Wahlvorbereitungen: Der Kandidat sitzt im Gefängnis

Täglich steht Ex-General Lino Oviedo in allen Schlagzeilen der Zeitungen Paraguays, jedoch in einer Weise, die ihm nicht unbedingt recht sein dürfte. Sah er sich doch schon als nächster Präsident, als er die parteiinternen Vorwahlen im September 1997 gewonnen hatte und sich gegen drei Mitbewerber durchsetzen konnte. Mit seinen markigen Sprüchen im Stile eines Exmilitärs hat er sich jedoch – besonders in den eigenen Reihen – nicht nur Freunde gemacht. Zu seinem Intimfeind wurde Präsident Juan Carlos Wasmosy. Nach langen gegenseitigen Anfeindungen verhängte Wasmosy kurzerhand eine 30tägige Arreststrafe gegen den General im Zwangsruhestand. Nach einem Versteckspiel, mit dem sich Oviedo immer wieder seiner Verhaftung entzog, trat er dann Anfang Dezember tatsächlich seinen Arrest im Hauptquartier der 1. Kavalleriedivision außerhalb der Hauptstadt Asunción an.

Ein General unter Dauerbeschuß

Obwohl Oviedo während des Arrests kaum Kontakte zur Außenwelt hatte, hielten seine Anhänger an ihm fest und führten die Wahlvorbereitungen erfolgreich ohne ihn weiter. Kurz vor Jahresende bestätigte das interne Wahlgericht der Coloradopartei den Nominierungsanspruch Oviedos als Präsidentschaftskandidaten und lehnte damit den Antrag von Luis María Argaña, dem Führer der Coloradopartei, ab, die Vorwahlen für nichtig zu erklären. Zu gern wäre Argaña selbst der Präsidentschaftskandidat der Colorados, war er Oviedo doch nur knapp unterlegen, obwohl ihm, Argaña, fast der ganze Parteiapparat zur Verfügung stand.
Die parteiinternen Gegner Oviedos zogen nun alle Register, um den General für amtsunfähig erklären zu lassen. In einer regelrechten Kampagne wurde ein Gerichtsverfahren nach dem anderen gegen ihn eröffnet. Sollte er auch nur in einer Klage für schuldig befunden werden, wird er nach paraguayischem Wahlrecht amtsunfähig und darf nicht für ein Amt kandidieren. In einem der Verfahren wird Oviedo durch zwei Abgeordete unrechtmäßige Bereicherung vorgeworfen. Da aber keine konkreten Beweise vorliegen, dürfte ihm diese Klage kaum Kopfzerbrechen bereiten.
Eine böse Überraschung für Oviedo war jedoch, daß er nach seiner 30tägigen Arrestzeit am 11. Januar nicht entlassen wurde. Ein außerordentliches Militärtribunal verfügte seine unbefristete Inhaftierung und eröffnete gleichzeitig mehrere Militärgerichtsverfahren gegen den Ex-General. In einem Verfahren wird ihm wegen des gescheiterten Putschversuchs vom April 1996 gegen Präsident Wasmosy Rebellion vorgeworfen, zum anderen stehen Verstöße gegen das Wahlrecht während seiner aktiven Militärzeit zur Debatte. Aktive Militärs dürfen sich laut Verfassung nicht politisch betätigen. Oviedo war jedoch zu jeder Zeit politisch aktiv. Ein weiterer Vorwurf richtet sich gegen den überteuerten Kauf von Hubschraubern für die Antidrogeneinheiten des Landes, für den er verantwortlich war.

Deutscher Giftmüll in Paraguay

Eine ganz andere Dimension hat die gerichtliche Untersuchung über Oviedos Verwicklungen in einen Giftmüllskandal. Ein Journalist deckte die Korrespondenz zwischen dem General und dem damaligen paraguayischen Botschafter in Deutschland auf, in dem es um die Versendung von deutschem Giftmüll nach Paraguay ging, auf die Greenpeace schon seit längerem hingewiesen hatte. Inzwischen wurden zwei Lagerstätten im Zolldepot von Asunción und im Chaco gefunden, wo sich bereits seit einigen Jahren 638 Fässer mit belasteten Materialien befinden. Die Absenderfirma Agrocome war fingiert. Es scheint festzustehen, daß Oviedo dank der Mithilfe paraguayischer Diplomaten einer der Hauptnutznießer der Giftmüllimporte war. In diesem Fall werden sich die Untersuchungen noch über längere Zeit hinziehen.
Zum Leidwesen von Präsident Wasmosy und Parteichef Argaña gingen die Untersuchungen gegen Oviedo nur außerordentlich langsam und kompliziert voran. Die Anwälte Oviedos versuchten, eine Freilassung zu erreichen, indem sie sich auf „habeas corpus“ beriefen, jenen Rechtsgrundsatz, der Inhaftierung ohne richterlichen Haftbefehl verbietet. Das schlug fehl. Das Oberste Gericht wies die vorläufige Freilassung zurück, und ein Richter, der sie angeordnet hatte, wurde wegen Überschreitung der Amtsbefugnisse zurechtgewiesen. Auch die Militärs widersetzten sich einer möglichen Freilassung Oviedos und ließen die Muskeln spielen. Rein ‘routinemäßig’ rollten Panzer durch die Stadt, und Militärflugzeuge hielten Flugmanöver ab. Putschgerüchte wurden sofort dementiert.

Zehn Jahre für Oviedo

Am 3. März verkündete das Militärtribunal sein Urteil. Ex-General Oviedo wurde der Rebellion für schuldig befunden und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil wurde nur vier Tage nach seiner offiziellen Registrierung als Präsidentschaftskandidat der Coloradopartei verkündet. Die Führung der Colorados um Argaña begrüßte die Entscheidung und leitete sofort notwendige Schritte ein, um Oviedo als offiziellen Kandidaten zu ersetzen. Zur allgemeinen Überraschung kam es daraufhin zum politischen Schulterschluß zwischen den beiden Erzfeinden Wasmosy und Argaña. Gerade Argaña, der während der gesamten Regierungszeit von Wasmosy mit seinen Anhängern im Parlament in politischer Opposition zum Präsidenten stand, vollzog eine Wende. Beide versuchen nun, ein neues Kandidatenpaar ins Spiel zu bringen. Neuer Präsidentschaftskandidat soll Raúl Cubas Grau werden, der bereits als Vizepräsident von Oviedo nominiert war. Der neue Vizepräsidentschaftsanwärter soll, welche Überraschung, Luis María Argaña selbst sein. Doch das Oberste Wahltribunal wies eine provisorische Anmeldung dieses Kandidatenpaares mit der Begründung zurück, daß noch die Wahlformel Oviedo-Cubas gelte. Um das politische Verwirrspiel noch zu verstärken, setzte der Oberste Gerichtshof die zehnjährige Gefängnisstrafe gegen Oviedo aus und prüft gegenwärtig die Rechtmäßigkeit des Urteils des Militärtribunals. Es wird von zahlreichen als unabhängig geltenden in- und ausländischen Rechtswissenschaftlern bezweifelt, ob ein Militärtribunal überhaupt für ehemalige Militärs zuständig und das Urteil somit rechtsfähig ist. Die Überprüfung der Beweise und die mögliche Übergabe des Falles an ein Zivilgericht mit möglicher Verurteilung aus dem gleichen Grund steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Oberste Gericht will seine Entscheidung auf jeden Fall noch vor den geplanten Wahlen bekanntgeben. Aber genau da liegt für die Colorados das Problem. Möglicherweise stehen sie kurz vor der Wahl ohne Kandidaten da.

Fällt der 10. Mai aus?

In ihrer Zerstrittenheit sehen sich die Colorados plötzlich der Gefahr gegenüber, die Macht im Land zu verlieren. Das Wahlgesetz sieht nicht vor, einen Reservekandidaten beim Obersten Wahltribunal anzumelden, und die Anmeldefristen sind fast verstrichen. Während Argaña strikt für eine Verschiebung des Wahltermins um 60 Tage ist, windet sich Wasmosy noch. Einerseits will er am Wahltermin und an der geplanten Amtsübergabe am 15. August festhalten, andererseits will er nicht, daß allein die geeinten Oppositionsparteien zur Wahl antreten und somit schon gewonnen hätten. Deshalb werden nochmals alle Register gezogen, um die Wahlen vielleicht doch noch auf mehr oder weniger legale Weise zu verschieben. Eine Anrufung des Obersten Gerichtshofes hat bereits eine Abfuhr eingebracht. Laut dem Präsidenten des höchsten Justizorganes des Landes, Raúl Sapena Brugada, besteht keine verfassungsmäßige Grundlage zur Verschiebung des Wahltermins, wenn eine Partei Probleme mit ihren Kandidaten hat. Auch Unregelmäßigkeiten in den Vorwahlen der Parteien sind nicht Sache des Obersten Gerichts, sondern parteiinterne Angelegenheiten. Schließlich versuchten die Colorados eine Verschiebung des Wahltermins zu erzwingen, indem sie Unregelmäßigkeiten im Wahlregister beklagten. Aber auch dieser Versuch scheiterte gründlich, denn die Vorwürfe erwiesen sich als fingiert und unwahr. Eine Technikergruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) reiste eigens an, um das neuerstellte beziehungsweise überarbeitete Wahlregister Paraguays unter die Lupe zu nehmen, und bescheinigte Paraguay, nach Puerto Rico das derzeit zweitbeste Register in Lateinamerika zu besitzen. Mögliche Unstimmigkeiten bei Adressenangaben von Wählern liegen bei unter 0,2 Prozent. Außerdem besteht noch die Möglichkeit, daß Parteien Einzelbeanstandungen zu Wählerangaben vorbringen. Ein letzter Versuch der Verlegung des Wahltermins richtet sich jetzt gegen die Zentrale Wahlkommission selbst. Mitglieder der Kommission werden persönlich angegriffen mit dem Vorwurf, die Oppositionsparteien zu unterstützen. Die Hoffnung, daß das Oberste Gericht doch noch eine Verschiebung der Wahlen anordnet, begründen sich nur noch auf die vage Illusion, daß die parteiinternen Wahlen sowohl der Colorados als auch der Opposition wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt werden müssen. Weiterhin ist durchgesickert, daß im Präsidialamt darüber diskutiert wurde, die Wahlen auszusetzen und entweder eine provisorische Militärjunta oder das Oberste Gericht mit der Führung des Landes bis zur Neuwahl zu beauftragen. Für den 26. April haben die Colorados einen Sonderparteitag einberufen, einziger Tagespunkt: die Wahlen.
Mit ihrer Forderung nach Verschiebung der Wahlen stehen die Colorados allein da, denn die Opposition ist strikt gegen einen neuen Termin. Die Präsidentschaftskandidaten des oppositionellen Wahlbündnisses Alianza Democrática, Domingo Laino und Carlos Filizzola, weigern sich inzwischen, über eine Verschiebung zu sprechen. Die katholische Kirche versuchte in dieser Diskussion zwischen den Parteien zu vermitteln, startete vor einigen Tagen jedoch eine Kampagne unter dem Motto ‘En mayo vamos a votar’ – Im Mai gehen wir wählen. Laut Umfragen sind 87 Prozent der Bevölkerung für Wahlen am 10. Mai. Heftige Proteste gegen eine mögliche Wahlverschiebung kamen auch aus dem Ausland. Argentinien, Brasilien, die OAS, die USA und das Europäische Parlament protestierten energisch gegen eine mögliche Verschiebung, weil sie darin eine Gefahr für den demokratischen Prozeß im Lande sehen. Brasilien drohte sogar mit dem Ausschluß Paraguays aus dem Mercosur mit Verweis auf die in das Vertragswerk eingebaute Demokratieklausel.

Stroessner läßt grüßen

Daß diese Warnungen nicht unbegründet sind, zeigt sich an den Drohgebärden, die zunehmend aus den Reihen der Colorados kommen. So wurde in der Parteiführung die Forderung aufgestellt, paramilitärische Gruppen nach dem Vorbild der ‘guardias urbanas’ – ‘Stadtwachen’ aus der Stroessnerzeit zu gründen, um die Interessen der Colorados verteidigen zu können. Gleichzeitig sollen alle Nichtcolorados aus öffentlichen Ämtern und Staatsbetrieben gedrängt beziehungsweise entlassen werden, wozu die verbleibende Zeit der WasmosyRegierung genutzt werden soll. Während der Stroessnerdiktatur durften nur Coloradomitglieder für den Staat arbeiten. Entsprechende Petitionen liegen beispielsweise von der Frauenorganisation der Colorados vor. Die Kirche und die Oppositionsparteien wiesen einen solchen Rückfall in die Diktatur und den Autoritarismus strikt zurück. Das Parlament beschloß eine Gesetzesvorlage, die die Parteienwerbung in öffentlichen Einrichtungen verbietet. Übrigens nutzte Exdiktator Stroessner das politische Klima, um eine Erlaubnis zur Rückkehr aus dem brasilianischen Exil zu erhalten. Laut der brasilianischen Zeitschrift Veja hat sich General Oviedo dafür ausgesprochen.

Wahlvorbereitung läuft planmäßig

In Paraguay herrscht gegenwärtig die paradoxe Situation, daß einerseits die rein technischen Vorbereitungen der Wahlen planmäßig laufen, wie die Zentrale Wahlkommission bestätigt, andererseits der politische Wahlkampf durch die Parteien bisher eher verhalten geführt wurde. Die Coloradopartei kann wohl kaum Wahlkampf führen mit einem Kandidaten, der vielleicht nicht antreten kann und mit einem anderen, der noch nicht darf. Aber auch die Opposition hält sich eher zurück, um die Wahlkampfressourcen nicht übermäßig zu strapazieren, falls der Termin doch noch platzt. Obwohl die Opposition im Kampf um die Präsidentschaft zum ersten Mal mit einem gemeinsamen Kandidatenpaar auftritt, ist ihnen der Sieg bei weitem nicht sicher. Zum einen ist die Zugehörigkeit zur herrschenden Coloradopartei über mehrere Generationen insbesondere in den ländlichen Gegenden tief verwurzelt, und zum anderen hat sich das Erscheinungsbild von General Oviedo in der Öffentlichkeit gewandelt. Er wird zunehmend als Opfer der juristischen Willkür und standhafter Kämpfer betrachtet, der von der eigenen Parteiführung verraten wurde. Das schafft ihm Sympathien. Nach verschiedenen Meinungsumfragen lag Oviedo lange Zeit mit rund 45 Prozent der Stimmen deutlich vor Laino und Filizzola mit 37 Prozent. Erst eine Umfrage vom 21. März zeigte einen hauchdünnen Vorsprung von Laino. Anders sieht es bei dem Zwei-Kammern-Parlament aus. Hier ist der Vorsprung der Opposition recht deutlich. Allerdings sind alle Umfragen aufgrund der geringen Anzahl der Befragten und auch der hohen Quote an unentschiedenen Wählern mit Vorsicht zu betrachten. Sollte General Oviedo seinen Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur doch noch verlieren, würde das Oppositionsbündnis Alianza Democrática, bestehend aus dem Partido Liberal Radical Auténtico (PLRA) und dem Partido Encuentro Nacional (PEN), klarer Nutznießer sein. Denn weder der Vizepräsident der Colorados, Raúl Cubas Grau, noch Luis María Argaña verfügen über Oviedos Beliebtheitsgrad, wie die gleichen Umfragen bewiesen.
Auf jeden Fall ist bereits für den ordnungsgemäßen Wahlablauf und die nötige Transparenz gesorgt. Die OAS kündigte an, 40 Wahlbeobachter nach Paraguay zu entsenden. Auch die Organisation SAKA wurde wieder ins Leben gerufen. Dieser Dachverband besteht aus verschiedenen in- und ausländischen Nichtregierungsorganisationen, die Wahlbeobachter in alle Wahlbüros entsenden will und – wie schon in den vergangenen Wahlen – eine Parallelauszählung vornimmt. Wahlbetrug im großen Stil wird damit kaum möglich sein – unter der Voraussetzung, daß die Wahlen wie vorgesehen stattfinden.

