Militärintervention in Kolumbien?

Die beunruhigendste Nach-
richt im Zusammenhang mit dem kolumbianischen Konflikt wurde Anfang September nicht aus dem südamerikanischen Land selbst, sondern aus dem brasilianischen Manaos vermeldet. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez traf sich dort mit seinem brasilianischen Kollegen Cardoso, um diesen zu einer klaren Stellungnahme gegen die mögliche Militärintervention zu bewegen. Eine solche Operation wäre verhängnisvoll, erklärte Chávez, und würde auch Venezuela in den Konflikt hineinziehen.

Venezolanische
Reisediplomatie
Für wie ernst die venezolanische Regierung die Interventionsgerüchte hält, zeigt sich am Ausmaß ihrer Reisediplomatie. Obwohl die innenpolitischen Konflikte in Venezuela nicht gerade unbedeutend sind, seit die Verfassungsgebende Versammlung das Parlament in Caracas faktisch ausgeschaltet hat, entwickelt die Regierung Chávez derzeit zahlreiche außenpolitische Initiativen. So reiste Außenminister José Rangel ebenfalls Anfang September nach Buenos Aires, um gegenüber Menem die venezolanische Position zu bekräftigen – immerhin gilt der argentinische Präsident neben seinem peruanischen Amtskollegen Fujimori als wichtigster Allierter der US-Militärs. Außerdem kündigte Chávez an, sich Ende September mit den Generalsekretären der UNO, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und dem Papst zu treffen, um über Friedensinitiativen für Kolumbien zu beraten. Chávez schwebt nach eigenen Angaben eine internationale Konferenz unter UN-Mandat vor, die er eventuell schon bei der Generalkonferenz der UNESCO im Oktober öffentlich vorstellen will.
Die venezolanische Reisediplomatie hat handfeste Ursachen. Ende August war der US-Drogenbekämpfer Barry McCaffrey allein deswegen nach Argentinien gereist, um mit Menem über eine Militäroperation in Kolumbien zu sprechen. Auch aus Peru und Ecuador wird berichtet, daß US-Gesandte bereits detaillierte Absprachen mit den jeweiligen Regierungen getroffen haben.
Tatsächlich sind bereits seit 1996 – als die FARC-Guerilla in Südkolumbien zum Bewegungskrieg überging und der Armee mehrere schwere Niederlagen zufügte – hochrangige US-Delegationen in der Region aktiv und haben unter dem Deckmantel der „Drogenbekämpfung“ eine schleichende Intervention eingeleitet. So ist Kolumbien im vergangenen Jahr zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe aufgestiegen. Ex-General Barry McCaffrey, Mitglied des US-Sicherheitsrats, verkündete zudem, die von Kolumbien angeforderten 500 Millionen US-Dollar seien in Anbetracht der katastrophalen Lage vor Ort nicht genug. Inzwischen ist von bis zu 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich die Rede.

Konkrete Pläne für
eine Eingreiftruppe
Bei ihren Besuchen haben Barry McCaffrey, der Chef des US-Kommandos „Süd“ Charles E. Wilhelm sowie der Clinton-Vertraute Thomas Pickering angeblich auch konkrete Pläne für eine multinationale Eingreiftruppe vorgelegt. McCaffrey erklärte bei seinem Besuch in Buenos Aires gegenüber der Tageszeitung Clarín recht deutlich, „die FARC hätten kein Interesse an einer friedlichen Lösung“ und die US-Regierung „müsse bis Weihnachten eine Entscheidung getroffen haben“.
Um nicht in eine Situation wie in Vietnam hineinzurutschen, versucht sich die Clinton-Administration allerdings in verschiedene Richtungen abzusichern. So erklärte McCaffrey, eine direkte US-Intervention sei „selbstmörderisch“. Man bevorzugt stattdessen die Entsendung einer peruanisch-argentinisch-ecuadorianisch-brasilianischen Eingreiftruppe, die diskret von US-Sicherheitsspezialisten und Militärberatern geleitet und von Flugzeugträgern der US-Navy unterstützt werden könnte. Um vor Regierungswechseln gefeit zu sein, sprach Barry McCaffrey in Argentinien auch mit Menems potentiellen Nachfolgern: Eduardo Duhalde von den Peronisten und Fernando De la Rúa von der Radikalen Partei.

