Margaritas lange Reise nach Nueva York

Am 4. November 1997 bin ich mit einem großen Schmerz im Herzen aus meinem Haus gegangen. Meine Familie war sehr traurig, daß ich ging. Mit diesem Schmerz habe ich mich verabschiedet und zog mit anderen Leuten in Richtung San Salvador los. Wir kamen in einem Hotel in San Salvador an. Es war schon spät in der Nacht, und wir blieben dort bis zum anderen Tag. Gegen 11 Uhr morgens kam ein Bus, um uns abzuholen. Wir sind zu einem anderen Hotel gefahren, wo wir uns mit ganz vielen Leuten trafen – es waren ungefähr 75 Personen. Dann kamen zwei Busse, zwei Gruppen wurden gebildet, und wir fuhren Richtung Guatemala.
Gegen 3 Uhr nachmittags waren wir an der Grenze, wo wir alle ausstiegen, damit wir die Aufenthaltserlaubnis für Guatemala bekämen. Wir fuhren weiter und gegen 6 Uhr waren wir in der Hauptstadt. Dort hielten wir uns 15 Minuten auf. Dann ging es weiter, und wir fuhren die ganze Nacht im Bus, bis wir an einen Ort kamen, der Naranjo heißt. Von dort gibt es viele Wege, um an die Grenze nach Mexiko zu kommen. Wir mußten vier Tage bleiben. Danach haben uns die coyotes (so nennt man die Leute, die man bezahlt, damit sie einen in die USA bringen) abgeholt und an das Ufer eines Flusses gebracht. Dort sind wir in ein paar Boote eingestiegen.

Coyotes als Wegführer

Wir fuhren in der Nacht auf dem Boot ca. zwei Stunden, bis wir an einen Ort kamen, der Campamento Santa Clara heißt. Dort ruhten wir uns 15 Minuten aus. Die Männer gingen los, zu Fuß, und uns Frauen nahmen sie auf einem Traktor mit. Wir stiegen ein, und als wir bereits aufgestiegen waren, kam eine Gruppe von den Männern zurückgerannt. Sie waren sehr erschöpft und sagten, daß wir aussteigen sollten, weil an der Grenze zu Mexiko eine Gruppe von Soldaten sei, und daß einige von der Gruppe gefaßt worden seien. Nach und nach tauchten auch die anderen Männer auf. Noch am anderen Tag kamen einige Männer, die in den Wäldern geschlafen hatten, weil sie in der Dunkelheit nicht zurückkommen konnten. Aber noch immer fehlten elf von uns. Die Soldaten hatten sie gefaßt. Wir verbrachten also die ganze Nacht und den ganzen Tag dort. Es gibt dort einige Häuser, und die coyotes kauften den Bewohnern dort eine Kuh ab, schlachteten diese und gaben uns zu essen. Als es dunkel wurde, es war 12 Uhr nachts, haben uns die coyotes abgeholt. Wir wanderten eineinhalb Stunden. Gott sei Dank waren dort keine Soldaten, und wir konnten ohne Gefahr passieren. Gegen 1.30 Uhr kamen wir an einen Ort mit Namen San Luis, wo wir uns in einige Häuser flüchteten. Der coyote zahlte, damit wir dort bleiben konnten. Er bezahlte auch für das tägliche Essen. Dort blieben wir also. Sie sagten, wir könnten nicht weitergehen, weil es einen Posten mit mexikanischen Soldaten gäbe.

Warten, wandern, rennen

Erst neun Tage später gingen wir weiter. Wir starteten gegen 7 Uhr abends. 20 Minuten, nachdem wir losgegangen waren, mußten wir rennen, und ich stürzte und verstauchte mir den Fuß. Es tat fürchterlich weh. Der Fuß ist mir angeschwollen. Und je mehr ich wanderte, desto mehr tat es weh. Später ging ich gestützt auf die Schultern einer compañera. Danach hat mir ein Mann aus Honduras geholfen, meinen Rucksack zu tragen. So sind wir die ganze Nacht gewandert bis 3.30 Uhr morgens. Dann kamen wir an das Ufer eines Flusses und stiegen wieder in Boote, mit denen wir dann vier Stunden unterwegs waren. Als es langsam hell wurde, kamen wir an einen Ort, wo sie uns aus den Booten rausließen. Wir wanderten in schlammigem Wasser. Ich hielt es kaum aus zu gehen, mit meinem Schmerz im Fuß. Bei jedem Schritt fiel ich hin. Dann hat mich der Honduraner, der meinen Rucksack getragen hatte, am Arm gefaßt und mir beim Gehen geholfen. So sind wir 45 Minuten gegangen, ich immer mit der Hilfe dieses Mannes, bis wir aus dem Schlamm heraus waren. Wir gingen auf einer Straße, bis wir an einem bestimmten Ort in einige Laster einstiegen. Da wir in Guatemala mit mehr Leuten zusammengekommen waren, waren wir jetzt fast 200 und haben uns auf zwei Laster verteilt.
Um 7 Uhr morgens fuhr der Laster los. Dann wurde es immer wärmer. Wir hielten die Hitze nicht mehr aus. Alle fuhren wir stehend, nur drei Kinder und zwei schwangere Frauen fuhren vorne, sitzend, auch ich fuhr im vorderen Teil. Und dann, nach kurzer Zeit, wurde es den Leuten schwindelig, weil der Laster mit einer Plane versiegelt war und keine Luft hereinkam. Es war wie die Hölle. Fast alle Männer fielen um wegen Müdigkeit, wegen Übernächtigung, und der Hunger ließ sie schwindelig werden. Außerdem hatten wir alle unsere schmutzigen Sachen an, voll von Schlamm. So entstand ein sehr unangenehmer Geruch, aber Gott sei Dank wurde nur eine vierzehnjährige Frau ohnmächtig.
Dann aber mußten wir die Grenzkontrollen, la migra, passieren. Zwei passierten wir – wir alle in absoluter Stille, weil der Fahrer zur migra sagte, daß er andere Dinge in seinem Laster transportiere. Aber die dritte Kontrolle hielt uns an. Die migra stieg ein. Weil die Leute es nicht mehr aushielten, hatten sie mit Messern einige Löcher in die Plane geschnitten, damit Luft hereinkäme. Das hatte die migra bemerkt und konnte durch die Löcher sehen, daß Menschen im Laster waren. Sofort entfernten sie die Kartons, die den Blick in den hinteren Teil des Lasters verdeckten, und wir mußten alle aussteigen.
Wir mußten zur Kontrollstelle. Uns Frauen und Kinder brachten sie außerhalb des Zaunes unter. Aber die Männer wurden eingesperrt. Wir wuschen uns alle und zogen uns um. Weil wir so Hunger hatten, kauften wir ein Brot mit Fleisch und eine Cola. Danach brachten sie uns in ein anderes Gefängnis, wo sie uns zu essen und Wasser zu trinken gaben. Mir ging es sehr schlecht und ich konnte kaum mehr laufen wegen meiner geschwollenen Füße voller Blasen. Ich ertrug meine Schuhe nicht mehr und zog sie aus. Dann sagte uns der coyote leise: Ich werde nicht nach El Salvador zurückkehren. Ich werde es noch einmal mit euch versuchen. Den coyote hatten sie nämlich auch geschnappt, aber wir hatten ihnen erzählt, daß wir allein unterwegs gewesen seien. Gegen 10 Uhr nachts haben sie uns frei gelassen.
Ein Bus des Grenzschutzes brachte uns zurück und gegen 6 Uhr morgens kamen wir in Mesillas an, an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Der coyote brachte uns zu einem Hotel in der Nähe und sagte zu uns allen: Wir werden nicht zurückkehren, wir gehen weiter, noch einmal, vorwärts. Ich sagte ihm, daß ich zurückfahren würde, weil ich krank sei. Aber er sagte mir, daß wir drei Tage hier bleiben würden und daß es mir nach diesen drei Tagen besser gehen würde. Er kaufte mir Tabletten und ein compañero hat mir den Fuß massiert, und so ging es meinem Fuß nach drei Tagen besser.

Die ersten geben auf

Wir fuhren wieder los, zwei Busse mit uns allen. Das heißt, nicht mit allen, weil ungefähr 20 zurückfuhren. Sie sagten, sie würden diese schreckliche Reise nicht aushalten, und wir hätten ja noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Es ging durch viele Teile Guatemalas, den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht, bis wir am Morgen gegen 5 Uhr wieder in Naranjo ankamen, wo wir schon einmal gewesen waren. El Naranjo ist ein Ort im Petén, ein Departamento von Guatemala. Dort blieben wir zwei weitere Tage. Dann gingen wir los und in Booten überquerten wir den Fluß. Wir stiegen in große Autos ein und fuhren auf einer Straße, auf der ich schon im August gefahren war, als ich bei meinem allerersten Versuch scheiterte, sie mich erwischt hatten und ich nach Hause zurück bin. Ich bin also noch einmal auf denselben Wegen gefahren, teilweise gingen wir aber auch zu Fuß. Wir kamen an einen Ort, der Buenos Aires heißt, wie die Hauptstadt von Argentinien, mitten in den Bergen. Von dort sind es zweieinhalb Stunden bis zur Grenze nach Mexiko. Vier Tage waren wir dort in Häusern. Die coyotes zahlten Unterkunft und Essen. Nach vier Tagen gingen wir weiter.
Gegen 4.30 Uhr am Nachmittag waren wir in der Nähe der Grenze. Wir warteten, bis es dunkel wurde. Wir waren klatschnaß, weil es zu regnen begonnen hatte. Alle Wege waren voller Wasser. Als es dunkel war, überquerten wir die Grenze, mehr rennend als gehend. Das Unwetter hörte nicht auf, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Wir gingen die ganze Nacht, durchnäßt, mit kurzen Pausen. Wir gingen durch ein Stück voller Schlamm und nur mit großer Anstrengung bekamen wir die Füße hoch. Manchmal reichte uns auch das Wasser bis zum Gürtel.

Hunger und Zweifel

Als es hell wurde, kamen wir zu einer Scheune am Ufer eines Flusses. Der Ort heißt Cariba und gehört schon zu Mexiko. Dort blieben wir viele Tage. Wir waren hungrig. Alle waren zerstochen von den Mücken. Viele sind krank geworden. Ich hatte nur eine Grippe. Es verging Tag um Tag und sie holten uns nicht ab. Wir begannen schon, die Hoffnung zu verlieren. Viele vertrauten den coyotes nicht mehr. Einige gaben auf und kehrten um. Wir blieben mit ungefähr 60 Leuten zurück. Dann – nach ca. 14 Tagen – brachten sie uns Essen, und in der Nacht gingen wir wieder los. Sie haben uns in kleinen Booten transportiert. Wir überquerten den Fluß und kamen zu einer Straße. Einige Autos kamen und brachten uns zu einem Ort namens Aguila, der zum Bundesstaat Tabasco gehört. Von dort ging es mit den Autos zu einer Finca in der Nähe, wo wir noch einmal zwei Wochen blieben. Sie sagten uns, daß uns wieder ein Laster abholen würde, aber die Leute verzweifelten wieder. Da wir nicht genug zu essen hatten, war es so, daß wir immer nur jeden zweiten Tag essen konnten. Deswegen gaben noch einmal 28 von uns auf und kehrten um. Wir waren noch jetzt noch 32, dazu noch zwei coyotes. Ich habe die Hoffnung nicht verloren, ich wollte weiter, und ich habe Gott um Hilfe gebeten.
Mit den 32 Leuten fuhr der Laster los, der endlich kam, um uns abzuholen. Nun konnten wir sehr bequem fahren, weil er sehr groß war und wir alle liegen und schlafen konnten. Wir stiegen gegen 2 Uhr nachts ein und beteten alle zu Gott, daß sie uns nicht wieder anhalten würden. Aber der Fahrer bezahlte alle Posten der migra, damit sie uns durchließen. Angeblich sind die mexikanischen Soldaten unbestechlich, sie wollen das Vaterland nicht verraten. Aber sie haben uns nie angehalten. Man mußte ihnen nur das Geld geben, und wir konnten weiterfahren.

Schock nach kurzem Glück

Gegen 8 Uhr morgens waren wir in Puebla. Dort waren wir zwei Tage lang in einem Hotel. Von dort ging es weiter, im Auto, im Bus oder im Taxi, nach D.F., der großen Stadt von Mexiko. Mit großer Neugier habe ich alles angeschaut in dieser großartigen Stadt, in der ich zum ersten Mal war. Gegen 8 Uhr abends haben sie uns zum Busbahnhof gebracht und zahlten den Bus nach Matamoros zur Grenze zu den Vereinigten Staaten. Ich war glücklich, weil ich noch nie soweit gekommen war.
Aber dann weiß ich nicht, was passierte. In meiner Gruppe waren wir zu siebt mit dem Führer in einem Auto unterwegs, als plötzlich ein Wagen der migra auftauchte – sie haben uns geschnappt. Wir mußten in ihr Auto einsteigen. Aber der coyote gab uns ein Zeichen, daß wir abhauen sollten, und das taten wir. Mein Rucksack verhakte sich im Auto und so rannten die anderen mich über den Haufen. Deswegen konnte mich die migra zunächst festhalten, mich und noch einen Jungen. Ich habe dem Polizisten gesagt: Laß mich los! Als er mich an der Schulter packte, verpaßte ich ihm einen Kinnhaken und riß mich mit aller Kraft los. Ich rannte, so schnell ich konnte, und sagte auch dem Jungen, daß er laufen sollte, was er auch tat. Ich erreichte den coyote und die anderen und wir versteckten uns hinter einem großen Wagen. Die Autos der migra fuhren auf der Straße vorbei. Ich betete, und mein Herz schlug, und ich betete mehrmals den 91. Psalm. Dann kam der coyote und nahm uns mit zu einem anderen Ort. Er sagte uns, wir sollten uns unauffällig verhalten. Dann kam der Führer, und wir fuhren im Bus und in der Metro. Gott sei Dank haben sie uns nicht noch einmal festgenommen.
Am anderen Tag trafen wir alle anderen wieder und fuhren mit einem Bus weiter. An jedem Posten der migra zahlten die coyotes. Um 5 Uhr morgens kamen wir in Matamoros an. Ich glaubte, zu träumen, dachte schon, US-auf amerikanischen Boden zu stehen. Aber wir waren noch lange nicht an unserem Ziel.

Endlich am Rio Bravo

Wir versteckten uns in einem Wald. Dann brachten sie uns mit einigen Autos in die Nähe des Rio Bravo. Abends um 8 Uhr gingen wir wieder los und begannen zu wandern. Um 1.30 Uhr waren wir am Fluß. Ich hatte Angst, weil ich nicht schwimmen kann und das Wasser tief war. Aber ein Mann hat mich hinübergebracht. Ganz schnell zogen wir uns die nassen Sachen aus und gingen weiter. Wir waren darauf eingestellt, daß wir rennen müßten, wenn es nötig wäre, aber Gott sei Dank war kein Grenzposten da. Wir konnten passieren. Nach 15 Minuten kamen wir zu einem Dorf. Nach kurzer Zeit kam ein Auto und nahm uns mit. Ich war eine der ersten, die einstieg. Die anderen mußten warten, sie wurden später abgeholt. Wir wurden zu einem Haus in Bronsville/Texas gebracht. Dort telefonierten wir mit denen, die auf uns warteten, denn wir waren ja schon in den USA. Der coyote bat nun um das Geld, das unsere Verwandten für unsere Reise bezahlen sollten. Sie haben das Geld geschickt. Weiter konnten wir aber noch nicht.

Im Land der Träume ist es bitterkalt

Ich hatte immer noch Angst, weil wir noch die Wüste La Quilena durchqueren mußten. Nach vierzehn Tagen Warten haben sie uns abgeholt, wieder mit dem Auto. Diesmal war es ein Auto von einem Unternehmen. Sie haben uns unter dem Werkzeug versteckt, damit niemand den Verdacht schöpfen könnte, daß das Auto Menschen transportierte. Es war für alle unbequem, einer lag auf dem anderen, und so fuhren wir im Glauben an Gott, daß alles gut ginge. Als wir an den Ort kamen, wo wir wieder zu Fuß gehen mußten, sind wir alle schnell vom Auto runter. Wir mußten über einen sehr hohen Zaun klettern und fingen wieder an zu wandern. Der Führer, der diese Wege kannte, ging voraus. Alles war voller Wasser. Weil es am Vortag Eis geregnet hatte, war das Wasser sehr kalt, so daß die Füße wehtaten.
Am frühen Morgen konnte ich nicht mehr. Ich glaube, daß meine Füße gefroren waren. Meine Hose hatte mir die Beine wundgeschürft. Ich war völlig erschöpft und müde. Wir alle konnten nicht mehr, aber wir wanderten, bis es hell wurde. Dann versteckten sie uns in einem Wald, wo wir den ganzen Tag blieben. Ich schlief fest. Als ich aufwachte, wollte ich aufstehen, aber ich konnte nicht. Ich spürte meine schweren Füße und mein ganzer Körper tat weh. Ich konnte meine Füße nicht bewegen. So blieb ich auf derselben Stelle liegen. Alle schliefen. Nach diesem Tag, den wir zum Ausruhen hatten, waren wir alle wieder bereit zum Weitergehen.
Als es dunkel war, brachen wir auf. In der Nacht wurde es wieder sehr kalt, und wieder war es kaum auszuhalten. Wir gingen über Sand und ich fiel weit zurück, weil ich nur mit Schwierigkeiten gehen konnte. Ich konnte nicht mehr. Die anderen gingen weiter. Dann aber wurden es immer mehr, die nicht mehr konnten. Ich habe Gott um Kraft gebeten und er hat sie mir gegeben. Ich hatte zwei Geschwulste an der Leiste, meine Knie taten weh und mit meinen Füßen war es noch schlimmer. Gegen 4 Uhr kamen wir an den Ort, wo auf uns gewartet wurde. Wir überquerten Straßen, und wir mußten rennen, und ich sagte dem coyote, daß ich nicht mehr konnte. Er nahm mich an der Hand und half mir beim Gehen. Wir mußten an einer Bahnlinie entlang laufen. Ich humpelte. Aber ich lief, und schließlich kamen wir an. Es kam mir vor, als ob es Jahre gedauert habe.
Um 5 Uhr morgens kam ein Auto, das uns abholte. Zu elft stiegen wir ein. Die anderen mußten auf das nächste warten. Es war unbequem, aber ich fühlte mich besser, weil wir nicht mehr wandern mußten. Nach zehn Minuten sagte der Fahrer plötzlich: Mein Gott, die Polizei ist hinter uns. Ich spürte mein Herz schlagen und hatte große Angst. Der Fahrer sagte: Betet, daß sie uns nicht anhalten. Ich würde nur schlecht laufen können, wenn es darauf ankäme und dachte, daß sie mich festnehmen würden, weil ich nicht mehr konnte. Ich betete, aber es war umsonst.
Nachdem die Polizei sechs Minuten hinter uns her gefahren war, machte sie die Warnlichter an. Der coyote sagte, daß wir alle herausspringen und laufen sollten. Ich war eine der ersten, die es wagte, aber beim Herausspringen stürzte ich. Ich stand schnell wieder auf und lief so schnell ich konnte. Als der Polizist Halt! rief, lief ich noch schneller. Der Führer lief voraus und wir folgten ihm. Wir liefen lange Zeit, dann versteckten wir uns. Aber vielleicht hat uns die Polizei nicht richtig verfolgt. Sie nahmen allerdings drei Frauen fest, die einfach nicht mehr laufen konnten. Dann ging der Führer mit dem coyote los, um nach einem Weg zu suchen. Sie sagten uns, sie wollten uns in der Nacht abholen.
Wir blieben also allein und hatten Angst, daß man uns finden würde. Aber Gott sei Dank kam den ganzen Tag niemand. In der Nacht kehrte der coyote zurück, um uns abzuholen. Weil es dunkel war, erinnerte er sich nicht an den Weg, aber dann kamen wir an einen Ort mit einem Haus, das nur noch aus Teilen der Wände bestand – alles alt und kaputt. Dort versteckten wir uns. Der Fahrer war noch nicht da, er kam erst, als es schon fast hell wurde. Wir stiegen ein und beteten zu Gott, daß uns nichts passieren möge, und so kamen wir zu einem Hotel in Corpus Christi.
Wir aßen, tranken Wasser und wuschen uns. Wir hatten uns seit fünf Tagen nicht geduscht. Ich genoß es und fühlte mich sehr gut nach der Dusche. Danach legten wir uns in ein großes Bett. Aber weil ich schon so viele Tage nicht mehr in einem Bett geschlafen hatte, kam es mir sehr unbequem vor. Als ich wieder aufwachte, spürte ich ich meinen Körper überall. Es war ein Gefühl, als ob Dutzende von Stockschlägen auf ihn geprasselt wären. Er war voller dunkler Flecke. Aber ich war glücklich, weil ich einen Teil der Gefahr hinter mir hatte. Wir blieben noch einen weiteren Tag an diesem Ort.

Ein letzter Schreck vor dem Ziel

In der Nacht fuhren wir mit dem gleichen Auto Richtung Houston/Texas. Das Auto war ständig kaputt, aber wir kamen an, und ich war sehr glücklich und dankte Gott. In Houston blieben wir zwei Tage. Am dritten Tag ging das Gerücht um, die Polizei wisse, daß wir in diesem Haus waren. Der Führer wollte uns deshalb zu einem anderen Ort bringen. Zuerst die Frauen, dann wollte er zurückkommen, um die Männer zu holen. Aber wegen des Gerüchtes, die Polizei komme, wollten sie nicht bleiben, und so sind die Männer auch eingestiegen, so daß wir elf Leute und der Fahrer waren. Nach kurzer Zeit machte das Auto ein sehr häßliches Geräusch. Es war völlig überladen, weil es nur für fünf Personen gebaut war. Das Auto fing nun auch an zu rauchen. Wir sprangen alle heraus und rannten. Ich habe nicht einmal zurückgeschaut. Man hörte schon eine Sirene. Der Fahrer versteckte uns in dem Garten eines Hauses in der Nähe. Dann ging er, um sich umzusehen, kam aber plötzlich zurück und rief: Wir müssen abhauen! Er bildete zwei Gruppen, zu jeder Seite eine. Wir sahen das Auto, das wir brennend zurückgelassen hatten, daneben Polizei und Feuerwehr. Wir kamen zu einer Tankstelle. Von dort holten sie uns ab und brachten uns zu einem Hotel, wo wir die Nacht über blieben. Am nächsten Morgen ging es zu einem, Haus, in dem wir dann fünf Tage waren. Dann kam ein Benz und brachte uns nach Nueva York. Das hat zwei Nächte und zwei Tage gedauert. Es war das erste Mal, daß ich die große Stadt Nueva York sehen konnte, von der ich so geträumt hatte. Und trotz der Alpträume, die ich durchgemacht habe, bin ich schließlich angekommen und habe meinen Freund getroffen, den Mann, den ich liebe.
Das war die große Geschichte, die ich erlebt habe, während der großen Reise. Ich bin stolz, daß ich erfolgreich gewesen bin, denn schließlich bin ich angekommen, am 22. Dezember 1997.

Übersetzung: Bernd Kappes

PS: Margarita wohnt nun zusammen mit ihrem Freund in New York bei der Familie dessen Patenonkels, der auch das Geld für den coyote vorgestreckt hatte. Sie putzt die Wohnungen reicher, weißer US-Amerikaner. Einen anderen Job könnte sie wegen ihres Status als Illegale auch gar nicht ausüben. Margarita ist zufrieden und betont, daß sie höchstens vier oder fünf Jahre mit ihrem Freund in den USA bleiben will. Dann soll es mit dem gesparten Geld nach El Salvador zurückgehen, um dort ein gutes Leben zu beginnen.
Die Theatergruppe des Weltladen Marburg hat den Text als Körpertheater inszeniert. Die Aufführung findet am 5. Juli, 17.00 Uhr, in der Waggon-Halle Marburg statt.

Straßenkinder und Kellerratten

Das Stadtzentrum gleicht einem Ameisenhaufen. Aus allen Richtungen strömen Menschen durch die Innenstadt von Porto Alegre. Eine nahezu endlose Reihe von Omnibussen schluckt die von der Arbeit nach Hause fahrenden Menschen. Es ist einer der zentralen Plätze der Stadt, wo die große Ausfallstraße Avenida Borges de Medeiros auf die Fußgängerzone der Rua das Andradas trifft, und sich am frühen Abend Männer und Frauen versammeln, um alle Arten von Gebrauchsgütern und Kleidungsstücken vom großen Wandspiegel bis zur Haarspange anzubieten.
Inmitten der Menschenmenge sitzt Max. Er hat es sich zusammen mit seiner Freundin auf einem Betonsockel gemütlich gemacht, wo sonst Folkloregruppen auftreten und Sektenprediger ihre religiösen Botschaften vermitteln. Obwohl schon Herbst, ist es noch sehr warm, so daß Max seine mit Nieten und zahllosen Parolen versehene Lederjacke auszieht und sich darauf setzt. Er hat trotz seiner zwanzig Jahre einen fast kindlichen Gesichtsausdruck. Ein Freund mit dem Namen Flavio hilft ihm, mit einer Bürste und einer Mischung aus Klebstoff und Haargel die blondgefärbten Haare zu einem Irokesenkamm aufzustellen. In Brasilien nennen die Punks ihre Frisur „Mohicano“. Bis auf den kleinen vokabularischen Unterschied gleichen sie ihren Gleichgesinnten aus Übersee, die seit Beginn der achtziger Jahre zum Erscheinungsbild europäischer Großstädte gehören.
„In Brasilien hat Punk vier oder fünf Jahre später als in Europa und den USA eingesetzt. Dies lag vor allem an der Militärdiktatur und gilt auch für die anderen südamerikanischen Länder“, erzählt Max, der sich wie seine Freunde gut auskennt in der Geschichte der relativ heterogenen Punkbewegung, die für ihre Mitglieder mehr als nur ein Modephänomen ist, sondern ein Lebensgefühl, das unter anderem auch sozialen Halt bietet. Max gibt sich gesprächsbereit und fragt seinerseits nach seinen Gleichgesinnten in Deutschland.

Bunt und punkig erst nach der Militärdiktatur

Die schillernden Paradiesvögel sind vor allem in den südamerikanischen Ländern mit zumeist europäischen Einwanderern anzutreffen, obwohl man in Brasilien auf Punks jeder Hautfarbe trifft. Deren Musik ist in den siebziger Jahren in England entstanden und damals schnell zum Symbol von „No Future“ geworden. Sie hat in den letzten Jahren nach einer langen Durststrecke weltweit eine Renaissance erlebt. Dies mag zum einen am kommerziellen Erfolg amerikanischer Bands wie Green Day oder Offspring und der damit verbundenen Wiederentdeckung des Punk durch die Musikindustrie liegen, aber auch an der sozialen Krise in den Industrieländern, die immer mehr von Arbeitslosigkeit betroffene Jugendliche ausgrenzt und auf die Straße treibt. Straßenkinder sind bekanntlich nicht mehr allein ein lateinamerikanisches Phänomen, sondern auch in Deutschland zur traurigen Realität geworden. Punk ist für viele eine Ausdrucksform ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit und gleichzeitig die Gelegenheit, in einer Gruppe so etwas wie Solidarität zu erleben. Dies gilt in zunehmendem Maße auch für die Jugendlichen in Lateinamerika, die sich erst nach dem Ende der Militärdiktaturen auf eine solch auffallende Art und Weise in der Öffentlichkeit zeigen konnten. Unter den Militärs wäre die Anwesenheit eines Bunthaarigen mit Nietenarmband und Lederjacke in der Fußgängerzone einer südamerikanischen Stadt undenkbar gewesen. So sind es zum Beispiel in Brasilien bis vor kurzem noch verschwindend wenige Jugendliche gewesen, die Punkrock hörten und sich dementsprechend kleideten.