Die etwas andere Geschichte der Guerillas in Kolumbien

Anfang März bewiesen die kolumbianischen Aufständischen wieder einmal Stärke. Ihnen gelang es nicht nur, trotz einer noch nie dagewesenen Militarisierung, die Parlamentswahlen in vielen Regionen zu sabotieren, die FARC fügten der Armee im Süden auch noch die bisher schwerste Niederlage in der kolumbianischen Geschichte zu. Eine ganze 120-köpfige Eliteeinheit von Berufssoldaten wurde im Caquetá aufgerieben. Die Reaktionen von Regierung und Armeespitze waren dementsprechend nervös. Mehrere tausend Soldaten wurden zusätzlich in die Region verlegt, die von der Regierung offensichtlich nicht einmal mehr mit Hilfe von Großoperationen unter Kontrolle zu bringen ist.

Die Wurzeln der bewaffneten Bewegung

Schon über die Entstehung der FARC und der ELN kursieren oft falsche Vorstellungen. Im Gegensatz zu den meisten in den 60er Jahren gegründeten bewaffneten Gruppen bauten die beiden Organisationen nicht vorrangig auf dem nach 1959 von Kuba ausgehenden Fokismus, sondern auf der 200jährigen Geschichte von Bauernaufständen auf, die seit 1792 Kolumbien in regelmäßigen Abständen erschütterten. Wer García Márquez’ „100 Jahre Einsamkeit“ gelesen hat, weiß von den zahllosen Bemühungen des Generals Aureliano Buendía, der sich 17 Mal erhob und immer wieder scheiterte. Diese Aufstände werden, wie auch der Bürgerkrieg 1948, oft als liberal-konservative Konflikte interpretiert. Die kritische Sozialforschung hat sich dagegen immer verwehrt: So wie auch Aureliano Buendía (eine trotz „magischer“ Verfremdung recht reale Person) kämpften die Aufständischen des 19. und 20. Jahrhunderts zwar unter dem Banner der liberalen Partei, aber sie waren keine Parteigänger.
Ihre Rebellion richtete sich vielmehr allgemein gegen die oligarchische Land- und Machtkonzentration. Die Tatsache, daß ihr Widerstand fast immer bewaffnet war, hatte damit zu tun, daß der soziale und politische Protest von der Oberschicht eigentlich immer mit Waffengewalt beantwortet wurde. Obwohl es seit der Unabhängigkeit nur zwei Militärputsche in Kolumbien gab, wurde die Opposition immer in die Illegalität gedrängt.

Die Geschichte der blutigen Massaker

Der erste große Einschnitt im 20. Jahrhundert war das Massaker in den Bananenplantagen 1928 (auch in „Hundert Jahre Einsamkeit“ nachzulesen). Die gesamten 20er Jahre waren von einer Aufbruchsstimmung geprägt, wobei sich die Opposition – neu entstandene Gewerkschaften, Indígena-Gruppen, Frauenbewegung und SozialistInnen – unter dem Dach des Partido Socialista Revolucionario versammelte. Eine interessante Organisation, denn die PSR nahm als „Bewegungspartei“ viel von dem vorweg, was Jahrzehnte später, zum Beispiel in den Diskussionen um die brasilianische PT, wieder eine Rolle spielen sollte.
1928 erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt. Die Streiks griffen wie ein Flächenbrand um sich, und auch auf den Plantagen der United Fruit Company bei Ciénaga an der Karibikküste kam es zum Aufstand. In der Nacht zum 6.Dezember massakrierte die Armee 2000 auf dem Bahnhof friedlich versammelte streikende Familien: Die Toten wurden einfach ins Meer geworfen, die überlebenden Anführer der Bewegung im ganzen Land zu langen Haftstrafen verurteilt. Damit endete die erste sozialrevolutionäre Bewegung des 20. Jahrhunderts.
1948 kam es zum zweiten blutigen Höhepunkt. Am 9. April ließ die konservative Oligarchie den linkspopulistischen Sozialreformer Jorge Eliécer Gaitán, der als Kandidat der Liberalen beste Chancen besaß, neuer Präsident zu werden, in Bogotá ermorden. Die Hauptstadt erhob sich, und im ganzen Land bewaffnete sich die Opposition. Der darauffolgende Bürgerkrieg von 1948-53, der als Violencia in die Geschichte einging, mündete in ein Gemetzel unter der Zivilbevölkerung und kostete rund 250.000 Menschen das Leben. Das Ende des Krieges ist charakteristisch für die Bewältigung sozialer Konflikte in Kolumbien: Die Parteiführungen von Liberalen und Konservativen handelten eine liberale Teilhabe an der Macht aus, die Anführer der bewaffneten Gruppen wurden nach ihrer Demobilisierung einfach ermordet. Somit wurde auch in den 50er Jahren die Erkenntnis bestätigt, daß man mit der kolumbianischen Oberschicht nicht verhandeln kann.
Eine Reihe der in der Violencia entstandenen Bauerngruppen, vor allem solche, die politisch von der KP beeinflußt worden waren, verweigerten sich jedoch nach 1953 der Demobilisierung. Diese Gruppen strebten nicht nach einer Machtübernahme, sie waren Selbstschutzmechanismen der ländlichen Bevölkerung und Ausdruck bäuerlicher Selbstverwaltung.
Auf diese Weise bestanden Anfang der 60er Jahre mehrere Repúblicas Independientes, die ihre Autonomie gegenüber dem Zentralstaat durchsetzten . Die wichtigste von ihnen, die im Zentrum des Landes gelegene „Republik von Marquetalia“, wurde 1964 von der Armee brutal zerschlagen, worauf sich verschiedene Selbstverteidigungsgruppen zu den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) zusammenschlossen. Die FARC waren damit alles andere als eine revolutionäre Kadertruppe, im Prinzip agierte sie bis 1990 eher defensiv als militärischer Arm der KP.
Etwas anders gelagert ist der Fall des Ejército de Liberación Nacional (ELN), das ebenfalls 1964 entstand. Obwohl die Organisation von in Kuba ausgebildeten Studenten gegründet wurde, hat auch sie in vieler Hinsicht ihre Wurzeln in den Bauernrevolten der Violencia. Viele combatientes der ersten Generation waren Veteranen der liberalen Guerilla von 1948-53 oder nahe Verwandte von diesen. Wenn die ELN trotz schwerer Niederlagen 34 Jahre überlebte, liegt das zum einen an der hohen moralischen Integrität ihrer comandantes – des Bauern Nicolás Bautista und des spanischen Pfarrers Manuel Pérez –, zum anderen aber an der Tatsache, daß sie, wie die FARC, an einen historischen Widerstand anknüpfte, dessen Radikalität sich aus der sozialen Wirklichkeit ableitete.

Verhandlungsprozesse und schmutziger Krieg

In den 70er Jahren erlebte die kolumbianische Linke eine gewaltige Ausdifferenzierung. Im Verlauf dieses Jahrzehnts bildeten sich 18 maoistische Gruppierungen (darunter viele mit bewaffnetem Arm), mehrere trotzkistische Strömungen und sieben größere Guerillas heraus. Ansonsten aber tat sich relativ wenig. Erst der linksnationalistischen M-19, die sich 1973 in Abgrenzung zu den leninistischen Gruppen gegründet hatte, gelang es mit mehreren spektakulären Guerillaaktionen, in den Städten eine neue Phase einzuläuten. 1979 schien die Guerilla auf einmal wieder eine reale Bedrohung für den Staatsapparat zu werden. Präsident Turbay Ayala versuchte die Entwicklung mit Repression aufzuhalten, aber Anti-Terrorgesetze und systematische Folter brachten keine positiven Ergebnisse – im Gegenteil, vor allem die M-19 wuchs weiterhin.
Daraufhin kam es zu einer dramatischen Wende. Der neue Präsident Belisario Betancur (1982-86) erließ eine Generalamnestie und fädelte Friedensverhandlungen ein, die 1984 in einen Waffenstillstand mit FARC, M-19 und EPL (dem Ejército Popular de Liberación) mündeten; die ELN verweigerte sich damals den Gesprächen. Aber erneut wiederholte sich die Geschichte: Die legalisierten UntergrundkämpferInnen wurden zur Zielscheibe des schmutzigen Krieges. Ab 1983 entstanden unter der Schirmherrschaft der Armee im ganzen Land mehr als 150 paramilitärische Gruppen, die die nun offen auftretende Opposition regelrecht ausmerzte. Dörfer wurden überfallen, Gewerkschafter erschossen, zahlreiche Massaker mit bis zu 50 Toten verübt. Der Waffenstillstand zerbrach 1985, der schmutzige Krieg aber ging weiter.
Allein die sozialistische Wahlkoalition UP verlor 2000 AktivistInnen. Insgesamt kalkuliert man, daß bis zu 20.000 Menschen (Bauern, Gewerkschafter, Straßenkinder etc.) jährlich (!) Opfer von „sozialen Säuberungen“ und Paramilitarismus sind. Das ist weitaus mehr als in Argentinien unter der Militärdiktatur.
Dennoch kam es wenig später erneut zu sogenannten Friedensverhandlungen. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten und interne Krisen hatten die Linke schwer getroffen. Die M-19 war zu einer kleinen, nur noch 300 KämpferInnen zählenden Gruppe zusammengeschrumpft, und die sich am albanischen Sozialismus orientierende (sic!) EPL verfiel in tiefe Selbstzweifel. Die Folge war die bedingungslose Demobilisierung der beiden Organisationen 1990-92. Die höheren Kader integrierten sich in den Staatsapparat, die combatientes mußten sich alleine durchschlagen, zu sozialen Veränderungen kam es nicht. Letztendlich zahlte sich das Abkommen jedoch nicht einmal für alle Guerilla-Führer aus. Der Präsidentschaftskandidat der demobilisierten M-19, Carlos Pizarro, wurde erschossen, die M-19 verwandelte sich in eine kleine politische Partei ohne linke Ansprüche.

Modernisierungsprozeß und neue Konflikte

Es blieben also nur FARC und ELN (sowie eine kleine Abspaltung des EPL) übrig, die von der Krise der Linken auf sehr widersprüchliche Weise getroffen wurden. Zum einen erfuhren sie politisch zweifellos eine Schwächung, denn die Regierung Gaviria nutzte die Demobilisierung von M-19 und EPL zu einer Modernisierung des Systems. Mit der Verfassunggebenden Versammlung 1990/91 schien sie die seit langem schwelende politische Krise endlich überwinden zu können.
Noch fataler jedoch als diese Verfassungsreform war für FARC und ELN der Zerfall der legalen Opposition. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der sandinistischen Wahlniederlage machte sich Orientierungslosigkeit und Skepsis breit; zudem hatte der schmutzige Krieg die Linke völlig ausgeblutet. So lösten sich die politischen Massenorganisationen UP, A Luchar und Frente Popular auf, die Gewerkschaften verloren an Bedeutung, die Koordination der StadtteilbewohnerInnen CNMC und der BäuerInnen-Verband ANUC waren nicht mehr in der Lage, die Bevölkerung zu mobilisieren.
Damit erschien die Guerilla auf einmal als rein militärisches Projekt – eine verständlicherweise wenig überzeugende Option. Interessanterweise gingen die politischen Probleme von FARC und ELN mit einem beachtlichen personellen und militärischen Wachstum einher. Im Land existiert heute die absurde Situation, daß politisierte Jugendliche eher in die Berge gehen, als einer Gewerkschaft beizutreten – das Risiko ermordet zu werden, ist in der Guerilla geringer. So zählen die beiden Organisationen heute zusammen über 150 Fronten oder Frontprojekte und sind nach Regierungsangaben in fast 600 der 1000 Munizipien präsent. In einem allerdings gering bevölkerten Drittel des Landes üben sie die Funktion einer klandestinen Gegen-Administration aus. Sie sind in der Lage, das Land wochenlang mit ihren Aktionen lahmzulegen und sind in den unmittelbaren Vororten Bogotás und Medellín aktiv.

Selbsterhaltung, Friedensprozeß oder Revolution?

Es klingt unzeitgemäß, aber FARC und ELN streben einen politischen Umsturz an – und dies in gewisser Weise sogar kompromißloser als früher. Seit der strategischen Wende der FARC 1991/92, die bis dahin mehr oder weniger als Instrument der KP agierte und auf eine Verhandlungslösung abzielte, operiert die Guerilla immer offensiver. Daß es dazu kam, hat mit zwei Ereignissen zu tun: Zum einen starb 1991 der comandante Jacobo Arenas, der als der Mann der KP in den FARC galt (an altersbedingten Herzproblemen – auch eine „macondianische“ Biographie); zum anderen jedoch beging die Regierung Gaviria den idiotischen Fehler, ausgerechnet während einer Dialogrunde in Mexiko das mehr oder weniger offizielle Hauptquartier der FARC in La Uribe/ Meta anzugreifen. Die großangelegte Operation war wie ein Tritt in den Ameisenhaufen. Die FARC-comandantes teilten sich in dezentrale Gruppen auf und verlegten die in La Uribe konzentrierten Fronten in die Nähe der Hauptstadt. Damit begann das strategische Projekt „Einkreisung Bogotás“. Seit 1992 ist es keine Seltenheit mehr, daß die FARC 20 bis 30 Kilometer vor der Hauptstadt gelegene Städte besetzt.
Ganz offensichtlich schenkt die FARC den Wahl- und Verhandlungsstrategien keine Bedeutung für eine Konfliktlösung mehr. Das Bündnis mit der KP und UP ist aufgekündigt; Verhandlungen mit der Regierung wollen die FARC wie auch die ELN nur noch über punktuelle Fragen (wie die Nationalisierung der Bodenschätze), aber nicht mehr über eine generelle Demobilisierung führen. Außerdem arbeitet die FARC am Aufbau einer klandestinen Massenbewegung. Das Movimiento Político Clandestino Bolivariano soll dazu beitragen, den sozialen Protest der Bevölkerung auf die Straße zu bringen, ohne sich mit wahltaktischen Fragen (wie im Fall der UP) selbst zu behindern.
Insofern ist in Kolumbien eine Situation eingetreten, die in ihrer Brisanz nur mit der Mexikos zu vergleichen ist. Die Guerillaorganisationen, die an einem Sozialismus mit Poder Popular festhalten, die neoliberale Wirtschaftspolitik sabotieren und die Erdöl- und Kohle-Multis aus dem Land werfen wollen, befinden sich in einer paradoxen Situation. Zum einen wissen sie, daß der kolumbianische Konflikt keine militärische Lösung zuläßt; zum anderen ist ihnen aber auch klar, daß die staatliche Repression der politischen und sozialen Opposition keinerlei Spielräume bietet. Der Paramilitarismus breitet sich rasant aus. Es gibt kaum noch Gegenden, in der die parastaatlichen Terrorgruppen nicht aktiv wären. In einem Drittel des Landes, darunter die strategisch und ökonomisch wichtigen Regionen Urabá (Bananenexport, Kanaloption) und Magdalena Medio (Erdöl, Viehzucht) üben sie gemeinsam mit der Armee eine brutale Kontrolle aus. Bereits 1,8 Millionen KolumbianerInnen sind vor ihnen und dem Krieg in die Städte geflohen. Was droht, ist ein Bürgerkrieg von den Ausmaßen der Violencia.
In diesem Zusammenhang ist das Interesse der Guerilla zu sehen, über konkrete Regelungen mit der Regierung zu verhandeln. Es geht nicht um eine Demobiliserung, sondern um punktuelle Vereinbarungen: Einhaltung der Genfer Menschenrechtskonventionen, Schutz der Zivilbevölkerung und der legalen Opposition, Demobilisierung der Paramilitärs, Nationalisierung der Bodenschätze, Stop der Privatisierungen und Wiedereinführung von Arbeits- und Kündigungsschutzgesetzen.