Neuformierung der
US-Truppenpräsenz
In der kolumbianischen Tageszeitung El Colombiano wurde unterdessen sogar schon ein Termin für die Militäroperation genannt. Anfang 2000 könne die Regierung Pastrana ihre Gespräche mit der Guerilla abbrechen und dann internationale Hilfe anfordern, hieß es Anfang September. Der im schwedischen Exil ansässige kolumbianische Nachrichtendienst Anncol zitierte zudem den peruanischen Geheimdienstchef Montesinos, den Drahtzieher Fujimoris. Ihm zufolge sei an den Einsatz von 120.000 Soldaten gedacht, die 45 bis 60 Tage lang die Guerilla-Camps in der Grenzregion angreifen und von der kolumbianischen Armee eroberte Gebiete sichern könnten.
Schon jetzt gibt es eine umfassende Neuformierung der US-Truppenpräsenz in der Region, die sich nur noch schlecht unter dem Deckmantel der „Drogenbekämpfung“ verbergen läßt. Die US-Armee erklärte, daß die heute in Panama stationierten Truppen nach der Übergabe der Kanalzone an Panama auf keinen Fall nach Norden zurückverlegt würden. Sie sollten vielmehr innerhalb der Karibik auf verschiedene Stützpunkte verteilt werden. Der neuen panamenischen Präsidentin Moscoso zufolge werden 3300 US-Soldaten „zum Minenräumen“ im Land bleiben, die die panamenische Polizei in Anti-Guerilla-Taktiken ausbilden sollen (Panama besitzt seit der US-Invasion 1990 keine eigene Armee mehr).
Weitere 1830 US-Infanteristen aus der Kanalzone sowie 2700 Angehörige von Spezialeinheiten werden auf den Karibikinseln Aruba und Curacao unweit der kolumbianischen Küste stationiert, wo im Moment neue Armee-Flugplätze gebaut werden. Etwa 1.000 Soldaten plus Hubschrauber kommen auf den hondurenischen Stützpunkt Soto de Caño, von dem aus sowohl die Unruhegebiete in Mexiko als auch Kolumbien erreicht werden können. Der Rest soll nach Puerto Rico verlegt werden.
Zur wichtigsten Basis für die Anti-Guerilla-Operationen in Kolumbien werden jedoch das Amazonasbecken sowie diverse Stützpunkte im Land selbst. Die in den vergangenen sechs Monaten ausgebauten Militärbasen in Riverine (Peru) und El Coca (Ecuador) werden vollständig vom US-Verteidigungsministerium finanziert und haben eine starke Präsenz von US-amerikanischen Special Operation Forces, die dort auch brasilianische Militärs im Dschungelkampf ausbilden. Ebenfalls mit US-Hilfe modernisiert wurden die kolumbianischen Stützpunkte Puerto Leguízamo (an der peruanischen Grenze) und Tres Esquinas (Departement Guaviare) sowie die zentrale kolumbianische Militärbasis in Tolemaida – die pikanterweise in diversen kolumbianischen Gerichtsakten als wichtiger Ausbildungsort der Paramilitärs auftaucht. Die US-Präsenz wird allein in den zwei wichtigsten Stützpunkten im Augenblick mit 160 Militärs sowie 30 zivilen Spezialisten beziffert, die dort mit der Ausbildung sogenannter Batallones Anti-Narcóticos beschäftigt sind. Diese Einheiten dienen zwar formal der Drogenbekämpfung, werden aber vor allem in Anti-Guerilla-Taktiken ausgebildet. Insgesamt sollen nach Wunsch von General Wilhelm etwa 2.000 Militärberater nach Kolumbien entsandt werden.
Auch die zivil-militärische Präsenz der USA wächst beträchtlich. In der im reichen Norden Bogotás neugebauten US-Botschaft, die einem Bunker gleicht, ist das Personal im vergangenen Jahr von 282 auf 360 Angestellte aufgestockt worden, davon 120 Personen mit „Spezialaufgaben“. Die US-Berater sind längst nicht mehr nur in der Armee und Polizei, sondern auch im Justiz- und Gefängniswesen tätig. Der Schlüsselbereich ist allerdings die Luftunterstützung. Seit neuestem dürfen US-Flugzeuge offiziell „zur logistischen Unterstützung“ in Kämpfe in Kolumbien eingreifen. Bei den letzten Gefechten mit der größten kolumbianischen Guerillagruppe FARC im Juli diesen Jahres lieferte sie den kolumbianischen Piloten die Informationen für ihre Bombardierungen.