Politische Songs und Fanzines

Baffo, ein dunkelhäutiger Punk, hält ein Fanzine in den Händen. Es ist eine selbst angefertigte Zeitschrift mit Songtexten, politischen Statements, Kurzartikeln und Veranstaltungshinweisen. Die Texte befassen sich zumeist mit der Situation der Punks oder mit der allgemeinen sozialen Lage in Brasilien, haben also primär politischen Charakter. Sie prangern die soziale Ungleichheit, die Aussichtslosigkeit für die Jugendlichen und die juristische Ungerechtigkeit an. Sie erzählen von gewalttätigen Fußballfans und rechtsradikalen Todesschwadronen, die Jagd auf Straßenkinder machen. Kaum ein Thema wird ausgelassen. In ihren Refrains werfen die Punks den politischen Parteien aller Couleur Verrat vor und treten für die Indígenas ein, mit denen sie sich verbunden fühlen und deren Ohnmacht ihnen nur allzu bekannt ist. In Karikaturen machen sie sich über die Regierungspolitiker lustig. Unpolitische Texte, wie man sie vor allem bei sogenannten „FunPunk“-Gruppen aus Nordamerika und Europa findet, gibt es fast nicht. Sogar ein banales Liebeslied verweist auf die Armut und den Minderheitenstatus als gemeinsamen Nenner. Auf den ersten Blick sind die Punks bekennende Anarchisten. Sogar der Partido dos Trabalhadores (PT) stehen sie skeptisch gegenüber. Sie unterstützen am ehesten die Landlosenbewegung der Movemento sem Terra (MST) oder lose Organisationen wie Schwulen- und Lesbengruppen. In Argentinien und Chile spielen die pazifistischen und antimilitaristischen Punks in ihren Liedern stärker als in Brasilien auf die grausame Rolle des Militärs in den beiden Staaten an. Dort stehen Gruppen wie Fiskales ad hok aus Santiago in enger Beziehung zu Autonomen.
Ein Mädchen mit blaugefärbten Haaren bringt einen ganzen Stapel der selbstgemachten Hefte und verteilt sie an Passanten. Die meisten ignorieren sie und werfen nicht einmal einen Blick auf die Fanzines, die für einen freiwilligen Unkostenbeitrag zu haben sind. „Wir verbringen unsere Zeit mit der Herstellung von Fanzines, mit Musikmachen oder wir treffen in der Stadt unsere Leute“, erklärte Baffo. „Ein Freund hat eine Schreibmaschine, auf der wir die Texte schreiben. Die Zeichnungen malen wir selbst. Anschließend kleben wir alles auf einen Bogen Papier, vervielfältigen das Ganze im Kopierladen und fertig ist das Fanzine.“

Kritik an sprachloser Samba

An diesem Tag sind ungefähr dreißig Punks auf dem Platz. Am Wochenende zuvor hat ein Festival mit Bands aus ganz Südbrasilien stattgefunden, so daß Konzertbesucher sowohl aus den Nachbarprovinzen Paraná und Santa Catarina als auch aus Uruguay angereist sind. So zum Beispiel „China“, der mit seinen 28 Jahren auffällt unter seinen zumeist 16- bis 20jährigen Freunden. „Ich bin schon seit über zehn Jahren dabei und habe zu Hause in Curitiba schon mit vielen Bands gespielt.“ Er holt eine Kassette mit Aufnahmen seiner Bands, den Ratos Nerviosos („Nervöse Ratten“), hervor. Für ein oder zwei Reais verkauft er sie mit spärlichem Erfolg auf der Straße: „Nichts gegen Samba. Das ist die Musik des Volkes. Aber sie ist dem Kommerz unterworfen und vor allem: sie ist sprachlos. Die Reichen haben die Samba vereinnahmt und lassen sie den Armen als Zuckerbrot. Wir dagegen spüren nur allzu oft die Peitsche.“
Die Punks sind wie in Europa mittellos, doch fällt auf, daß keiner von ihnen vor Ohnmacht tatenlos auf der Straße sitzt, sondern sein Geld entweder mit der Herstellung von Fanzines oder mit Straßenmusik verdient. Staatliche Unterstützung für arbeitslose Jugendliche gibt es nicht und Jobs sind in aussichtsloser Ferne. „Die Leute hier, die ihre Waren verkaufen, sind entweder arbeitslos oder haben drei bis vier Jobs, um überhaupt überleben zu können. Ein Punk hat erst gar keine Chance, eine Arbeit zu bekommen“, so China. Die Frage, weshalb er überhaupt Punk sei, hätte sich eigentlich erübrigt: „Das ist Ehrensache. Die anderen haben nur Fußball im Kopf oder verblöden vor der Glotze. Wir sind aktiv. Wir machen Musik oder organisieren Treffen, um Erfahrungen auszutauschen und zusammenzuhalten.“ In seiner Heimatstadt wohnt er zusammen mit seinen drei Brüdern in einer zehn Quadratmeter großen Hütte ohne fließendes Wasser. Stolz weist er darauf hin, daß Punk für ihn eine Möglichkeit ist, den Kopf aus der Enge der von Kriminalität und Analphabetismus geprägten Favelas herauszustrecken.

Musik statt Klebstoff

„Wir werden nie reich, so wie die berühmten Gruppen um Ratos de Porâo (Kellerratten), die inzwischen sogar in Europa touren und durch MTV zur Edelpunkband für Großbürgerkids geworden sind“, sagt Max. Er lacht verächtlich: „Die Kellerratten. Daß ich nicht lache. Diese Wohlstandssöhnchen haben bestimmt noch nie eine Ratte gesehen. Wir dagegen kommen wirklich von der Straße“, fügt er hinzu und zeigt uns stolz eine weiße Ratte, die aus dem Ärmel seiner Freundin krabbelt. Früher habe er Klebstoff geschnüffelt. Aber er habe Angst bekommen, dadurch abzustumpfen und nicht mehr texten und Gitarre spielen zu können. „Das Beste an Punk ist die einfache Aussage, daß jeder etwas machen kann. Du mußt nur Mut haben und eine Gitarre.“ Inzwischen haben er und seine Freunde nicht nur landesweit Briefkontakte, sondern erhalten auch Post von finnischen oder australischen Bands. Kontakte knüpfen sei ihm besonders wichtig. Im nächsten Sommer will man sich treffen, um gemeinsam nach Montevideo zum ersten südamerikanischen Treffen von Gleichgesinnten zu fahren, wo auch politische Gruppen wie die argentinischen Quebrachos erwartet werden. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei sind schon vorprogrammiert. China deutet lächelnd auf sein T-Shirt mit der Aufschrift „Polícia, foda-se!“ – „Bullen, verpißt Euch!“, ein wenig dezenter Hinweis an die Polizei, daß sie nicht gern gesehen wird.

Konfrontation mit
Polizei und Skins
Punk ist für ehemalige Straßenkinder nicht nur eine Möglichkeit zur Flucht aus einem von Hoffnungslosigkeit geprägten Alltag und vielleicht die einzige Chance, eine Spur gemeinschaftlicher Solidarität zu finden. Die Gruppe bietet auch Schutz, denn das Leben auf den brasilianischen Straßen ist aus den bekannten Gründen gefährlich. China hat schon Bekanntschaft mit der brutalen Vorgehensweise der Polizei gemacht. Eine Revolverkugel hat eine Narbe am Oberarm hinterlassen, als er zusammen mit Freunden vor der Polizei fliehen mußte: „Es war nur ein Streifschuß. Halb so schlimm.“ Einen seiner Freunde hat es dabei erwischt. Er hat ihn nie mehr wiedergesehen. Dabei waren sie nur in eine Kontrolle geraten und konnten sich nicht ausweisen. Außerdem gibt es gelegentlich gewalttätige Auseinandersetzungen mit Skinheads. Er zeigt auf die Spuren von Messerstichen. „Ihr Europäer meint immer, hier gebe es keinen Rassismus. Aber mich hätten sie fast totgeschlagen“, erzählt Baffo, „Das Leben hier ist gefährlich. Und die Polizei um einiges brutaler als eure.“
Baffo, Max und die anderen Mitglieder der Band Estomagos vacios („Leere Mägen“) haben einen Monat zuvor nach europäischem Vorbild ein Haus besetzt. „Die Besetzung war kein Problem, denn die Polizei kümmert sich nicht darum, wenn das Haus ein wenig außerhalb liegt“, so Flavio, der nebenbei in einer Straßentheatertruppe mitmacht. Er setzt sich sein rotes Barrett zurecht, das ihn wie einen kleinen Che Guevara aussehen läßt: „Von dort aus organisieren wir die Konzerte.“ Er weist stolz daraufhin, daß seine Freunde und er sogar einen kleinen Garten haben. „Ich glaube, die Punks sind schon aufgrund ihrer sozialen Herkunft politischer“, erklärt er: „Viele behaupten, sie kämen aus den Favelas. Aber der Anteil an abenteuersüchtigen Mittelstandskids ist nicht gering.“

Kunst und Punk vereint

Diego stammt aus einer Künstlerfamilie und malt schon seit Jahren Aquarelle. Der Neunzehnjährige fühlt sich inspiriert von den Punks, weil es die einzige Gruppe sei, „die sich nicht vom kapitalistischen System korrumpieren läßt.“ Er wohnt zusammen mit seinem Vater Bez Batti, einem der bekanntesten Bildhauer von Rio Grande do Sul, in einem Vorort von Porto Alegre. Als Motive dienen ihm vor allem seine Freundin und die geistig behinderten Patienten eines nahegelegenen Armensanatoriums. Nach ästhetischen Gesichtspunkten hätte ihn der deutsche Expressionismus, nach politischen dagegen das anarchistische Ideal der Punks am meisten beeinflußt. Er findet, daß für ihn als jungen Maler die Eindrücke von deren vielfältigen Aktivitäten besonders wichtig seien: „Das, was die hier machen, ist mehr als nur dadaistisches Geschrei. Es ist einfach der gemeinsame Fluchtversuch aus einer individuellen Perspektivlosigkeit, auch mit künstlerischen Mitteln.“ Einige seiner Bilder wurden schon ausgestellt und im Stadtmagazin von Porto Alegre veröffentlicht. „Ich hole nicht nur meine Inspirationen vom Punk und von den Leute auf der Straße, sondern lebe, esse und trinke mit ihnen, wenn ich nicht gerade im Atelier bin.“ Sein Traum ist es, einmal mit seinem Vater, der vor Jahren schon eine Europareise unternommen hat, nach Deutschland oder Frankreich zu gehen und dort eine Kunstakademie zu besuchen. „Aber es fehlt nicht nur das Geld. Wer kann mir diese Freunde hier ersetzen?“, fragt der Neunzehnjährige traurig, während er zu den anderen hinüberschaut, die entweder weiterhin geschäftig ihre Fanzines verteilen oder den Gitarrenklängen von Moska, dem zahnlosen Mitglied der „Leeren Mägen“, lauschen.

Sieg im Volkssport

André Markovits hat vor einigen Jahren ein interessantes Essay geschrieben mit dem Titel: „Why is there no soccer in the United States?“ Unter dieser Fragestellung gelingen ihm wichtige Einblicke in die Besonderheiten des kulturellen Systems der USA. Für Lateinamerika müßte die Frage lauten „Why is there so much soccer in Latin America?“

Triumphe am Amazonas

Conde, eine etwas triste Stadt am Rio Tocantins, zwei Stunden von der Amazonasmetropole Belém entfernt, versprüht den herben Charme eines heruntergekommenen Badeortes, der inzwischen zur Aluminiummetropole und zum Industriehafen mutiert, aber auch schon im Neuen dekadent wirkt. Ein Strand mit Aussicht auf die Hafenanlagen, die fast das einzige Licht in die dunkle Nacht verströmen. Der tropische Regen will nicht aufhören und wir sitzen in einer recht finsteren Bar fest. An der Wand hängt als einziger Schmuck ein Bild von Ronaldinho, wie Ronaldo in Brasilien genannt wird, mit seinem Zahnspaltenstrahlen, das seine soziale Herkunft unübersehbar macht. Und im Fernsehen läuft natürlich Fußball, das Endspiel von São Paulo, Corinthians gegen FC São Paulo (ein packendes Spiel übrigens, das São Paulo mit den großartigen Rai und Denilson souverän gewinnt). Ich bin schnell als Gringo erkannt und nach meiner Herkunft befragt. „Ah, Deutschland…“ – und sofort kommt die Analyse. „Keine Chance bei der WM, guck hier, Ronaldinho, was habt ihr dem entgegenzusetzen.“ Meine Einwände – „also wißt Ihr eigentlich, wie der Torschützenkönig der italienischen Liga heißt: Bierhoff und nicht Ronaldinho“ – rufen ungefähr dieselbe Reaktion hervor, wie wenn ich erzähle, daß man in Europa fischt, indem man Löcher in vereiste Seen schlägt. Schnell hat sich in der kleinen Bar eine Triumphgemeinde über den Gringo zusammengeschlossen: Daß Brasilien mit Ronaldinho und Giovanni (der aus der Gegend stammt) unschlagbar ist, gilt als ausgemacht. Ich werde verspottet und verhöhnt, und an diesem tristen Abend feiert die Bar in dem abgelegenen Ort Amazoniens Brasilien, seine bisherigen und künftigen Titel. Als ich schließlich mit meinen spielverderberischen Hinweisen aufhöre – die WM hat ja noch gar nicht begonnen, Erinnerungen an die jüngsten Niederlagen gegen Argentinien und die USA(!) – und mich dumpfen Trinksprüchen ergebe, kippt die Stimmung. Ich werde allgemein bedauert, da ich aus einem Land komme, in dem man „futebol perna de pau“ (Holzbeinfußball) spiele, da wir keinen Romário, Ronaldinho, also keine cracks (oder craques auf gut portugiesisch) haben, und natürlich wird dem armen Kerl noch mehr Bier eingeflößt, um ihn angesichts solch verzweifelter Existenz etwas zu trösten.
Die kleine Episode enthält viele Elemente, die für die Stellung des Fußballs in Lateinamerika bezeichnend sind. Überall in der Welt hat Fußball mit Nationalismus oder zumindest mit nationalen Hochgefühlen zu tun. In Lateinamerika aber sind es geschundene Nationen, Völker, die marginalisiert sind und sich so fühlen, die sich in einigen Momenten nicht nur als Gemeinschaft von Hungerleidern, Gaunern oder Rumbatänzern wahrgenommen sehen. Nationale Identitäten in Lateinamerika sind aus verschiedenen Gründen oft prekär. In Brasilien, dem mit Abstand größten Land des Kontinents, bezeichnen sich die Menschen oft nicht als Brasilianer, sondern als baianos, mineiros, paulistanos etc. Daß im Inneren Amazoniens Brasilien gefeiert wird, ist keineswegs so selbstverständlich. In der Regel sieht man sich dort nicht gerne als Teil Brasiliens, fühlt sich von den „sulistas“, den Leuten aus dem „Süden“ Brasiliens (der bereits in Brasilia und Sao Paulo anfängt) systematisch verarscht.
Auch in Deutschland, Frankreich usw. ruft Fußball nationale Emotionen wach. Aber in „entwickelten“ Ländern ist der gesellschaftliche Zusammenhang viel stärker durch Institutionen vermittelt als in Lateinamerika. Sieg oder Niederlage mag schmerzlich sein, aber es ist nicht das zentrale Moment der Selbstdefinition. Es gibt gute Gründe für den Verdacht, daß dies in Brasilien, und nicht nur dort, anders ist. Ein brasilianischer Anthropologe und Fußballtheoretiker resümiert: „Wenn tatsächlich Karneval, Volksreligiosität und Fußball in Brasilien – im Unterschied zu Ländern in Europa und Nordamerika – grundlegend sind, dann sind die Quellen unserer sozialen Identität nicht zentrale Institutionen der sozialen Ordnung wie etwa Gesetze, Verfassung, das Universitätssystem oder die finanzielle Ordnung. Vielmehr sind es dann die Musik, das Verhältnis zu den Heiligen, die Gastfreundschaft, die Freundschaft, die Kameradschaft und natürlich Karneval und Fußball, die es dem Brasilianer erlauben, in einen permanenten Kontakt mit seiner sozialen Welt einzutreten.“

Könige und Horden

Ein gutes Beispiel für den zentralen Stellenwert des Fußballs für die Selbstdefinition als Nation lieferte die Tragödie Kolumbiens bei der WM 1994. Wir erinnern uns: In den Qualifikationsspielen trumpfte die kolumbianische Mannschaft mächtig auf. Als sie am 5.September 1993 die Argentinier in Buenos Aires mit 5:0 vom Platz fegten, ist plötzlich ein neuer Titelanwärter geboren. Dann die Ernüchterung bei der WM. Drei Spiele, zwei Niederlagen, darunter gegen die USA und ein unbedeutender Sieg gegen die Schweiz. Schließlich der absolute Tiefpunkt. Noch während die WM (ohne Kolumbien) weiterläuft, wird in Medellín Andrés Escobar erschossen, der im Spiel gegen die USA ein Eigentor fabriziert hatte. Darauf die kolumbianischen Wochenzeitschrift Semana: „Der Mord an Andrés Escobar bestätige als jüngste, nicht letzte Episode das wahre Wesen dieser Horde, auf deren Bezeichnung als Land wir beharren.“
Als Kontrast zu dieser mißlungenen Nationswerdung via Fußball, seien die euphorischen Worte des brasilianischen Dramatikers Nelson Rodrigues zitiert, die er nach dem WM Sieg 1962 in Chile schrieb: „Plötzlich erreicht der Brasilianer – vom armen Schlucker bis zum feinen Herren eine unerwartete und gigantische Dimension…Wir sind 75 Millionen Könige. Freunde, nach diesem Sieg will ich nichts mehr von Rußland oder den USA hören. Das ist die Wahrheit: Rußland und die Vereinigten Staaten beginnen der Vergangenheit anzugehören. Es war ein Sieg des brasilianischen Menschen, des größten der Welt. Heute hat Brasilien die Fähigkeit, eine Nation von Napoleons Größe zu schaffen.“
Nun, solche Euphorie mag heute befremdlich wirken, aber auch noch nach dem WM Sieg von 1994 titelt das seriöse Journal do Brasil: „Wir sind die Herren der Welt“. Das können natürlich so nur die sagen, die nie in Verdacht geraten, wirklich die Herren der Welt zu sein.

Vom Elitevergnügen zum Nationalsport

Der Aufstieg des Fußballs in Lateinamerika enthüllt ein spannendes und überraschendes Stück Sozialgeschichte. Überall begann der Fußball als Elitesport, eingeführt durch höhere Angestellte englischer Gesellschaften. Das erste klar bezeugte Fußballspiel auf brasilianischem Boden organisierte ein Brasilianer englischer Abstammung namens Charles Miller: The Sao Paulo Railway Team besiegt The Team OF Gas mit 4:2. In der Folge formieren sich die ersten Klubs, Treffpunkt der jungen Elite, die ausdrücklich Schwarze nicht zuließen, auch nicht auf dem Spielfeld.
Der Transformation des Fußballs vom Elite- zum Volkssport kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Nur so viel: Es dürften wohl gerade funktionale Elemente des Fußballs sein, die ihn nicht nur in großen Teilen Lateinamerikas zu der modernen Sportart schlechthin gemacht haben. Im Gegensatz zur aristokratischen Betonung der Performance (etwa im Dressurreiten) ist Fußball durch seine Erfolgsorientierung geprägt. Er spiegelt die Leistungsorientierung einer modernen Industriegesellschaft wieder. „Siegen, Siegen, Siegen“, heißt es in der Hymne des populärsten brasilianischen Klubs – Flamengo – und auf diesen Siegeswillen steuert die Logik des Fußballs erbarmungslos zu.
Diese Erfolgsorientierung muß schließlich das elitär aristokratische Gefüge unterminieren: die Erfahrung zeigt, daß ein Klub, der bereit war alle Talente einzuspannen (zunächst die Arbeiter der Firmen, schließlich auch Schwarze) einfach erfolgreicher war als reine Oberschichten-Teams. Das Aufkommen des Fußballs erscheint damit als ein Moment der partiellen Industrialisierung und Proletarisierung der urbanen Zentren Lateinamerikas. Dabei ist er sicherlich nicht ein Reflex, sondern ein aktives Element – zumindest auf der ideologischen Ebene –eines langsamen und widersprüchlichen Prozesses. Die industrielle Moderne Lateinamerikas wächst in einer durch traditionelle Hierarchien geprägten Gesellschaft, die weder kulturell noch sozial auf die Industrialisierung eingestellt war. Das heißt, der Markt und seine universellen Gesetze leben in problematischer Symbiose mit den traditionellen Hierarchien.

Der Aufstieg der Schwarzen im Fußball

In dieser Konstellation steht der Fußball zumindest mit einem starken Standbein in der Sphäre der universellen Geltung, in der letztendlich die Leistung auf dem Feld zählt und nicht die gesellschaftliche Stellung außerhalb desselben. In einer noch hierarchisch-traditionell geprägten Gesellschaft ist das Fußballfeld wahrlich Spielwiese für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit á la Kapitalismus. Diese doch recht abstrakten Ausführungen sollen nun an einem Beispiel dokumentiert werden.
In den Frühzeiten des brasilianischen Fußballs versuchte der Klub América (Rio de Janeiro), sein Team durch lokale Cracks zu verstärken. Bei der Talentsuche stieß man auf einen Seemann namens Manteiga (Butter), wohl wegen seiner „butterweichen „ Flanken so genannt. Manteiga wird angeworben und bei der Firma eines der Direktoren des Klubs beschäftigt. Als sich Manteiga für sein erstes Spiel beim neuen Verein umziehen will, verlassen andere Spieler die Kabine. Manteiga war schwarz. Neun Spieler der ersten Mannschaft treten aus dem Verein aus, um gegen den Einsatz des Schwarzen zu protestieren. Die Vereinsführung hält an Manteiga fest, der aber den Druck aufgrund des Wirbels um seine Person nicht aushält. Bei einer Reise Américas nach Salvador, der Hauptstadt des schwarzen Brasiliens und Heimatstadt Manteigas, setzt er sich ab und bleibt dort.
Am 13. November 1927 findet das Endspiel um die brasilianische Meisterschaft statt. Wie üblich stehen sich ein Team aus Rio und eins aus Sao Paulo gegenüber. Fußball ist inzwischen zu einer Massenveranstaltung geworden. Das Stadion von Sao Januário, zu seiner Zeit das größte Lateinamerikas, ist mit 50.000 Zuschauern gefüllt, unter ihnen der Präsident der Republik, Washington Luís. Was während dieses Spiels geschieht, beschreibt der Chronist des Aufstieges der Schwarzen im brasilianischen Fußball, Mário Fulho, folgendermaßen:
„Plötzlich ist das Spiel unterbrochen, es geht nicht weiter, der Schiedsrichter hat einen Elfmeter gegen Sao Paulo verhängt. Die Paulistas verlassen das Feld. Washington Luís bleibt ernst, er gibt einen Befehl an einen Offiziellen. Er gibt den Befehl, das Spiel solle weitergegehen, dies sei ein Befehl des Präsidenten der Republik.
Der Regierungsbeamte tritt aufs Feld, geht zu den Spielern Amílcar und Fetício. Und mit finsterem Gesicht übermittelt er die Botschaft: ‘Der Präsident der Republik hat den Wiederbeginn des Spiels angeordnet.’ Die Antwort von Fetício, einem ‘verstellten Mulatten’, der nicht mal der Kapitän des Teams aus Sao Paulo war, lautete, daß da oben, auf der Ehrentribüne, der Doktor Washington Luís seine Befehle geben könne, aber hier unten auf dem Feld sei er es, der befehle. Und um zu zeigen, daß dies nicht nur Worte waren, gab er ein Zeichen, und die Spieler aus Sao Paulo verließen hinter ihm den Platz. Washington Luís, Präsident der Republik, konnte nur weggehen, aufs äußerste verletzt.“
Zwischen beiden Episoden liegen nur einige Jahre, und sie markieren weniger eine gradlinige Geschichte als Extrempunkte in einem Feld von Konflikten. Die Diskussion etwa um die schwarzen Spieler wird endgültig erst 1958, durch den Aufstieg Pelés entschieden. Daß 1927 ein Farbiger dem brasilianischen Präsidenten so gegenüber treten konnte, zeigt, daß der Fußball in der Lage war, ein eigenes soziales „Feld“ zu erzeugen, das zumindest partiell eine Gegenerfahrung zu den traditionllen Hierarchien darstellte.

Die Originalität der Kopie

Fußball in Lateinamerika ist ein europäisches Erbe. Das zeigt sich auch heute noch in Klubnamen und Fachvokabular (chute – brasilianisch für Schuß, vom englischen shoot). Die Übernahme europäischer Gepflogenheiten ist keine Überraschung auf einem Kontinent, der Länder beherbergt wie Argentinien und Uruguay, die sich lange Zeit eher als verirrter Teil Europas sehen wollten, dessen Eliten sich den Eliten Europas näher fühlten als dem eigenen Volk. Jeder kennt in Südamerika den Kalauer, daß ein Argentinier ein Italiener ist, der spanisch spricht, ein Engländer sein möchte und dessen Eliten auch heute eher Miami und Paris heimsuchen als im eigenen Hinterland Urlaub zu machen. Aber den Fußball in Lateinamerika als pure Übernahme (quasi-)kolonialer Traditionen (wie Hockey in Indien und Pakistan) zu sehen, hieße gerade die Pointe des lateinamerikanischen Fußballs zu verkennen: Der lateinamerikanische Fußball ist anders als der europäische. Er hat die englische Balltreterei gründlich transformiert. Er insistiert auf der Originalität der Kopie – allerdings ist diese, seine angebliche Besonderheit heute gerade umstritten. Zitieren wir zunächst einen europäischen Zeugen, Nick Hornby, den Autor des besten Fußballbuches („Fever Pitch“) der letzten Jahre. Mitten in seinen Beschreibungen trostloser Spiele seines Vereins Arsenal London findet sich angesichts des WM-Sieges 1970 in Mexico ein kurzer Abschnitte über Pelé und den brasilianischen Fußball: „Es war jedoch nicht nur die Qualität ihres Fußballs, es war die Art, wie sie die unerhört raffinierte Verschönerung des Spiels so betrachteten, als sei sie ebenso funktional und notwendig wie ein Eckball oder ein Einwurf… Selbst die brasilianische Art, Tore zu feiern, war fremdartig, lustig und beneidenswert, alles zur gleichen Zeit. In gewisser Weise haben die Brasilianer es für uns alle verdorben. Sie hatten eine Art platonisches Ideal enthüllt, das für immer unerreichbar bleiben sollte, sogar für sie selbst.“

Futebol-arte oder herzloser Erfolg

Futebol-arte heißt die brasilianische Selbstqualifizierung, und in Argentinien hatte einst Cesar Menotti, der Trainer der Weltmeisterelf von 1978, die Parole vom „linken“ Fußball ausgegeben. Beide Konzepte sind alles andere als eindeutig oder unumstritten. Um diese Frage der Besonderheit des lateinamerikaischen Fußballs hat sich in den letzten Jahrzehnten eine große und populäre Debatte entspannt, die Grundfragen lateinamerikanischer Identität berührt. Wie bestimmt Lateinamerika sich in der heutigen Welt, in der „Moderne“. Ist es nur die Anpassung, die erbarmungslose Mimikry, die einen Platz in einer zunehmend vereinheitlichten Welt ermöglicht? Oder gibt es eine lateinamerikanische Besonderheit und kann sie sich behaupten? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht so eindeutig wie es zunächst scheint. Natürlich sind Intellektuelle, Sportjournalisten und viele Fans zunächst Anhänger des futebol-arte. Aber dem Fußball ist eben auch die (fast) unbedingte Erfolgsorientierung zu eigen, und nach einigen Niederlagen mit futebol-arte verstärken sich immer wieder die Stimmen, die nach einem kühlen, erfolgsorientierten Fußball rufen. In Argentinien hatte Menottis Nachfolger Bilardo diesen „europäischen“ Fußball auf seine Fahnen geschrieben und wurde entsprechend von Menotti kritsiert: „Er tötet das Herz unseres Fußballs mit seiner Betonstrategie“, er wolle nur „Anpassung und Berechnung statt Emotion und Risiko“ . Aber als Bilardo Argentinien 1986 zum zweiten WM-Titel führte, verstummte solche Kritik.