Der schlechte Ruf der Guerilla

Politsch sind ELN und FARC durchaus auf der Höhe der Zeit – zumindest nicht weniger als die Linke anderswo auf der Welt. Sie suchen durchaus, wenn auch manchmal etwas unbeholfen, die Kommunikation mit dem Rest der Gesellschaft, fördern Selbstverwaltungsstrukturen und begreifen anders als die superrevolutionäre Linke der 70er Jahre die Notwendigkeit sofortiger Reformen. Wenn sie dennoch einen so schlechten Ruf haben („Narcoguerilla“, „stalinistisch“, „kriminell“ etc.), hat das wenig mit eigenen Fehlern zu tun. Natürlich gibt es in Kolumbien (wie in der FMLN und FSLN) Militarismus und Autoritarismus von links. Das ist anzugreifen, aber bei einer Militarisierung des Konflikts, wie er von der kolumbianischen Oberschicht in den letzten 50 Jahren betrieben wurde, nicht besonders verwunderlich. Mit den Organisationsführungen und -positionen hat das auf jeden Fall wenig zu tun. In der ELN forciert man schon seit 15 Jahren die innerorganisatorische Demokratie, die für eine Armee (mit Ausnahme der EZLN) wohl ziemlich einzigartig sein dürfte.
Viel wesentlicher für das schlechte Bild ist die permanente Desinformationskampagne in den Medien: Seit 1985 gibt es praktisch kein Massaker mehr, das nicht zunächst den Aufständischen in die Schuhe geschoben wird, und wenn, wie beim Überfall auf Segovia, dem Mord an zehn Justizbeamten in La Rochela oder dem Massaker an den Bananenarbeitern in Urabá, zehn Jahre später die Beteiligung von hochrangigen Militärs wie dem General Farouk Yanine Díaz nachgewiesen wird, dann interessiert das natürlich niemanden mehr.
Ein weiteres Mittel ist die Strategie, die Aufständischen in den internationalen Medien als „kriminelle Narco-Guerilla“ zu stigmatisieren. Dabei werden vor allem Entführungen und Verbindungen zum Drogenhandel aufgeführt. Ein genauerer Blick macht jedoch auch dieses Argument zunichte: Was die Entführungen von ausländischen Technikern und Großgrundbesitzern angeht, bewegen sich diese auf der gleichen Ebene wie Haftstrafen für Steuerbetrüger in einem bürgerlichen Rechtsstaat, denn die Guerilla übt in vielen Regionen de facto Regierungsfunktionen aus, und treibt daher Steuern ein. Man muß begreifen, daß es sich bei der kolumbianischen Guerilla nicht um eine privat agierende Minitruppe, sondern um eine aufständische Gegenautorität handelt. Wer sich über diese Entführungen empört, darf über staatliche Gefängnisse nicht schweigen.
Und auch hinsichtlich ihrer Drogenpolitik hat sich die Guerilla nicht viel vorzuwerfen: die ELN lehnt den Coca-Anbau völlig ab und hat in Bolívar dieses Jahr ein ehrgeiziges Projekt der Substitution bis zum Jahre 2003 begonnen. Die FARC hingegen setzen die Abnahmepreise fest und kassieren von den Einkäufern Steuern. Das hat zwar die Beziehungen mit der ELN bis an den Rand eines offenen Bruchs belastet, aber den Bauern im Süden des Landes ein Mindesteinkommen garantiert. Verglichen mit der Verwicklung der Samper-Administration in die Geschäfte des Cali-Kartells ist diese Politik sowieso nur ein lächerliches Vergehen. Es ist im übrigen ganz erhellend zu wissen, daß der Begriff der „Narco-Guerilla“ in den 80ern vom damaligen US-Botschafter Lewis Tambs kreiert wurde, dem wenig später selbst Verwicklungen mit dem Drogenhandel nachgesagt wurden.
So gesehen ist das Image der kolumbianischen Aufstandsbewegung eindeutig erneuerungsbedürftig. Während die kolumbianische Oberschicht seit nun 16 Jahren ungestraft die Landbevölkerung abschlachten läßt, schreiben sich JournalistInnen, die außer den 4-Sterne-Hotels von Bogotá und Cartagena nicht viel von Kolumbien gesehen haben, die Finger über das lukrative Geschäft der Narco-Guerilla wund. So wie es in den 80ern falsch war, FSLN und FMLN unkritisch abzufeiern, ist es heute unmöglich, sich eine Emanzipation Kolumbiens ohne die Guerilla vorzustellen. Man muß nicht gleich in ehrfurchtsvolle Bewunderung verfallen, um die aufständische Bewegung politisch ernstnehmen zu können. Und in diesem Punkt scheint, um mit einer kleinen Gehässigkeit zu schließen, Geheimdienstminister Schmidbauer (aus was für Motiven auch immer) weiter zu sein als so manche/r Lateinamerika-Bewegte.

Faschismus und Nationalsozialismus in Lateinamerika

Zunächst zu der Dissertation Jürgen Müllers. Um die AO in Lateinamerika ranken sich wohlgepflegte Legenden von einer „fünften Kolonne“ des nach Weltmacht strebenden Hitlerdeutschland. Müller zeigt, daß die AO eine untergeordnete Abteilung der NSDAP war und sich in endlosen Querelen mit dem Auswärtigen Amt und parallelen Parteistrukturen zerrieb. Die Überschätzung der AO durch die Kriegsalliierten und ihre Mythologisierung nach 1945 ist durch Müllers faktenreiche Analyse widerlegt.
Die NSDAP verstand sich nicht als nationalstaatliche Institution. Sie wollte die Partei der deutschen „Volksgemeinschaft“ sein und beanspruchte überall dort ein Organisationsrecht, wo deutschstämmige Minderheiten lebten. Deshalb wurde die in regionale Gaue untergliederte NSDAP um einen weiteren, überregionalen Gau – eben die AO – erweitert. Für die Nationalsozialisten galt das Gleichschaltungsgesetz des Deutschen Reiches auf der ganzen Welt. Deshalb machten sich die lateinamerikanischen Landesgruppen der AO daran, alle deutschen Gesangs- und Turnvereine, Jugendgruppen, deutschen Schulen usw. der Partei zu unterstellen. Einige Vereine wehrten sich, und sei es aus purer Dickköpfigkeit. Eine katholische, deutschsprachige Zeitung in Chile brachte das im Rückblick grausig-verwirrende Argument: „Wir wollen nicht die Rolle der Juden in Deutschland spielen“, also nicht durch den Druck einer deutschen Zentrale in die Rolle einer sich absondernden Minderheit geraten. Die deutschen evangelischen Gemeinden in Lateinamerika bekannten sich in ihrer Mehrheit zum Nationalsozialismus (dieses Thema wäre eine eigene Untersuchung wert). Die deutschen Katholiken, die sich am Vatikan orientierten, waren viel zurückhaltender.
Die AO-Landesgruppen beteuerten ihre politische Neutralität und spannten gleichzeitig die „Reichsdeutschen“ (deutsche Staatsbürger) für die Zwecke Hitlerdeutschlands ein, notfalls auch durch Pressionen. Die „Volksdeutschen“ (Deutschstämmige ohne deutsche Staatsbürgerschaft) wurden in den scheinbar unpolitischen und unter der Hand gleichgeschalteten Vereinen organisiert. In der Logik der „Volksgemeinschaft“ war das Nebeneinander von Neutralitätsbeteuerungen und politischer Mobilisierung der im Ausland lebenden Deutschen kein Widerspruch. Für die lateinamerikanischen Länder war es Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Sie witterten deutsche Annexionsabsichten. Das von deutschen Diplomaten blauäugig vorgetragene Argument, die NSDAP sei Staatspartei und habe deshalb auf alles Deutsche hoheitsrechtlichen Anspruch, konnte diesen Verdacht nur bestärken.
Der Nationalsozialismus kam bei den in Lateinamerika lebenden Deutschen meist gut an. Deutschland, so schien es, war aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg herausgerissen. Auch der Antisemitismus fand Resonanz, wurde aber, weitab vom Vernichtungsapparat, zu einer rhetorischen Übung ohne politische Zugkraft. Hier wünscht man sich in Müllers Buch eine klarere Analyse. Gab es im lateinamerikanischen Teil der AO einen alltäglich-unverbindlichen Antisemitismus, während die Partei- und Staatsspitze in Deutschland die Judenvernichtung plante?
In den lateinamerikanischen Ländern war die Auseinandersetzung um die AO oft symbolisch. Welche Lieder durften gesungen, welche Fahnen und Embleme gezeigt werden? Nur in Chile, wo die AO-Landesgruppe am besten organisiert war, gingen die Behörden effektiv gegen sie vor. Mit Beginn des zweiten Weltkriegs waren die lateinamerikanischen Landesgruppen der AO von der Parteizentrale abgeschnitten, und einige waren verboten. Sie blieben ohne Wirkung auf die Außenpolitik der betreffenden Staaten und führten, so Müller, wegen ihren Heimlichtuereien und Einmischungen insgesamt eher zur Ablehnung des nationalsozialistischen Deutschland.
Müller beschreibt in seiner Arbeit, wie schwer sich die Landesgruppen in der Organisationsarbeit taten. Sie konnten nur kleine Teile der deutschen Minderheiten organisieren. Die AO hatte in ganz Lateinamerika etwa 6.000 Mitglieder, von denen viele nicht aktiv waren. Um zu solcher Präzision zu gelangen, hat der Autor viele kaum oder gar nicht erschlossene Archive gründlich und genau durchgearbeitet.
Simone Schwarz vergleicht die chilenische faschistische Bewegung MNS Movimiento Nacional Socialista der dreißiger Jahre, die Landesgruppe Chile der AO und die 1970 gegründete Bewegung “Vaterland und Freiheit”. Die Autorin hat Interviews mit Zeitzeugen geführt und bisher unbekannte Akten und Archive eingesehen, darunter Privatarchive, von deren Existenz Müller nichts wissen konnte. Schwarz beschreibt die Konflikte zwischen den von der Parteizentrale eingesetzten, auf die Neutralität der entsprechenden Länder im Zweiten Weltkrieg bedachten AO-Funktionären und der stets eigenwilligen Basis, die Waffenlager anlegte, spionierte und aus Deutschland geflohene Juden belästigte. Die chilenische AO trug zu einer restriktiven Asylpolitik des Landes gegenüber jüdischen und politischen Flüchtlingen und dem erzwungenen Rücktritt eines Außenministers bei.
Das Verdienst Schwarz‘ besteht vor allem darin, die bürokratische AO im Kontext der jüngeren chilenischen Geschichte mit dem dynamischen MNS zu vergleichen. Die Autorin zeigt die unterschiedlichen ideologischen Wurzeln des MNS auf (italienischer Faschismus, spanischer Falangismus, nationalsozialistische Fragmente und einige Konzepte dessen, was als „Konservative Revolution“ bezeichnet wird). Der MNS mobilisierte einen weit größeren Teil der Chilenen, als es der AO je möglich war. Nachdem er seine politischen Ziele nicht erreicht hatte, unternahm er einen Putsch als „eine Art letzten Revitalisierungsversuch“ und scheiterte.
Schwarz liefert im dritten Teil ihres Buches die einzige umfassende deutschsprachige Untersuchung zur Frente Nacionalista Patria y Libertad : “Vaterland und Freiheit”. Diese Organisation entstand 1970, unmittelbar nach dem Wahlsieg des Sozialisten Allende. Anfangs formulierte “Vaterland und Freiheit” einige gesellschaftspolitische Ziele, die aber bald gegenüber einem militanten Antisozialismus in den Hintergrund traten. Ihr Zweck war der Sturz Allendes. Sie wurde zum Ferment einer gesellschaftlichen Polarisierung, die den Putsch ermöglichte. So klein “Vaterland und Freiheit” war, so nachhaltig beeinflußte die Gruppe die Politik mit einer Mischung aus „zugespitzter Rhetorik und skrupelloser Gewaltbereitschaft“.
Die Organisation verübte hunderte von Sabotageakten und zahlreiche Attentate. Sie verbündete sich mit einem Teil des Offizierskorps und war an dem mißglückten Putschversuch im Juni 1973 beteiligt. AO und MNS waren ihrer politischen Programmatik treu geblieben und gescheitert; “Vaterland und Freiheit” verstand sich als Mittel zum Zweck, als Partei des Putsches, und erreichte ihr Ziel. Als Pinochet sich an die Macht geputscht hatte, ließ er die Rhetorik von “Vaterland und Freiheit” zu und übernahm – vom Folterer bis zum Regierungssprecher – einige ihrer Mitglieder, setzte aber politisch nicht auf die Ständestaatideen seiner Wegbereiter, sondern auf die Modernisierer vom Schlage der Monetaristen.

Jürgen Müller: Nationalsozialismus in Lateinamerika – Die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, 1931-1945, Reihe Histoamericana Bd. 3, Akademischer Verlag, Stuttgart 1997. 564 Seiten.

Simone Schwarz: Chile im Schatten faschistischer Bewegungen – Der Einfluß europäischer und chilenischer Strömungen in den 30er und 70er Jahren, Verlag für akademische Schriften, Frankfurt am Main 1997. 135 Seiten.

