das ist ein Vorteil, denn da­mit haben wir ein breites Spek­trum an politischen Per­spek­tiven und Meinungen. Aber gleich­zeitig ist es auch ein Nach­teil, denn viele Themen können nicht vertieft werden. Zur Zeit sind wir in einer Phase, in der wir sehr intensiv ver­schiedene Din­ge diskutieren und ver­suchen, Min­destkonsense zu er­ar­beiten.
Im vergangenen Jahr ging es angesichts des 20. Jahr­es­tages des Militärputsches vor al­lem um die Geschichte und de­ren Interpretation, um die Auf­ar­beitung der Kämpfe in den 70er Jah­ren und die damaligen po­li­tischen Einschätzungen und Per­spektiven, aber auch darum, was in den 80er Jah­ren geschah: die Straf­freiheit für die Mörder, die von der Regierung verordnete Ver­söhnung und an­de­res. In jüng­ster Zeit geht es uns stärker da­rum, die aktuelle Situation der Men­schenrechte in Ar­gen­tinien in den Mittelpunkt der Arbeit zu stel­len: Das Verhalten der Po­lizei, vor allem die zuneh­men­den Razzien, das Thema der poli­ti­schen Ge­fan­genen, die staatliche Re­pression, die Situation in Ar­men­vierteln und anderes. Auch das hat etwas mit der Geschichte und ihrer gegenwärtigen Be­hand­lung zu tun.

Wie arbeitet ihr politisch in der Öffentlichkeit?

Nun, im letzten Jahr haben wir sehr viele Ge­denkfeiern für ge­fallene Compañeros der Mi­li­tär­diktatur veranstaltet. Wir be­su­chen sehr viele Schulen und spre­chen mit den SchülerInnen über die jüngste Geschichte. Ei­ne Komission kümmert sich um Kin­der von Verschwundenen, die nach der Ge­burt ihren Eltern weg­genommen und häufig von Mi­litärs angeeignet wurden. Wir ma­chen eine Zeitung, Kam­pag­nen gegen konkrete Leute unter dem Titel “Die Mörder laufen durch die Straßen” oder “Die Mör­der sind Teil der Regierung”.

Wie ist das Verhältnis von H.I.J.O.S. zu den anderen Or­ga­nisationen wie den Madres der Asociación und Línea Fun­dadora, den Fami­li­en­mit­glie­dern (sog. Familiares) und den Groß­müttern (Abuelas de Plaza de Mayo)?

Mit dem Wachsen von H.I.J.O.S. nehmen auch die Span­nungen zu. Wir wollen mit al­len zusam­menarbeiten, und das ist angesichts der Heteroge­nität von uns selbst schon schwierig, da wir natür­lich einzelne Prä­fe­renzen für die eine oder andere be­stehende Organisation haben. Die Frage der Men­schen­rechts­ar­beit ist in Argentinien ziemlich kom­pliziert, und wir wollen of­fen bleiben – und den Kampf um Men­schenrechte auch nicht auf ei­ne Art und Weise festlegen.

Mein Eindruck ist, daß es Hof­fnungen gibt, H.I.J.O.S kön­nte den Madres als wichtige Men­schenrechtsgruppe folgen?

Ja, das glaube ich auch. Aber da müssen wir noch viel lernen. Wenn wir bestimmte Traditionen auf­nehmen, müssen wir gleich­zeitig viele Fehler korrigieren. Es gab z.B. zu viel internen Streit und Spaltungen in der ar­gen­ti­ni­schen Menschenrechts­bewegung.

Was gilt es heute für dich aus den sozialrevolu­tionären Käm­pfen der 70er Jahre in Argen­tinien zu lernen?

Mei­ne persönliche Meinung, nicht die von H.I.J.O.S. ist, daß wir von den bewaffneten Käm­pfen in den 70er Jahren lernen müs­sen, vor allem aber von den brei­ten Volksmobilisierungen und -kämpfen. Seit Ende der 60er Jahre gab es diese breiten Mo­bi­lisierungen, die sogenannte Neue Linke, und es entstanden auch bewaffnete Grup­pen. In die­ser Zeit hatte die dominante Klas­se wie nie zuvor in der argen­tinischen Geschichte Legi­ti­mi­tätprobleme und Schwierig­kei­ten ihre Projekte durch­zu­setzen. Diese Probleme sind auch der Grund für den Mili­tärstreich. Bis heute wurde die po­litische und wirtschaftliche Macht nie mehr auf diese Art und Weise in Frage gestellt. Wir kön­nen also viel lernen, was Werte, Denkweisen und an­de­res be­trifft. Aber wir müssen auch kri­tisch blei­ben und fragen, was zu der damaligen Niederlage ge­führt hat. Dafür ist es wichtig, die Geschichte auf­zuarbeiten – die des Landes und die der ra­di­ka­len Linken.

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