Mit coitus interruptus zum Sieg?

Als Brasilien bei den WMs 1982 und 1986 mit technisch brillanten Teams ausschied, schlug die große Stunde der Anpasser. Schön gespielt, aber verloren – soll das unser Schicksal sein, sollen wir zum ewigen Scheitern in Eleganz verurteilt sein? Nein, sagte Lazaroni, der Trainer von 1990, verkündete die Ära Dunga (ein technisch mittelmäßiger Spieler) und den futebol de resultados – und verlor ebenfalls. Als es 1994 dann doch gut ging, mit einem weniger radikalen Konzept, aber doch mit einem ziemlich defensiven System, freute sich Brasilien über den Titel, doch die richtige Euphorie wollte nicht aufkommen. Die Folha de Sao Paulo schrieb, der Fußball des WM-Teams sei wie coitus interruptus.
Symptomatisch für eine solche Diskussion um den Fußball ist eine Reaktion des brasilianischen Trainers von 1994, Parreira, der auf die Frage eines französischen Journalisten, ob die brasilianische Mannschaft nicht übertrieben diszipliniert und organisiert spiele, antwortet: „ Ich habe verstanden. Ihr wollt das alte Brasilien, schlecht organisiert und improvisiert. Was ist falsch daran, sich zu organisieren? Wenigstens im Fußball, wenn es nach mir ginge, werdet ihr nie mehr ein unorganisiertes Brasilien sehen.“ Parreira wird über die Taktik seiner Mannschaft befragt und antwortet mit Reflexionen über Brasilien.
Fußball bietet ein Diskussionsfeld, das weit über ihn hinausgeht. In den unzähligen Fußballdiskursen (Artikeln, Fernsehkommentaren, Gesprächen) entwerfen Lateinamerikaner ein Bild davon, wie sie ihr Land sehen (möchten), entwickeln Utopien und Kritiken. Und sie diskutieren dabei das Verhältnis Lateinamerikas zum Rest der Welt. Offensichtlich ist die Polarisierung futebol-arte versus erfolgsorientierter Fußball eine der unzulässigen Vereinfachungen, zu der polarisierte Debatten neigen, aber sie markiert das Spannungsfeld der aktuellen Diskussionen. Ist der futebol-arte nur eine wehmütige Erinnerung, gar ein platonisches Ideal, wie Hornby meint? Diktiert die Globalisierung auch im Fußball? Oder hält sich dieser hartnäckige Rest, die Spielfreude, die ästhetische Wonne, die alegría?
Was wird nun in diesem scheinbar endlosen „Kampf zweier Linien“ die bevorstehende WM bringen? Einen weiteren Rundensieg des kalkulierten, rationalisierten Einheitsfußballs oder ein erneutes Aufflackern des „anderen“ Fußballs, der eine Hoffnung wachhält, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen worden ist, weder in Lateinamerika noch anderswo?

Wer mehr zum Thema lesen will, sei ausdrücklich auf das Jahrbuch Lateinamerika 19, 1995 verwiesen. Teile dieses Artikels finden sich dort in dem Aufsatz „Das Vaterland der Fußballschuhe. Ein kleine Sozialgeschichte des brasilianischen Fußballs.“. Die Ausführungen über die kolumbianische Fußballtragöde basieren auf einem Aufsatz von Ciro Krauthausen im selben Jahrbuch. Das zitierte Buch von Nick Hornby ist bei KiWi erschienen und sei auch Nicht-Fußballfans zur Lektüre empfohlen.

Südamerika im Fußballfieber

24 Jahre mußte Brasilien auf seinen vierten WM-Titel warten. In den USA 1994 klappte es dann dank der Genialität und der Tore Romários. Romário ist auch dieses Mal wieder dabei. Der Topstar der Mannschaft ist jedoch inzwischen sein Sturmpartner Ronaldo, in Brasilien Ronaldinho genannt. Der erst 21jährige war Weltfußballer der Jahre 1996 und 1997. Auf dieses Sturmduo setzt Trainer Mario Zagallo und ist wie Pelé und viele Experten von der Titelverteidigung in Frankreich überzeugt. Bisher gelang es nur einem Land, auf einem fremden Kontinent Weltmeister zu werden: Brasilien, bei seinem ersten Triumph 1958 in Schweden.

Ronaldo – “Schuh Gottes und Schuhsoldat von Nike”

Schon vor vier Jahren, im Alter von gerade mal siebzehn, war Ronaldo bei der WM dabei und in aller Munde. Gespielt hat er zwar nicht und nominiert wurde er auch nur als Nachrücker, aber in den Schlagzeilen war er trotzdem. Die Mutter des damaligen Nationaltrainers Carlos Alberto Parreira forderte via Fernsehen seinen Einsatz und bezweifelte so öffentlich den Sachverstand ihres Sohnes. Schon damals wurde Ronaldo als der legitime Nachfolger von Pelé gehandelt, dem größten brasilianischen Fußballer aller Zeiten. Kein Wunder, daß zahlungskräftige europäische Vereine Schlange standen, um den Teenie mit Zahnspange zu ködern. Ajax Amsterdam, Inter Mailand, AC Mailand, AC Parma, Juventus Turin und Benfica Lissabon wollten ihn – der PSV Eindhoven bekam ihn, also der Klub, der schon 1988 das damalige Stürmertalent Romário verpflichtet hatte, der dann später bei Barcelona und bei der WM 94 zum absoluten Weltstar avancieren sollte. Romário selbst riet Ronaldo erstmal nach Eindhoven zu gehen, um dort wie holländischer Käse langsam reifen zu können. 10 oder 15 Millionen DM soll der 17jährige gekostet haben, teuerster Import des holländischen Fußballs. Sein erster internationaler Einsatz für Eindhoven war ein Werksduell: Bayer Leverkusen gegen Philips Sportverein Eindhoven. Ronaldo verzückte das Publikum mit drei Toren, konnte aber die 4:5 Niederlage ebensowenig verhindern wie das Ausscheiden nach dem torlosen Rückspiel, bei dem er gegen zwei eigens für ihn abgestellte Bewacher nichts ausrichten konnte. Mit mindestens zwei Gegenspielern muß sich Ronaldo seitdem immer herumschlagen, denn einer allein kann ihn nicht stoppen. Ronaldo ist aktuell der antrittsschnellste Stürmer der Fußballszene, sowohl mit als auch ohne Ball. Wenn er mal ins Laufen kommt, ist er kaum noch zu halten, zu eng die Ballführung, zu rasant die Körpertäuschungen, mit denen er die Verteidiger und Torhüter ins Leere laufen läßt. Ronaldo kann einfach alles, nur beim Kopfball hat er gewisse Schwächen. Kein Wunder, daß sich Nike, wo Ronaldo seit 1996 unter Vertag steht, gerade seiner bedient, um im Schuhkrieg die Konkurrenten Adidas, Reebok und Puma auszustechen. Nike-Firmengründer Phil Knight hält Fußball für “die politischste aller Sportarten. Fußball rangiert in seiner Wichtigkeit in vielen Ländern an zweiter Stelle hinter Krieg”, formulierte er drastisch. Ronaldo und Brasilien sind seine zentralen und bestbezahltesten Söldner in dieser Schlacht. Brasilien erhält für zehn Jahre 380 Millionen US-Dollar, Ronaldo 28 Millionen für denselben Zeitraum. Nachdem Ronaldo 1996 seine holländische Reifephase nach zwei Jahren und 54 Toren in 57 Spielen für abgeschlossen hielt, wechselte er für 30 Millionen DM zum FC Barcelona, wie einst auch Romário. In Barcelona tauften ihn die Medien auf den Namen “Schuh Gottes”. Nur ein Jahr später ging er nach 47 Toren in 49 Spielen für 52 Millionen von Barcelona zu Inter Mailand. Seitdem kursieren hartnäckig Gerüchte, die behaupten, daß Ronaldo saisonweise dort von Nike geparkt werden soll, wo es gerade Konkurrenten auszustechen gilt. Die neuesten Meldungen über eine bevorstehende Rückkehr nach Barcelona scheinen dies zu unterstreichen. Aber vorher will “Il Fenomeno”, wie Ronaldo in Italien genannt wird, aktiver Weltmeister werden. “Diesmal will ich keine Sekunde auf der Ersatzbank sitzen”, macht der Stürmerstar klar. Denn seine große Angst ist, wie sein großes Vorbild Zico niemals Weltmeister zu werden. 1994 läßt er nicht gelten, so daß Frankreich sein erster Versuch ist, sich die WM-Krone aufzusetzen. Es wird nicht sein letzter sein: Ronaldo ist, wie gesagt, erst 21.

Argentiniens Chancen wachsen mit den Haaren

Argentiniens WM-Qualifikation stand im Zeichen des “Kampfes gegen die Haare” (vgl. LN 274). Der nach dem frühzeitigen Scheitern bei der WM ’94 berufene Nationaltrainer und Weltmeister von 1978, Daniel Passarella, machte von Anbeginn klar, daß fortan nur noch Disziplin zählen solle. Langhaarige Spieler, Spieler mit Ohrringen und Homosexuelle sollten unter seiner Ägide nicht berufen werden. Dabei hat sich im Macholand Argentinien unseres Wissens nach bisher noch kein Fußballer als homosexuell bekannt und Argentinien hätte andererseits noch keinen WM-Titel errungen, wenn lange Haare und Ohrringe als Ausschlußgrund gegolten hätten. 1978 war es der langhaarige Sturm Kempes/Luque, der mit wehenden Mähnen und 10 Toren für den Titel sorgte. 1986 waren es Maradona mit Ohrring und der langhaarige Stürmer Valdano, die mit 9 Toren den Titel herbeischossen.
Von den betroffenen Spielern aus der WM-Mannschaft 1994 schnitt sich nur Torjäger Batistuta sofort die Haare. Caniggia tat dasselbe nach zwei Jahren um drei Zentimeter, was ihm exakt drei Einsätze in der Nationalmannschaft bescherte. Redondo weigerte sich am längsten, seine Haare zu schneiden – verständlich, denn seine waren ohnehin nur halblang. Inzwischen hat er zwar seine Haare kurz geschnitten, wurde aber trotzdem nicht in den WM-Kader berufen. Batistuta verlor wie weiland der biblische Simson mit seinen Haaren schnell die Form und anschließend seinen Stammplatz an Nachwuchsstürmer Hernán Crespo. Jetzt hat er sowohl wieder längere Haare als auch seinen Stammplatz zurück. Caniggia hat seine langen Haare inzwischen sogar um einen Ohrring ergänzt. Damit hätte der WM-Zug für ihn eigentlich abgefahren sein müssen. Aber im argentinischen Kader sind noch zwei Plätze frei. Caniggia ist nach einjähriger Spielpause wieder in Form und gilt als einer der heißesten Kandidaten. Passarella hat schon erklärt, daß er die Entscheidung nicht an den Haaren herbeiziehen will und deswegen auch Caniggia eine Chance hätte. Vielleicht erinnert sich Passarella ja doch noch an die Fußballhistorie Argentiniens und an seine früheren Mannschaftskameraden.

Batistuta – “El hombre de gol”

Von den Langhaarigen aus dem WM-Kader ’94 ist Gabriel Omar Batistuta der einzige, der sicher mit nach Frankreich fährt. Damals war er der einzige im Kader, der nicht seinen damaligen Mitspieler Diego Armando Maradona als persönliches Vorbild angab. Sein Idol war und ist Mario Kempes, langmähniger WM-Torschützenkönig von 1978. WM-Torschützenkönig ist exakt die Trophäe, die Batistuta noch fehlt. Vor vier Jahren reichten seine vier Tore in vier Spielen nicht. Diesmal will er es schaffen, denn mit 29 Jahren läuft ihm die Zeit davon. Das Alter ist auch das einzige, was er seinem großen Konkurrenten um die Torjägerkrone, dem 21jährigen Brasilianer Ronaldo, neidet, ansonsten nichts. “Die einen halten Ronaldo für besser, die andern mich,” so Batistuta lakonisch. Bei argentinischen Umfragen liegt dementsprechend Batistuta vor Ronaldo, in Brasilien ist es umgekehrt. Die hohe Wertschätzung, die Batistuta in Argentinien und weltweit genießt, kommt nicht von ungefähr. Kein Argentinier hat in der Nationalmannschaft mehr Treffer erzielt als er. Nach seinem Kopfballtor gegen Chile am 19. Mai diesen Jahres steht sein eindrucksvoller Rekord bei 42 Treffern in gerade mal 57 Spielen. Wenn Batistuta spielt, gibt es für die argentinischen Reporter häufig Grund, ihrem ausschweifenden Torjubel zu frönen. “Batigooooooooooooooool” lautet hierfür die ausgedehnte Kurzformel. Daraus entstand dann auch sein ruhmreicher Spitzname “Batigol”.
In der Nationalmannschaft trat Batistuta erstmals 1991 in Erscheinung. Seine überzeugenden Leistungen bei seinem damaligen Verein Boca Juniors brachten ihm eine Berufung seitens des Nationaltrainers Alfio “Coco” Basile ein. Kurz nach seinem Debüt glänzte Batistuta bei der Copa América 1991 als Torschützenkönig mit sechs Treffern. Zusammen mit Claudio Caniggia bildete er beim Turniersieger ein perfekt harmonierendes Sturmduo, Caniggia als Vorbereiter, Batistuta als effektiver Vollstrecker. Danach wechselte er für acht Millionen DM zum AC Florenz, wo er seitdem als erfolgreicher Torjäger agiert. Über 100 Erstligatore stehen zu Buche, womit Batistuta in Italien zu den erfolgreichsten ausländischen Torjägern aller Zeiten gehört. Auch international wandelte er weiter auf dem Erfolgspfad. Bei Argentiniens Titelverteidigung der Copa América 1993 wurde Batistuta mit vier Treffern wiederum Torschützenkönig. Ohne seinen wegen Koksens gesperrten Spezi Caniggia spielte er dabei während des Turniers eher unauffällig, um dann im Finale mit zwei Toren zu explodieren.
Es war der letzte Turniersieg Argentiniens und ob sich daran in Frankreich etwas ändert, wird vor allem von “Batigol” abhängen. Wenn er seinem Spitznamen Ehre macht, stehen Argentiniens Chancen gut. Andererseits kann ein Schuß um Haaresbreite vorbei den Titel kosten.

Die Freude des Torhüters auf den Elfmeter

Ich will Präsident werden und der Korruption in meinem Land ein Ende setzen,” sagte Südamerikas Fußballer des Jahres 1996. Bevor es vielleicht einmal soweit sein könnte, wird er für sein Land nach Frankreich fahren und dort zumindest versuchen das eigene Tor sauber zu halten.
José Luis Felix Chilavert González, 32 Jahre alt, Torwart und paraguayischer Staatsbürger, hat einen großen Anteil daran, daß Paraguay nach zwölf Jahren Wartezeit wieder zur Endrunde einer Fußballweltmeisterschaft fahren wird. Dabei verhinderte Chilavert nicht nur jede Menge Tore gegnerischer Stürmer, er schoß und schießt selber welche: Als der Schiedsrichter kurz vor Ende des Qualifikationsspiels gegen Argentinien Freistoß gepfiffen hatte, schnappte er sich den Ball, legte ihn sich zurecht und zirkelt ihn aus 20 Metern zum 1:1 Endstand ins Tor des argentinischen Gastgebers. Für Chilavert nichts Ungewöhnliches, hat er doch während seiner bisherigen Karriere als Torhüter schon über dreißig Mal ins gegenerische Netz getroffen. Die Mehrzahl davon als sicherer Elfmeterschütze vom ominösen Punkt.
Als Gruppenzweiter hinter Argentinien schaffte Paraguay den Sprung zur WM. Und die Argentinier wurmt es heute noch, daß sie dabei im eigenen Land ausgerechnet gegen Paraguay unentschieden spielten. Der Schütze zum Ausgleich bekommt das fast an jedem Spieltag der Liga zu spüren, denn als Vereinsspieler hütet José Luis Chilavert das Tor des argentinischen Spitzenclubs Vélez Sarsfield. Und auch das mit Erfolg: Beim Abbruch der laufenden Rückrundensaison steht er mit seinem Verein an der Tabellenspitze, hat von sechzehn Spielen nur eines verloren und mit zwölf Gegentreffern die wenigsten Tore von allen kassiert. Zwar fehlen noch drei Spieltage, aber alles spricht für Vélez als Meister, wenn, ja wenn die Runde zu Ende gespielt wird.
Daß die Saison in Argentinien wegen der Gewalt auf den Rängen vorerst abgebrochen wurde, liegt nicht an Chilavert. Aber ein Vorbild im Sinne von ‘Keine Macht den Doofen’ ist Chilavert beileibe nicht. Er gilt als undiszipliniert, arrogant, exzentrisch, cholerisch und als guter Schauspieler. Außerhalb des Spielfeldes wurde er im September 1996, pikanterweise kurz nach seinem 1:1-Ausgleich, von einem argentinischen Zivilgericht zu drei Monaten Gefängnis und einer dreizehnmonatigen Spielsperre verurteilt, weil er zwei Jahre zuvor einen Platzwart verprügelt hatte. Ins Gefängnis ging er allerdings nicht und auch die Spielsperre wurde vom argentinischen Verband ausgesetzt. Während der Qualifikationsrunde wurde er nach einer Faustkampfeinlage gegen den kolumbianischen Spitzenspieler Faustino Asprilla für fünf Spiele gesperrt und auch in der nun ausgesetzten Rückrundensaison stand er wegen unsportlichem Verhaltens nicht alle sechzehn Begegnungen im Tor.

Prügelknabe Chilavert

Trotz Negativschlagzeilen nach Prügelszenen ist Chilavert der unumstrittene Star der paraguayischen Nationalelf. Ein überragender Keeper, reaktionsschnell auf der Linie, mit gutem Stellungsspiel, und er kann Fußball spielen. Eine Eigenschaft, die nicht jeder Torwart besitzt. Seine Laufbahn begann bei seinem Heimatverein Sportivo Luqueño. Bereits mit fünfzehn Jahren stand er im Tor der ersten Mannschaft. Mit achtzehn wechselte er 1984 zu Guariní Asunción in die erste Liga. Und, logisch, das Ausland kaufte ihn weg: Ein Jahr später stand er im Tor des argentinischen Erstligisten San Lorenzo. Vier Jahre später zog es ihn zu Real Zaragoza in die spanische Liga, aus der er 1992 noch immer ohne irgendeinen bedeutenden Titel nach Argentinien zum Renommierverein Vélez Sarsfield zurückkehrte. Hier begann das Titelsammeln: Dreimal hat er die argentinische Meisterschaft, 1994 die Copa Libertadores (südamerikanischer Vereinsmeisterpokal), danach gegen den AC Mailand den Weltpokal für Vereinsmannschaften und 1996 die Supercopa gewonnen. Auch als Einzelspieler heimste er einige Titel ein: 1995 Argentiniens Fußballer des Jahres, 1996 Südamerikas Fußballer des Jahres und 1997 wurde er gar zum Welttorhüter des Jahres gewählt.
Seine Laufbahn im Tor der Nationalmannschaft begann während seiner Zeit in Spanien mit einem 2:1 Sieg gegen Kolumbien. Einer der Torschützen: José Chilavert. Sein erstes Turnier als die Nummer Eins für Paraguay spielte er 1991 in Chile bei der Copa América. Nach der Vorrunde war aber schon Schluß. Zwei Jahre später schaffte es Paraguay immerhin ins Viertelfinale. Richtig große Erfolge feierte Chilavert mit der Nationalelf bislang jedoch nicht. So ist allein die Qualifikation für die WM in Frankreich als Zweitplazierter vor Kolumbien und Chile ein Triumph, der die paraguayischen Fußballfans in Euphorie versetzte. Aber auch ein Verdienst des brasilianischen Trainers Paulo Cesar Carpegiani. Er brachte Chilavert 1995 nach einem zweijährigen Dauerstreit des Keepers mit den Funktionären des Fußballverbandes ins Nationalteam zurück und machte aus einer Ansammlung von Arbeitsmigranten ein Team: Von den 22 für Frankreich vorgesehenen Spielern stehen gerademal drei bei paraguayischen Vereinen unter Vertrag. Die Mehrzahl spielt in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien. Und was die WM-Teilnahme für die nationale Befindlichkeit bedeutet, bringt Abwehrspieler Carlos Gamarra auf den Punkt: “Wir werden der Welt beweisen, daß wir gute Fußballspieler haben. Viele denken doch, bei uns wohnen nur Indios, Analphabeten und Bauern.”
Sollte Paraguays Nationalelf in Frankreich gut abschneiden, die eine oder andere Überraschung an den Tag legen und vor allem Chilavert hinten den Kasten sauber halten und vorne einen rein machen, dann könnte der ohnehin schon als Nationalheld geltende Torhüter eines Tages wirklich das Präsidentenamt hüten, sauber halten und das Land nach vorne bringen. Bleibt also nur zu hoffen, daß er nicht die Sportart wechselt und mit General Oviedo in den Ring steigt.

Auge um Auge

Eigentlich ist er ein umgänglicher Zeitgenosse. Nur wenn es um Fußball geht, dann hakt irgendetwas aus in der Gedankenwelt des fanatischen Anhängers des legendären argentinischen Arbeiterklubs Boca Juniors. Jiménez meint es ernst mit den politischen Gefangenen. Politische Gefangene?
1995 hat die argentinische Justiz ein bemerkenswertes Urteil gefällt: Insgesamt neun Anhänger („hinchas“) von Boca aus dem gleichnamigen Bezirk von Buenos Aires wurden wegen Mordes und krimineller Machenschaften zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Prozeß ging zurück auf Vorfälle im Jahre 1994, als nach dem 2:0-Sieg des Erzrivalen River Plate im Boca-Stadion zwei Fans der Gäste ermordet wurden. Das Urteil war insofern neu, weil erstmals die „barrabravas“, die militanten Fans, vom Gericht als kriminelle Organisation eingestuft wurden.
Die zynische Aussage von Jiménez über die „politischen Gefangenen“ wirft ein bezeichnendes Licht auf die Situation im argentinischen Fußball. Was vor Jahren noch als heißblütig, fußballbesessen, südländisch eben, aber ansonsten eher harmlos abgetan wurde, eskaliert mittlerweile von Jahr zu Jahr. Mit der zunehmenden Armut gerade auch in Buenos Aires, mit wachsender Arbeitslosigkeit und ausufernden sozialen Konflikten sowie mit der Explosion der Jugendbanden-Entwicklung stieg auch die Kriminalität in und um die Stadien in rasantem Tempo an. Die politisch Verantwortlichen haben keine Lösung.

Spielverbote nach Gewaltexessen

Vor kurzem eskalierte die Lage vollends. Argentinien erlebte in diesem Mai erneut ein schwarzes Fußballwochenende. „Die Gewalt wird zur Gewohnheit“ titelte die Sportzeitung „Olé“. Für die Zeitung „Clarín“ war es eine „Viaje Bravo“, eine brutale Reise. Mit Riesenlettern und einem Bild marodierender „barrabravas“ reagierte sie auf die traurigen Geschehnisse und warnte vor den Fanatikern bei der WM in Frankreich. Selbst für die seriöse Tageszeitung „La Nación“ war die Fußball-Landkarte Argentiniens eine Karte der „Schande“.
Auseinandersetzungen zwischen randalierenden „barrabravas“ bei Spielen der ersten und zweiten Liga sorgten für eine erschreckende Bilanz: Ein Toter in Mar del Plata sowie zwei durch Schußwunden verletzte Fans und zahlreiche Festnahmen in Buenos Aires. Vor dem Klassiker Independiente gegen River Plate schossen Fans der Heim-Mannschaft aus einem fahrenden Wagen gezielt auf River-Anhänger. Zwei Männer mußten mit Schußverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Medien gingen von einem Racheakt aus, da River-Fans vor zwei Jahren einen Independiente-Anhänger erschossen hatten.

Appelle und Verbote sind wirkungslos

Nach den Ausschreitungen forderte Staatspräsident Carlos Menem „endlich wirksame Schritte gegen die Gewalt“. Er unterstützte die Entscheidung von Richter Victor Perrota in Buenos Aires, Meisterschaftsspiele der Profiligen für unbestimmte Zeit zu untersagen. Ein Novum im argentinischen Fußball. Die Fans reagierten mit Massenprotesten auf die Verbote. Das Aus betraf alle Begegnungen der ersten bis vierten Liga. Nur auf die Nationalelf, die in Cordoba ein Testspiel für die Weltmeisterschaft gegen Bosnien-Herzegowina austrug, hatte der Spruch des Richters keine Auswirkungen.
Doch ein Verbot der Spiele kann kaum die Gewaltbereitschaft der Fans bekämpfen. Die ganze Hilflosigkeit der Verantwortlichen wurde in einem Zeitungsinterview mit Julio Grondona, dem Präsidenten des argentinischen Fußball-Verbandes, deutlich: Er wisse nicht, wie er dem Problem Herr werden könnte, gab Grondona zu. Tatsächlich handelt es sich eben nicht nur um rivalisierende Fans, sondern, wie auch das Gericht im oben beschriebenen Fall erklärte, um kriminelle Vereinigungen, die beispielsweise in anderen Ländern wie Brasilien längst etabliert sind. Hinzu kommt, daß das Geflecht aus sozialen Spannungen, Fußballfanatismus und krimineller Organisation kaum noch zu durchschauen ist. Sowohl Trainer als auch Spieler heizen die Stimmung zusätzlich durch ihre Wortwahl an. Sie machen aus einem Fußballspiel einen Krieg. Es geht stets um „ganar o morir“, gewinnen oder sterben.