Verwässerte Hilferufe

Das Begleitheft zum Film schließt: “Das Wasser ist die Metapher für die Suche Manuels nach dem eigenen Bild und jenem der Welt, in der er lebt“. Schon fragt man sich unweigerlich: Was ist schon von einem Film zu erwarten, der sich auf solch einfältige Weise ankündigt? Sind diese Worte wohl als aufrichtige Warnung zu verstehen, und hält „Escrito en el agua“ (wörtlich: Im Wasser geschrieben) in dem Sinne, was die so feinsinnige Metapher verspricht: pure Langeweile ?
Aber schauen wir uns erst einmal um, in der Mittelstandsfamilie im schneeweißen Haus am Rande von Buenos Aires. Sohn Manuel (Mariano Bertolino) ist ein introvertierter Computerfreak, der zum Leidwesen seiner Eltern ständig im Internet surft und damit die familiäre Telefonleitung lahmlegt. Die zurückhaltende Mutter trägt – man kann es an ihrem leidenden Gesichtsausdruck ablesen – eine profunde Frustration in sich. Es ist wohl die in den großen Räumen des Hauses auf den Ohren lastende eheliche Nichtkommunikation, die ihr zu schaffen macht. Als Therapie- und zugleich Ausdrucksmöglichkeit hat sie jedoch die Photografie entdeckt: gemeinsam mit Manuel zieht sie durch Buenos Aires und nimmt die Verlierer der Gesellschaft auf. Echtes Sozialengagement also.

Generationenkonflikt auf dem Land

Schließlich die zentrale, aber wie so oft nichts von sich preisgebende Vaterfigur Marcelo (Jorge Marrale). Der leitende Ingenieur einer großen Baufirma trägt ebenfalls von Beginn an eine schwere Last mit sich herum. Wie es sich für einen geschäftsorientierten Vater gehört, handelt es sich hierbei allerdings nicht um eine emotionale, sondern rein berufliche Frustration.
In Bewegung setzt sich das Familienkarussell, als Vater Marcelo seinen Sohn zu einem Geschäftstermin für ein paar Tage mit aufs Land nimmt. Beide quartieren sich beim in der Nähe wohnenden Großvater (Marcos Woinski) ein. Dieser wirkt zu Beginn mit zotteligem Bart und seinen Flüchen („Me cago en la hostia“) verschroben und kämpferisch, reiht sich später aber, allzu sehr unter einem Kriegstrauma leidend, mühelos in den Kreis der Frustrierten ein. Während des Aufenthaltes auf dem Lande wird es nun nicht nur zur erwarteteten Austragung – oder sagen wir eher: Berührung – des zweifach angelegten Generationenkonfliktes kommen. Clara, die Tochter des Holzhändlers des Dorfes (hübsch: Luciana Gonzales Costa), wird Manuel in die Geheimnisse der Liebe einführen und noch im Bett über die ökologischen Verbrechen seines Vaters aufklären. Dieser läßt nämlich in der Fabrik radioaktives Material verwenden, was schon zum tragischen Tod eines Arbeiters führte …

Radioaktivität und Kettensägenrasseln

Die nächste Frage drängt sich auf: Jede Figur ein wenig überkonstruiert, klischeebehaftet ? Ganz genau. Nicht, daß man aus der Figurenkonstellation von vornherein nichts mehr hätte machen können. Aber so bieder wie sie angelegt ist, hätten hier schon entweder innere Brüche offengelegt werden oder vielleicht ein in den Familienalltag einbrechendes Ereignis die Dinge gewissermaßen auf den Kopf stellen müssen.
Der in Bolivien geborene und in Kuba ausgebildete Regisseur Marcos Loayzas vertraut indes vollends auf seine Figuren und konzentriert sich entsprechend auf eine rein beobachtende Inszenierung. Vor allem liegt ihm daran, dem Zuschauer die „zarte“ – gleichsam im Wasser Kreise ziehende – Wandlung Manuels vom Jugendlichen zum Manne zu schildern, angereichert mit den Nebenschauplätzen des Generationenkonfliktes sowie des Ökologie- und Schuldthemas. Und da er dies nicht auf intelligente, sondern oftmals sehr plumpe Weise ausführt, macht sie sich tatsächlich breit, die schon in der Wassermetapher keimende Langeweile.
So wird der Zuschauer nicht etwa dezent oder gar verrätselt auf etwas hingewiesen, es wird ihm, wohl in der Angst, es könne sonst verloren gehen, förmlich unter die Nase gerieben. Also: nicht im Wasser geschrieben, sondern hineingeworfen ins selbige. Es kündet beispielsweise nicht gerade vom Einfallsreichtum des Regisseurs, das Ökologiethema mit einer rasselnden Kettensäge und dem Fall eines großen Baumes einzuleiten. Und Loayza will auch die von Kameramann Billi Behnisch sehr eindrucksvoll in Szene gesetzte Landschaft nicht für sich sprechen lassen. In langatmigen Lektionen muß der Großvater den Enkel über die Faszination der Natur und die so andere Wahrnehmung als die in der Stadt unterrichten.
Andererseits wird vieles im Film zwar plakativ aufgeworfen, aber dann nicht weiterverfolgt. Nicht ein Wort erfährt man beispielsweise über die Hintergründe der unterkühlten und konfliktbeladen angelegten Beziehung zwischen Großvater und Marcelo. Nur eines: Geständnisse, mit Tränen in den Augen, die bekommen wir in der Schluß-Emphase des Filmes. Vater Marcelo gesteht seine Schuld am Tod des Arbeiters und der Großvater bekennt, daß er nicht der vorgebliche republikanische Held des spanischen Bürgerkrieges war, sondern bereits mit sieben Jahren nach Mexiko emigrierte.
Bei einem sich derart unbeholfen-konstruiert darstellenden Gesamtbild können dem Film dann auch die eingestreuten literarischen und musikalischen Hommagen an so große Herren wie Kierkegaard, Borges und Piazzolla nicht mehr weiterhelfen. Abgesehen davon, daß sie herzlich wenig mit dem Film zu tun haben, zeigt ihre Häufung nur, was sie in Wirklichkeit sind: Hilferufe aus geistiger Leere.

„Escrito en el agua“; Regie: Marcos Loayza; Argentinien 1997; 85 Minuten.

Hemmungslose Menschlichkeit

Sehnsüchtige Briefe, ungeduldige Briefe, wütende Briefe, überschwengliche Briefe: Tag für Tag bringt Dora herzergreifende Worte zu Papier. Während im Hintergrund die Massen zu den Zügen hetzen und die Central do Brasil in einer gigantischen Kakophonie widerhallt, schreibt sie mit ungerührter Miene nieder, was die Kunden ihr so diktieren: Manche quellen fast über vor Liebe und Lust und entlocken der pensionierten Lehrerin ein müdes Mundwinkelzucken. Andere senden höfliche Worte an ihre Eltern im fernen Pernambuco. Wieder andere tauchen mit ihrem Sohn an der Hand auf und wollen dem Vater des Kindes schreiben, „diesem Arschloch, diesem Säufer“, der vor Jahren aus Rio abgehauen ist und sich nie wieder gemeldet hat. Am nächsten Tag kommen sie an und wollen den ganzen Brief umschreiben. Wie gut, daß die abgebrühte Dora die Post ihrer analphabetischen Kundschaft nicht so ernst nimmt. Viele Briefe gelangen gar nicht in den Briefkasten, sondern werden in der „Fegefeuerschublade“ zwischengelagert. Für Dora und ihre Freundin Irene – beide undefinierbaren Alters und alleinstehend – gehört es nämlich zu den kleinen Vergnügungen des Alltags, Briefe, die sie für unsinnig halten, auszusortieren. Der Hilferuf von Ana an den verschollenen Vater ihres Sohnes Josué fällt auch in diese Kategorie. Wer ist schon so blöd, einem Trinker hinterherzutrauern? – Und wer ist so blöd, dieser unterkühlten Geschäftemacherin zu vertrauen? Der neunjährige Josué ist mißtrauisch: „Woher weißt du, daß sie die Briefe abschicken wird?“ fragt er seine Mutter. Wenige Minuten später ist Ana tot. Ein Bus hat sie überfahren. Unter Schock stehend, irrt der Junge durchs Bahnhofsgelände. Am nächsten Morgen nimmt er seine Kraft zusammen und geht zu Doras Stand: „Ich will einen Brief an meinen Vater schreiben!“ – „Hast du Geld?“

Grenzüberschreitungen…

Josué und Dora: Sie sind nicht gerade ein Traumpaar, der trotzige kleine Bengel und die verhärmte alte Schachtel. Und gerade daraus erwachsen das Spannungsfeld und die Intensität von Walter Salles’ Film „Central do Brasil“. Die beiden sind sich alles andere als sympathisch, aber schlittern in eine Zwangsgemeinschaft hinein. Doras Leben ist festgefahren, Josué steht vor dem Nichts. Das einzige, woran er sich klammert, ist die Hoffnung, seinen Vater zu finden. Deswegen rückt er Dora auf die Pelle, bis die ihn genervt mit nach Hause nimmt. Josués Anwesenheit in dem spartanischen Vorstadtsilo ist Dora unheimlich. Er schnüffelt nicht nur herum und entdeckt auf Anhieb die „Fegefeuerschublade“. Er stellt auch unbehagliche Fragen: „Wo ist dein Mann? Wo sind deine Kinder? Hast du wenigstens einen Hund?“ Das tut weh. Am nächsten Tag verkauft Dora ihn an eine dubiose Adoptionsagentur. Irene ahnt entsetzt, woher ihre Freundin das Geld für den neuen Fernseher hat: „Alles hat seine Grenze, Dora.“ In der Nacht liegt Dora im Bett und hört die Züge vorbei rattern, unerbittlich, einen nach dem anderen. Am Tag darauf entführt sie Josué aus der Agentur. Schweißgebadet sitzt Dora neben ihm im Taxi. Dann geht es mit dem Bus Richtung Nordosten, um den Brief an Josués Vater zu übergeben.

…Fegefeuerschublade…

„Central do Brasil“, der auf der Berlinale mit dem goldenen Bären ausgezeichnet wurde, erzählt von Grenzüberschreitungen und von einer rastlosen und beharrlichen Suche. Ein inneres und äußeres Roadmovie. In den Großstadtsequenzen dominiert die Nahperspektive mit geringer Tiefenschärfe und Weitsicht. Alle rempeln aneinander vorbei. Hektische und verhuschte Horizontalbewegungen, ein permanenter Geräuschpegel, harte Schnitte und staubige Farben. Bei der Busfahrt in den Sertâo beginnt der Blickwinkel sich zu weiten, die Einstellungen gewinnen an Ruhe. Gleichzeitig strahlt die Landschaft etwas Karges und Verlorenes aus. Die Sonne brennt auf Raststätten hernieder, die wie unmotiviert in der Ödnis stehen. Hier und da säumen Zäune, Türmchen mit Heiligenstatuen oder monotone Fertighaussiedlungen den Weg. Ist es möglich, irgendwo anzukommen und etwas zu finden, wenn alles so aussieht, als habe der Zufall es dorthin geschubst? Der freundliche ältere LKW-Fahrer, der Dora und Josué mitnimmt, hat sich offenbar damit abgefunden, den Rest seines Lebens auf der Straße zu verbringen. Als Dora sich ein Herz faßt und auf ihn zugeht, sucht er panisch das Weite. Andere dagegen sind ängstlich darum bemüht, ihr Revier abzustecken. Grandios ist die Szene, als Josué sich der Hütte nähert, wo sein Vater angeblich wohnen soll. Zuerst folgt die Kamera wie im Vogelflug seinen Bewegungen. Josué läuft, läuft immer schneller auf sein Ziel zu. Plötzlich die entgegengesetzte Perspektive. Ein etwa gleichaltriger Junge tritt vom Haus aus ins Bild und schreitet langsam die Zaunpalisaden ab. Die beiden vollführen spiegelverkehrt die gleiche Bewegung, taxieren sich durch die Freiräume zwischen den Holzstäben, mustern sich in stummer Skepsis. Brüder oder Konkurrenten? Aus dieser wortlosen Szene spricht ein intuitives Wissen um die Ambivalenz, die das Herausfinden der Wahrheit in sich birgt. „Dein Vater ist nicht die Person, die du denkst“, warnt Dora den Jungen.

…und die rastlose Suche nach der Herkunft

Aber ist Dora selbst die Person, für die sie sich hält? Fernanda Montenegro, der großen alten Dame des brasilianischen Kinos, gelingt es wunderbar, Doras Metamorphosen nach außen zu tragen (Silberner Bär für die beste Darstellerin!). Die Montenegro ist die schrappige Kleinunternehmerin von der „Central do Brasil“. Sie ist auch das junge, alte Mädchen, das unsicher vor dem Spiegel steht und zum ersten Mal seit Ewigkeiten Lippenstift auflegt. Sie ist die strenge Gouvernante, die Josué ausschimpft, weil er Kekse geklaut hat – und die selbst fünf Minuten später das halbe Ladensortiment in der Tasche mitgehen läßt. Sie ist die genervte Babysitterin und die Hilflose, die sich zusammengerollt im Schoß des kleinen Jungen wiederfindet. Unspektakuläre, aber vielsagende Gesten, kleine Reibereien, bei denen unversehens das Eis bricht. Die hemmungslose Menschlichkeit, die keine Sentimentalitäten scheut, aber nie in Kitsch verfällt, macht „Central do Brasil“ zu einem so bewegenden Film.
Walter Salles erzählt eine archetypische Geschichte so lebendig, als würden Josué und Dora sie Schritt für Schritt neu erfinden. Das Thema – die Suche nach dem Vater, nach der eigenen Herkunft, nach sich selbst – ist wohl so alt wie die Menschheit. Für Lateinamerika, den kolonisierten Kontinent, hat es jedoch eine besondere Bedeutung.
Ob „Die Reise“ von Fernando E. Solanas (Argentinien 1992) oder der ebenfalls auf der Berlinale gezeigte „Eine Chrysantheme explodiert in Cincoesquinas“ (Argentinien 1997): Die Frage der Wurzeln, der Identität treibt viele FilmemacherInnen um. Auch der vorherige Spielfilm von Walter Salles umkreiste dieses Thema. In „Terra Estrangeira“ (Fremdes Land, 1995) haut ein junger Mann aus Sao Paulo ab. Eigentlich will er ins Baskenland, wo seine Vorfahren herstammen. Er strandet jedoch in Lissabon, inmitten einer lebenshungrigen, verzweifelten, gewalttätigen und orientierungslosen Schar von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien. Im Gegensatz zum melodramatischen Ausgang von „Terra Estrangeira“ ist der Unterton von „Central do Brasil“ wesentlich optimistischer. „Dies hier ist das Ende der Welt“, meint ein junger Mann, dem sie in einem winzigen Dorf begegnen. Aber ausgerechnet da ergeben sich unverhoffte Neuanfänge.

„Central do Brasil“, Brasilien 1997; Regie: Walter Salles, Farbe, 112 Minuten.