Spiegelbild der Gesellschaft

Ähnlich geht es auch im „richtigen Leben“ zu. Überleben oder sterben lautet die Losung. Die linke Tageszeitung „Página 12“ vermutet, daß das Gewaltproblem kaum gelöst werden könne, solange die neoliberale Wirtschaftspolitik die Menschen in die Armut treibt. Tatsächlich belegt die Statistik, daß mit zunehmender Armut auch die Kriminalitätsrate steigt. Nach Veröffentlichungen des Statistikamtes Indec leben 41 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Über 17 Prozent der 33 Millionen Argentinier sind arbeitslos. Gleichzeitig ist seit 1994 in Buenos Aires die Kriminalitätsrate um 41 Prozent gestiegen. Die zunehmende Gewaltbereitschaft spiegelt sich im Fußballstadion wider. Überleben ist im Alltag schon schwierig genug. Im Fußballstadion „überlebt“ aber nur, wer dem Gegner, den gegnerischen Fans zeigt, wer stärker ist, notfalls mit Gewalt.
Der Fanatismus schreibt harmlose und tödliche Geschichten. Da ist zum Beispiel die eher lustige von der Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Buenos Aires, die ausgerechnet im Reichenviertel von Palermo ihr Haus blau streichen lassen wollte. Palermo aber ist das Zuhause von River Plate, dem erfolgreichsten argentinischen Klub, dem Klub der Reichen und Schönen. Blau wiederum ist die Farbe Bocas, des verhaßten Gegners aus dem Elendsviertel an den Hafendocks. Der Postbote weigerte sich, die Post vor das Haus zu werfen, er sei River-Fan. Als schließlich auf dem frischgestrichenen Haus ein derber Spruch gegen die angebliche Boca-Anhängerin Gefahr signalisierte, wurde das Haus dann doch in eine andere Farbe getaucht.
Die harmlosen Geschichten des argentinischen Fußball-Fanatismus aber werden seltener, die bitteren häufen sich: Als nach dem eingangs erwähnten 2:0-Sieg von River Plate im Boca Stadion 1994 die zwei River-Fans ermordet worden waren, stand am nächsten Tag mit blauer Farbe an eine Wand gesprüht: „Empatamos: 2:2“, wir haben ausgeglichen.

Samba, Coca und Tore, die überall lauern.

Wie alle männlichen Einwoh-
ner Uruguays wollte ich einmal Fußballer werden.“ Aus dem Jugendtraum, zu dem sich Eduardo Galeano in seinem 1997 erschienenen Buch „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“ bekennt, ist nichts geworden. Zum Glück, denn ob der Fußballer Galeano „Die offenen Adern Lateinamerikas“ und damit eines der wichtigsten Bücher der letzten 30 Jahre über diesen Kontinent geschrieben hätte, ist zumindest sehr fraglich. So aber hat der leidenschaftliche Fan, „Der Spieler mit der Nummer Zwölf“, sich selbst aufgestellt und erzählt Geschichten und Anekdoten über das Spiel, das überall auf der Welt so viele Menschen in seinen Bann zieht .
Zu Beginn des Buches, das im Original unter dem Titel „El fútbol a sol y sombra“ erschienen ist, beschreibt der Uruguayer in seinem typischen anekdotischen Stil alles, was zum Spiel dazugehört: der Fan, der Schiedsrichter, das Stadion, der Ball werden hin und her gespielt und im Licht, aber eben auch im Schatten betrachtet. Auch historische Kuriositäten gräbt Galeano aus. Wer wußte schon, daß erst 1938 drei argentinische Tüftler aus Córdoba den Ball erfanden, der der Vorgänger des heutigen runden Leders ist. Sie erfanden eine Blase mit Ventil, die man mit einer Pumpe aufblasen konnte. Seitdem ist es möglich zu köpfen, ohne sich an dem Netz zu verletzten, das vorher den Ball zusammengehalten hatte.
„Verrückte, das sind verrückte Engländer“, so zitiert Galeano aus den Erinnerungen eines Journalisten. Der hatte als Kind verwundert seinen Vater gefragt, warum die blonden Jungen gleich neben dem Irrenhaus andauernd gegen einen Ball treten.

So kam der Fußball
nach Lateinamerika…
Die Frage, wer mit diesen Verrücktheiten angefangen hat, wird letztendlich wohl nie entschieden werden. Doch waren es unbestreitbar die Engländer, die neben Eisenbahnen, Manchester-Kapitalismus und anderen nützlichen Dingen auch den Fußball mit (höchst britischen) Regeln nach Lateinamerika exportierten. Genauer gesagt, an den Río de la Plata. Dort fand auch 1889 das erste „Länderspiel“ zwischen Montevideo und Buenos Aires statt, das eben die britischen Handelsvertreter und Diplomaten unter sich ausmachten. Ziemlich schnell allerdings wurde der Fußball immer weniger englisch und immer mehr südamerikanisch. Die Mützen, Hüte und schweren „Manfield-Stiefel“ wurden abgelegt, Trikots wurden erfunden, Brasilien lieferte Capoeira und Samba als Zugaben, die La-Plata-Länder den Tango. „Wie der Tango, so wuchs auch der Fußball von den Vorstädten aus. Und so entstand an den Füßen der ersten virtuosen südamerikanischen Spieler der „toque“, die typisch südamerikanische Art des Dribblings: der Ball, der wie ein Instrument gespielt wird, wie eine Gitarre, wie eine Quelle der Musik.“
Viele Porträts der oft glücklichen, meist aber auch tragischen und einsamen Helden des Mannschaftsports Fußball zeichnet Galeano in seiner kleinen Geschichtsschreibung nach. So das Schicksal des ersten schwarzen Fußballers in Lateinamerika, des Uruguayers Andrade oder des krummbeinigen Brasilianers Garrincha, der bei der WM 1962 zum besten Spieler gewählt wurde, aber seinen Tod „arm, im Suff und einsam“ starb.

Uruguayische Höhenflüge
Überall auf der Welt heißt Fan sein auch parteiisch sein. Und wenn ein Chronist des Fußballs aus einem Land kommt, in dem schon die Kinder als Anhänger von Nacional oder Peñarol auf die Welt kommen, dann ist es vielleicht auch verständlich, daß Galeano seine Landkarte der Fußballwelt anders zeichnet als die Geographen. Und zumindest in der Vergangenheit war Uruguay im Fußball eine Weltmacht. Schließlich hat es zwei Olympiasiege und zwei WM-Titel errungen. 1924 gewann die Mannschaft aus Uruguay bei der Olympiade in Frankreich als erste südamerikanische Mannschaft die Goldmedaille. Auf dem Weg dahin hatten sie aber allerlei Demütigungen zu überstehen: Im Spiel gegen Jugoslawien wurde die Fahne verkehrt herum aufgezogen (mit der Sonne nach unten) und anstelle der Nationalhymne wurde ein brasilianischer Marsch gespielt. Das Spiel aber gewann Uruguay mit 7 : 0. Heute ist von diesem Glanz allerdings nicht viel übriggeblieben, außer einer grenzenlosen Selbstüberschätzung. Der uruguayische Soziologe Rafael Bayce beschreibt das so: Im Vorfeld der WM 1986 wurden in einer Umfrage die einheimische Bevölkerung und die in anderen Ländern nach den Chancen der einzelnen Teams befragt. Die Meinung über die bundesdeutschen Kicker von Deutschen und Nichtdeutschen war ungefähr gleich, und auch die Brasilianer schätzten ihre Mannschaft nicht viel besser ein als der Rest der Welt. Die Spanier überschätzten ihre Truppe nach dieser Umfrage etwa sechsmal, die Uruguayer jedoch etwa 45mal gegenüber den Befragten in anderen Ländern. Ein schon pathologisches Anzeichen von Realitätsflucht, wie Bayce anmerkt.
Die schönste Geschichte im Buch stammt übrigens nicht vom Autor selbst. In „Tor durch Sanfilippo“ des argentinischen Schriftstellers Osvaldo Soriano spielt der Held ein „Fußballspiel“ im Stadion San Lorenzo nach. Zwischen Kochtöpfen, Käse und Knackwürsten erzielt José Sanfilippo noch einmal „das schnellste Tor der Geschichte“, diesmal allerdings in einem riesigen Einkaufszentrum von Buenos Aires, das Stadion ist inzwischen abgerissen.

Schattenseiten
Wie immer bei Galeano ist auch seine kleine Geschichte des Fußball nicht zu trennen von dem, was sich jenseits des Spielfeldes abgespielt hat. Natürlich erzählt er auch vom „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador im Jahr 1969. Und von der WM 1978 in Argentinien. Während die holländischen Vizeweltmeister sich weigerten, den Führern der argentinischen Diktatur die Hand zu geben, steht stellvertretend für die deutsche Haltung ein Zitat von Berti Vogts, dem damaligen deutschen Mannschaftskapitän: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Aber nicht nur davon, auch von Nationalismus, der Macht der FIFA und von dumpfer Gewalt ist die Rede. Kommerz buchstabiert Galeano von A wie adidas bis Z wie Zirkusaffen (die Spieler) durch.
Nach dem Endspiel der WM 1970 in Mexiko zwischen Italien und Brasilien titelte die englische Presse: „Ein solch schöner Fußball müßte verboten werden“. Wenn es dieses Jahr mit ähnlichen Lobeshymnen nichts werden sollte, ist Galeanos Buch sicher eine kleine Entschädigung. Wenn doch, dann ist es eine prima Zugabe. Brasilien überrollte übrigens Italien damals mit 4 : 1.
Eben dieses Spiel, das WM-Fi-
nale zwischen Brasilien und Italien am 21. Juni 1970, ist für den englischen Journalisten Chris Taylor die Geburtsstunde des lateinamerikanischen Fußballs. Was angesichts der triumphalen Erfolge in den vorhergegangenen 50 Jahren doch etwas verwundert. Aber wie auch immer, die „beste, die erregendste Mannschaft der Welt“, wie er das brasilianische Team von 1970 bezeichnet, nicht gesehen zu haben, stimmt schon etwas betrüblich.
Taylors 1998 erschienenes Buch „Samba, Coca und das runde Leder“ ist das Resultat von „Streifzügen durch das Lateinamerika des Fußballs“, wie es im Untertitel heißt. Streifzüge, die er zwischen 1995 und 1997 unternommen hat, einem Zeitraum, der von der Qualifikationsrunde zur WM in Frankreich beherrscht wurde. Nie wird er auf den 223 Seiten des Buches aber betriebsblind: immer versucht er auch die Hintergründe des Spiels zu vermitteln, das Spielfeld des Fußballs hat für ihn die Größe des gesamten Kontinents, die Protagonisten sitzen nur allzu oft an den Hebeln der Macht und lassen die oben erwähnten Zirkusaffen bzw. die Spieler tanzen. Und doch, trotz der politischen, historischen und sozialen Informationen ist es ein Buch über Fußball. Über den Fußball, wie er sein könnte und sein sollte und eben ein Buch über den Fußball, wie er tatsächlich ist.

“Hoffnungslos nostalgisch“
Seine Reise beginnt Chris Taylor am Río de la Plata. Eduardo Galeano hätte sicher seine Freude daran, daß die erste Station auf den Streifzügen des fußballverrückten Engländers Uruguay ist. Mit einer ungeheuren Detail- und Faktenkenntnis spielt sich der Autor akribisch von dort bis nach Mexiko vor. Auch eine Art der Geschichtsschreibung.
Charakteristisch für den Fußball in Uruguay, Argentinien und Brasilien sind die großen Duelle zwischen den ewigen Rivalen Peñarol und Nacional, Boca Juniors und River Plate, Flamengo und Fluminense. Wer wie warum zu welchem Verein gehört und wie sich diese im Laufe der Zeit entwickelt und verändert haben, beschreibt Taylor in einer bewundernswerten Neutralität. Wer einige Zeit in einem dieser Länder verbracht hat, kann es kaum vermeiden, irgendwann einmal Stellung dazu beziehen, welcher „sein“ Verein ist, Ausländer oder nicht. Das wird auch Chris Taylor nicht anders gegangen sein, anmerken läßt er es sich aber nicht.
Der Fußball in Uruguay ist für ihn „hoffnungslos nostalgisch“. Das Land lebt von und in seiner Vergangenheit, die auch schon mal deprimierende Gegenwart wird ausgeblendet. Spätestens seit der WM 1986 gilt Uruguay allgemein aber als unwürdiges Team von Grätschern und Rauhbeinen, daran haben auch die internationalen Erfolge von Nacional und Peñarol wenig geändert. Die „garra charrúa“, einst Ausdruck für Mumm, Kampfgeist und Wildheit ist heute zu einem Synonym für Nachtreten und den Gegenspieler wüst von den Beinen zu holen, geworden. Außer den Uruguayern selbst war dann auch wohl niemand traurig, daß das Land die Qualifikation zur WM 98 in Frankreich nicht schaffte. Argentinien: Die WM 1978, das Ballspektakel fürs Vaterland unter der Militärdiktatur, die Rivalität zwischen den wechselnden ehemaligen Nationaltrainern „El Narigón“ (Große Nase) Bilardo und „El Flaco“ (Der Hagere) Menotti und natürlich das Phänomen Maradona sind die Stationen von Chris Taylor. Das politische Potential des Fußballs wird hier besonders offensichtlich. Die Militärdiktatur wußte dieses geschickt auszunützen. Dagegen half auch nicht der „Waffenstillstand“, den die Montoneros, eine peronistische Stadtguerilla für die Dauer der WM 1978 verkündeten. Ihre Hoffnung, daß sich das Interesse der Welt auf die Verbrechen der Militärjunta richten würde, ging im Siegestaumel beim Gewinn des Titels unter. Ein Titel, durch den der linke Intellektuelle Menotti die Wünsche der Militärs erfüllte.

Andenluft und Fußballtoto
In Bolivien findet Taylor Vereine mit solch schönen programmatischen Namen wie The Strongest, Destroyers oder Always Ready, auch hier kam der Fußball mit der englischen Eisenbahn Ende des letzten Jahrhunderts an. Heute geht es in Bolivien vor allem um eins: der gefährlichste Gegner ist für das Land die Höhenangst der Anderen. Seit der Empfehlung der FIFA von 1995, internationale Spiele ab einer Höhe von über 3.000 Metern über dem Meeresspiegel zu verbieten, sind die bolivianischen Fans außer sich vor Wut und die Souveränität scheint ähnlich bedroht wie vor 150 Jahren, als das Land im „Krieg um den Pazifik“ seinen Zugang zum Meer verlor. Wer hat die Bolivianer denn gefragt, ob sie bei 40 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit in Bahia in den brasilianischen Tropen spielen wollen. In Kolumbien sind es die Drogenkartelle, die eher offen als verdeckt bei jedem Spiel mit auflaufen. Die Mannschaften des Cali-Kartells traten in den achtziger Jahren gegen die des Medillín-Kartells an. Unsummen wurden unter der Regie der Drogenbosse verwettet. Und das nicht nur auf das Ergebnis. Auch darauf, wer den ersten Eckball schießt, wer zur Halbzeit führt, auf nahezu alles. Wurde eine Rechnung danach nicht eingehalten, wurde schon mal mit der Waffe abgerechnet. Viel verändert hat sich bis heute nicht. 1997 stellte eine Untersuchung fest, daß 80 Prozent des Kapitals bei den Topvereinen in den Händen der Drogenkartelle liegen. Trotzdem hat der kolumbianische Fußball aber auch durch seine internationalen Erfolge Aufsehen erregt. Mit einem historischen 5:0 Sieg in Buenos Aires qualifizierte sich die Mannschaft 1993 für die WM in den USA und wurde dort als Geheimfavorit gehandelt. Tatsächlich endete der Ausflug aber in einem Debakel und ein Spieler überlebte die Niederlage nicht. In „Eigentor in den Tod: Warum Andrés Escobar sterben mußte“ beschreibt Taylor dieses dunkle Kapitel. Der Kolumbianer wurde nur wenige Tage nach seinem verhängnisvollen Eigentor im Spiel gegen die USA in seiner Heimatstadt Medellín erschossen. Im Gerichtssaal wurde behauptet, daß der Killer sechs Schüsse abfeuerte und dazwischen jeweils Tor brüllte.

Kommerz, Korruption
und Abhängigkeiten
Nicaragua, „Das Land, das der Fußball vergaß“, durchstreift Chris Taylor hauptsächlich deshalb, weil es eines der wenigen Länder in Lateinamerika ist, in dem der Fußball keine Rolle spielt. Entsprechend geht es in dem Kapitel auch fast mehr um Baseball, den aus den USA importierten Nationalsport, als um Fußball. Aber der Autor sieht einen Hoffnungsschimmer: in der kleinen Stadt Diriamba, von dem Verlag das „Schalke Nicaraguas“ genannt, hat er eine Ecke ausgemacht, in der das Herz für Fußball schlägt.
Nur auf der letzten Station seiner Streifzüge, auf dem Spielfeld Mexiko verläuft sich der Autor. Zu undurchschaubar ist das Geschäft mit dem Fußball. Mannschaften werden nach Bier-sorten benannt oder umgekehrt, und Televisa, das größte Fernsehunternehmen der spanischsprachigen Welt, besitzt neben den Übertragungsrechten auch noch gleich die Vereine selbst. Zu undurchsichtig auch das bizarre Gestrüpp der Ersten Liga, die in vier Gruppen mit vier (oder auch fünf) Mannschaften unterteilt ist. Über Auf- und Abstieg wird nach jeweils drei Saisons entschieden, die durchschnittliche Punktzahl aus allen Runden ist entscheidend. Ähnlich der Situation in der Politik, ist auch der Fußball in Mexiko ein unentwirrbares Knäuel von Kommerz, Korruption und Abhängigkeiten. Trotzdem glauben aber die Mexikaner, ihr Fußball sei sauber. Nicht daß sie es nicht besser wissen würden, die seit jetzt 69 Jahren regierende PRI, die Partei der Institutionalisierten Revolution, hat dafür zu viel Anschauungsunterricht geliefert; sie wollen die Wahrheit nicht wissen.
Obwohl vom Stil her sehr unterschiedlich, haben die Fußballbücher von Eduardo Galeano und Chris Taylor doch vieles gemeinsam. Die Verfasser outen sich als leidenschaftliche Fans und beide versuchen, das Spiel mit dem runden Leder, bei dem die Tore lauern, auf ihre ganz eigene Weise zu schildern. Und beide schreiben über viel mehr als nur über das Spiel mit „dem rollenden Runden im flachen Eckigen“ (A. Mitscherlich). Der eine als Schriftsteller, der andere als Journalist. In ihrer gemeinsamen Unterschiedlichkeit ergänzen sich die beiden Bücher deshalb hervorragend. Ein perfekter Doppelpack für alle diejenigen, die vor dem Spiel und nach dem Spiel immer noch nicht genug von der „Droge“ Fußball haben. Aber genauso für die anderen, die es auch geben soll: wer immer schon mal verstehen wollte, wieso man in Begeisterung ausbrechen kann, wenn 22 Verrückte nach einem Ball treten, der ist vielleicht nach der Lektüre weniger ratlos
Natürlich darf in beiden Büchern auch nicht der Querpaß auf den neben Pelé und Maradona berühmtesten Fußballer des lateinamerikanischen Kontinents fehlen, einen asthmakranken Torhüter aus Argentinien mit dem Vornamen Ernesto, der später in Kuba und dann in Bolivien seinen Teil zur lateinamerikanischen Identität beitrug. Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.

Eduardo Galeano „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, Peter Hammer Verlag 1997, Wuppertal, 277 Seiten.
Chris Taylor „Samba, Coca und das runde Leder“, Schmetterling Verlag 1998, Stuttgart, 223 Seiten.

Die Privatisierung des Terrors

Terrorregime regieren mit den Mitteln der Einschüchterung, der Bedrohung und der Angst. Sie entstehen, wenn sich ein Staat oder die Machthaber bedroht fühlen und zur Sicherung ihrer Privilegien – des status quo – zur Gewalt und systematischen und geplanten Verletzung der Menschenrechte greifen. Sie benutzen dann das Leiden als Mittel der Politik.
Seit Mitte der 70er und insbesondere Anfang der 80er Jahre errichtete der guatemaltekische Staat im Schutze der Straflosigkeit eine Struktur, die zur Grundlage eines der wirksamsten und gefürchtetsten Terrorapparate in der lateinamerikanischen Geschichte wurde. In speziellen Ausbildungszentren im In- und Ausland erhielten tausende militärische wie zivile Sicherheitskräfte Unterricht in den Methoden der Verfolgung, Entführung, Folter und des Mordens, in der Ausübung des Terrorismus und der geheimen wie offenen Repression.
Der Terror hat auf Individuen, gesellschaftliche Gruppen und auf die ganze Gesellschaft unmittelbare und langfristige Auswirkungen: Zu den deutlichsten unmittelbaren Auswirkungen zählten in Guatemala die Vertreibung, der Tod und die Zerstörung von hunderttausenden von Menschenleben und hunderten von Dorfgemeinschaften. Die langfristigen Auswirkungen sind weniger sichtbar, aber keineswegs weniger dramatisch.
Ein wesentlicher Faktor, der dazu beiträgt, daß sich der Terror in einer Gesellschaft fortsetzt und vertieft, ist die Straflosigkeit. Diese ist, gestützt auf die Abwesenheit von Wahrheit und Gerechtigkeit, immer untrennbar mit der Ausübung des Terrors verbunden. Sobald ein Staat die Repression als Machtmechanismus nutzt, bietet er „…jenen, die sie ersinnen und ausüben die volle Garantie dafür, daß ihre Taten ungestraft bleiben … denn eine Bestrafung kann natürlich nicht als Anreiz dienen.“ (Matutes) Nach 36 Jahren bewaffnetem Konflikt und 15 Monate nach der Friedensunterzeichnung versucht die guatemaltekische Gesellschaft heute, eine wirkliche Demokratie zu errichten. Dabei stößt sie auf das überaus heikle Problem, daß der Schaden, den die politische Repression der Diktaturen der vergangenen Jahrzehnte angerichtet hat, behoben werden muß. Nicht nur die Opfer, ihre Angehörigen und Freunde sondern die ganze Bevölkerung sind von der Repression gezeichnet. Sie hinterlässt in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Einzelnen ebenso ihre Spuren wie in der Vorstellungswelt der ganzen Gesellschaft.
Eines der Phänomene, welches die GuatemaltekInnen heute am meisten bewegt und ihren stärksten Protest hervorruft, ist die fehlende öffentliche Sicherheit. Die offiziellen Verlautbarungen, die Menschen auf der Straße und auch die Mehrzahl der Medien führen das einfach darauf zurück, daß nicht genügend Strafmaßnahmen ergriffen würden. So gut wie nie wird jedoch darauf hingewiesen, daß dies eine Folge des Terrors ist und in einem viel komplexeren Zusammenhang steht. Neben der staatlichen Verantwortung für die Verbrechensbekämpfung tragen eine Reihe von Faktoren zu der gegenwärtigen Situation der öffentlichen Unsicherheit bei. Dazu gehören die allgemein verbreitete Armut und das (unrechtmäßige) Fortbestehen der Terrorstrukturen, der paramilitärischen Zivilpatrouillen PAC, der zivilen Militärkommissare aus der Zeit der Aufstandsbekämpfung etc. Eine wichtige Rolle spielen schließlich die psychosozialen Folgeerscheinungen der Repression und der Straflosigkeit selbst.
Wichtig ist hier zunächst die Tatsache, daß die große Mehrheit der Gewaltakte und der Verbrechen nicht mehr unter der Kontrolle des Staates ausgeführt werden, sonden auf private Initiative. Vor dem Hintergrund der Tendenz, die staatlichen Aufgaben und Geschäfte zunehmend der Privatinitiative und den Großunternehmen zu überlassen, sind die Überreste der staatlichen Terrorstruktur den zahlreichen und gut ausgestatteten Gruppen des organisierten Verbrechens gewichen. Diese stellen nun diejenigen in ihre Dienste, die nach der Beendigung des bewaffneten Konfliktes „ihre Arbeit verloren“ haben. Gemeine Verbrechen, Diebstahl, Erpressungen, Schmuggel, Drogengeschäfte sowie schwerwiegende Verbrechen wie Vergewaltigungen, Entführungen, Folter und Mord werden weiterhin zu einem großen Teil von jenen „Experten“ verübt, die in der Mehrzahl ehemals oder weiterhin in den zivilen wie militärischen Sicherheitsapparaten tätig sind. Pressemeldungen bestätigen Tag für Tag, in welchem bedeutenden Maße in relativen wie absoluten Zahlen Menschen, die zu diesem Zwecke ausgebildet wurden, an den Verbrechen beteiligt sind. Es ist ein trauriges Paradox, daß auch die Bevölkerungsschichten, die in der Vergangenheit dem Getriebe des staatlichen Terrors beipflichteten oder es sogar tatkräftig unterstützten, heute zu einer Angriffsfläche dieses verwandelten und privatisierten Terrors geworden sind, der seinerseits wiederum zum Geschäft wird.
Auf Grundlage einer Studie, die ein Team argentinischer Psychiater zu Argentinien erstellt hat (EATIP:1998) will ich hier – eingedenk der Differenzen zwischen Argentinien und Guatemala – an einigen konkreten Punkten darstellen, wie sich die Spuren des staatlichen Terrors der 80er Jahre in der heutigen guatemaltekischen Gesellschaft wiederfinden.

Auswirkungen des staatlichen Terros

1. Es herrscht ein Gefühl der Angst, der Verunsicherung und der Schutzlosigkeit. Weite Bevölkerungsschichten leben konstant unter dem Druck dieser Gefühle, die dadurch verstärkt werden, daß die Straflosigkeit die Möglichkeit für erneute Gewaltakte eröffnet. Solange die verantwortlichen Gruppen oder Individuen für ihre Verbrechen nicht bestraft werden – und auch nicht für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die am schwerwiegendsten sind – können sie oder andere weiterhin alle Art von Verbrechen verüben.
2. Die Straflosigkeit wird zum „Gesellschaftsmodell“. Das „Modell“ der Straflosigkeit ist das einer absoluten Omnipotenz – „alles ist erlaubt, für nichts wird zur Rechenschaft gezogen“. Besonders gefährlich ist das für Jugendliche, die sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der sie sich in das gesellschaftliche Leben integrieren und klare Werte und Normen darüber aneignen, wie weit man/frau gehen kann, was für ein respektvolles Zusammenleben mit anderen erlaubt, und was verboten ist. Die Straflosigkeit lehrt, daß alles geht: Egal was eineR tut, niemand muß sich um die Konsequenzen kümmern.
3. Der Zuwachs agressiven Verhaltens im sozialen Alltag: In einem quantitativ wie qualitativ unbekannten Ausmaß tritt eine indiskriminierte Gewalt zutage. Beispielhaft dafür stehen die Jugendbanden („maras“), für die Gewalt häufig zur bloßen „Beschäftigung“ wird. Die ausgeübte Gewalt steht dabei in keiner Relation mit dem Tatziel: für einen einfachen Handtaschendiebstahl beispielsweise wird das Opfer schwerverletzt, für eine Taschenuhr oder Sonnenbrille wird getötet, oder das Opfer wird nach Überfällen vergewaltigt.
4. Justiz und „Gerechtigkeit“ werden zunehmend in die eigene Hand genommen. Die Straflosigkeit und der damit verbundene Vertrauensverlust in den Staat führt zum Auftauchen selbsternannter „Vollstrecker des Gesetzes“, die als Einzelne, als Gruppe oder auch in Form aufgebrachter Menschenmengen vermutliche Verbrecher bestrafen wollen. Dies kann sowohl aus eigener Motivation heraus erfolgen, als auch auf Befehl oder Veranlassung durch andere oder durch Gesellschaftsgruppen, deren Ziel es ist, eine gesellschaftliche Stimmung zu schaffen, die eine gewisse Art der „Selbstverteidigung“ befürwortet. Am schlimmsten zeigt sich dieses Phänomen in der „Lynchjustiz“. (1) Hierbei muß man sich vor Augen halten, daß bislang in keinem registrierten Fall irgendeine dieser Taten gegen politische Repressoren verübt wurde.
5. Die Verherrlichung der „Politik der starken Hand“ und der alten Repressoren. Die Straflosigkeit selbst provoziert eine gewisse Sympathie gegenüber dem „harten Durchgreifen“. In einer Situation, in der der Staat seinen Aufgaben als gesellschaftlicher „Gewährsmann“ nicht nachkommt, werden anerkannte Repressoren als Schutzfigur idealisiert: Sie verkörpern den eigenmächtigen und allumfassenden „Vater“, der sich um „Gemeinwohl“ und „Gerechtigkeit“ sorgt.
6. Die Befürwortung der Todesstrafe. Immer wieder werden die Gefühle der Unsicherheit, Verletzlichkeit und des persönlichen Ausgeliefertseins von bestimmten Gesellschaftsgruppen und vom Staat selbst dazu benutzt, die Anwendung der Todesstrafe zu verlangen und zu rechtfertigen. Anders als bei der Verherrlichung der Repressoren stützt sich eine solche Maßnahme auf die Vollstreckung eines Gesetzes, welches an Stelle der einzelnen Person treten soll, die ansonsten eine beispielgebende Bestrafung vorgenommen hätte. (2) Interessant an dem Ruf nach der Todesstrafe ist die Tatsache, daß er noch größere Verwirrung darüber stiftet, was auf dem Gebiet der Tötung eines Menschen erlaubt ist und was nicht. Denn schließlich geht er vom Staat und denjenigen Bevölkerungsgruppen aus, die sich selbst mit Straflosigkeit schützen und in der Vergangenheit für Amnestievorhaben eingetreten sind. Die Auswirkungen der Straflosigkeit dienen hier also als Mittel, um einen Konsens über die Anwendung einer neuerlichen repressiven Maßnahme zu schaffen.
7. Allgemein herrscht ein Gefühl der Aussichtslosigkeit vor. Vor allem Jugendliche stehen einem System gegenüber, in dem jede Anstrengung, eine widrige Situation zu lösen, „zwecklos“ ist. Die Geisteshaltung der Gesellschaft wird von einer generalisierten Skepsis bestimmt. Das Desinteresse am öffentlichen Geschehen und an der Politik fördert zudem die Ausgangsbedingungen für die Straflosigkeit.
Die Auswirkungen des Terrors und der Straflosigkeit werden sich langfristig immer deutlicher zeigen und reproduzieren. Solange eine Gesellschaft die historische Wahrheit ebensowenig erfährt wie Gerechtigkeit – und damit verbunden eine Wiedergutmachung einiger der von der Gewalt angerichteten Schäden – hängt die Gefahr, daß sich die Schreckensgeschichte wiederholt, weiterhin drohend über dem Bau einer tatsächlichen Demokratie. Daher zum Schluß noch einmal Ignacio Martín Baró: „Man muß sich das quantitative und qualitative Ausmaß des Schadens, den die Aufstandsbekämpfungskampagnen und die staatliche Repression angerichtet haben, immer vor Augen führen um zu verstehen, wie falsch es ist, einen Schlußstrich unter diese Geschichte ziehen zu wollen. Die Vergangenheit, die manche hier so überstürzt vergessen wollen, ist nicht nur für einzelne Menschen – seien es Opfer oder Täter – weiterhin präsent. Sie wirkt auch in den Strukturen einer Gesellschaft fort.“

Übersetzung: Helgi Kaissling, Informationsstelle Guatemala

Anmerkungen der Übersetzerin:
(1) In den vergangenen Jahren ist in der Hauptstadt und seit dem letzten Jahr zunehmend auf dem Land Guatemalas die Zahl der sogenannten „gemeinen Verbrechen“ enorm angestiegen. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Dezember 1996 sind neben der weiterhin hohen Zahl von Auftragsmorden zudem Dutzende von Fällen bekanntgeworden, in denen aufgestachelte Bevölkerungsgruppen an vermuteten Verbrechern „Lynchjustiz“ verüben.
(2) Die Todesstrafe ist in Guatemala erlaubt. Im September 1996 wurde sie zum ersten Mal in der Amtszeit von Präsident Arzú vollstreckt: Er ließ zwei Männer, denen die Vergewaltigung und Ermordung eines vierjährigen Mädchens vorgewurfen wurde, trotz zahlreicher Proteste spektakulär vor laufenden Fernsehkameras erschiessen.

Ende der Straflosigkeit?

Als Betina Ruth Ehrenhaus am 5. August 1979 auf dem Heimweg gemeinsam mit ihrem Partner Pablo Armando Lepiscobo verhaftet wurde, war sie gerade zwanzig Jahre alt. Schwerbewaffnete Personen stoppten das Auto, fesselten sie, zogen ihnen Kapuzen über die Köpfe und verschleppten sie getrennt voneinander in zwei Autos. Betina wurde in das geheime Gefängnis in der Mechanikerschule der Marine (ESMA) im Norden von Buenos Aires geschleppt und zwei Tage lang gefoltert. Dann wurde sie freigelassen. Vielleicht hat ihr deutscher Paß sie gerettet. Noch während der folgenden acht Monate hatte Betinas Freund Pablo Telefonkontakt mit seiner Familie, seither fehlt von ihm jede Spur.
Wenn Betinas kleine Tochter heute fragt, wo denn die Militärs sind, die ihr das damals angetan haben, dann bleibt der Mutter keine andere Antwort, als zu erklären, daß die Folterer und Mörder sich auch heute noch unbehelligt in Argentinien bewegen. Dabei sind während der Militärdiktatur etwa 30.000 Menschen unter oft bis heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Und direkt nach der Diktatur gab es sogar ein Gerichtsverfahren in Argentinien, in dem die Verantwortung von der Militärjunta und einigen Ausführenden festgestellt wurde. Doch dann wurden unter Präsident Alfonsín auf den Druck der Militärs hin das Schlußpunkt- und das Befehlsnotstandsgesetz verabschiedet, die eine weitere Aufklärung der Taten gestoppt haben. Und alle restlichen Verantwortlichen hat später Präsident Menem begnadigt. Deshalb sitzt heute keiner der Verantwortlichen in Argentinien im Gefängnis. Und die Organisationen der Angehörigen, allen voran die „Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo“, fordern seit nunmehr über zwanzig Jahren die Aufklärung der Verbrechen und die Bestrafung der Täter.
Unter den Opfern der Diktatur waren Männer und Frauen aus 25 Ländern, unter anderem auch 75 Deutsche und Deutschstämmige. In Anbetracht der Straffreiheit in Argentinien sind heute Gerichtsverfahren in den Herkunftsländern der Opfer die einzige Hoffnung der Betroffenen und Angehörigen, den Verbleib der Verhafteten-Verschwundenen zu klären und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Fall des verschwundenen Deutsch-Paraguayers Federico Jorge Tatter, von dem es seit seiner Verhaftung im Oktober 1976 keine Spur mehr gibt, und die Geschichte von Betina Ehrenhaus sind zwei von vier Fällen, wegen derer die “Kommission der Mütter und Familienangehörigen der Verhafteten-Verschwundenen Deutschen und Deutschstämmigen in Argentinien” (Comisión de Madres y Familiares de los Detenidos-Desaparecidos Alemanes y de Origen Alemán en la Argentina) am 7. Mai im Bundesjustizministerium in Bonn Anzeige erstattet hat. Vier Fälle aus der Gruppe der über 70 Betroffenen Deutschen und Deutschstämmigen in Argentinien wurden herausgegriffen, die besonders klar und gut dokumentiert sind und so gute Chancen einer Strafverfolgung vor deutschen Gerichten haben. Zur Unterstützung des Verfahrens hat sich hier in Deutschland die Koalition gegen Straflosigkeit – Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen in Argentinien gegründet. Sie wird getragen vom Nürnberger Menschenrechtszentrum, der Argentinien-Koordinationsgruppe von amnesty international und einigen weiteren deutschen Menschenrechts- und Argentinien-Gruppen.
Gibt es denn überhaupt die Möglichkeit, diese Fälle hier vor einem deutschen Richter zu verhandeln? „Sofern Deutsche im Ausland von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, besteht die Möglichkeit, dies in Deutschland strafrechtlich zu ahnden“, erklärt Rechtsanwalt Klaus Richter aus Nürnberg, Mitarbeiter der Kanzlei, die das Verfahren hier in Deutschland vertritt. Gemäß Paragraph 7 des deutschen Strafgesetzbuches gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Auch die argentinischen Straffreistellungsgesetze, das Schlußpunktgesetz und das Befehlsnotstandsgesetz, ändern daran grundsätzlich nichts, denn sie wirken wie eine Amnestie und verändern nicht die argentinische Strafnorm. Außerdem werden diese Gesetze als völkerrechtswidrig betrachtet, weil sie den bestehenden Verfolgungs- und Bestrafungspflichten für schwere Menschenrechtsverletzungen nicht nachkommen.
Die Anklage richtet sich gegen einen Kreis von etwa 40 Personen aus dem Militärapparat. Das reicht vom Verwaltungszonen-Kommandeur, der gleichzeitig die politische und militärische Verantwortung für eine Region trug, bis hinunter zu Schergen in den Haftlagern. Die Anwälte rechnen allerdings damit, daß es nur bei einer kleineren Gruppe der Beschuldigten zu einer konkreten Anklage kommen wird. Allerdings gibt es in Deutschland nicht die Möglichkeit, in Abwesenheit eines Angeklagten zu verhandeln. Es ist auch nicht zu erwarten, daß die argentinische Regierung die Täter ausliefert. Doch sollten deutsche Gerichte einen Haftbefehl ausstellen, wäre der international vollstreckbar. Das würde dann bedeuten, daß die betreffenden Personen Argentinien nicht mehr verlassen können, ohne sich in der Gefahr zu sehen, in Deutschland vor ein Gericht treten zu müssen.

Anzeigen als Zeugnisse gegen das Vergessen

Die Anzeigen und Verfahren in ganz Europa haben die argentinische Diskussion um Vergangenheitsbewältigung wieder belebt und den Hoffnungen derer, die nach der Wahrheit suchen, neuen Auftrieb gegeben. „Alle Arten von Gefühlen überkommen mich jetzt hier in Deutschland“, so erzählt Idalina Tatter, Ehefrau des 1976 verschwundenen Federico Tatter. „Diese Aktion hier bringt die schlimmen Erinnerungen der Vergangenheit hoch, aber auch so viel Enthusiasmus und Hoffnung, und immer neue Wut auf die Täter.“ Auch diese haben Reaktionen gezeigt. Sich bisher in Sicherheit wiegend, haben argentinische und chilenische Militärs teilweise heftig gegen die Prozesse protestiert.
Doch nicht nur den Tätern brennt das Thema unter den Nägeln. Auch die argentinische Öffentlichkeit insgesamt nimmt regen Anteil am Fortgang der Verfahren hier in Europa. Die großen Tageszeitungen berichten fast täglich über die Ermittlungen des Richters Baltasar Garzón in Spanien, der dort starkem internen Druck ausgesetzt ist, weil die Untersuchungen die Beziehungen zwischen Spanien und Argentinien belasten. Aber auch über die Anstrengungen, ein Verfahren hier in Deutschland einzuleiten, wurde in Zeitungen und Radio rege Bericht erstattet.
Währenddessen sind im März in einem zweiten Anlauf die Straffreiheitsgesetze in Argentinien für zukünftig nicht mehr gültig erklärt worden. Das bedeutet nicht, daß die Verfahren der Vergangenheit wieder aufgenommen werden, sondern nur, dass in Zukunft Menschenrechtsverletzungen, wie die unter der Diktatur begangenen, nicht straflos bleiben könnten. Ein noch weiter gehender Gesetzentwurf, den sechs Abgeordnete des Mitte-Linksbündnisses FREPASO Anfang des Jahres vorgelegt hatten, führten zu einer Krise in der Mitte Links-Koalition zwischen FREPASO und der früheren Regierungspartei Union Civica Radical (UCR) und war dann abgeschwächt worden.
Obwohl Umfragen zufolge zwischen 60 und 70 Prozent der ArgentinierInnen für eine vollständige Abschaffung der Gesetze sind, ist nun von den Parteien nur ein symbolischer Kompromiß gefunden worden, der zwar ein Beitrag in der Diskussion um die Vergangenheit ist, aber keine Gerechtigkeit für die Betroffenen herstellt.

Langer Atem nötig

Doch auch hier in Deutschland wird es schwierig sein, das Interesse an dem Verfahren aufrechtzuerhalten. Die Koalition gegen Straflosigkeit hatte Anfang Mai zu einem Hearing in den Bundestag geladen, zu dem auch Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel aus Argentinien angereist war. Dabei ist das Anliegen der ArgentinierInnen auf „offene Ohren“ deutscher Abgeordneter gestoßen, so berichtet Betina Ehrenhaus. „Doch werden den Worten Taten folgen? Gibt es in Deutschland den gesellschaftlichen und politischen Willen, das begangene Unrecht aufzuklären und die Täter zu bestrafen?“
Dabei gäbe es auch noch Licht in andere dunkle Ecken der deutsch-argentinischen Geschichte der Vergangenheitsbewältigung zu bringen. Der Vorwurf zum Beispiel, daß die deutsche stille Diplomatie zu Zeiten der Diktatur erfolglos war und die offiziellen VertreterInnen Deutschlands die Angehörigen der Verschwundenen nicht oder nicht genügend unterstützt haben, steht weiter im Raum. Und auch die Beteiligung Deutscher und deutschstämmiger ArgentinierInnen auf der Täterseite ist nie wirklich untersucht worden. Daß deutsche Unternehmer mit den Militärs kooperiert haben, ist eine naheliegende Vermutung. Wie sonst hätten in so kurzer Zeit damals Namenslisten von Gewerkschaftsmitgliedern erstellt werden können, die alle kurz darauf verhaftet wurden und seitdem verschwunden sind? Es gibt auch Berichte darüber, daß deutsche oder deutschstämmige Militärs an den Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren.
Auch wenn der Umgang mit den argentinischen MenschenrechtlerInnen von seiten der Bundesregierung und des Parlamentes heute offen und sogar unterstützend war, hat die Bundesregierung natürlich kein Interesse daran, die diplomatischen Beziehungen zu Argentinien zu belasten. Das Auswärtige Amt hält sich deshalb mit Stellungnahmen zum Verfahren zurück. Und der Bundesgerichtshof muß nun erst einmal eine Zuständigkeit für das Verfahren bestimmen. Dann erst wird diejenige Staatsanwaltschaft, der es letzendlich zugeteilt werden wird, die Ermittlungen aufnehmen. Es gibt keine Zeitvorschrift für dieses Verfahren, so daß die Gefahr besteht, daß sich alles verzögert und das Interesse an dem Vorgang wieder einschläft. Die schwierige Aufgabe der Koalition gegen die Straflosigkeit besteht deshalb nun darin, nicht nur das Gerichtsverfahren selbst vorzubereiten, sondern auch ein Interesse der deutschen Öffentlichkeit an der Aufarbeitung der argentinischen Menschenrechtsverletzungen wachzuhalten.

Kontakt: Dokumentations- und Informationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika (DIML), Adlerstr. 40, 90403 Nürnberg, Tel. 0911/ 230 55 50, Fax: 0911/ 230 55 51, Email: DIML@link-n.cl.sub.de

Handlangerdienste für Fujimori

Die Herren des Morgengrauen waren Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Hamburger Polizei. Neun Stunden durchsuchten sie die Wohn- und Arbeitsräume der Velazcos, kopierten die Festplatte ihrer Computer und beschlagnahmten zahlreiche schriftliche Unterlagen, Videokassetten und Arbeitsmaterialien.
Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft den Velazcos vor, von Hamburg aus die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima geplant zu haben und ermittelt wegen Beihilfe zu erpresserischem Menschenraub und Geiselnahme. Isaac Velazco lebt seit vier Jahren als anerkannter politischer Flüchtling in Hamburg. Bei einem Unfall in Peru verlor er das Augenlicht. Unter abenteuerlichen Bedingungen gelang ihm die Flucht nach Kuba und dann in die BRD.

Stimmen gegen die Unterdrückung

Vom 17. Dezember 1996 bis 22. April 1997 waren die Velazcos weltweit vielgefragte Personen. In diesem Zeitraum hatte ein Kommando der MRTA die japanische Botschaft in Lima besetzt gehalten, um die Freilassung ihrer unter unmenschlichen Bedingungen eingekerkerten GenossInnen zu erreichen. Alle Guerilleras/os wurden beim Sturm auf die Botschaft am 22. April von Fujimoris Soldaten ermordet. Immer wieder prangerte Isaac Velazco die Menschenrechtsverletzungen des peruanischen Regimes an. Nicht nur deutsche, auch internationale Medien baten um Gesprächstermine. Norma Velazco war in Peru Menschenrechts- und MRTA-Aktivistin. Nach der Botschaftsbesetzung versuchte auch sie, die Öffentlichkeit für die Verhältnisse in dem Andenland zu sensibilisieren – vor allem über die Situation der Frauen in peruanischen Knästen.

Medien leisten Vorschub zur Kriminalisierung

Die Räume des FDCL waren nicht groß genug für die Medienverterter bei der Pressekonferenz mit Velazco am 22. Dezember 1996 unmittelbar nach der Botschaftsbesetzung. Doch schon damals schienen einige JournalistInnen eher an der Kriminalisierung von Velazco als an Infomationen über die Situation in Peru gelegen.
So hieß es unter dem Kürzel ‘ab’ in der Zeitung Die Welt: „Ein angeblicher Vertreter der Geiselnehmer in Lima hat gestern in Berlin eine Erklärung abgegeben… Der Ort der ‘Pressekonferenz’ war passend: Eine Guerilla-Kämpferin mit Gewehr ist im Flur des ‘Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Südamerika’ im Kreuzberger Mehringhof an die Wand gemalt.“
Noch deutlicher waren die im Tenor identischen Artikel von Roman Goergen im Januar und Februar 1997 im Tagesspiegel und in den Stuttgarter Nachrichten: „Daß der ‘Combatant’ Velazco für eine Gruppe, die vor Terror nicht zurückschreckt, von den deutschen Behörden unbehelligt Propaganda treiben kann, liegt an seiner guten Kenntnis des Strafrechts in der Bundesrepublik. Er weiß, daß er als Asylant nicht in die politischen Belange der Bundesrepublik eingreifen darf. Auch sonst wählt Velazco seine Formulierungen mit Bedacht – kein Gewaltaufruf kommt über seine Lippen, nur nüchterne Fakten, garniert mit etwas Ideologie.“ Trotzdem hat sich Georgen schon mal bei den Behörden vergewissert. „Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft bestätigt: ‘Velazco ist nur eine Person. Somit ermitteln wir nicht wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung’. Und solange er auch keine Straftaten begehe, werde nichts gegen ihn unternommen.“
Doch die BAW ermittelte schon gegen die Velazcos. Deren Aktivitäten hatten das Mißfallen der peruanischen Regierung ausgelöst, die in Schreiben an mehrere europäische Regierungen die Unterbindung dieser Aktivitäten verlangte. In Bonn fanden sie schnell Gehör.

Repressionen gegen die Velazcos

Die deutschen Behörden versuchen schon seit längerem, Velazco mundtot zu machen. Ende September 1997 verhängte der Hamburger Innensenat gegen ihn ein partielles politisches Betätigungsverbot. Verboten ist ihm jegliche Äußerung, die „im Zusammenhang mit den Zielen und dem Verhalten der MRTA in Peru die Anwendung von Gewalt befürwortet, rechtfertigt oder ankündigt“. Bei Zuwiderhandeln droht eine Geldstrafe zwischen 1.000 und 5.000 DM oder eine Haftstrafe. In der Verbotsbegründung wurde Velazco vorgeworfen, die Botschaftsbesetzung in Lima gerechtfertigt und damit die außenpolitischen Interessen der BRD „erheblich gefährdet zu haben“. Konkret wurden ihm Äußerungen zur Last gelegt, die er in einem CNN-Interview unmittelbar nach dem Sturm auf die Botschaft sowie in zwei in der Hamburger Monatszeitschrift Angehörigen Info abgedruckten Interviews gemacht haben soll. Velazcos Anwalt Hartmut Jacobi hat Widerspruch gegen die Entscheidung erhoben. Jetzt sei es nur noch ein kleiner Schritt, die Presse zu verbieten, die schreibt, was Velazco sagt, so seine Befürchtung. Schon wenige Woche später sollte die sich bestätigen.
Gegen die presserechtlich Verantworlichen des von den „Angehörigen, Freunden und Freundinnen politischer Gefangener in der BRD“ herausgegebenen Angehörigen Info wurde ein Verfahren wegen Billigung von Straftaten eingeleitet. Grundlagen dieses Verfahrens sind ein Kommuniqué der MRTA, ein nachgedrucktes Radiointerview mit Norma Velazco, eine Liste mit den Namen schwerkranker Gefangener in den Gefängnissen Perus sowie eine Zusammenstellung von Artikeln über den Terror des Fujimori-Regimes.
Daß sich die Staatsanwaltschaft aus der Fülle der Medien, in denen Velazco interviewt wurde, ausgerechnet das Angehörigen Info rauspickte, war sicher kein Zufall – die Publikation wurde schon häufig mit Verfahren überzogen. Nach einigen Monaten wurde dieses Verfahren eingestellt.
Isaac Velazco hielt auf der Internationalen Che-Guevara-Konferenz Ende September 1997 in Berlin eine Rede, in der er die Maßnahmen gegen ihn als Handlangerdienst für das Fujimori-Regime bewertete. Er sei von der MRTA als Europasprecher benannt worden, doch auch andere lateinamerikanische Guerillaorganisationen hätten Sprecher in Europa gehabt. Erinnert sei da nur an die SandinistInnen oder die FMLN aus El Salvador.

Gute Kontakte zwischen Bonn und Lima

Es ist nicht das erste Mal, daß sich die BRD-Regierung auf die Seite des peruanischen Regimes stellt. Als im vergangenen Juni eine Delegation der Angehörigen von peruanischen politischen Gefangenen gemeinsam mit den Madres de la Plaza de Mayo aus Argentinien während einer Rundreise durch die BRD über die Situation der Menschenrechte in Peru informieren wollte, verweigerte das Bonner Außenministerium die Einreise.
Die guten Kontakte der Repressionsorgane sind alllerdings schon älter. 1990 besuchten Vertreter der peruanischen Staatssicherheitsbehörden den Hochsicherheitsknast Köln-Ossendorf. Die peruanischen Vertreter tauschten sich mit den deutschen Behörden über die effektivsten Isolationsmaßnahmen aus.

Solidarität mit Velazco

In Hamburg haben sich Ende letzten Jahres rund 30 Organisationen, wie zum Beispiel die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Hamburger Flüchtlingsrat und die Bürgerschaftsfraktion der Grün-Alternativen Liste in einem Aufruf gegen das Betätigungsverbot für Isaac Velazco ausgesprochen. Nach der Razzia haben die Rote Hilfe e.V. in Hamburg und die Chile AG Braunschweig die Initiative ergriffen. Sie sammeln Unterschriften für eine Resolution, in der die Behörden zur unverzüglichen Einstellung aller Verfahren gegen die Velazcos und die Rückgabe der beschlagnahmten Materialien aufgefordert werden. Die Velazcos haben weitere Solidarität dringend nötig, denn die BAW behält sich mit der Erklärung, daß eine Festnahme bisher nicht erfolgt sei, weitere Schritte vor.

Editorial Ausgabe 288 – Juni 1998

„Buenos Días, Argentina“, wer kennt noch diese unsägliche Schnulze aus den goldenen Kehlen unserer Jungs und Udo Jürgens? Von diesem fernen Land, wo der Río de La Plata rauscht, Gauchos reiten, die Guitarre singt und das Band der Harmonie uns verbindet? Vier Jahre zuvor sangen sie noch, daß Fußball ihr Leben sei und wurden damit Weltmeister. Warum sollte das 1978 anders sein. Schließlich hat Sport ja nichts mit Politik zu tun.
„Die WM mit ihren 35.000 erwarteten Touristen und den mehr als 1,5 Milliarden Fernsehzuschauern hilft dem Ansehen Argentiniens mehr als Hunderte von politischen und diplomatischen Erklärungen,“ verkündete der Vorsitzende des argentinischen WM-Organisationskomitees, Brigadegeneral Antonio Merlo, Ende 1977. Donnerwetter: Sport hat was mit Politik zu tun!
Wenn im Juni in Frankreich das Eröffnungsspiel angepfiffen wird, jährt sich die Mundial 78 zum zwanzigsten Mal. Der Jahrestag wird den Medien kaum Anlaß zu kritischer Betrachtung sein. In Deutschland verbreitet man über das Sportliche bei dieser WM ohnehin gerne Schweigen, schossen uns doch ausgerechnet die Österreicher aus dem Tunier, und der Deutsche Fußballbund DFB wird auch nicht gerne an seine damalige Rolle erinnert.
Die Militärs hatten sich am 24. März 1976 gerade an die Macht geputscht, schon stand zwei Tage später der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des Weltfußballverbandes FIFA und Chef des WM-Organisationskomittees bei ihnen auf der Matte. Neuberger war schon lange unzufrieden mit den Vorbereitungen Argentiniens und sah in den neuen Machthabern die letzte Chance: „Ich habe denen gesagt, daß sie acht Tage Zeit haben, daß ich inzwischen herumreise und mir alles ansehe und dann wissen möchte, was die Regierenden sagen.“ Die Militärs ließen sich die Chance nicht entgehen.
Durch das Bekanntwerden der Greueltaten der argentinischen Junta formierte sich weltweit Protest an der Militärherrschaft. Die WM im eigenen Land rückte das Regime zusätzlich ins Rampenlicht. Ende 1977 beschloß eine Gruppe von Soldaritätskomitees den Protest in der deutschen Öffentlichkeit voranzutreiben. „Argentina 78: Fußball ja – Folter nein,“ lautete die Losung der Kampagne. Gefordert wurde nicht der Boykott der WM, sondern das genaue Hinsehen auf die argentinischen Verhältnisse. Die Kampagne entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten Projekte der Solibewegung der 70er Jahre, zumindest in Hinblick auf die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit und Ärgernis. Kein Sender, keine Zeitung kam um das Thema herum. Am Ende unterstützen über 300 Gruppen die Forderungen der Kampange: Aufnahme von 500 ArgentinierInnen durch die Bundesrepublik, die Veröffentlichung einer Liste der politischen Gefangenen durch die argentinische Regierung sowie eine unabhängige internationale Untersuchung aller argentinischen Gefängnisse und Lager.
Der Grund für den Erfolg lag im Boykottverzicht. Kein Spieler, kein Funktionär, kein Politiker konnte sich auf die simple Formel zurückziehen, wonach ein WM-Boykott nichts nutzen würde oder am Ende gar die Falschen träfe. Die Bundesregierung erklärte sich bereit, 500 politische Gefangene aufzunehmen, und Spieler und Funktionäre mußten sich gefallen lassen, öffentlich zur Situation in Argentinien Stellung zu beziehen. Dabei kam nicht nur dümmliches Gestammel zutage. Neuberger jedoch blieb sich treu und meinte zum lateinamerikanischen Demokratieverständnis: „Die werden ab und zu nur mal wieder wachgerüttelt in Richtung gesundem Demokratie-Empfinden, wenn sie vorher vom Weg abgekommen sind.“
Zwanzig Jahre später geht es ohne Protest zum großen Kick. Unsere NachbarInnen muß auch kein DFB-Chef belehren. Die hatten bei den letzten Parlamentswahlen voll durchgezogen – gegen die Konservativen.