Der goldene Wind Absurdistans

Säufer, ohne Arbeit, ohne Frau, um die Fünfzig und umherirrend inmitten einer Midlife-, wenn nicht gar Ganzlebenskrise, dies alles unter dem vielsagenden Titel „Invierno, mala vida“ (wörtlich: Winter, schlechtes Leben). Klar, mag man sich denken, der typische Held eines dieser Melodramen über Verlust, Einsamkeit, Tod und die übrigen Urängste des Menschen. Ein von Melancholie und Alkohol durchtränktes Spiel um Sein und Nichts, endend im Nichts. Nur eben diesmal nicht im verschneiten Helsinki, sondern vor der grandiosen – ob seiner menschenfeindlichen Ödnis aber nicht minder geeigneten – Winterkulisse Patagoniens. Jener mythische Ort, der doch ohnehin gerne als das „Ende der Welt“ tituliert wird.
Doch mit der Wahl des Titels seines Spielfilm-Debüts wollte der junge argentinische Regisseur Gregorio Cramer wohl bewußt ein wenig in die Irre leiten. „Winterland“ (wie er dann auch frei ins Deutsche übersetzt wurde) ist nämlich nicht im geringsten das schwere Melodram, das er befürchten läßt. Da wäre zunächst der Umstand, daß das Irr- und Suchthema des Films statt in der so tragisch-allumfassenden Version „Mann sucht verzweifelt nach sich und dem Sinn“ in der wesentlich konkreteren, wenn auch nicht gerade handfesten, Variation „Mann sucht goldenes Schaf“ präsentiert wird. Auch hier ist zwar die Identitäts- und Sinnsuche beinhaltet, doch erhält sie einen Rahmen, der Raum läßt für Leichtigkeit und vor allem eines: Humor. Patagonien, durchweht vom goldenen Wind Absurdistans, dies hält die Suche in einer Balance, die zwar schaukelt, aber nicht abdriftet – weder in metaphysische Höhen noch in die Untiefen alkoholbedingter Delirien.
Und entsprechend erklingen hier nicht etwa effektheischende Bandoneonklänge vor den unendlichen Weiten der Landschaft, sondern wird auch musikalisch Balance gehalten. Diego Clemente komponierte für den Film eine unkonventionelle und sehr stimmungsvolle „Naturmusik“ aus choralen Gesängen, verschiedensten Windtönen – geblasen auf bis zu sechzig Flaschen – und einer Percussion mit Steinen. Eine Musik, die sich perfekt in die stürmische Kulisse einfügt.

Die Gans im Bett

Valdivia, eben jener ohne Arbeit, ohne Frau, aber mit Flasche (kantig verkörpert von Ricardo Bartis, ein bekannter argentinischer Theaterschauspieler), lebt in einer bescheidenen Einzimmerwohnung, umgeben von skurrilen Nachbarn, die sich des nachts schon mal eine Gans mit ins Bett nehmen. Doch auch er selbst ist im Schlaf nicht ganz alleine: „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ein goldenes Schaf.“ Traum oder Wirklichkeit, er besaß wohl einmal ein solches, doch ist es ihm irgendwie abhanden gekommen. Gerade macht er sich noch Vorwürfe, nicht einmal ein Schaf hüten zu können, da erreicht ihn der Anruf des mysteriösen Señor Ramenfort. Dieser beauftragt Valdivia, ihm eben ein solches goldenes Schaf zu suchen.
Von der Suche wird Valdivia – wie sollte es anders sein – zunächst von einer Frau abgehalten. Beim unbeholfenen Versuch, ihr Auto aufzubrechen, überrascht ihn die Schwimmlehrerin Marina (Susana Szperling), woraufhin sich eine seltsame und leicht neurotische Beziehung zwischen beiden entwickelt. Deren Höhe- und vorläufiger Endpunkt ist eine turbulente Szene zu dritt: der ohnehin schon schwankend-lallende Valdivia überrascht Marina mit einem anderen im Bett. Im anschließenden Handgemenge wird er mit einem plärrenden Transistorradio niedergestreckt.
Derart gebeutelt, rast Valdivia unter dem programmatischen Titel des dritten Filmkapitels „Die Geschwindigkeit hilft zu vergessen“ – eine Hand am Steuer, die andere an der Flasche – durch das Nirgendwo Patagoniens bis sich die Räder seines alten Gefährts in den Schotter am Straßenrand eingraben. Ein Träumer, der die Einsamkeit vorzieht, um nicht wieder überrascht zu werden. So schließt er die Augen. Doch diesmal erscheint kein fiktives goldenes Schaf, sondern ein sehr realer Polizist in blau. In einer für Valdivias Leben wohl außergewöhnlich konsequenten Kausalkette folgen ein mißglückter Balanceakt auf einem Bein (filmisch absolut geglückt), der Gang ins Gefängnis, die Bekanntschaft mit einem alten Gefängnisinsassen (Miguel Guerberoff) und die gemeinsame Flucht. Der Weg scheint daraufhin frei zu sein für die Suche nach dem Schaf, zumal der unsichtbare Auftraggeber Ramenfort ungeduldig zu werden scheint …

Der Spiegel im Schafspelz

Wie Gregorio Cramer das gemeinsam mit Autor und Freund Matias Oks über mehrere Jahre hinweg erarbeitete Drehbuch umgesetzt hat, zeugt von großem Gespür für behutsames und atmosphärisches Inszenieren. Der Film nimmt sich Zeit für seine Figuren, findet den richtigen Rhythmus und setzt die Landschaft Patagoniens expressiv, aber niemals aufdringlich ein. Und dann dieser alles tragende skurrile Humor: etwa als Valdivia und sein Reisebegleiter vor dem Auto sitzen und das Schaf am Steuer des Wagens, die Nase ans Seitenfenster gedrückt, mit scheinbar spöttischem Grinsen die beiden Trunkenbolde beobacht – eine Art vorgehaltener Spiegel im Schafspelz.
Nur ganz selten taucht ein Moment „echter“ Tristesse auf – dies auch nur, um gleich darauf souverän besiegt zu werden. So sitzen zwei Männer an einer Bar, der eine erzählt dem anderen, daß er nicht nur Arbeit, sondern auch Frau verloren habe. Sodann der Satz: „Sie ging mit allem, dem Kühlschrank, dem Fernsehapparat, meiner Niere, die ihr implantiert wurde …“. Trotz seiner existentiellen Themen des Scheiterns, der Einsamkeit und der „Geworfenheit“ des Menschen gelingt es dem Film daher, Lebenslust zu versprühen – allein dies eine große Leistung. Und die Figuren in ihrer stetigen Bereitschaft, nach dem Fallen wieder aufzustehen, sind nicht nur sympathisch, sie gehen nahe.
Als Valdivia schließlich tatsächlich 80 Pesos für das – gefärbte und ganz und gar nicht goldene – Schaf bekommt und mit dem Geld in der Tasche genüßlich eine Zigarette auf der ramenfortschen Veranda raucht, leuchtet es hinter seinen Augen: Sehnsucht, aber eben nicht der düsteren Art, sondern jene, die sich mit der Erkenntnis der Notwendigkeit des Träumens mit einem Lächeln auf den Lippen vollzieht. Man könnte Valdivia wie am Ende des brasilianischen Wettbewerbssiegers „Central do Brasil“ ein ins Weinen hinein gelachtes „saudade“ (Sehnsucht) in den Mund legen. Doch auch und vielleicht gerade ohne Worte ist dies ein sehr versöhnlicher, schöner Schluß für das Wintermärchen vom „Ende der Welt“.

„Invierno, mala vida“; Regie: Gregorio Cramer; Argentinien/Frankreich 1997; 84 Minuten.

Karikreaturhafte Konfusion

Noch heute diskutieren sie in Cincoesquinas, ob er Held oder Mörder sei“. Dann schwarze Leinwand – Nichts und Ursprung zugleich. Begleitet von heftigem Stöhnen, dem Schweiß und dem schmerzverzerrten Gesicht der Mutter werden wir der Geburt dieses als mörderischen Helden Angekündigten gewahr. Im Stehen wird er geboren, mit dem dunklen Kopf nach unten zwischen dem hölzernen Kreuz der Mutter und ihren blutigen Schenkeln hängend, dem sandigen Wind ausgedörrter Palmenlandschaft ausgesetzt.
Eine wahrhaft göttlich-dämonisch anmutende Geburt. Jedenfalls wird in „Un crisantemo estalla en Cincoesquinas“ (Eine Chrysantheme explodiert in Cincoesquinas) von Beginn an nicht mit Mitteln gespart, dem Zuschauer Ambivalenzen, ja, die völlige Konfusion zu präsentieren – eine Konfusion, die letztlich für jene der gesamten lateinamerikanischen Existenz und Geschichte stehen soll.

Archetypen und Archetopoi …

So konfrontiert der erst 24jährige Regisseur Daniel Burman seinen Protagonisten (José Luis Alfonso) – wohl in Anlehnung an den legendären Märtyrer heißt er Erasmo – in einem nicht benannten Lande des Kontinents, zu einer ebensowenig benannten Zeit mit den Archetypen und Archetopoi Lateinamerikas. Auf seinem Rachefeldzug für den Mord an seiner Amme sieht sich Erasmo nacheinander marodierenden Banditenbanden, Huren, Heiligen und eben seinem großen Rivalen, dem omnipräsenten Caudillo „El Zancudo“ gegenüber. Im Kampfe gegeneinander sowie mit ihren eigenen Traumata müssen diese Gestalten bestehen – und das vor einem stetig wechselnden geschichtlichen Hintergrund von Banditenherrschaft, Bürgerkrieg, Totalitarismus bis hin zum Präsidentenunwesen am Ende des Filmes.
Ergänzt wird die bunte Szenerie noch von einigen klassisch-religiösen Motiven: Erasmo als der Neugeborene, der die Banditen allein mit seinem Blick aus tiefdunklen Augen davonjagt, seine Amme als eine Art Madonna in der Hängematte, später die Erscheinung einer wegweisenden Guerillera in schwarz-weiß auf der glitzernden Oberfläche eines Flusses (auf einer Schaukel schwingend !) sowie die Auferstehung des General „El Zancudo“. Und nicht zu vergessen Magdalena (Valentina Bassi), die nach einigen frustrierten Liebesversuchen die große Liebe Erasmos wird. In ihrer dumpfen Spiritualität einer schlecht gespielten Amish-Frau ähnelnd, bemalt sie kleine Heiligenfiguren mit „von Gott gelenkten Händen“ …
Spätestens nach der Hälfte des Filmes holt man ob dieser Symbol-
, Motiv- und Klischeeüberfrachtung tief Luft und fragt sich: Ist dies nun authentisches Pathos des jungen Regisseurs oder verbirgt sich die Absicht einer ironischen Überzeichnung Lateinamerikas „an und für sich“ dahinter? Für eine derartige Absicht verzerrt Burman jedoch einfach zu wenig, geht zu wenig auf Abstand zu seinen Figuren und Themen. Auch wenn er selbst seine Figuren gerne als „Karikaturen“ verstanden haben will: Überzeichnung wird eben erst zur Karikatur, wenn sie komische Wirkungen erzielt, Hervorstechendes der Lächerlichkeit preisgibt. Charakteristika, die hier allerdings nicht zu finden sind.
So zeigt der Film, wenn man sich denn einmal des authentischen Pathos bewußt geworden ist, Züge eines Latino-B-Picture: ganz bewußt sollen die Klischees die Geschichte bewegen und motivieren, gleichsam das Gerüst des Filmes stellen. Ein Gerüst, das sich dann nur allzuleicht mit Interpretationen bekleiden läßt. Allzuleicht, denn eine ganz andere Frage ist, ob der Film diese Interpretationen auch trägt.

… und ein ungewöhnlicher Held

Indes, zwei Stärken des Filmes lassen derartige Fragen zwischenzeitlich immer wieder in den Hintergrund treten. Da ist zum einen die einzig „echte“ und differenziert gezeichnete Figur des Filmes: Saúl, ein emigrierter orthodoxer Jude, mit verschmitztem Lächeln und wundervollen Schläfenlocken (nur sie bleiben am Ende von ihm) eindrucksvoll verkörpert von Martín Kalwill. Er kommt auf einem kleinen Schienengefährt an einem Bahnhof inmitten sandiger Ödnis an und zeigt den dort Anwesenden das Photo eines Mannes. Die Menschen schrecken zusammen und wenden sich verängstigt ab: sie wollen keine Fragen gestellt bekommen und erst recht keine Antworten suchen. Stattdessen flüchten sie sich fatalistisch in eine vage Solidarität, wenn sie immer wieder formulieren: „Wir sind im Krieg. Es ist nicht die Zeit, allein zu sein.“
In all den filmischen Wirrungen zwischen Bürgerkrieg und Totalitarismus ist Saúl damit der Einzige, der nach Identitäten und Erklärungen sucht. Sich dem fatalistischen Strom entziehend forscht er unermüdlich „ihm“ auf dem Photo nach. Ein – nicht nur im Kontext des Filmes – ungewöhnlicher Held, der so ganz und gar nicht in die Gesellschaft der übrigen „Karikreaturen“ paßt, die sich halb Mensch, halb Tier schnüffelnd bis röchelnd umherbewegen und ihre Erkenntnis auf reine Körperlichkeit beschränken.
Neben der Figur des Saúl sticht die von Esteban Sapir, dem Regisseur des letztjährigen Berlinalebeitrages „Picado Fino“, mit der Kamera teilweise brillant eingefangene Bildästhethik hervor. Etwa bei der Begegnung Erasmos mit „El Zancudo“. Eingeführt in einer rasanten Flamencoeinlage gehen schwarzglänzende Stiefel eine Holztreppe hinab, nackte Füße hinauf. Dem crescendo der Saloonmusik folgend werden die Schritte schneller bis die Musik schließlich aussetzt und sich die Kontrahenten wie zum Duell in einem alten Western in Zeitlupe – Details effektvoll in Szene gesetzt – einander nähern.
In einer anderen Szene sehen wir Saúl am Roulette-Tisch, neben ihm zwei androgyn-schwuchtelige Croupierwesen. Dem dahingehauchten „Rouge ou noir ?“ folgt ein wunderbar vieldeutiges Spiel aus leinwandgroßen Augenwinkeln. Doch der – eben omnipräsente – General „Zancudo“ beobachtet durch ein Loch in der Wand, wie Saúl seine Bank ausnimmt. Und ehe man sich versieht, sind die beiden Croupiers wie in einem Alptraum durch zwei faltige alte Herren mit düsteren Blicken ausgetauscht …
Ja, wäre der gesamte Film doch wie diese Szene: exzellent fotografiertes Schauspiel, Situationskomik, Andeutungen statt Überfrachtungen, Raum lassend. Doch hierauf wollte Daniel Burman sich offensichtlich nicht verlassen. Und so kommt es, daß man den finalen und schon lange angekündigten Schuß aus dem im Chrysanthemenstrauße verborgenen Revolver förmlich herbeisehnt. Ob nun Held oder Mörder, es läßt einen kalt.

„Un crisantemo estalla en Cincoesquinas“; Regie: Daniel Burman; Argentinien 1997; Farbe, 83 Minuten.