Mit Rock‘n Roll gegen Hämorrhoiden

Die Sonne steht hoch am Nachmittag über dem Revolutionsplatz in Havanna, doch tief unter dem Nationaltheater im Café Cantante, einem Tanzkeller mit dem unterirdischen Charme eines Luftschutzbunkers, spürt man nur die Hitze der Musik. Eben zog Iván Latour seine Gitarre aus dem Koffer. Einige hundert junge Leute haben sich eingefunden, um Iván und seine Rockband Havana spielen zu hören. Junge Menschen, die einem mit ihrem langen Haar, Jeans und Heavy-Metal-T-Shirts auf der Straße nur beiläufig auffallen würden als Anhänger der auf Kuba immer noch marginalisierten Rockmusik-Szene.
Iván ist einer ihrer jungen Stars, nicht nur auf Kuba. Er ist durch seine erste, in Spanien produzierte CD und durch seinen Auftritt in dem US-Dokumentarfilm “Midnight in Cuba”, der auf der letzten Berlinale zu sehen war (siehe LN 285), auch international bekannt geworden. Havana ist eines der jüngsten Beispiele für das wachsende Interesse des Publikums und multinationaler Musikkonzerne an der kubanischen Rockmusik.
Havana und Iván finden sich auch wieder auf einem Poster, versehen mit der Widmung „für meinen großartigen Lehrer und Freund, an der Wand eines kleinen Zimmers einer heruntergekommenen Mietskaserne in der Altstadt von Havanna. Hier, zwischen alten Instrumenten, Schallplattenstapeln und antiquiertem DDR-Soundequipment, lebt Iván Fariñas, mit vier Jahrzehnten erlebter Rockgeschichte schon Legende und Mentor für die jüngste Generation kubanischer Rockmusiker. Im jungen Alter von acht Jahren, als Backgroundsänger der Gruppe Venaton (=Name einer Hämorrhoidensalbe), die in den fünfziger Jahren Titel von Elvis Presley coverte, nahm der heute 48jährige Sohn einer Pianistin und eines Rechtsanwalts seine erste Platte auf.
Das war noch zu Zeiten des Diktators Fulgencio Batista, und schon damals waren die Ressentiments groß in der noch kolonial geprägten Gesellschaft gegen die „dekadente ausländische Musik”. Die Schergen des Diktators schnappten sich nicht selten die ersten roqueros, warfen sie ins Gefängnis und schnitten ihnen die langen Haare und die Bluejeans ab. „Rockmusik”, sagt Fariñas, heute Sänger und Gitarrist von Viento Solar, „wurde und wird auf Kuba als etwas Fremdes empfunden, obwohl sie die selben Wurzeln hat wie die traditionelle kubanische Musik, und obwohl es in diesem Jahrhundert einen intensiven Austausch und eine unlösbare Verflechtung mit der nordamerikanischen Musik gab.

“Der Son ist ein Onkel des Rock’n Roll”

Sowohl der Rock`n Roll als auch der kubanische Danzón stammen vom Countrydance ab, der im letzten Jahrhundert aus Europa in die Tanzsalons der westlichen Hemisphäre importiert wurde. Auf Kuba entwickelte sich daraus über die Contradanza und den kubanischen Nationaltanz Danzón der Son.
In den USA entstand aus dem Countrydance der Country, der, vor allem im Mississippi-Delta und Louisiana, auf die Musik der schwarzen Sklaven traf. Diese Fusion wurde zum Blues, der sich, von weißen Musikern in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts aufgegriffen, über den Rockabilly zum Rock`n Roll weiterentwickelte. „Der Son ist somit ein Onkel des Rock`n Roll”, erklärt Fariñas. Der Einfluß kubanischer Musiker auf die nordamerikanische Musik dieses Jahrhunderts war enorm: Bereits seit den zwanziger Jahren entwickelte sich in den USA, und hier besonders in New York, eine Latino-Musikszene, in der die Kubaner eine führende Rolle innehatten. Vor allem in den vierziger und fünfziger Jahren spielten kubanische Musiker in allen großen Jazzbands. Diese gaben dann wiederum zahlreiche Konzerte in der „Talentschmiede” Havanna, damals de facto eine von der New Yorker Mafia kontrollierte US-Kolonie.
Fidel Castros Revolution und die Euphorie ihrer frühen Jahre bedeuteten eine Befreiung für den frühen kubanischen Rock. Die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre sind ausgefüllt von einer Welle spanischsprachiger, von multinationalen Produktionsfirmen billig in Argentinien, Mexiko und Kuba produzierter Musik, die sich auch in den USA gut verkaufte. Der kubanische Rock erlebte eine erste Blüte, weg von den Coverversionen eines Elvis Presley oder Chuck Berry hin zu einem eigenen Stil.
Einer der Höhepunkte dieser Zeit war die Einführung des Chachacha als einem kubanischen Rhythmus in die internationale Rockmusik durch die Hot Rockers aus Havanna. Später griff Carlos Santana, in dessen Band zu verschiedenen Zeiten Percussionisten aus Kuba spielten, andere kubanische Rhythmen wie die Rumba und den Mozambique auf.
Mit der Kuba-Krise, welche die totale wirtschaftliche Blockade seitens der USA und eine Betonung des nationalen Elements in Kuba selbst zur Folge hatte, geriet der hoffnungsvolle kubanische Rock zunehmend in die Isolation. Die traditionell engen Verbindungen zur nordamerikanischen Musikszene wurden gekappt, 1964 schlossen das letzte private Plattenlabel und die letzte unabhängige Radiostation in Havanna. Ein gewaltiger Exodus von Kulturschaffenden setzte ein. „Rockmusik galt plötzlich als die Musik des Feindes”, erzählt Fariñas, „sie wurde gefürchtet wegen ihres rebellischen Charakters, weil sie mehr war als nur eine Musikrichtung: Sie war ein Lebensstil, ein gesellschaftliches Gegenkonzept.” Jetzt hatten jene Kritiker, die in der Rockmusik eine Dekadenz nationaler kultureller Werte sahen und eine Konzentration auf die Promotion „ureigener kubanischer” Musik wie des Son forderten, wieder die Oberhand. „Diese Leute wollten nicht wahrhaben, daß selbst der Son eine Mischung aus assimilierten europäischen und afrikanischen Elementen ist.” Auf der Insel verschwanden fast alle Rockbands von der Bildfläche. Nur etwa ein halbes Dutzend professionelle Gruppen überlebten, dank des nach wie vor großen Interesses des Publikums, das zahlreich die wenigen geduldeten Konzerte besuchte.

La Nueva Trova

Mit dem Aufkommen der Protestlied-Welle in den USA, mit Sängern wie Bob Dylan und Pete Seeger, trat die Rockmusik spätestens zu Beginn der siebziger Jahre ins zweite Glied. Auf Kuba wurde sie endgültig marginalisiert. In Lateinamerika verband sich die Protestlied-Welle, wie in Argentinien (Daniel Viglietti, Atahualpa Yupanqui) oder Chile (Movimiento de la Nueva Canción Chilena) mit dem traditionellen Volkslied. In Kuba hieß das Phänomen La Nueva Trova, in Anlehnung an die Trovadores des letzten Jahrhunderts, und zu seinen Protagonisten wurden Silvio Rodriguez und Pablo Milanés.
Die Popularität dieser neuen Musik drängte die wenigen professionellen Rockgruppen in einen Amateurstatus. Einzelne Musiker versuchten durchaus erfolgreich ihr Glück in den USA zu finden in Bands wie Jon Bon Jovi, Whitesnake, Maverick und Santana. Wieder andere versuchten sich, zumeist erfolglos, mit einem Wechsel zur Nueva Trova.
Mit dem Aufkommen der Disco-Musik, für Fariñas „das erste Antidot gegen den Rock auf dem Markt”, verloren die amateurisierten Gruppen, unter ihnen Fariñas` Los Gafas, mit den nun ausbleibenden Auftritten sogar bei Privatparties ihre letzte Einnahmequelle.
Rockmusik entsprach allmählich nicht mehr dem Publikumsgeschmack, ein Phänomen des Marktes, daß sich auch in der übrigen Welt beobachten ließ. Kurz zuvor, mit dem Scheitern am angestrebten Ziel der Zafra, der Zuckerrohrernte im Jahr 1971, und dem darauffolgenden Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas (PCC), hatte die Regierung eine Epoche eingeleitet, die als quinqueño grís, die „grauen fünf Jahre”, in die Geschichte einging: Die Gesellschaft wurde auf mehr Effizienz hin ausgerichtet, die Kontrolle über die Kulturschaffenden verschärft, mit der Folge, daß nicht konformistische Zweige wie die Rockmusik auf einmal keine staatliche Förderung mehr erhielten.
Daraufhin setzte aber unerwarteterweise eine lokale Kulturförderung ein: Die staatlichen Betriebe und Organisationen vor Ort engagierten je nach Bedarf auch Musikgruppen. Iván Fariñas spielte mit seiner neugegründeten Band Viento Solar zum Beispiel während seines Militärdienstes sogar in der Kaserne, sowie jahrelang im Touristenzentren in Varadero. „In Varadero traten wir meist vor französischen und spanischen Touristen auf, das waren Szenen wie aus einem Aerosmith-Video: Die Leute waren begeistert, tanzten auf den Tischen, die Bierflaschen flogen. Bis die Polizei kam und meinte, die Party wegen des Lärms beenden zu müssen.” Wirkliche staatliche Repression gegen die Rockmusik hat Fariñas dagegen nicht erlebt: „Wir waren schlecht angesehen, und sie haben sich uns gegenüber gleichgültig gestellt, das ist bitter genug – aber ich habe immer sagen können, was ich wollte.”

Dolares und Rockmusik

Die achtziger Jahre wurden zur Dekade der Salsa. Salsa, das war ein irgendwo zwischen New York und Buenos Aires entstandenes, facettenreiches Musikphänomen, das auf dem kubanischen Son als rhythmischer und musikalischer Basis aufbaut. Die GREN, die staatliche und einzige Musikproduktion auf Kuba, erschloß rasch den Salsa als Devisenquelle und förderte Gruppen wie Irakere und Los Van-Van, die heute auch international zu den Protagonisten gehören.
Seit Beginn der Neunziger hat sich das Publikumsinteresse in vielfältige Richtungen aufgesplittet. Seit dem überraschenden internationalen Erfolg von Síntesis mit ihrer Platte „Ancestros”, die Rockmusik mit anspruchsvollen Texten und Folk-Elementen verbindet, möchte die staatlich-kubanische GREN hier nicht den Anschluß verpassen und bemüht sich nun verstärkt auch um die kubanischen Rockbands. Ihre ökonomischen und technischen Möglichkeiten sind jedoch beschränkt. So ist man darauf angewiesen, die wenigen modernen Tonstudios im Lande an ausländische Produktionsfirmen zu vermieten, um an Devisen zu kommen.
Da bleibt nur wenig Platz für einheimische Gruppen. „Will ich ein Demo-Tape aufnehmen, muß ich dies ein Jahr vorher anmelden und dazu auch noch nach Santiago fahren.”, schildert Fariñas die groteske Situation. Die Rockmusik leide besonders unter den schwierigen ökonomischen Bedingungen, da sie sehr auf Instrumente und technisches Equipment angewiesen sei, das man auf Kuba nur gegen Dollar bekommt, während sämtliche Honorare in einheimischen Pesos ausgezahlt werden. Dies treibt viele Musiker und Gruppen in die Arme der multinationalen Firmen, was manche kubanischen Musiker mehr als Gefahr denn als Chance sehen.
„Auf Kuba gibt es noch keinen ausreichenden Markt für die Rockmusik; die Gruppen, die sich jetzt mit den ausländischen Konzernen einlassen, produzieren für den ausländischen Markt, nicht für den kubanischen. Diese Gruppen verlieren ihre Identität, sie sind für die so notwendige Entwicklung des rock cubano verloren.”, meint Luís de la Cruz, Gitarrist von Bolsa Negra. „Die Rockmusik ist in der kubanischen Gesellschaft noch nicht so tief verwurzelt, daß man sie einem freien Spiel des Marktes überlassen könnte.”
Die Marginalität und die Identitätssuche sind dann auch die Charakteristika der heutigen Rockmusikszene. Der Entwicklungsstillstand durch die lange Isolation, die Ignoranz staatlicherseits und die ökonomische Krise fordern Antwort auf die Frage: Was ist rock cubano?
Iván Fariñas, der sich dieser Frage schon vor Jahren gestellt hat, gehört zu den Wenigen, die über den rock nacional, also in Kuba gespielter Rockmusik, hinaus einen rock cubano, einen eigenen, einen kubanischen Stil entwickelt haben. „In Kuba wird zuviel gecovert, damit meine ich nicht allein das Nachspielen gängiger Rocknummern, sondern den cover timbristico, das Nachahmen des Klangs. Zu viele Musiker meinen, um Erfolg zu haben, müsse ihre Musik klingen wie die von Sepultura.” Für die jüngste Generation aber ist dieser Punkt nicht so klar. Während einige, wie der Musiker Abél Pérez, sagen, daß jeder in Kuba gespielte Rock rock cubano ist, begreifen andere, wie der Musiker und Kritiker Andrés Mír, Rockmusik als ein universales, über-nationales Phänomen.
Einig sind sich aber alle darin, daß der Rock „ohne Zweifel ein Teil der kubanischen Kultur ist (Andrés Mír). In der Tatsache, daß neunzig Prozent aller Rocksongs auf Kuba englischsprachig sind, sieht Iván Fariñas einen weiteren Beleg für eine noch ausstehende Entwicklung einer eigenen Identität: „Ich bin, ich spreche Spanisch, Señores! Ich bin ein großer Verteidiger der spanischen Sprache – und gerade deshalb singe und spreche ich auch Englisch. Es ist wichtig, etwas in Englisch zu machen, um das internationale Publikum zu erreichen und um zu zeigen, daß man Stil hat.” Lediglich zehn Prozent von Fariñas Liedern sind auf Englisch.

Identitätssuche des rock cubano

Iván Fariñas geht davon aus, daß die Rockmusik auf Kuba an Bedeutung gewinnen wird. „Beim Rockfestival 1990 in Alamar habe ich bereits gesagt: Im Jahr 2000 wird der Rock auf Kuba eine große musikalische Kraft darstellen. Und das zeichnet sich bereits ab.” In dieser Übergangszeit bleibt aber noch viel zu tun.
Neben mehr Akzeptanz und Präsenz in den Medien und besseren Produktionsbedingungen fordern die jungen Rockmusiker einen „vor dem Markt geschützten Freiraum”, sprich eine staatliche Musikförderung, in dem die kubanische Rockmusik erst noch zu sich selbst finden kann. „Wir brauchen Raum zum Diskutieren, Aufzeigen, Lernen und Lehren. Wir müssen Kontinuität erreichen, die Rockmusik verteidigen und erweitern, Talent, Arbeit und Initiative entwickeln.”, meint Andrés Mír. „Anfänger haben kaum eine Chance, sich kennenzulernen, es gibt kein Medium, das ihre Produktionen ans Tageslicht holt. Sie werden dabei immer älter und bleiben unbekannt.”
Auch Fariñas sieht die Notwendigkeit, daß der Rock in Kuba noch große Entwicklungsschritte machen muß. Er attestiert der kubanischen Szene aber ein großes Potential. „Bei uns Kubanern,” sagt er, „entsteht Musik, wo es ein paar Stöcke und eine Blechbüchse gibt. Unser musikalisches Potential ist wie ein Flaschengeist: Wenn wir ihn herauslassen, erreichen wir so viel, mit so wenig.”
Mit seiner Band Viento Solar steht Fariñas derzeit in Havanna im Studio und nimmt eine CD auf – die erste seiner vierzigjährigen Karriere. Schließlich hat die GREN auch ihn entdeckt. Mit einer Veröffentlichung ist noch in diesem Jahr zu rechnen, seine Tantiemen erhält er erstmals in dólares ausgezahlt. „Wenn ich sterbe, möchte ich, daß diese Leute sagen können: Dieser Typ war nicht so scheiße, wie wir meinten. Der Typ hat’s drauf. Es ist etwas dabei herausgekommen.

Zwischen politischem Kalkül und revolutionärer Romantik

Der mittlerweile zu einem historischen Phänomen mutierte ostdeutsche Staat Deutsche Demokratische Republik ist heute ein Objekt der Begierde. PolitologInnen, SoziologInnen, PsychologInnen und HistorikInner haben das seltene Glück, auf dem Seziertisch ihrer wissenschaftlichen Analyse die Strukturen eines gerade gescheiterten politischen Systems freilegen zu können. Dabei scheint die von Hegel oft beschworene List der Geschichte zu bewirken, daß gerade jenes Herrschaftssystem, das im Innern jegliche Öffentlichkeit verbannte und sich nach Außen abkapselte, heute in den Archiven einer solch intensiven Durchleuchtung seiner 40jährigen Geschichte ausgesetzt ist, wie wohl kaum eines in der bisherigen deutschen Geschichte. Die Instrumentalisierung der gewonnenen Befunde in den politischen Grabenkämpfen des vereinten Deutschlands ist offenbar, und auch der Versuchung, post festum alte akademische Fehden nun zu einem siegreichen Ende zu führen, wird selten widerstanden.
Nachdem dieser Staat deutsche Geschichte ist, wird Gericht gehalten. Oftmals sind die Urteile schon vor Beginn des Prozesses gesprochen. Historischer Kontext und konkretes Wissen werden kaum abgefragt. Was die auswärtigen Beziehungen des untergegangenen östlichen deutschen Teilstaates angeht, so überwiegen heute Desinteresse oder einfach Ignoranz (1). Für einige zählen diese Beziehungen einfach nicht zur Geschichte der “deutschen Außenbeziehungen”. In der offiziellen deutschen Diplomatie wird die Erinnerung an die Beziehungen des verblichenen Rivalen heute eher vermieden. Gewiß kann die Analyse der Außenbeziehungen der DDR, auch die mit Süd- und Mittelamerika, den rationalen Diskurs über die jüngste deutsche Geschichte befördern. Dabei müssen unsere Forschungsboote den gefahrvollen Weg zwischen der Scylla nostalgisch eingefärbter Rechtfertigung der Außenpolitik des Ancien Regime um jeden Preis und der Charybdis ihrer Pauschalaburteilung in westlich-besserwisserischer Gutsherrenart finden, wollen wir uns dem Horizont historischer Wahrheit nähern. Wissenschaft, wenn sie sich als kritische versteht, sollte dies als Herausforderung annehmen. In diesem Sinne soll im folgenden über die Beziehungen der DDR zu diesem Raum – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – geschrieben werden. Dabei stütze ich mich vor allem auf die ungewöhnlich weit geöffneten Archive im Osten Deutschlands, speziell das der Parteien und Massenorganisationen der DDR in Berlin. Aber natürlich ist es dann auch hier, wie bei jeder historischen Betrachtung, die persönliche Erfahrung des Autors, die manche der bereits Staub ansetzenden Saiten zum Klingen bringen kann.
In größeren Abhandlungen zur DDR-Diplomatie nahmen die Beziehungen zu Süd- und Mittelamerika eher einen marginalen Platz ein. (2) Das entsprach auch dem tatsächlichen Stellenwert dieser Ländergruppe für die DDR-Außenpolitik. Dabei variierte zwar im Verlaufe der vierzig Jahre der Platz einzelner Regionen, wie z.B. Afrika oder der arabische Raum, in der Prioritätenskala. Jedoch waren stets die Beziehungen zur Sowjetunion, zu den östlichen Nachbarn Polen und CSSR sowie zur Bundesrepublik Deutschland an der Spitze der außenpolitischen Agenda. Dies galt sowohl für die politischen als auch für die wirtschaftlichen Beziehungen. Auf den ersten Blick kann die marginale Bedeutung Süd- und Mittelamerikas für die Politik der DDR-Führung aus deren Beschäftigung mit “lateinamerikanischen Themen” abgelesen werden. Erstmals beschäftigte sich das Politbüro am 23. Juli 1956 mit Süd- und Mittelamerika. Es war einverstanden, daß einer “in der UdSSR befindlichen Parlamentsdelegation aus Uruguay eine Einladung der Volkskammer zum Besuch in der DDR überreicht wird.” (3) Letztmalig war diese Region auf der 47. Politbüro-Tagung am 31. Oktober 1989 auf der Tagungsordnung. Verteidigungsminister Heinz Kessler berichtete von seinem Besuch in Nicaragua. Insgesamt kamen die lateinamerikanischen Themen relativ selten auf die Agenda des Machtzentrums der DDR-Gesellschaft, des SED-Politbüros.(4)
Gab es nach der Staatsgründung der DDR im Oktober 1949 angesichts der formal durch die UdSSR eingeschränkten Souveränität bis 1955 eine Zeit außenpolitischer Abstinenz, so begann danach ein Anrennen gegen den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik. Zeitlich reichte dies bis Anfang der 70er Jahre. Politisches Ziel war es, mit möglichst vielen Partnern einen hohen Grad der diplomatischen Beziehungen zu vereinbaren und damit die DDR völkerrechtlich als (zweiten) souveränen deutschen Staat zu etablieren. Süd- und Mittelamerika maß man zunächst dabei keine große Bedeutung zu.

Von anfänglicher Distanz zu informeller Berührung

Eher am Rande erwähnte der damalige Außenminister Lothar Bolz auf einer Botschafterkonferenz im Januar 1957: “Wir bemühen uns, mit einigen Ländern Süd- und Mittelamerikas Handelsbeziehungen aufzunehmen und diese zu erweitern.” Interessant ist dabei nur, daß Bolz auch auf die Bevölkerungsgruppen deutscher Herkunft in Süd- und Mittelamerika verweist, die stärker über den anderen deutschen Staat informiert werden sollten. (5) (In den 70er und 80er Jahren wurde auf diesen Umstand überhaupt nicht bzw. nur sehr zurückhaltend verwiesen.) Die lateinamerikanischen Staaten ihrerseits lehnten offiziell diplomatische Beziehungen ab. Dahinter standen sowohl ein gewisses Desinteresse als auch der erwartete Druck seitens der wirtschaftlich bedeutenderen Bundesrepublik. Während des Besuches einer Delegation des Bundestages im Frühjahr 1960 in Brasilien brachte dessen Präsident Gerstenmeier die Hallstein-Doktrin deutlich mit folgenden Worten zum Ausdruck: “Leider müßten wir mit Brasilien brechen, falls die Beziehungen zu Ostdeutschland aufgenommen würden.” (6) Dazu gehörte auch, daß das Protokoll, das der brasilianische Sonderbotschafter Dantas während seiner Osteuropa-Reise auch in der DDR unterzeichnet hatte, nach diplomatischer Intervention seitens der BRD nicht anerkannt wurde.
Das alles bedeutete jedoch nicht, daß es keine politischen Kontakte auf staatlicher Ebene gab. Der damalige stellvertretende Außenminister Georg Stibi definierte als Ziel der Politik gegenüber dieser Region “die Anerken- nung der DDR als rechtmäßigen deutschen Staat”. Dies mußte aber nicht unbedingt die offizielle Anerkennung bedeuten. Das zu fordern erschien unrealistisch. Es ging deshalb um die “faktische Anerkennung durch die lateinamerikanischen Regierungen”. (7) Dazu wurden verschiedene Kanäle genutzt. Der wichtigste befand sich in den Handelsvertretungen, die es seit Mitte der 50er Jahre in verschiedenen Ländern des Cono Sur gab. Diese arbeiteten auf der Basis von Bankenabkommen und hatten diplomatische Sonderrechte, die ihnen von den Gastländern stillschweigend gewährt wurden. So war es z.B. in Brasilien (8) und in Uruguay. Als weiterer Kanal dienten die diplomatischen Kontakte mit lateinamerikanischen Botschaften in Prag, Moskau und Genf. Hier wurden erste Gespräche über die Aufnahme von Handelskontakten geführt, so beispielsweise 1961/62 mit Mexiko in Genf. Von gewisser Bedeutung waren auch die Besuche von Parlamentsdelegationen aus Süd- und Mittelamerika in der DDR, die jedoch in der Regel inoffiziellen Charakter hatten.

Diplomatischer Durchbruch mit Verzögerung

“Projekt Mission einschließlich diplomatischer Rechte und Funk von Guevara gebilligt. Er sieht keine Schwierigkeiten.” telegraphierte K. sichtlich zufrieden am 12.8.1960 als “streng vertraulich” aus Havanna nach Berlin (Ost). K. führte im Auftrage der DDR-Regierung im Sommer 1960 Gespräche zur Herstellung diplomatischer Beziehungen und war dazu in der Nacht vom 9. zum 10. August 1960 mit Ernesto Guevara de la Serna, el Comandante Che, zusammengekommen. Kuba schien der nächste Stein zu sein, den man aus der Mauer der diplomatischen Nichtanerkennung des “anderen Deutschlands” herausbrechen konnte. “Kuba wird erstes lateinamerikanisches Land, das China und DDR anerkennt”, zitiert K. im artikellosen Telegrammstil Che Guevara. Dieser hatte ihm in einem zweiten Gespräch am 11.8.1960 erklärt, daß die kubanische Führung “bald völligen Wirtschaftsboykott seitens der USA und anderer NATO-Staaten” erwarte und deshalb “Totalumstellung Außenhandel Kuba” bevorstehe. (9) Die kubanische Revolution bedeutete auch eine Zäsur in den Beziehungen der DDR zu Süd- und Mittelamerika. Kuba wurde von nun an der wichtigste Partner in dieser Region. Zugleich verstärkten sich Interesse und Hoffnung der DDR-Führung gegenüber diesem Raum. Nach dem ersten Besuch von Politbüro-Mitglied Paul Verner im Sommer 1960 auf Kuba beschloß das Politbüro am 13.9.1960 nicht nur eine “Direktive über die Weiterentwicklung der Beziehungen mit der Republik Kuba”, sondern es beauftragte auch das Außenministerium “zur Auswahl der Kader und zur Bildung einer Abteilung für südamerikanische Länder in 14 Tagen die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen.” (10) Daraufhin wurde auch die 6. Außereuropäische Abteilung geschaffen, die für die Beziehungen mit Süd- und Mittelamerika verantwortlich war. Jedoch verzögerte sich trotz der Zusagen von Che die Herstellung voller diplomatischer Beziehungen erheblich. Die Zeit lief gegen die DDR. Zwar hatte Guevara dem bundesdeutschen Botschafter von Spretti im Oktober 1960 noch erklärt: “Wir werden mit der DDR Missionen austauschen. Wenn Sie sich damit zufrieden geben, dann können unsere Beziehungen normal weiterlaufen. Falls nicht, so ist das allein Ihre Angelegenheit.” (11) Jedoch wurde den drängenden DDR-Vertretern dann sowohl von kubanischer Seite immer wieder die Bedeutung der kubanischen Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik in Erinnerung gebracht. Dieser Faktor schien im Jahre 1961 angesichts der komplizierter werdenden Lage für die kubanische Führung sogar an Bedeutung zuzunehmen. Ein Abbruch der Beziehungen zur BRD, der von einer DDR-Mission zu erwarten war, sollte vermieden werden. Man schlug deshalb eine “Handelsvertretung” vor, deren Chef jedoch alle Rechte haben sollte. Das würde, so die kubanische Hoffnung, nicht zum Abbruch der Beziehungen zur BRD führen. Das sei aber, so nochmals DDR-Unterhändler K. im Telegramm nach Berlin, ein Widerspruch zu dem, was Che Guevara versprochen hatte, und er fügt etwas resignierend hinzu: “Haben Sache wirklich in günstiger Zeit ungebührlich verzögert.” (12) Die DDR akzeptierte letztlich die kubanische Haltung, und der erste Diplomat der DDR war im Frühjahr 1961 ein “Leiter der Vertretung” im Range eines Gesandten. Erst im Zuge der Verschärfung der Lage nach der Karibik-Krise (Im Westen unter dem Begriff Kuba-Krise bekannt [Anm. d. Red.]) im Oktober 1962 wurde die Vertretung in eine vollwertige diplomatische Mission umgewandelt. Sie erfolgte am 12.1.1963.
Neben Kuba definierte Stibi in der bereits erwähnten Konzeption von 1962 Brasilien als regionalen Schwerpunkt der Politik gegenüber Süd- und Mittelamerika. Hier erwartete man zumindest Regierungsvereinbarungen über Handel, die mit konsularischen Rechten verbunden sein könnten. Hoffnung setzte man auch auf die Entwicklung in Britisch-Guyana, wo nach der Unabhängigkeit mit einer Regierung unter Cheddi Jagan offizielle Beziehungen als möglich erschienen. Als potentielle Partner wurden weiterhin jene Staaten aufgeführt, die sich neben Brasilien auf der OAS-Tagung im uruguayischen Punta del Este 1962 gegen den Druck der USA nicht für den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Kuba ausgesprochen hatten (Argentinien, Ecuador, Bolivien, Chile, Mexiko und Uruguay). Bei den “Hauptaufgaben 1962” gegenüber der Region wurde nicht nur an die Entsendung von Sonderbotschaftern an die Präsidenten einzelner Länder oder von Briefen an Parlamentspräsidenten zwecks Einladungen an die Volkskammer gedacht, sondern es wurde unter anderem auch die Möglichkeit erwogen, “eine größere Zahl von Facharbeitern aus Lateinamerika in der DDR auszubilden.” (13) Das in dieser Zeit deutlich gestiegene Interesse der DDR an Süd- und Mittelamerika kam auch in dem Vorschlag zum Ausdruck, einen “Sonderbevollmächtigten der DDR für Lateinamerika” mit ständigem Sitz in Brasilien einzurichten. Jedoch kam nach der Machtübernahme der Militärs in Brasilien im März 1964 nicht nur diese Idee nicht zur Umsetzung, sondern angesichts der geringen Aussichten auf eine stärkere diplomatische Präsenz schwand auch das politische Interesse der Führung der DDR an diesem Raum. Andere Regionen, wie Afrika und die arabische Welt, zogen in der Folgezeit stärker die politischen Aktivitäten der DDR an.

Von der Einheit zur Geschlossenheit

Jedoch blieb das Interesse an Kuba. Bis es jedoch zu der “brüderlichen Einheit” der 70er und der “ideologischen Geschlossenheit” der 80er Jahre kam, mußte noch so manche politische Klippe umschifft werden. Die kritische Distanz der SED-Führung gegenüber Fidel Castro und seiner Bewegung zog sich trotz vielfacher Solidaritätsbekundungen für Kuba durch die gesamten 60er Jahre hindurch. In internen Berichten wurde kritisiert, daß Castro “keine Volksvertretung, sondern so etwas wie die gelenkte Demokratie Sukarnos” (indonesischer Präsident in den 50ern, Anm. d. Red.) einführen wolle, wurden die “nicht vertrauenswürdigen Minister” aufgelistet und die “Partisanenmethoden” von Fidel Castro beklagt, die von den anderen nachgemacht würden, “so daß die Unordnung komplett” wäre. (14) Diese im Partei- und Wirtschaftsapparat gepflegten Ansichten müssen auch in offiziellen Verhandlungen sichtbar geworden sein. Fidel Castro beklagte in einem Brief vom 9. November 1964 zu vorangegangenen Wirtschaftsverhandlungen gegenüber Walter Ulbricht, “daß einige deutsche Genossen der Meinung sind, daß es bei einigen kubanischen Funktionären in früheren Verhandlungen spekulative und unredliche Momente gegeben habe.” (15) Ab Mitte der 60er Jahre kam dann das Schisma innerhalb der kommunistischen Bewegung hinzu. Dabei galten bis Anfang der 70er Jahre die kubanischen Sympathien, besonders die Che Guevaras, eher der chinesischen als der sowjetischen Seite.
Ende 1967/ Anfang 1968 kam es dann zu einer ernsthaften Krise in den bilateralen Beziehungen, die in den folgenden Jahrzehnten stets in den Hinterhof der Peinlichkeiten verbannt worden war. Auf der 3. Tagung des ZK der Kommunistischen Partei Kubas im Januar 1968 wurden namentlich Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft und auch der DDR-Botschaft genannt, die man der Zusammenarbeit mit einer prosowjetischen und anticastristischen Fraktion innerhalb der Partei beschuldigte. Mit der als “Mikrofraktion” bezeichneten Gruppe um Anibal Escalante, die von Castro der “Kriecherei” und des “Knechtsinns gegenüber der Sowjetunion” bezichtigt wurde, hätte es (auch in der DDR-Botschaft selbst) Kontakte gegeben. Es gehört sicherlich auch zu den schon erwähnten Listigkeiten der Historie, daß Ende der 80er Jahre gerade jene an der Spitze der Botschaften der UdSSR bzw. DDR in Kuba standen, die 1968 der “Konspiration mit politischen Feinden” und der “Einmischung in die inneren Angelegenheiten” beschuldigt worden waren.
Zwei politische Entwicklungen trugen maßgeblich zu einem veränderten Verhältnis zwischen der DDR und Kuba zu Beginn der 70er Jahre bei. Zum einen war da der Canossa-Gang Fidel Castros nach Moskau und die danach erfolgte umfassende Eingemeindung Kubas in das sozialistische Lager. Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage Ende der 60er Jahre, die sich mit der gescheiterten 10 Millionen Zuckerrohrernte 1970 zu einer ersten Legitimationskrise Castros verwandelte, sah sich der Máximo Lider aus machtpolitischen Gründen zu einer engeren Zusammenarbeit mit der UdSSR gezwungen. Politbüro-Mitglied Paul Verner hatte nach seinem Besuch Ende 1969 eine “echte Belebung” festgestellt.
Die andere politische Veränderung, die zu einem Wandel in der Sicht auf Kuba, Fidel Castro und auch die Person Che Guevaras in der DDR führte, war die Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker an der DDR-Spitze. Im Unterschied zu Ulbricht, der sich angesichts der ernsthaften Probleme auf Kuba Ende der 60er Jahre in seiner Distanz zu den Barbudos, den Bärtigen, bestätigt sah, fand Honecker ein politisch anderes Kuba vor. Es war nun eindeutig im eigenen Lager gebunden und hatte zudem einen erstrangigen strategischen Wert für die UdSSR. Hinzu kam, daß der personelle Wechsel an der DDR-Spitze auch mit einem gewissen politischen Neuansatz verbunden war, der sich unter anderem auch in einer kulturellen Öffnung zeigen sollte. Das schlug sich z.B. auch in der nun eintretenden öffentlichen Beschäftigung mit Che Guevara nieder. Aus einem anfänglichen Tabu wurde ein propagandistisch breit aufgemachtes Thema. Die Ikone von Che kehrte nun auch in die Studierstuben zwischen Rostock, Babelsberg und Leipzig ein. Gerade bei der studentischen Jugend, die offenbar stets eine Dosis Utopie benötigt, sollte mit diesen beiden Märtyrern die Attraktivität des Sozialismus verstärkt werden. Das blieb nicht ohne Erfolg und machte Che nach seinem Siegeszug durch die Hörsäle von Hamburg, Frankfurt/a.M. und Berlin-West nun zu einem systemübergreifenden “gesamtdeutschen” Idol.
Im folgenden Jahrzehnt nahmen die bilateralen Beziehungen jene Form an, wie sie zwischen “sozialistischen Bruderländern” typisch war: gegenseitige Besuche der Partei- und Regierungsspitze (Honecker 1974 in Kuba und Castro 1977 in der DDR), Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit (1980), Koordinierung der Volkswirtschaftspläne, umfangreicher Delegationsaustausch auf allen Ebenen, der sich in den verschiedensten Abkommen niederschlug. Ideologischen Gleichklang hatte man nun auch im Kampf gegen Peking gefunden. Im Dezember 1978 betonte nun Fidel Castro die Wichtigkeit, sich “mit der antisozialistischen Politik der Pekinger Führer prinzipiell auseinanderzusetzen.” (16)
Für Kuba waren die wirtschaftlichen Beziehungen zur DDR von besonderer Bedeutung. Castro bat in mehreren Briefen an das Politbüro sowohl um zusätzliche Lieferungen (u.a. technische Ausrüstungen, Nahrungsmittel) als auch um die Beibehaltung der für Kuba außerordentlich günstigen Preisrelationen im bilateralen Handel, speziell bei Zucker. 1980 stimmte nach einer Bitte Castros das SED-Politbüro zu, die “gegenwärtigen Preisrelationen im Warenaustausch auch im Zeitraum 1981-1985 beizubehalten”, um die Kaufkraft der kubanischen Exporte zu erhalten. Castro nannte das dann “ein Musterbeispiel für die Beziehungen zwischen sozialistischen Ländern mit unterschiedlichen Entwicklungsniveaus.” (17) Ungeachtet der konkreten kubanischen Bedingungen und der eigenen Wirtschaftskraft wurde im “Leuchtturm des Sozialismus” (Honecker) solidarische Gigantomanie praktiziert. Kuba erhielt “die größte Brauerei” und das “größte Zementwerk” der Karibik. Beide konnten nie vernünftig ausgelastet werden. Diesen “politischen Entscheidungen”, die die reale wirtschaftliche Lage beider Länder kaum in Betracht zogen, versuchten in den 80er Jahren DDR-Ökonomen, wirtschaftlich sinnvolle Projekte zur Seite zu stellen (Bananenmarkproduktion, Kupferproduktion, Spritrektivikate). Kubanischerseits blieb das Interesse an Großprojekten ungemindert. Da Kuba auch seine Verpflichtungen bei der Lieferung der für die DDR-Innenpolitik so brisanten Südfrüchte kaum erfüllte (1988 hatte man nur zirka 50 Prozent der geplanten Menge geliefert), blieb Kuba bis zum Schluß primär eine “politische Frage”, die man – auch mit Blick nach Moskau – ungeachtet des eigenen wirtschaftlichen Desasters zu lösen versuchte. Bemerkenswert, da im Unterschied zu den anderen Projekten auch über das Ende der DDR hinaus von Relevanz, ist die zwischen 1984 und 1989 erfolgte Ausbildung von rund 30.000 Kubanern in der DDR (80 Prozent davon als Facharbeiter).

In den Farben der DDR

Ab Mitte der 80er Jahre erreichte die politische Übereinstimmung in der starren Ablehnung der Reform-Politik von Gorbatschow ihren Höhepunkt und schließlich auch ihr abruptes Ende. Castros “Rectificación” und Honeckers “Sozialismus in den Farben der DDR” waren gleichermaßen politische Versuche, sich vom sowjetischen Einfluß abzukoppeln und durch innere Verhärtung dem Druck aus Moskau zu widerstehen. Ende der 80er Jahre verstärkten sich nochmals die politischen Kontakte. Politbüro-Mitglieder der SED gaben sich 1988/89 in Havanna gegenseitig die Klinke in die Hand und ließen sich von den Kubanern ihren politischen Starrsinn als “ideologische Festigkeit” bestätigen. Honecker gab seinen Politbüro-Mitgliedern die Rede Castros vom 26. Juli 1989, in der er sich erneut gegen Perestrojka und Glasnost wandte, zur Pflichtlektüre auf. Mit den Worten Raúl Castros “Wir sind sehr stolz auf die Übereinstimmung mit der SED” (18) betonte im September 1989 letztmalig ein Mitglied der kubanischen Führung in Berlin dieses “Bündnis in Agonie”, ehe der andere Partner von der politischen Bühne für immer verschwand.

Ein Schwiegersohn in Chile

Was die Beziehungen zum “restlichen” Süd- und Mittelamerika betraf, so kam es zu Beginn der 70er Jahre, vor allem im Kontext der Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die UNO, zu diplomatischen Beziehungen mit der großen Mehrheit der Staaten dieses Raumes. Begonnen hatte die lateinamerikanische Anerkennungswelle mit Chile. Die Regierung der Unidad Popular von Salvador Allende suchte sehr schnell Kontakte zur DDR. Im März 1971 kam es zu ersten Gesprächen über die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen. Chile war besonders an einer Kooperation in der Kupferproduktion und Chemie interessiert. Die DDR wiederum wünschte von Chile die Fürsprache bei internationalen Organisationen (z.B. in der WHO) und Unterstützung bei der Statuserhöhung ihrer Vertretungen in Süd- und Mittelamerika. (19) In der Folgezeit wurde eine Reihe wirtschaftlicher Abkommen geschlossen, deren volle Umsetzung jedoch durch den Militärputsch im September 1973 verhindert wurde. Das Politbüro beschloß im September 1973, “daß die diplomatischen Beziehungen mit Chile unterbrochen werden.” (20) Zugleich wurde ein Maßnahmepaket angenommen, das sowohl die Rückführung von DDR-BürgerInnen als auch die solidarische Unterstützung der chilenischen EmigrantInnen betraf. In den nachfolgenden 15 Jahren war die DDR Aufnahmeland für Tausende von ChilenInnen und ein Zentrum des chilenischen Widerstandes gegen die Pinochet-Diktatur. Dabei ist vor allem das von der Sozialistischen Partei unterhaltene Büro “Chile Antifascista” in Berlin zu nennen. Die Kommunistische Partei Chiles hatte ihre Auslandsführung in Moskau. Diese Unterstützung wurde mit propagandistischen Kampagnen im Innern verbunden, die mit der Herausstellung der “antifaschistischen Solidarität” eine Grundmaxime im Selbstverständnis der Führung der SED, den Antifaschismus, untermauern sollte. Hinzu kamen bei einer Reihe von Politbüro-Mitgliedern die Erfahrungen des eigenen Exils durch den Faschismus. Das stark innenpolitisch motivierte Festhalten an dem Konzept blockierte aber in den 80er Jahren sowohl die realistische Analyse der Entwicklung in Chile als auch eine adäquate Politik der DDR. Demgegenüber wurde z.B. während der blutigen Militärherrschaft in Argentinien Ende der 70er Jahre weder offizielle Kritik an dem Regime geübt noch in der Presse über die massenhaften Verbrechen berichtet. Offenbar ordnete man sich in diesem Falle stark den sowjetischen Interessen unter, für die Argentinien, vor allem wegen der Getreideimporte, ein wichtiger Faktor war. Sicherlich war für die Chile-Politik auch die durch seinen chilenischen Schwiegersohn entstandene persönliche Beziehung Honeckers zu diesem Land ein wichtiges Moment. Für die Politik gegenüber Chile wurde das jedoch immer mehr zur Selbstblockade. Ab Mitte der 80er Jahre begannen zwar im Apparat die Bemühungen, Chile neu zu thematisieren. Es dauerte aber noch geraume Zeit, bis im März 1989 im Politbüro eine als “Geheime Verschlußsache” eingestufte Vorlage zu “Maßnahmen zur Herstellung von Kontakten mit Chile” bestätigt wurde. (21)

Nicaragua – “Kein zweites Kuba”

Die nicaraguanische Revolution von 1979 fiel in eine Zeit gewachsener diplomatischer Potenz beziehungsweise internationalen Anspruchs der DDR. Die “europäische Mittelmacht DDR” verstand im Kontext des einsetzenden 2. Kalten Krieges die Beziehungen zu Nicaragua als wichtiges Moment der bipolaren Auseinandersetzung. Zugleich wurde bald die These formuliert, daß Nicaragua “kein zweites Kuba” werden solle. Neben der damit verbundenen militärstrategischen Komponente, eine zweite Raketen-Krise lag angesichts der praktizierten Dialogpolitik in Europa nicht im DDR-Interesse, waren es auch die “ökonomischen Erfahrungen” aus der Kuba-Problematik, die ein anderes Herangehen sinnvoller erscheinen ließen. Solidarische Unterstützung wurde verhältnismäßig strikt von bilateralen Geschäften getrennt. In den Konzeptionen wurde immer stärker die “Erwirtschaftung von Devisen” auch in den bilateralen Beziehungen mit Nicaragua betont. Die solidarische Unterstützung war quantitativ, im Vergleich zu Kuba, geringer. Sie entsprach aber viel stärker den konkreten Bedürfnissen des Landes. Die unterschiedlichen Entwicklungsprojekte der DDR waren besser den örtlichen Gegebenheiten angepaßt und orientierten sich an den Grundbedürfnissen der breiten Bevölkerungsmehrheit. Das gilt neben dem Berufsausbildungszentrum in Jinotepe vor allem für das Krankenhaus “Carlos Marx” in Managua.

Vorläufiges Fazit

Die Beziehungen zu Süd- und Mittelamerika hatten für die DDR nur eine relativ geringe Bedeutung und von einer “Lateinamerika-Politik der DDR” zu sprechen, wäre sicherlich verfehlt. Grob können zwei Etappen ausgemacht werden: In einer ersten stand die Frage der diplomatischen Anerkennung im Mittelpunkt. Sie reichte von Mitte der 50er bis Anfang der 70er Jahre. Die DDR bemühte sich, sowohl in Süd- und Mittelamerika selbst als auch mittels der lateinamerikanischen Staaten als gleichberechtigter internationaler Akteur akzeptiert zu werden. In der zweiten Etappe (ab 1972/73 bis 1989) ging es der DDR in den Beziehungen zu Süd- und Mittelamerika um den politischen und rechtlichen Ausbau dieser Beziehungen. Letzteres betraf vor allem die Konsularbeziehungen, in denen die politisch wichtige Staatsbürger-Problematik berührt, aber nie zur eigenen Zufriedenheit gelöst werden konnte. Die DDR-Führung bemühte sich zugleich um ein eigenständiges Auftreten in der Region. Die steigende Zahl von Besuchen lateinamerikanischer Außenminister in der DDR machte ebenfalls die beginnende Normalität in den bilateralen Beziehungen deutlich. Kuba hatte als Mitgliedsland des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und durch die engen bilateralen Bindungen einen besonderen Stellenwert für die DDR. Die Anstrengungen, die wirtschaftlichen Potentiale der Region stärker zu nutzen, scheiterten nicht zuletzt an der eigenen ökonomischen Schwäche und an der mangelnden internationalen Kooperationsfähigkeit. Wie in realsozialistischer Außenpolitik generell, so war auch in der Politik der DDR-Führung gegenüber dieser Region ein erhebliches Maß an Ideologie, manchmal auch revolutionärer Romantik, vorhanden. Diese Politik sollte dem System natürlich auch Legitimität verschaffen. Angesichts eigener Erstarrung waren lateinamerikanische Vitalität und Revolutionsrhetorik willkommen, wenn auch diese dann selbst an die realsozialistischen Mauern stießen.
Trotz einer gewissen Versachlichung des Lateinamerika-Bildes blieb der Subkontinent auch in der “späten DDR” ein Fluchtpunkt revolutionärer Ideen und romantischer Utopien. Damit stand man in jener jahrhundertealten westeuropäischen Geistestradition, die bis heute die “Neue Welt” als letzte Zufluchtsstätte revolutionärer Visionen versteht. Und das galt sowohl für die “alten Herren” des Politbüros als auch für viele Jugendliche und Intellektuelle. Viele Details der Beziehungen zu Nicaragua sind nur aus der großen Sympathie Erich Honeckers für Daniel Ortega, den er gewissermaßen als “politischen Enkel” verstand, erklärbar.
Die schwindende materielle Untersetzung des internationalen Engagements begrenzte jedoch sowohl den Ausbaus der sachlichen Beziehungen zur Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten als auch die unbegrenzte Fortsetzung der solidarischen Beziehungen zu einzelnen Ländern.
Ab Mitte der 80er Jahre führte das starre Festhalten an einem entwicklungsunfähigen Gesellschaftssystem innenpolitisch zur Agonie und außenpolitisch in die Isolation. Nach der Wende im Herbst ’89 fiel dieser Raum fast völlig aus dem Gesichtskreis der ostdeutschen Politik. Weder die zwei Modrow-Regierungen noch die erste frei gewählte Regierung unter de Maiziere verwanden ernsthaft politische Energien für die Beziehungen mit diesem Raum. Allein die entwicklungspolitisch aktiven Gruppen, die zum Teil in der Bürgerbewegung der Wende verwurzelt waren, thematisierten noch Süd- und Mittelamerika als Teil des Südens. Als dann der 3. Oktober 1990 nahte, blieb den DDR-Diplomaten in den lateinamerikanischen Hauptstädten nur noch übrig, ihre Gebäude besenrein zu übergeben. Sie selbst fielen in das schwarze Loch sozialer Unsicherheit. Vom Auswärtigen Amt wurde kaum jemand übernommen. Viele der DDR-Immobilien in diesen Ländern wurden veräußert und das Mobiliar großzügig verschenkt. Geblieben ist nur die Geschichte. Diese aber kann man weder verkaufen, noch verschenken, sondern wir müssen sie als Teil der deutschen Außenbeziehungen des 20. Jahrhunderts annehmen.

Anmerkungen:
1. Vgl. dazu ausführlich Erhard Crome/ Raimund Krämer; Die verschwundene Diplomatie. Rückblicke auf die Außenpolitik der DDR, in: WeltTrends, Heft 1 (1993), S. 128-146.
2. Vgl. Geschichte der Außenpolitik der DDR, Abriß, Staatsverlag: Berlin 1985. Das gilt auch für eine Abhandlung über die Außenpolitk der Entwicklungsländer, in der der Autor für den Abschnitt “Lateinamerika” verantwortlich war: Vgl. Autorenkollektiv, Die Außenpolitik befreiter Länder, Staatsverlag,: Berlin 1983, 6.Kapitel.
3. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv (im weiteren abgekürzt: SAPMO, BArch.-ZP), Sign.-Nr. J IV 2/2 – 491.
4. Im Zeitraum von 1949 bis 1989 war diese Region insgesamt 346 Mal auf der Tagungsordnung des Politbüros. Bei wöchentlich durchschnittlich 15 Tagesordnungspunkten (in den 70er und 80er Jahren war die Zahl deutlich höher als in den 50er und 60er Jahren) war es insgesamt nur zirka 1 Prozent der Protokollpunkte, in denen sich das höhste Machtgremium der DDR mit Süd- und Mittelamerika beschäftigte. Dabei konzentrierte sich dies auf Kuba (153 Mal auf der Tagesordnung), Nicaragua (56) und Chile (50).
5. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/20/81.
6. Journal do Comercio, Rio de Janeiro, 29.3.1960.
7. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/20/49.
8. Zu Beginn der 60er Jahre hatten in Brasilien der Leiter der Vertretung und seine Frau einen Diplomatenpaß, die Handelsvertretung konnte chiffrierte Telegramme empfangen und senden, deren Mitarbeiter hatten keine Steuern zu zahlen, ein Dienstsiegel mit DDR-Wappen konnte geführt und eine Art Vorvisabescheinigung ausstellt werden. Ebenda.
9. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY 30/ IV/ 2/ 20/147 Bl.1.
10. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. J IV 2/2-724.
11. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY/ IV/2/20/147/ Bl.21.
12. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY 30/IV/ 2/20/142/ Bl. 178.
13. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/20//49.
14. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. J IV 2/202-367.
15. Ebenda.
16. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV B/20/592.
17. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-1834.
18. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/2. 035/41.
19. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-1333.
20. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-1469.
21. Zu diesen gehörten u.a. die “Errichtung einer Interessenvertretung der DDR mit konsularischen Rechten”, die Aktivierung der komerziellen Beziehungen, die Veränderungen der Sendungen von Radio Berlin International, dem Auslandssender der DDR, sowie der Wiederaufbau einer Freundschaftsgesellschaft DDR-Chile. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-3204.

Tania – Guerrillera aus Eisenhüttenstadt

Bolivien, Ende August 1967. Eine kleine Gruppe schlechtgekleideter, ausgehungerter Partisanen nähert sich vorsichtig der Holzhütte des Bauern Honorato Rojas. Unter ihnen ist eine Frau, Ende zwanzig, mit dunkelblondem, welligem Haar – Tamara Bunke, alias Tania, alias Laura Gutiérrez Bauer. Ihr Rucksack wiegt nicht weniger als der der anderen Compañeros – 30 Kilo, die sie durch die tropische Hitze schleppt. Krankheit, Unterernährung und die ständige Furcht, von den Militärs entdeckt zu werden, plagen seit Monaten Che Guevaras ehemals 14köpfige Nachhut. Sieben Compañeros und ein „Ausgeschlossener“ – ein Deserteur – sind übrig geblieben. Nur wenige Meter sind es noch bis Honoratos Hütte, wo sie um Verpflegung und Arzneimittel bitten werden. In der Umgebung fallen Schüsse der Soldaten, die sich den Partisanen seit April an die Fersen geheftet haben, bisher erfolglos. Honorato erhält Geld von den Partisanen und den Auftrag, bis zum nächsten Tag lebensnotwendige Sachen herbeizuschaffen. Auch Che hatte vor einigen Monaten bei Honorato Halt gemacht. Damals vermerkte er in seinem Tagebuch: „Der Bauer ist…unfähig, uns zu helfen, aber auch unfähig, die Gefahr zu erkennen, die ihm selbst droht. Deshalb ist er möglicherweise gefährlich.“ Tags darauf bewegen sich die Partisanen, eingedeckt mit Lebensmitteln und Medikamenten, flußaufwärts entlang des Río Grande. Honorato führt sie bis in die Nähe einer Furt, dann verabschiedet er sich schnell. Kurz darauf zerreißen Gewehrsalven die schwüle Luft und das monotone Rauschen des Flusses. Sieben Guerilleros stürzen in die Fluten; die meisten tödlich getroffen. Erst nach einer Woche finden Soldaten Tamaras Leiche über einen halben Kilometer flußabwärts. In ihrem Rucksack finden sie neben Notizbüchern und Ausweis einen von einer Kugel durchbohrten Aluminiumteller und ein Tonband mit lateinamerikanischer Folkloremusik, eine Leidenschaft von Tamara.