Darf ich bekanntmachen…

Die frisch erschienene Anthologie „Andere Länder, andere Zeiten“ ist eine Ansammlung literarischer Visitenkarten. Entstanden im Rahmen von INTERLIT 4, den Internationalen Literaturtagen, die in der ersten Oktoberhälfte 1997 in Nürnberg, Erlangen und Berlin veranstaltet wurden, versammelt das Buch Texte von 32 Autorinnen und Autoren der gesamten „Dritten Welt“.

Keine DebütantInnen

Enthalten sind – von wenigen Ausnahmen wie dem 1974 geborenen Chilenen Luis Miranda abgesehen – keine DebütantInnen, sondern SchriftstellerInnen, die in ihren Ländern bereits volle Anerkennung genießen. Ihnen ist aber auch gemein, daß sie hierzulande – wiederum abgesehen von den Ausnahmen Derek Walcott, V.S. Naipaul und Wole Soyinka – kaum einem breiteren Publikum bekannt und nur spärlich übersetzt sind, woraus folgt: Wir halten ein Buch in den Händen, in dem heute nachzuschlagen und vorzukosten ist, wer morgen gelesen werden wird.
Aus dem spanischsprachigen Amerika sind vertreten: der erwähnte Luis Miranda und Magali García Ramis (Puerto Rico), Ana Teresa Torres (Venezuela) und Mario Delgado Aparaín (Uruguay), Carlos Franz (Chile) und Teresa Porzecanski (Uruguay) sowie Ana María Shua (Argentinien). Daneben einige englisch- und französischsprachige Kariben, aber kein Brasilianer – und viele afrikanische und asiatische AutorInnen. Es wäre müßig, einzelne Texte genauer vorzustellen, denn wo sollte ich anfangen? Das Buch dürfte für jeden Gernleser Lustvolles und Herausforderndes bereithalten; zudem ist jedem Text eine Seite vorangestellt, die prägnant über die jeweiligen AutorInnen informiert, kurz: ein empfehlenswertes Buch.

Sätze wie Samenkörnchen

Müßigkeit hin oder her, einen Beitrag habe ich mir – streng subjektiv – dick angekreuzt: „Jeden Sonntag“ von Magali García Ramis. Mich hat bereits der erste Satz gefesselt: „Keiner von uns ist jemals gestorben, also muß ich nein sagen.“ Ein Satz wie ein Samenkörnchen, ganze Geschichten könnten aus ihm entstehen, so offen in seinen Andeutungen (aber nicht beliebig) ist er. „Jeden Sonntag“ ist die Geschichte eines puertoricanischen Mädchens, das sich jenseits von immer wiederkehrenden, öden Familienritualen einen eigenen Ort suchen und bewahren kann, der nur ihrer ist. Dorthin entweicht sie – jeden Sonntag –, dort kommt sie zu sich, ist ungestört, das verfallene Häuschen im Bambuswald ist wie ein sorgsam gehüteter Halt in ihrem Innern. Die äußere Welt, die Familie haben hier keinen Zutritt, aber nicht nur das: Auch die Zeit verläuft anders. Magali García Ramis führt vor, daß es einen Ort gibt, an dem ein Mensch ganz bei sich sein kann – ein zerbrechlicher Schatz, abhängig davon, daß andere ihn nicht zerstören wollen, und ohne Macht, sich zu verteidigen. Besonders schön an dieser Erzählung ist, daß die Autorin diese Zerbrechlichkeit nicht nur direkt beschreibt, sondern daß sie sich darüber hinaus in den Selbst-Gesprächen des Mädchens unter der Hand, atmosphärisch, mitteilt.
Durch das Thema Zeit werden die Gedichte und Geschichten dieser Anthologie zusammengehalten. Erfreulich ist der Effekt dieser „Zeit-Geschichten aus aller Welt“: Nach und nach stellt sich der Eindruck ein, als würde sich der Titel „Andere Länder,andere Zeiten“ von selbst erledigen. So anders sind die Zeiten woanders auch nicht.

Wolfgang Binder u.a. (Hg.): Andere Länder – andere Zeiten. Zeit-Geschichten aus aller Welt, Marino Verlag, München 1997, 29,- DM
(ca. 15 Euro).

Cuba, Chiapas, Canudos und Cincoesquinas

Was die Anzahl lateinamerikanischer Filme angeht, wird die diesjährige Berlinale (11. bis 22. Februar) leider ziemlich unterbelichtet sein: zwei Spielfilme aus Argentinien, zwei aus Brasilien, ein kanadischer Dokumentarfilm über Chiapas sowie zwei US-amerikanische Dokumentationen über Kuba – so der Informationsstand bei Redaktionsschluß am 22. Januar. „Un Crisantemo estalla en Cincoesquinas“ („Eine Chrysantheme explodiert in Cincoesquinas“) von dem 24jährigen Argentinier Daniel Burman spielt in einem nicht näher definierten südamerikanischen Land, das von Bürgerkriegen und dem General „El Zancudo“ heimgesucht wird. Vor exzellent fotographierter, aber ohne jegliche Ironie überzeichneter Kulisse agieren Caudillos, Rächer der Entrechteten, Huren und Heilige. Der zweite argentinische Film, „Invierno, mala vida“ („Winter, schlechtes Leben“) von Gregorio Cramer, der im heutigen Patagonien spielt, erinnert dagegen mit seiner lakonischen Erzählweise und alkoholgetränkter Männermelancholie an Kaurismäkis Filme vom anderen eisigen Ende der Welt.
Die beiden US-amerikanischen Dokumentarfilme „Cuba 15“ von Elizabeth Schub und „Midnight in Cuba“ von Dimitry Falk nähern sich dem heutigen Kuba, indem sie Jugendliche porträtieren. Der Pressetext zu „Midnight in Cuba“ läßt eine gewisse Selbstüberschätzung des Regisseurs befürchten: „For the first time, the world will be introduced to the hopes and dreams of Cuba’s forgotten generations.“ A ver, a ver! Dagegen beschränkt sich der schlichte, aber amüsante und aufschlußreiche Kurzfilm „Cuba 15“ auf ein Mädchen, das seinen 15. Geburtstag feiert – für jede Kubanerin ein symbolträchtiges, von Festen und Fototerminen flankiertes Datum.
Auch wenn Brasilien, dem letztes Jahr ein Schwerpunkt des Berlinale-Forums gewidmet war, diesmal nur mit zwei Filmen vertreten ist, darf man auf diese sehr gespannt sein. Zum einen ist „Guerra de Canudos“ („Der Krieg von Canudos“) von Sergio Rezende zu sehen, der mit 6 Millionen Dollar teuerste brasilianische Film aller Zeiten. Das fast dreistündige Monumentalepos rekapituliert die blutige Niederschlagung des Aufstands der Bauern von Canudos und ihres Anführers, des messianischen Predigers Antonio Conselheiro. Im Herbst letzten Jahres kam der Film in die brasilianischen Kinos, unmittelbar nach dem 100. Jahrestag des Massakers, das auch heute noch eine offene Wunde in der brasilianischen Geschichte darstellt (vgl. LN 279/280).
Im Wettbewerb der Berlinale hat – neben dem Mexikaner Alfonso Cuaron und dessen in den USA produzierter Charles Dickens’ Adaption „Great Expectations“ – auch der Brasilianer Walter Salles einen Film plazieren können: In „Central do Brasil“ irrt ein kleiner Junge auf der Suche nach seinem Vater durch das Land. Die Suche nach den eigenen Wurzeln war schon treibendes Motiv in „Terra Estrangeira“, Salles’ wütendem, melancholischen und wunderschönen Erstlingsfilm. Darin verschlug es den Protagonisten von São Paulo nach Portugal. Nun findet Salles’ neuester Film den Weg von Brasilien nach Berlin.

„Die Party ist zu Ende.“

Alle zwei Jahre steht in Argentinien das halbe Abgeordnetenhaus zur Wahl. Bei den diesjährigen Parlamentswahlen im Oktober, bei denen rund die Hälfte der 257 Abgeordneten neu gewählt wurde, büßte die regierende PJ ihre Mehrheit von 131 Sitzen ein und ist nun mit nur noch 118 Abgeordneten im Parlament vertreten. Die oppositionelle Alianza, bestehend aus der Unión Cívica Radical (UCR) und der Frente para un País Solidario (FREPASO), konnte ihre Abgeordnetensitze von 91 auf 110 erweitern. Die übrigen 28 Sitze entfielen auf kleinere Parteien.
Während die Opposition insgesamt gute 45 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte, erhielt die PJ nur knappe 36 Prozent. Den höchsten Sieg erlangte die Alianza in der Hauptstadt Buenos Aires, wo sie 66 Prozent der Stimmen gewann, während die PJ nur 16 Prozent der WählerInnen überzeugen konnte.
Den bei weitem wichtigsten Sieg errang die Alianza in der Provinz Buenos Aires, einer traditionellen Hochburg der PeronistInnen. Hier leben 37 Prozent der insgesamt 23 Millionen Stimmberechtigten. Mit 54 Prozent schlug die Oppositionskandidatin Graciela Fernández Meijide die von der PJ aufgestellte Hilda „Chiche“ González de Duhalde, die 38 Prozent der Stimmen erhielt. Mit diesem überwältigenden Sieg hat die Oppositionskoalition die Karten für die Präsidentschaftswahl 1999 neu gemischt, gilt doch der jeweilige Gouverneur der Provinz Buenos Aires als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftsnachfolge.

Alianza knackt die Hochburg

Der Sieg Graciela Fernández Meijides kommt für den amtierenden Gouverneur und Ehemann Eduardo Duhalde zwar nicht unerwartet, aber dennoch ungelegen. Duhaldes große Anhängerschaft hatte ihn, trotz seiner offenen Differenzen mit Menem, zum chancenreichsten Präsidentschaftskandidaten der peronistischen Partei für 1999 gemacht. Seine Gattin erklärte nach der Niederlage, daß sie Politik eigentlich nicht mag und nur wegen der Karrierepläne ihres Mannes kandidiert hat. Gouverneur Duhalde übernahm denn auch die volle Verantwortung für das schlechte Abschneiden seiner Frau.
Graciela Fernández Meijide, eine 66jährige ehemalige Französischlehrerin, wäre wahrscheinlich nie politisch aktiv geworden, wenn ihr Sohn nicht vor 20 Jahren von den Todesschwadronen des Militärs entführt und umgebracht worden wäre. Nach dem Verschwinden ihres Sohnes engagierte sie sich in der Menschenrechtsbewegung. Sie schloß sich der Nationalen Kommission für Verschwundene an, die gegen die Menschenrechtsverstöße der Militärdiktatur ermittelte. Erst 1990 trat sie der Bewegung bei, aus der später die FREPASO hervorging. 1993 zog die Menschenrechtsaktivistin ins Unterhaus ein. Zwei Jahre später wurde sie mit den meisten Stimmen, die jemals eine Politikerin in Argentinien erhalten hatte, in den Senat gewählt. Als amtierende Senatorin trat sie zu den Abgeordnetenhauswahlen an.
Trotz des Sieges der Oppositionskoalition wird es keine größeren Veränderungen im Bereich der Wirtschaft geben. Denn das Bündnis steht der Wirtschaftspolitik der Menem-Administration in ihren Grundzügen loyal gegenüber. Das machten die Hauptfiguren der Allianz schon im August bei der Besiegelung des Bündnisses deutlich: Der neoliberale Kurs der Regierung wird nicht mehr pauschal abgelehnt, sondern lediglich eine soziale Komponente eingefordert.
In vorderster Reihe der Allianz stehen der Bürgermeister von Buenos Aires Fernando de la Rua, Ex-Präsident Raúl Alfonsín, beide UCR, und der UCR-Parteichef Rodolfo Terrango, sowie Carlos „Chacho“ Alvarez und Graciela Fernández Meijide von der FREPASO. Daß aus diesen fünf Personen der oder die KandidatIn auserkoren wird, die gegen den peronistischen Kandidaten 1999 antreten wird, ist ziemlich wahrscheinlich. Und daß es die einzige Frau unter den Fünfen wird, ist nach ihrem Sieg in der Provinz Buenos Aires durchaus möglich.
Während die UCR auf eine lange Parteitradition zurückblickt, ist die FREPASO ein relativ junger Zusammenschluß. Anfang der Neunziger sammelten sich in der damaligen Frente Grande vor allem ehemalige PeronistInnen, die dem Kurs der Menem-Regierung nicht länger folgen wollten. Nach internen Auseinandersetzungen formierte sich daraus die Mitte-Links-Koalition Frente para un País Solidario, abgekürzt FREPASO. Die FREPASO und die konservative UCR eint denn auch der gemeinsame Feind: die peronistische Partei.
„Die Party der Machthaber ist zu Ende“, stellte denn auch ein Regierungsangestellter fest. „Die Führung war nicht im Stande zu erkennen, was alle sehen konnten: Korruption, fehlende Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und Judikative und eine unglaubliche Bereicherung von engen Freunden des Präsidenten. Nun haben sie für ihre Blindheit die Quittung bekommen.“ Die argentinischen WählerInnen sind es offensichtlich leid, sich den Machtmißbrauch von Sicherheitskräften und Vertrauten des Präsidenten weiter mit anzusehen, und sehen in der Alianza eine wählbare Alternative. Das Symbol eines solchen Mißbrauchs hing an Fernández Meijides Mikrofon, als sie den Wahlsieg verkündete: ein Porträt des Fotojournalisten José Luis Cabezas, der im Januar 1997 während seiner Nachforschungen in Sachen Polizeikorruption getötet wurde.

Cavallos Comeback

Die Wahl des früheren Wirtschaftsministers Domingo Cavallo ins Abgeordnetenhaus ist ebenfalls eine Rückschlag für die Regierung. Cavallo erhielt 17 Prozent der Stimmen in Buenos Aires. Cavallo hatte seine eigene Partei gegründet, nachdem Menem ihn 1995 zum Rücktritt aufgefordert hatte. Nach seinem Abgang hatte er die Regierung ständig der Korruption bezichtigt.
Menem selbst stritt jede persönliche Verantwortung für die Niederlage ab.
Schuld sei ausschließlich die Partei, denn, so sein schlagendes Argument: Er sei ja nicht angetreten.
Auf Menems Nachfolge rechnen sich nun bei den PeronistInnen auch der frühere Sänger Ramón „Palito“ Ortega und Senator Carlos Reuteman, ehemaliger Rennfahrer, neue Chancen aus. Beide sind Schützlinge Menems und derzeit Gouverneure ihrer Heimatprovinzen Tucuman und Santa Fé. Und ob schließlich Menem selbst ein drittes Mal antritt, ist noch immer nicht vom Tisch.

Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen

In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

KASTEN

Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft

Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt

Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel

Roulette der Gen-Mutanten

Der Markt für pflanzliche Öle und Fette ist der zweitgrößte Agrarmarkt hinter dem des Weizens. Heute werden etwa 75 Millionen Tonnen pflanzliche Öle und Fette pro Jahr produziert, bis zum Jahr 2012 wird mit einem Anstieg auf etwa 108 Millionen Tonnen gerechnet.
Nicht nur die Ausgangspflanzen verändern sich, sondern auch die Anbauländer wechseln: Afrikanische KleinbäuerInnen waren vor dem zweiten Weltkrieg HauptlieferantInnen von Erdnußöl, China von Sojaöl, dann tauchte Raps aus Kanada, Frankreich und Italien sowie Soja- und Maisöl aus den USA auf. Brasilien und Argentinien brachen in den siebziger Jahren in den US-Markt ein, wurden in den achtziger Jahren jedoch von Malaysia abgelöst. Auf riesigen Plantagen mit geklonten Ölpalmen konnte preiswerter produziert werden: Anfang der 60er Jahre stammten noch 80 Prozent der Weltpalmölproduktion aus Afrika, nun liegt der Anteil nur noch bei einem Fünftel.
Ölpalmen sind mit fast vierzig Prozent Hauptlieferantinnen von pflanzlichen Fetten, Anfang dieses Jahrhunderts war es noch die Kokospalme. Heute beträgt ihr Anteil am Pflanzenölmarkt nur noch fünf Prozent. Dennoch ist die Bedeutung von Kokospalmen für die Exportländer immens: So stammen siebzig Prozent des Weltkokosöls von den Philippinen, wo fast dreißig Prozent des kultivierten Landes mit Kokospalmen bepflanzt sind. Ein Wegfall des Kokosölexports würde die Agrarwirtschaft empfindlich treffen, besonders die KleinbäuerInnen, die Kokospalmen zwischen anderen Nahrungspflanzen anbauen.

Von gelber Farbenpracht…

Die Eigenschaften von pflanzlichem Öl wie Schmelzverhalten, Konsistenz und Geschmack und damit die Einsatzbereiche werden durch die Fettsäurezusammensetzung bestimmt: So eignen sich Palmkern- und Kokosöl aufgrund ihres hohen Laurinsäureanteils von etwa 50 Prozent besonders gut zur Herstellung von Seifen, Badezusätzen, Kosmetika und Waschmitteln. Normalerweise enthält Raps keine Laurinsäure, das Öl wird für technische Zwecke eingesetzt und zur Margarineherstellung verwendet. Das wird sich – geht es nach der Gentechnik-Lobby – bald ändern. Mit der Konstruktion einer Rapspflanze, deren Öl Laurinsäure enthält, will die US-Firma Calgene den Weltmarkt erobern.
Das Interesse der Gentechnikindustrie an Raps endet jedoch nicht bei der Laurinsäure: Monsantos Roundup-Ready-Raps, mit Resistenz gegen das Monsanto Herbizid Roundup (Glyphosate), ist bereits seit 1995 in Kanada und seit 1996 in den USA zugelassen. In der EU ist die Zulassung beantragt. Die Firma AgrEvo, die gemeinsame Pflanzenschutz-/Gentechnik-Tochter von Hoechst & Schering, hat ebenfalls eine Rapspflanze gentechnisch so verändert, daß sie gegen das AgrEvo-Herbizid Basta (Glufosinat) resistent ist. Dieser Basta-resistente Raps ist in Kanada seit 1995 erhältlich und wurde 1997 erstmals in den USA angebaut. Für die EU wird die Zulassung 1998 erwartet.
Der Gehalt an Eruca-Säure soll ebenfalls verbessert werden – ein hoher Anteil an Ölsäure ist vorteilhaft für die industrielle Verwendung von Rapsöl. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildet die Züchtung der männlichen Sterilität der Rapspflanze, was die Produktion von Hybridsaatgut erleichtern würde. Heute werden in Nordamerika bereits fast auf der Hälfte der Rapsanbaufläche von insgesamt 3,77 Mio. Hektar gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut.

….zur Palme des Nordens

Die Rapspflanze und ihre Produkte sind auch noch anderen Veränderungen ausgesetzt. So wurden mit Hilfe biotechnologischer Methoden Enzyme gefunden und produziert, mit deren Einsatz die Zusammensetzung des Öls der Rapspflanze so verändert wird, daß es Öl aus anderen Pflanzen ersetzen kann. Bisher ist dieses Substitutionsverfahren nicht rentabel, sollte sich dies ändern, ist der zweifache Angriff auf die Kokos- und Ölpalmen perfekt: Die gentechnisch veränderte Rapspflanze produziert sofort Kokosöl, die Zusammensetzung des konventionellen Öls wird mit Hilfe von Enzymen verändert.
Nicht nur Rapsöl wird umgewandelt: ForscherInnen in den USA entdeckten mutierte Senfpflanzen mit Öl statt Stärke in ihren Wurzeln. Der Traum der WissenschaftlerInnen ist nun eine Kartoffel, die eben diese Mutation aufweist. Ihr Ölertrag wäre pro Hektar zehnmal höher als der einer Sojabohne. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Auch Cassava, Süßkartoffeln oder Taro könnten in zehn Jahren in der Lage sein, Öl zu produzieren.
In Zimbabwe wird seit über zwölf Jahren an der Pflanze Vernonia galamensis geforscht: Sie produziert säurehaltiges Öl, das sich für industrielle Zwecke (für die Plastik- und Farbherstellung) gut eignet. Alleine in den USA beträgt der Markt für dieses Industrieöl 100 Millionen US-Dollar. Wahrscheinlich wird diese Pflanze aber keine neue Einnahmequelle für Zimbabwe, da parallel zur Forschung in Afrika auch das U.S. Department of Agriculture an der Pflanze forscht, die es gerne den Farmern in Arizona näherbringen möchte.

Wettlauf ums Öl

Zur Zeit hat Raps einen Anteil von zehn Prozent am Weltpflanzenölmarkt. Hauptproduzent ist China, gefolgt von Indien, Kanada, Deutschland und Frankreich. In der EU wurde der Ölsaatenanbau Anfang der 80er Jahre sehr gefördert – die ausgedehnten Rapsfelder in Norddeutschland sind eine Folge davon. Staatliche Stützungsmaßnahmen führten zu einer immensen Flächenausdehnung, züchterische Verbesserungen kamen hinzu: die Wachstumsrate in der BRD und in Großbritannien lag bei dreißig Prozent pro Jahr. Diese Stützungspolitik führte jedoch zu einem Handelskonflikt mit den USA. Im Zuge der GATT-Verhandlungen wurde im Blair-House-Abkommen die subventionierte Fläche auf 4,8 Mio. Hektar begrenzt. Ob diese Begrenzung im Zuge der Umstrukturierung der EU-Agrarpolitik und der Handelsliberalisierung aufgelöst wird, ist ungewiß.
Der Markt für pflanzliche Öle und Fette war schon in der Vergangenheit schwer überschaubar und von starker Konkurrenz und Verdrängungen bestimmt. Mit der Gentechnik erhält der Markt nun eine neue Dynamik und gleicht einem Roulettespiel, bei dem noch unsicher ist, wo die Kugel zum Halten kommt. Nur die Verlierer stehen schon fest: die Ölfrüchte anbauenden Bauern und Bäuerinnen.

Editorial Ausgabe 281 – November 1997

Isaac Velazco, Sprecher der peruanischen Guerillaorganisation MRTA in Europa, ist ein gefährlicher Mann. Er hat die Interessen Deutschlands „erheblich gefährdet“. Also wurde er zum Schweigen verurteilt. Zuwiderhandlungen werden mit Geldstrafe oder Gefängnis bestraft. Die Bundesrepublik ist schließlich eine wehrhafte Demokratie.
Was war geschehen? Zahlreichen Medien hat Isaac Velazco seit Beginn der Besetzung der japanischen Botschaft in Lima Interviews gegeben, so auch uns. Er hat zu erklären versucht, warum die Aktion der MRTA legitim sei. Dabei hat er die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen des Fujimori-Regimes angeklagt und auf Folter und katastrophale Haftbedingungen in den peruanischen Knästen hingewiesen. Haftbedingungen, die schon seit Jahren vergeblich von Menschenrechtsorganisationen und dem Internationalen Roten Kreuz verurteilt werden. Ohne die Mittel zu akzeptieren, zeigten auch bürgerliche Medien Verständnis für das Ziel der Botschaftsbesetzung: Die Freilassung der über 400 politischen Gefangenen der MRTA.
Das blutige Ende der Aktion ist bekannt. Über die Ermordung mehrerer BotschaftsbesetzerInnen, die sich bereits ergeben hatten, wurde ausführlich berichtet. Auch Velazco hat darüber gesprochen. Verständlich, daß dies Fujimori nicht paßt. Seine Regierung stellte einen Auslieferungsantrag. Als anerkannter politischer Flüchtling genießt Velazco aber in der Bundesrepublik einen gewissen Schutz.
Um den Mörder Fujimori zu besänftigen, wies Innenminister Kanther die Hamburger Innenbehörde an, den seit Jahren in der Hansestadt lebenden Peruaner zum Schweigen zu bringen. Velazco und sein Verteidiger Hartmut Jacobi sind gegen den Maulkorberlaß in Berufung gegangen.
Es ist das zweite Mal, daß sich die deutsche Regierung zum Büttel des peruanischen Regimes macht. Im Juni hatte die deutsche Botschaft in Lima zwei Angehörigen der bei der Botschaftserstürmung getöteten Guerillera Rolly Rojas ein Visum verweigert. Sie wollten zusammen mit „Müttern der Plaza de Mayo“ aus Argentinien für ein Angehörigenkomitee von Opfern der militärischen Repression in Peru werben. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärte damals lapidar, die Reise würde die deutsch-peruanischen Beziehungen „belasten“ (LN 277/278). Zwei andere Angehörige und die Mütter der Plaza de Mayo wurden kurzfristig vom Bundestagsausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe wieder ausgeladen.
Exporte sind Außenhandelsminister Kinkel wichtiger als Menschenrechte. Ein Skandal, der altbekannt ist. Das Problem liegt woanders. Die politischen Freiräume werden enger, der Obrigkeitsstaat ist auf dem Vormarsch, abweichende Meinungen werden immer häufiger zensiert. Auch der Maulkorb für Velazco wäre vor zehn Jahren so nicht möglich gewesen. Zur Erinnerung: In El Salvador kämpfte die Befreiungsbewegung FMLN gegen das Regime von Napoleón Duarte, einem Schützling der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das christdemokratische „Modell El Salvador“ sollte auf andere Länder Lateinamerikas ausstrahlen. Die Bundesregierung hatte also mehr Interessen in El Salvador als heute in Peru, das nur ein mittelmäßiger Handelspartner ist. Trotzdem hatte die FMLN bis Ende des Krieges mehrere offizielle Vertreter und Büros in Deutschland. Weitgehend unbehelligt warben sie für die Ziele der salvadorianischen Guerilla.
Dies war auch deshalb möglich, weil es eine breite Solidaritätsbewegung gab, die den Kampf der FMLN politisch und materiell unterstützte. Öffentlichkeit über die Verbrechen der CDU-Verbündeten in El Salvador wäre auch ohne die Anwesenheit der Guerilla-VertreterInnen hergestellt worden. Zugleich war die Bewegung aber ein Schutz für die FMLN-Vertreter in Europa.
Eine Unterstützung, mit der die MRTA, aber auch nicht-bewaffnete Organisationen in Peru, heute kaum rechnen können. Die Schwäche der Linken ist immer die Stärke des Staates.

Freisetzungen in Lateinamerika

Die offizielle Chronologie der Freisetzungen transgener Organismen beginnt 1986 mit dem Anbau genmanipulierter Tabakpflanzen in Frankreich und den USA. 1986 ist auch das Jahr des ersten Freisetzungsskandals: Das US-amerikanische Wistar Institute testete in Argentinien einen rekombinanten Virus-Impfstoff an Kühen, ohne daß argentinische Behörden oder die beteiligten LandarbeiterInnen, von denen einige infiziert wurden, darüber informiert worden waren.
Im folgenden Jahr wurde in Chile erstmals mit herbizidresistentem Raps eine gentechnisch veränderte Pflanze freigesetzt, vermutlich die weltweit erste Freisetzung von transgenem Raps überhaupt. Freisetzungen transgener Organismen erfolgten in Lateinamerika bis 1994 in größerem Umfang als in europäischen Staaten, Informationen darüber gibt es jedoch kaum. Bis 1995 war gerade ein halbes Dutzend von Darstellungen bekannt, die auch die Freisetzungssituation in der sogenannten Dritten Welt berücksichtigten. Sie wurden entweder von Personen verfaßt, die Zugang zu der Freisetzungsdatenbank der Green Industry Biotechnology Platform (GIBiP) hatten, einem Zusammenschluß von einigen in der Pflanzengentechnik aktiven Unternehmen. Oder sie beruhten auf Untersuchungen und Erhebungen von Nichtregierungsorganisationen wie Friends of the Earth, Greenpeace oder GRAIN (Genetic Resources Action International). Aus den Materialien dieser Gruppen wurde deutlich, daß die in den Ländern des Südens durchgeführten Freisetzungen in der Regel ohne rechtliche Bestimmungen und vielfach ohne Kontrollen erfolgten und weiterhin erfolgen.

Was ist eine Freisetzung?

Freisetzungen sind gezielte Ausbringungen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt. Freigesetzt werden einerseits transgene Pflanzen, um im Feldversuch die im Labor und im Gewächshaus gefundenen Ergebnisse unter Freilandbedingungen zu testen (Freisetzungsversuche oder -experimente). International wird aber auch, abweichend von den Definitionen des deutschen Gentechnikgesetzes, das zwischen Freisetzung und Inverkehrbringen unterscheidet, der kommerzielle Anbau von transgenen Pflanzen als Freisetzung bezeichnet. Während vermutlich die meisten Freisetzungen (noch) Freisetzungsexperimente sind, ist der kommerzielle Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Ländern wie Argentinien (Anbau von herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen) und Mexiko (Anbau der FlavSavr-Tomaten, herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen und von insektenresistenten Kartoffeln und Baumwolle) schon seit 1995 Realität.

Welche Freisetzung wird bekannt?