Eine Argentinierin in der DDR

Als Tamara 1961 die DDR in Richtung Kuba verließ, hatte sie wohl nicht einmal im Traum daran gedacht, drei Jahre später für Ches Guerillagruppe in Bolivien ausgewählt zu werden. Damals wollte sie nach einem längeren Aufenthalt auf Kuba in ihre angestammte Heimat Argentinien zurückkehren. Dort war sie am 19. November 1937 als zweites Kind der deutschen Emigranten Nadjeshda und Erich Bunke geboren worden, einer Familie mit beachtlicher revolutionärer Tradition. Die Eltern engagierten sich in der illegalen Kommunistischen Partei Argentiniens, und Tamaras Großvater mütterlichseits hatte bereits 1905 in der russischen Revolution in den Reihen der Aufständischen gekämpft.
Tamara war ein sehr lebhaftes und begeistertes Kind, erinnert sich die heute 87jährige Frau Bunke. Mit drei Jahren ist sie das erste Mal allein auf einem Pferd geritten, eine Leidenschaft, die sie wohl von ihrer Mutter geerbt hatte. 1952 kehrte die Familie in die DDR zurück, wo Tamara ihre sportlichen Fähigkeiten in der GST (Gesellschaft für Sport und Technik) der damaligen Clara-Zetkin-Schule in Eisenhüttenstadt perfektionierte. Sie war eine der besten Schützinnen und Springreiterinnen der Region. Das Sportschießen in der GST sollte später eine wichtige Grundlage für ihre militärische Ausbildung auf Kuba sein, wo sich Tamara zu einer treffsicheren Schützin entwickelte.
Während der neun Jahre in der DDR träumte Tamara von ihrer Rückkehr nach Argentinien. Kulturell und emotional fühlte sie sich stark zu Lateinamerika hingezogen, zur dortigen Lebensart, der Musik und der revolutionären Jungfräulichkeit des Kontinents. Sie nutzte Briefwechsel, ihre Dolmetschertätigkeit und private Kontakte zu Lateinamerikanern in der DDR, um sich genauestens über die Ereignisse auf dem Kontinent zu informieren. 1957 borgte sie sich von ihren Eltern 350 Mark und fuhr auf eigene Faust zu den Moskauer Weltfestspielen. Dort fand sie schnell Anschluß an Kubaner, von denen sie mehr über Fidel Castros Guerilla-Training in der Sierra Maestra erfahren wollte, ein Thema, das sie brennend interessierte.
Nach der Kubanischen Revolution stand für Tamara fest, daß sie über kurz oder lang die DDR verlassen würde, um „den Aufbau des Sozialismus in Kuba mitzuerleben. Später war sie dann so begeistert von Kuba, daß sie bleiben und sogar kubanische Staatsbürgerin werden wollte,“ erklärte die Mutter.
Doch zunächst verbrachte sie noch über zwei Jahre in Berlin. Bereits im November 1955, zu ihrem 18. Geburtstag, stellte sie von sich aus einen Antrag zur Aufnahme in die SED. Ihre Eltern erfuhren erst später davon. Nach dem Abitur arbeitete Tamara ein Jahr als Dolmetscherin im Außenministerium. Danach schrieb sie sich am Romanistischen Institut der Humboldt-Universität ein – ein Studium, das sie wegen ihrer häufigen Dolmetschereinsätze und politischen Aktivitäten weniger intensiv betrieb. Auch an der Universität suchte sie den Kontakt zu Lateinamerikanern. Gemeinsam mit einigen lateinamerikanischen Studenten gründete sie 1959 die Ernst-Thälmann-Gruppe. In dieser Gruppe konnte Tamara einerseits ihr großes Informationsbedürfnis über politische Ereignisse in Lateinamerika befriedigen und andererseits die lateinamerikanischen Studenten über aktuelle Vorgänge in der DDR auf dem laufenden halten. Das Letztere lag Tamara besonders am Herzen.
Die Krönung ihrer Dolmetschertätigkeit war zweifellos 1960 der Besuch der kubanischen Wirtschafts- und Handelsdelegation, die von Che Guevara, damals Wirtschaftsminister auf Kuba, geleitet wurde. Tamara dolmetschte für Che auf einem Treffen mit Studenten in Leipzig, ein Ereignis, das einen großen Eindruck auf sie machte. „Für Tamara, die in Argentinien geboren und aufgewachsen war, bedeutete die Tatsache, daß sie an diesem Treffen teilnehmen und für Che dolmetschen durfte, außerordentlich viel. Sie fühlte sich dort ganz als Argentinierin. Dieses erste Zusammentreffen mit Che steigerte ihre Bewunderung und Achtung, die sie für ihn, den Argentinier, Kommunisten, Partisanen…hegte“ (Frau Bunke).

Wahlheimat Kuba

Am 9. Mai 1961 verließ Tamara mit argentinischem Paß und einem DDR-Paß für Ausländer die DDR Richtung Kuba. Zuvor hatte sie ausdrücklich darum gebeten, die DDR-Staatsbürgerschaft abgeben zu dürfen. Sie wollte beim „Aufbau des Sozialismus“ in Kuba vor Ort sein, persönlich mit „anpacken“. Dabei, so ihre Mutter, kamen Tamara ihre Erfahrungen, die sie in der DDR, besonders in der FDJ (Freie Deutsche Jugend), gesammelt hatte, zugute. Den Sozialismus in Lateinamerika aufzubauen – das war ihr ganz persönliches politisches Ziel, und Kuba bot ihr ein exzellentes Betätigungsfeld. „Sie sehnte sich nach einer revolutionären Tätigkeit von größerem Ausmaß als der, die sie in Berlin durchführte“ (Hortensia Gomez, ehem. Direktorin der kubanischen Zeitschrift „Mujeres“). Diese Tätigkeit fand sie auf Kuba.
Im Gegensatz zur DDR propagierte die kubanische Führungselite, den bewaffneten militärischen Kampf in anderen Ländern zu unterstützen und mit Hilfe gut ausgebildeter Guerillagruppen eine revolutionäre Situation zu erzeugen, die später in eine Revolution à la Kuba münden würde. Die DDR-Führung hingegen hielt, entsprechend der sowjetischen Linie, nichts vom „Revolutionsexport“ und distanzierte sich vom „revolutionären Abenteurertum,“ das Ches und Castros foco-Theorie verkörperte (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv, Sign.-Nr. DY 30 IV A2/20/85, im weiteren SAPMO, BArch.-ZP).
„Ich glaube, Kuba war für Tamara die schönste Zeit ihres Lebens, dort hat sie sich am wohlsten gefühlt,“ resümiert Frau Bunke. Dreißig, größtenteils enthusiastische Briefe schrieb sie in jener Zeit an ihre Eltern. Danach erreichte sie nur noch ein Brief über Umwege aus Bolivien.
Tamaras Aktivismus auf Kuba kannte keine Grenzen. Sie war überall dabei, engagierte sich u.a. im Kubanischen Institut für Völkerfreundschaft (ICAP), in der Frauenföderation, als Übersetzerin für verschiedene Ministerien. Nebenbei studierte sie Journalistik und machte Dienst in den Stadtviertelmilizen. 1963 begann ihre militärische und konspirative Ausbildung für den Guerilla-Kampf in Bolivien. Das Ziel ihrer Ausbildung erfuhr Tamara jedoch erst kurz vor ihrer Abreise 1964, die sie ein letztes Mal nach Europa führte. Von West-Berlin aus schaute sie gen Osten, wo ihre Familie lebte, die sie seit über drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Hochhäuser des Zentrums schienen verlockend nah. Still und ganz für sich allein nahm sie Abschied auf unbestimmte Zeit.
Monate später traf Tamara in Bolivien als Laura Gutiérrez Bauer, Argentinierin, von Beruf Ethnologin, ein. Zwei Jahre sammelte sie Informationen über die bolivianische „high society“, den Regierungs- und Militärapparat, Unternehmer und den Einfluß der Amerikaner auf Politik und Wirtschaft. Tamara knüpfte Verbindungen zu den höchsten Regierungskreisen, bis hin zum damaligen Präsidenten Barrientos und den Oberbefehlshaber der Streitkräfte General Ovando. So bereitete sie die Ankunft von Ches Guerillagruppe im Herbst 1966 vor und schloß sich im März 1967 selbst der Gruppe an.
Tamaras Wunsch, in einer Revolutionsavantgarde in Lateinamerika mitzukämpfen, war in Erfüllung gegangen. Sie wurde zu „Tania – la Guerrillera.“ Die Wahl dieses Namens war keineswegs zufällig. Tania war der Partisanenname einer 17jährigen Russin, Sonia Kosmotimianskaja, die im Zweiten Weltkrieg auf von Faschisten besetztem Gebiet in Rußland kämpfte, in Gefangenschaft geriet und gehängt wurde. Tamara hatte diese Geschichte in der DDR im Russischunterricht gelesen, eine Geschichte, die einen überwältigenden Eindruck auf sie gemacht hatte. Ebenso fasziniert war sie von Ruth Werners Buch „Ein ungewöhnliches Mädchen,“ in dem die Geschichte einer jungen Frau erzählt wird, die sich in China den Partisanen anschließt und Mann und Kind zurückläßt. Tamara fragte ihre Mutter, was sie davon halte; „du bist doch so für Familie.“ Als ihre Mutter meinte, daß junge Leute ihren eigenen Weg gehen müssen, war das quasi der Freibrief für Tamaras Untergrundarbeit Jahre später.

Bürokratische Mühlen mahlen langsam

Nach der Bekanntgabe von Tamaras Tod in einer Anzeige im November 1967 herrschte in der DDR zunächst Schweigen. Im Oktober hatten Bunkes auf Kuba vom Tod ihrer Tochter und Ches erfahren. Aus Rücksicht auf noch kämpfende Partisanen in Bolivien wiesen die Kubaner an, „bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nichts zu schreiben.“ Anfang März 1968 stellten sich die letzten Guerillakämpfer aus Ches Gruppe der chilenischen Polizei. Damit wurde die Informationssperre hinfällig. Kubanische Zeitungen veröffentlichten erste Artikel über die Guerilla in Bolivien.
Die Frau des kubanischen Botschafters in der DDR, Sílvia Nireida Pérez Llombard, trat an Frau Bunke heran, um Material für einen Artikel über Tamara für die Zeitschrift „Mujeres“ zusammenzutragen. Dreißig Seiten umfassende Dokumente, Briefe, Interviews und Fotos übergab Tamaras Mutter am 22. August 1968 ebenfalls dem Chefredakteur der „Jungen Welt,“ Horst Pehnert, für eine bald zu veröffentlichende Artikelserie. Am 31. August, dem ersten Todestag von Tamara, überschwemmte eine Welle von Veröffentlichungen sowohl aus dem linken als auch dem rechten Lager die internationale Presse (SAPMO, BArch.-ZP DY 30 IV A2/20/185).
Ein kleiner Artikel, in der „Jungen Welt“ „überschwemmte“ auch die DDR Presse. Während kubanische Journalisten auf Anraten Fidel Castros bereits ein Buch „Tania – la guerrillera inolvidable“ über Tamara zusammenstellten und Teile der rechten bürgerlichen Presse mit Geschichten über die vermeintlich „dreifache Spionin und Geliebte Ches“ eine regelrechte Verleumdungskampagne starteten, hüllten sich die DDR-Medien in peinliches Schweigen. Warum? Hatten einige SED-Funktionäre „politische Bauchschmerzen,“ den revolutionären Abenteuergeist einer jungen ehemaligen DDR-Bürgerin mit der „politisch korrekten Linie“ zu vereinbaren? „Es muß… vermieden werden, in irgendeiner Weise auf die kubanische Konzeption der Revolution in Lateinamerika einzugehen,“ teilte der mit der Überarbeitung der dreißig Seiten betraute SED-Genosse seinem Vorgesetzten, Friedrich Trappen, in einem Schreiben vom 4. März 1969 mit (SAPMO, BArch.-ZP DY 30 IV A2/20/185). Und: „Che Guevara wird nur insofern eine Rolle spielen, als es durch die Veröffentlichung seines Tagebuchs bereits bekannt ist,“ um „jeden Gedanken an Abenteurertum auszuschließen“ (SAPMO, BArch.-ZP DY 30 IV A2/20/185). Nach zwei Briefen von Frau Bunke an den persönlichen Freund und Politbüromitglied Werner Lamberz und den Sekretär des Zentralrats der FDJ, Frank Bochow, in denen sie sich – nun langsam ungeduldig – nach den Fortschritten in der vorgesehenen Artikelserie erkundigte, erschien im März 1969 in der „Jungen Welt“ die seit August geplante 13teilige Serie über Tamara Bunke.
Tamara wurde zum politischen Vorbild in der DDR. Über 240 Kollektive und Organisationen sowie Straßen und Schulen wurden nach ihr benannt. Zwei Bücher, die kubanische Übersetzung von „Tania“ und „Der Weg zum Río Grande“ von Eberhard Panitz, wurden veröffentlicht. Ob Tamara jedoch dem durchschnittlichen DDR-Bürger, dessen Kollektiv nicht ihren Namen trug, ein Begriff war, ist fraglich. Im Geschichtsunterricht jedenfalls wurde das DDR-Kapitel Tamara Bunke ausgespart.
Die achtmonatige „Bearbeitungszeit“ des dreißigseitigen Manuskripts mag eine absichtliche Verzögerung von Veröffentlichungen über Ches Kampfgefährtin in der DDR nahelegen. Jedoch bleibt diese Vermutung aus Mangel an Beweisen spekulativ. Und Frau Bunke selbst wehrt derartige Gedanken energisch ab: „Es ist nicht wichtig, was ich in meinen dreißig Seiten an Pehnert geschrieben habe, sondern was 1969 in der Serie der „Jungen Welt“ erschienen ist. Vielleicht war ich zu abschweifend…Naja, Sie wissen doch, DDR-Mühlen mahlen eben langsam.“

Streit im Sommerloch

Der Streit begann mit einem jener gewohnt polemischen Interviews des Augusto Pinochet Ugarte. Um die Jahreswende 1997/98 hatte er linken ParlamentarierInnen damit gedroht, angeblich belastendes Material aus den Händen seines Geheimdienstes DINE (Dirección Nacional de Inteligencia del Ejército) gegen sie auf den Tisch zu legen, sollten diese es wagen, ihm einen politischen Pozeß zu machen. Ausgerechnet einige jüngere Vertreter der ansonsten um einen gütigen Ausgleich mit den Militärs bemühten Christdemokraten sahen deshalb die “Ehre und Sicherheit der Nation” verletzt und kündigten an, dem Ex-Diktator eine Verfassungsklage anzuhängen.
Angesichts der von Pinochet längst bekundeten Absicht, mit Beginn der neuen Legislaturperiode am 11. März 1998 im chilenischen Oberhaus einen Sitz auf Lebenszeit einnehmen zu wollen, war der Sinn einer solchen Klage nur zu offenkundig: Der Fünf-Sterne-General sollte zu einem Zeitpunkt, zu dem man sich im Lande der internationalen Öffentlichkeit gewiß sein konnte, im allerletzten Monent von seiner eigenen Verfassung ausgebremst werden. Die politische Rechte sah nun ihrerseits die “Nationale Sicherheit” in Gefahr. Wäre der zur Hälfte mit Militärs besetzte Consejo de Seguridad Nacional tatsächlich einberufen worden, wie von den Pinochetisten der Union Demócrata Independiente (UDI) und einigen Hardlinern von Renovación Nacional RN gefordert, hätte der Ex-Diktator höchstpersönlich darüber befinden dürfen, ob eine formal verfassungsgemäße Klage gegen ihn ebendiese “Nationale Sicherheit” bedroht.

Kalkulierte Inszenierung

Doch ganz soweit mußte es im spezifisch chilenischen System der checks and balances gar nicht kommen. Daß die Kritik an dem Ex-Diktator ins Leere läuft und gutgemeinte juristische Schritte gegen ihn bereits im Vorfeld versanden, hat viele Gründe. Heute muß man sich in der Rückschau beispielsweise fragen, ob die naive und halbherzige Vorgehensweise besagter Christdemokraten unter dem Mitte-Links-Regierungsbündnis Concertación nicht von Anbeginn zu einem Kalkül gehörte, das nur darauf abzielte, einen ebenso rasch verflogenen wie aufgekommenen Medienwirbel zu inszenieren, um darin das eigene, vermeintlich demokratischere Gesicht zu wahren. Denn merkwürdig mutete an, daß obschon die immer nur angedrohte Verfasssungsklage wegen der erforderlichen Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern a priori zum Scheitern verurteilt war, deren bloße Ankündigung für eine derart große Aufregung sorgen konnte. War es nur das Sommerloch? Oder aber konnte diese Rechnung schon deshalb nicht aufgehen, weil sie nie aufgehen sollte?
Gleichwohl: Staatspräsident und “Christtechnokrat” Eduardo Frei erschrak ob soviel politischen Trubels und schickte zunächst Innenminster Figueroa und Ex-Verteidigungsminister Pérez Yoma vor: Unisono erklärten sie im Januar eine wie auch immer geartete Verfassungsklage gegen Pinochet für “politisch unange-bracht”. Doch war insbesondere die Parteibasis der Democracia Cristiana DC so einfach nicht zur Staatsräson zu bringen. Frei mußte schließlich selbst – Anfang März in einer Ansprache an die Nation – seine widerspenstigen Parteigänger, wollten diese nicht “Gefangene ihrer eigenen Geschichte” bleiben, zu Besonnenheit und Vernunft ermahnen. Ricardo Lagos, vom Sozialismus geläuterter Sozialdemokrat und von der parlamentarischen Linken seit Jahren auserkorener Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 1999, nahm zusammen mit seiner Partido por la Democracia PPD erst einmal Abstand von einer Klage.
Der Vorgang ist symptomatisch und verweist darauf, daß in dem vom Konsens als der höchsten Maxime regierten Chile der 90er Jahre – SozialwissenschaftlerInnen sprechen inzwischen von einer conspiracy of consensus – ein Einvernehmen in den wirkich wichtigen Fragen nicht vorhanden ist. Die nachgerade pathologische Furcht davor, daß jeder offen ausgetragene Konflikt die Gesellschaft noch tiefer spalte, führt zusammen mit einer Abwendung immer größerer Teile der Bevölkerung von der Politik (die Partei der Nicht- und Protestwähler wurde bei den Parlamentswahlen im Dezember 1997 mit 40 Prozent stärkste Kraft) zu einer Melange, die politische Stabilität nur vorgaukelt. Bereits kleinste Erdstöße (wie zuletzt die von Pinocht aufgeschobene Amtsübergabe) genügen, um angesichts der fehlenden demokratischen Streitkultur und einem nach wie vor nicht gefestigten Institutionensystem die politische Klasse in helle Aufregung zu versetzen.

Verhängnisvolle Harmoniesucht

Hinzu kommt, daß dieser Klasse mittlerweile Führungsfiguren fehlen, die bereit wären, über den tagespolitischen Tellerrand hinauszuschauen. 1996 mußte mit dem Präsidialamtsminister Genaro Arriagada der vorläufig letzte Stratege unter Chiles Demokraten von der politischen Bühne Abschied nehmen. Seitdem ist weder eine gemeinsame Strategie der Concertación noch im Zusammenspiel mit außerparlamentarischen Gruppen erkennbar. Gerade beim jüngsten Vorgehen gegen Pinochet hat es sich, allem Medienwirbel um Verfassungsklagen und Strafanträgen zum Trotz, um kaum mehr als Einzelaktionen gehandelt. Mit großem Tohuwabohu angekündigte Sammlungsbewegungen (wie die des christdemokratischen Abgeordneten Jorge Lavandero um die sogenannte Frente Amplio para un Chile Democrático) sind reine Rhetorik geblieben.

Pinochet als Möchtegern-Großvater

Vor kaum mehr als zehn Jahren hatte sich die Lage noch ganz anders dargestellt. Über Massenmobilisierungen forderte die Mehrheit der ChilenInnen den Übergang zu freien Wahlen. Aber wollte diese immer nur knappe Mehrheit eigentlich jemals mehr? Schenkt man den Meinungsforschern Glauben, läßt sich diese Frage getrost verneinen. Ganze fünf Prozent der Chilenen erachteten in den letzten Umfragen die Ahndung und Sühnung der unter der Militärherrschaft begangenen Menschenrechtsverletzungen als überhaupt noch wichtig. Dies, obwohl 3.197 politisch motivierte Gewaltverbrechen mit Todesfolge für die Zeit von 1973 bis 1990 nun auch amtlicherseits dokumentiert sind und das Schicksal von 1.102 Verhafteten-Verschwundenen nach wie vor ungeklärt ist. Nur eine Minderheit sieht außerdem politischen Reformbedarf auf dem Weg zu mehr Demokratie. 39 Prozent der ChilenInnen empfinden dagegen ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Pinochet, weil er entweder mit der Bedrohung durch den internationalen Kommunismus aufgeräumt, oder weil er die chilenische Wirtschaft modernisiert habe – oder aber wegen beidem.
Bestärkt durch die öffentliche Meinung zeichnet sich der Ex-Diktator in letzter Zeit deshalb gerne selbst als großväterliche, der politischen Sphäre quasi entrückte Figur, die die Demokratie im Lande wiederhergestellt und Chile zu einer einzigartigen Prosperität verholfen habe. Die blutige Machtübernahme vom 11. September 1973 erklärt er dann meist nebenbei zur guten Tat, wie zuletzt, aus Anlaß der am 10. März erfolgten Amtsübergabe des Hee-resvorsitzes an den 28 Jahre jüngeren Ricardo Izurieta. Kein Wort über die Opfer, kein Anflug von Reue, und doch konnte Pinochet das dunkle Kapitel seiner Gewaltherrschaft nicht ganz egal sein: Keine 24 Stunden ließ er zwischen der auf den letztmöglichen Termin aufgeschobenen Amtsübergabe und seiner Vereidigung zum Senator am 11. März verstreichen.

Strafvervolgt, aber parlamentarisch immun

Denn weit mehr als die inszenierte Verfassungsklage mußten und müssen Pinochet die gegen ihn anhängigen Ermittlungsverfahren vor der argentinischen, spanischen und nun auch eigenen Justiz beunruhigen. Der Senatorensitz gewährt ihm schließlich nicht nur politische Präsenz, sondern vor allem parlamentarische Immunität. Dieser Schutz vor Strafverfolgung könnte dem Ex-Diktator wichtig werden, wenn er sich denn, zum ersten Mal überhaupt, möglichen Strafprozessen gegenübersähe. So sind die Fälle um Carmelo Soria (in Spanien), das Ehepaar Prats (in Argentinien) und Orlando Letelier (in Washington) seit 22 Jahren nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Insbesondere die argentinische Staatsanwaltschaft wird in den nächsten Tagen zu entscheiden haben, ob genügend belastendes Material gegen den Ex-Diktator persönlich vorliegt, um ihn zusammen nit ehemaligen Angehörigen des Geheimdienstes Dirección Nacional de Inteligencia DINA zur Rechenschaft an dem Mord seines Amtsvorgängers an der Heeresspitze, Carlos Prats González, zu ziehen.
Erst dieser Druck von außen scheint, zusammen mit der um die Verfassungsklage ausgelösten Polemik, nun in Chile selbst eine regelrechte Antragslawine ins Rollen gebracht zu haben. Die KommunistInnen um Gladys Marin und Menschenrechtsanwälte um Nelson Caucoto haben seit Januar diesen Jahres gleich mehrere Strafanträge gegen den Ex-Diktator gestellt. Vorgehalten wird ihm Völkermord, mehrfacher Totschlag, Entführung, Folter und illegales Verscharren von Leichen. Allen Anträgen wurde grundsätzlich stattgegeben; derzeit wird ermittelt und geprüft.
Indessen gilt es als unwahrscheinlich, daß die chilenische Justiz, obschon zuletzt durch eine Justizreform auch personell erneuert, die systematische Ermordung von RegimegegnerInnen unter der Militärherrschaft als Völkermord deklarieren wird. Täte sie dies, würde das Amnestiegesetz aus dem Jahre 1978 aus den Angeln gehoben, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten nach internationalen Rechtsgrundsätzen, als grundsätzlich nicht amnestierbar.
Ein wenig beachtetes, aber überaus wichtiges Urteil der Strafkammer des Obersten Gerichtshofes vom vergangenen November könnte indessen für einen Hoffnungsschimmer sorgen. Erstmals haben die höchsten Richter des Landes einem Wiederaufnahmeantrag um den letztinstantlich bereits eingestellten Fall eines Verhafteten-Verschwundenen stattgegeben und damit gegen die Anwendung des Amnestiegesetzes entschieden. Ob damit ein Präzedenzfall geschaffen wurde, wird die Zukunft zeigen.
Entscheidend für den Erfolg aller Anklagen dürfte sein, ob die chilenische Justiz es als richtig erachtet, daß der chilenische Geheimdiest DINA in letzter Instanz von der seinerzeitigen Militärjunta und dessen Vorsitzenden Augusto Pinochet abhing. Die Verantwortung für die Greueltaten dieses Geheimdienstes lägen dann beim ehemaligen Alleinherrscher selbst. Ende März hat Pinochet den systematischen Mord- und Totschlag an seinen RegimegegnerInnen einmal mehr als Exzeß von einzelnen DINA-Mitarbeitern abgetan und eine persönliche Verantwortung abgelehnt.
Dabei fällt es nicht nur den Angehörigen der Opfer schwer zu glauben, der allmächtige Alleinherrscher habe seine Finger bei den Verbrechen der DINA nicht im Spiel gehabt. Unerwartete Schützenhilfe erhielten sie zuletzt von einem, der es genau wissen muß: Ex-DINA-Chef General Manuel Contreras, der derzeit eine siebenjährige Haftstrafe im Gefängnis von Punta Peuco wegen des Mordes Letelier verbüßt. In einem beim Obersten Gerichtshof eingereichten Antrag zur Wiederaufnahme seines Verfahrens macht Contreras geltend, daß er als Leiter der DINA unter unmittelbarem Befehl der Militärjunta gestanden und gehandelt habe. Gustavo Leigh, einer der Putschisten, der 1976 im Clinch mit Pinochet die Militärjunta verließ, bestätigte im März: “Contreras pflegte Pinochet allmorgendlich von seinen Aktionen zu berichten und Weisungen zu erhalten.”

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