Anfang 1996 publizierte das Deutsche Umweltbundesamt (UBA) eine Studie zur „Gentechnik in Entwicklungsländern“. Diese UBA-Studie liefert die derzeit umfangreichste und differenzierteste Übersicht über Freisetzungen transgener Pflanzen in Entwicklungsländern. Die im Oktober 1995 abgeschlossene Übersicht des Umweltbundesamtes liefert vor allem für die Region Lateinamerika und Karibik ausführliche Informationen über Freisetzungen in 11 Staaten. Dabei benennt sie für jede Freisetzung das Land, die Pflanze, die Art der genetischen Manipulation, den Zeitpunkt der Genehmigung und Durchführung, den oder die Durchführenden, und sie bewertet die Aussagesicherheit der Quelle. Außerhalb dieser Region werden Freisetzungen in Indien und Thailand sowie in Ägypten und Südafrika erwähnt.
Auf der Grundlage der verfügbaren Informationen gelangt der Autor der UBA-Studie, André de Kathen, zu der Einschätzung, daß der Anteil der in oder von Entwicklungsländern durchgeführten Freisetzungen „bei unter 5 Prozent aller Freisetzungen weltweit“ liegen dürfte. Mit seiner Einschätzung liegt Kathen deutlich unter der Erhebung von James und Krattiger (1996), nach der acht Prozent der zwischen 1986 und 1995 durchgeführten Freisetzungen in den Entwicklungsländern stattfanden, davon 70 % in der Region Lateinamerika und Karibik, 21 % in Asien und 9 % in Afrika.
Nach Auskunft offizieller Stellen hat es in Brasilien, Kolumbien und Venezuela wie auch in Indonesien, Malaysia, Nigeria und auf den Philippinen bisher keine Freisetzungen transgener Pflanzen gegeben. Von diesen Ländern verfügte allerdings allein Brasilien über ein 1995 verabschiedetes Gesetz zur biologischen Sicherheit, so daß in den anderen Ländern die rechtliche Grundlage für die Anmeldung von Freisetzungen fehlte. Es ist daher nicht auszuschließen, daß Freisetzungen stattfanden, ohne daß staatliche Stellen davon in Kenntnis gesetzt wurden.
In Lateinamerika und der Karibik wurden zwischen 1987 und 1995 nach Kathen 137 Freisetzungen in 11 Ländern durchgeführt [1]. Die meisten Freisetzungen erfolgten in Argentinien (43 Freisetzungen), Puerto Rico (21), Mexiko (20), Chile (17) und Kuba (13). Weitere Länder mit bekanntgewordenen Freisetzungen sind: Costa Rica (8), Bolivien (5), Belize (4), Guatemala (3), Peru (2) und die Dominikanische Republik (1).
Vor allem fünf Pflanzen stehen im Vordergrund des Freisetzungsinteresses: Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln. Damit weicht die Freisetzungssituation in der Region Lateinamerika und Karibik von der globalen vor allem hinsichtlich des unterschiedlichen Stellenwertes von Sojabohnen und Raps ab. Die Reihenfolge der weltweit am häufigsten freigesetzten Pflanzen führt nach James / Krattiger ebenfalls Mais (28 %) an, mit Abstand folgt Raps (18 %). Nach Kartoffeln und Tomaten (jeweils 10 %) finden sich die Sojabohnen mit 8 % erst auf Platz 5.

Woran wird geforscht?

Bei den insgesamt 137 für die Region Lateinamerika und Karibik dokumentierten Freisetzungen dominiert die Erforschung der Resistenz gegenüber Herbiziden (51) vor der gegen Insekten (30). In weiteren neun Fällen wurde auf beide Resistenzaspekte getestet. Bei zehn Freisetzungen ging es um Virusresistenz, während 20 die Veränderungen der Produktqualität zum Ziel hatten. Sieben Mal wurde mit Kälte- bzw. Frostresistenz experimentiert, die restlichen zehn Freisetzungen hatten andere gentechnologische Manipulationen zum Ziel.

Wer forscht?

Die oben genannten Freisetzungsversuche wurden vor allem von privaten Firmen durchgeführt: In 74 Prozent der Fälle waren es Unternehmen aus den Bereichen Chemieindustrie, Saatgut, Biotechnologie, Agrarhandel und Lebensmittelindustrie, die für die Freisetzung verantwortlich waren. Zwanzig Prozent der Freisetzungen wurden jedoch von den in der Region Lateinamerika und Karibik beheimateten internationalen Agrarforschungszentren oder von nationalen Forschungseinrichtungen (partiell auch von beiden gemeinsam) durchgeführt. Die Liste dieser Forschungseinrichtungen wird von dem staatlichen kubanischen Zentrum für Gen- und Biotechnologie (CIGB) mit insgesamt 13 Freisetzungen angeführt. Das Internationale Kartoffelforschungszentrum (CIP) setzte sechsmal transgene Kartoffeln frei – davon in vier Fällen gemeinsam mit dem bolivianischen landwirtschaftlichen Forschungsinstitut (IBTA). Das mexikanische Untersuchungs- und Studienzentrum (CINVESTAN) brachte in insgesamt fünf Fällen transgene Kartoffel-, Mais- und Tomatenpflanzen aus. Das Internationale Forschungsinstitut für Mais und Weizen (CIMMYT) wird mit zwei Mais-Freisetzungsversuchen aufgeführt, und das argentinische Photosynthese- und Biochemie-Zentrum (CEFOBI) war für zwei Freisetzungsversuche mit transgenem Mais und Weizen verantwortlich. In sechs Prozent der Fälle waren keine Angaben darüber verfügbar, wer die Freisetzungen veranlaßt hatte.

Trends in Lateinamerika und Karibik

Für die Region Lateinamerika und Karibik zeichnen sich nach den Daten der UBA-Studie die folgenden Trends bei den Freisetzungen ab:
1. Das Freisetzungsinteresse konzentriert sich auf die fünf Pflanzen Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln, mit denen zusammen gut 80 Prozent der Freisetzungen durchgeführt wurden.
2. Herbizid- und Insektenresistenz sind die vorherrschenden Ziele der durchgeführten Freisetzungen, knapp zwei Drittel aller Freisetzungen wurde zu einem bzw. zu beiden Resistenzaspekten vorgenommen.
3. Nur zwanzig Prozent der Freisetzungen sind vom öffentlichen Sektor, d.h. von nationalen oder internationalen Agrarforschungseinrichtungen zu verantworten. Die überwiegende Zahl der Freisetzungen erfolgt durch oder im Auftrag von Konzernen des Agrobusiness. Unter ihnen dominieren die US-amerikanischen und nimmt das Chemie- und Gentechnikunternehmen Monsanto die Spitzenposition ein.
4. Die Kulturen, die Ziele und die Auftraggeber der Freisetzungen dokumentieren eindeutig, daß bei den durchgeführten Freisetzungen die Forschungsinteressen der Industrienationen im Vordergrund standen.

Anmerkung:
[1] Bei den aufgeführten Daten wurden Angaben über Puerto Rico (ist seit 1952 mit den USA assoziiert, ohne ein US-Bundesstaat zu sein) berücksichtigt. In Puerto Rico wurden 144 Freisetzungen durchgeführt. Nur die 21 genehmigten Freisetzungen wurden von uns erfaßt.

Vom ,,heiligen Korn” Asiens zur Gentech-Pflanze

Soja zählt zu den Leguminosen und wächst daher in Symbiose mit Knöllchenbakterien, über die Stickstoff aus der Luft aufgenommen und der Pflanze zugeführt werden kann. Stickstoffdünger erübrigen sich so-mit. Für den menschlichen Verzehr wird sie als Tofu (Sojaquark), Sojamilch, Sojaöl, Sojasauce oder Sprossen angeboten.
Ohne es zu wissen sind wir von Soja umgeben: Ob Würstchen, Mayonnaise oder Eis, Medikamente, Schädlingsbekämpfungsmittel, Dünger oder Sperrholz, selbst in Klebstoffen, in Plastik, Farben und Tapeten finden sich Bestandteile dieser Wunderbohne -und auch als Dieselersatz und Futtermittel kann Soja verwendet werden.
Soja steht für eine hochindustrialisierte Agrarwirtschaft, Gen-Soja ist die logische Konsequenz dieser Entwicklung. Ein „Nein!” zu gentechnisch manipulierten Sojabohnen ist gleichbedeutend mit der Infragestellung dieser Form der Landwirtschaft.
In den USA wird Soja bereits seit den 20er Jahren für Viehfutter an-gepflanzt. Nachdem die USA aufgrund des Exportstopps Mao Tsetungs keine Soja mehr aus China importieren konnten, mobilisierte die Verarbeitungsindustrie die US-amerikanischen Farmerlnnen. Dank Absatzgarantien und Subventionen wurde der Anbau dieser kleinen unscheinbaren Ölfrucht eine beliebte Alternative zu Mais und Baumwolle. Außerdem drückten Einfuhrzölle auf Kokos und eine Verarbeitungssteuer auf Kokosöl die Hauptkonkurrenten nieder.
„Die ehemals exotische Pflanze aus dem Fernen Osten wurde zu einer Speerspitze des amerikanischen Agrarexpansionismus. Der Marshallplan, die Industrialisierung der europäischen Viehzucht nach US-Vorbild und die US-Nahrungsmittelhilfe trugen die amerikanisierte Sojabohne in alle Welt. Soja ist -wie Weizen -zur Waffe geworden.” (Bertrand/Laurent/Leclerq, 1984)
Wirtschaftshilfe und Marshallplan
Nach Beginn des I. Weltkrieges mußten sich die USA um neue Eiweißquellen kümmern, und Forscherlnnen züchteten, ausgehend von den asiatischen neue ertrag-reiche Sorten. Der US-amerikanische „Soja-Komplex” entstand: Sojaanbau wurde hoch subventioniert, die Anbaufläche von Soja verdoppelte sich, Überschüsse des Sojaproduktes Preßkuchen waren die Folge. Preßkuchen dient als Futtermittel, und dank einer Kampagne, mehr tierisches Eiweiß zu konsumieren, stieg die Nachfrage nach Fleisch und somit nach Soja.
Darüber hinaus konnten neue Absatzmärkte für Soja durch sogenannte Nahrungsmittelhilfe erobert werden: Der Marshallplan von 1947 für den Wiederaufbau Europas und das Gesetz über Handel und Hilfe aus dem Jahre 1954 halfen dabei. Drei Ziele wurden verfolgt:
I . Abbau der amerikanischen Agrar-Überschüsse;
12. Lebensmittelhilfe sollte zu einem Instrument der Außenpolitik wer-den und die Verbindung zu „befreundeten” Ländern stärken;
23. Bei Naturkatastrophen sollte mit Nahrung geholfen werden können.

Also wurde Sojaöl günstig nach Spanien geliefert, als die olivenverarbeitende Industrie in der Krise steckte, weitere Empfängerländer waren Griechenland, Iran und Marokko. Zwischen 1955 und 1960 wurden bis zu drei Viertel der US-amerikanischen Olexporte in Form von Lebensmittelhilfen abgewickelt.
Im Zuge des Freihandels wurde in den sechziger Jahren in der Kennedy-Runde des GATT (Allgemeines Zoll-und Handelsabkommen) der Abbau von Zöllen und Mengenbeschränkungen für Soja für alle Zukunft beschlosssen. Aus dem „Fleisch der Erde”, wie man die Sojabohne in Asien nennt, wird tatsächlich Fleisch: Europäi- sches Schlachtvieh vertilgt heute jährlich 50 Millionen Tonnen Sojabohnen. Statistisch gesehen muß ein Rind 6 kg Sojabohnen oder 18 kg Weizen fressen, um 200 g Fleisch zu liefern. In den Industrieländern beginnt die „McDonaldisierung”:
Fast-Food, Fertiggerichte, Konserven, Tiefkühlkost, weniger Getreide und mehr tierische Produkte kennzeichnen diese Entwicklung.
Soja aus Brasilien
Parallel zu der 0lkrise brach 1973 eine Eiweißknappheit aus, innerhalb weniger Tage explodierten die Preise. Auslöser waren eine Trockenheit in Afrika, eine geringe US-amerikanische Ernte und der Einkauf der Sowjetunion auf dem Sojamarkt. Um genügend Futtermittel für die eigenen Kühe und Schweine zu haben, verhängten die USA ein Export- verbot auf Soja. Die europäischen Viehzüchterlnnen gerieten in Panik, denn eine moderne Massenviehzucht war nur mit Sojaimporten möglich. Die Abhängigkeit von den USA wurde den Agrarpolitikerlnnen in Europa und auch Japan schlagartig bewußt. Ersatz für Soja wurde dringend gesucht, und so rang sich die EU-Agrarlobby dazu durch, den Anbau eigener Ölsaaten zu forcieren. Der viele Raps in Norddeutschland ist ein Ergebnis dieser Subventionspolitik.
Brasilien trat als neuer Anbieter auf den Markt, Soja wurde das Standbein der brasilianischen Agrarpolitik: „Dafür rodete man gewaltsam die letzten Wälder der brasilianischen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná -und pflanzte Sojabohnen an -nicht zur Ernährung für die hungern-den Brasilianer, nein, für die dikken Mastkühe in Europa, für den Butterberg und die Milchseen.” (José Lutzenberger, ehemaliger brasilianischer Umweltstaatssekretär)
Brasiliens Leistungen auf dem Sojasektor sind beeindruckend: Verdreißigfachung des Anbaus, Verhundertfachung des Exports in 15 Jahren. Eine Wachstumsstrategie, die Brasilien reicher machen soll, doch die Rechnung geht nicht auf: Nicht nur die Einnahmen aus dem Sojaexport steigen, sondern auch die Ausgaben. Der Monokulturanbau von Soja verschlingt Dünge-mittel im Wert von jährlich fast 500 Millionen US-Dollar, Pestizide müssen größtenteils importiert werden, Traktoren und Mähdrescher sind ebenfalls erforderlich. Gewinnerinnen sind bekannte Firmen aus dem Agrobusiness wie Cargill, Bunge, Toepfer, Hoechst, Shell, Ciba Geigy, Ford, Caterpillar und Monsanto.

Roundup and Ready!
Nach 15 Jahren Forschungsarbeit hatte die Firma Monsanto die gen- technisch veränderte Roundup Ready Sojabohne (RRS) entwickelt, die resistent gegen das Unkrautvernichtungsmittel Roundup ist. Der Wirkstoff des Breitbandherbizides ist Glyphosat, dieser hemmt die Bio-synthese essentieller Aminosäuren in der Pflanze, die für Wachstum und Uberleben unerläßlich ist. Bis-her konnte Roundup nur zur Vorbereitung des Ackers vor der Aussaat verwendet werden, die resistenten RRS hingegen überleben jederzeit eine Glyphosatdusche.
Roundup ist der Verkaufsschlager von Monsanto, es ist das meist- verspritzte Herbizid der Welt. Doch die Spitzenstellung war in Gefahr: Die Akzeptanz von Chemie in der Landwirtschaft ist abnehmend und das amerikanische Patent für Round-up läuft im Jahr 2000 aus. Da die RRS nur gegen Roundup resistent ist, ist dieses Problem gelöst.
Der Verkauf von RRS steigt rasant: 1996 wurden in den USA zwei Prozent der Anbaufläche mit Gen-Soja bepflanzt, 1997 hat sich die Fläche auf etwa 20 Prozent ausgeweitet. In Argentinien sind bereits 150.000 Hektar mit gentechnisch veranderten Sojabohnen bebaut, Tendenz steigend. Es ist da-von auszugehen, daß in den USA in wenigen Jahren ausschließlich gentechnisch veränderte Soja angebaut wird.
Die nächste Ernte erreicht bald Hamburg. In welchen Lebensmitteln genmanipuliertes Soja eingesetzt wird, ist noch immer ungewiß: Zwar müssen ab November 1997 genmanipulierte Sojabohnen und Lebensmittel mit genmanipuliertem Sojamehl und Sojaschrot gekennzeichnet werden, Lecithin aus Sojaöl hingegen gilt als Zusatzstoff und dafür schreibt die „Novel-Food Verordnung” keine Kennzeichnung vor. Soja ist nur der Anfang, gen- technisch veränderter Raps, Mais und Baumwolle werden ebenfalls angebaut und drängen auf den europäischen Markt.
Kerstin Lanje

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