Vom Autor erscheint im Oktober 1999 das Buch „Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung“, ISP-Verlag, 248 Seiten, ca. 30,- DM (ca. 15 Euro)

Tödlicher Ernst

Der Lebenslauf des bekannten kolumbianischen Satirikers Jaime Garzón spiegelt bis hin zu seinem gewaltsamen Tod am 13. August in Bogotá geradezu exemplarisch die Komplexität des kolumbianischen Bürgerkriegs. Als Student schloß Garzón sich für wenige Monate der Guerilla-Gruppe ELN (Ejército de Liberación Nacional) an, vertrat dann jedoch die Auffassung, daß der bewaffnete Kampf Kolumbien dem Frieden nicht näher bringen würde.
Jahre später ernannte ihn der damalige konservative Bürgermeister von Bogotá (und heutige Präsident) Andrés Pastrana zum Bezirksvorsteher in Sumapaz, einem ländlichen Vorort der Hauptstadt, in der die Guerilla traditionell stark präsent ist. Mit den Satiresendungen „Zoociedad” und „Quac“ wurde Garzón im ganzen Land bekannt als politischer Humorist, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Zuletzt interviewte er als Schuhputzer „Heriberto de la Calle“ Politiker und Prominente und brachte manchen mit seinen frechen Fragen dabei gehörig ins Schwitzen.
Durch seine Art, schonungslos nach rechts und links auszuteilen, geriet er wiederholt in Schwierigkeiten. Nach einem Radiointerview mit dem FARC-Sprecher Marcos Calarcá erklärte ihn eben diese Guerilla-Gruppe zum „militärischen Ziel“. Garzón sprach daraufhin in Sumapaz mit Farc-Kommandanten, um die Drohung aus der Welt zu schaffen.
Auf solchen direkten Kontakten fußte auch sein in der Öffentlichkeit nur wenig bekanntes Engagement als Vermittler bei Entführungen durch die Guerilla. Diskret, aber mit großem persönlichen Einsatz sponn er Gesprächsfäden, die in vielen Dutzend Fällen zur Freilassung der Geiseln führten. Auch der Friedensprozeß war ihm ein Anliegen: Zuletzt bemühte er sich, zwischen ELN und kolumbianischer Regierung einen direkten Kontakt aufzubauen, um die blockierte Friedensinitiative wieder in Gang zu bringen.
Vieles deutet darauf hin, daß der Mord nicht dem Humoristen Jaime Garzón galt, sondern dem Friedensvermittler. Garzón erhielt wiederholt Todesdrohungen von rechtsgerichteten Paramilitärs, zuletzt von den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC). Wieder suchte der Satiriker das direkte Gespräch und vereinbarte mit AUC-Chef Carlos Castaño ein Treffen. Einen Tag vor dem anvisierten Termin trafen ihn die tödlichen Kugeln. Castaño beeilte sich zu erklären, daß seine Organisation nichts mit dem Mord zu tun habe. Auch über eine Beteiligung ultrarechter Militärs wird spekuliert: Im vergangenen Jahr hatte Armee-General Jorge Enrique Mora, der heutige Chef der Streitkräfte, gegen den Satiriker ein Ermittlungsverfahren wegen seiner Vermittlungstätigkeit gefordert und ihn als „Freund der Guerilla“ bezeichnet. Eine Aussage, die in Kolumbien einem Mordauftrag gleichkommen kann.
Vermutlich aber werden auch in diesem Fall die Hintermänner nie ernsthaft verfolgt und vor Gericht gestellt – so wie in den meisten Fällen von Morden an JournalistInnen die Ermittlungen im Nichts verlaufen. Nicht zuletzt diese Straflosigkeit ist es, die Kolumbien in Statistiken über Morde an Presseleuten ganz oben stehen läßt. Aber Garzón war nicht nur Journalist, und der Mord nicht nur ein Anschlag auf die Pressefreiheit. Sein bissiger Humor machte ihn zum vielbeachteten Kritiker, der sich traute, auch unbequeme Wahrheiten über die in Kolumbien herrschenden Verhältnisse auszusprechen. Und durch seinen Einsatz für den Dialog zwischen den Kriegsparteien war er eine Schlüsselfigur im Friedensprozeß. Mit Garzón ist wieder einmal ein Hoffnungsträger ermordet worden. Tausende KolumbianerInnen versammelten sich am Tag des Mordes zu spontanen Demonstrationen.

„Good guy“ Schmidbauer?

Das politische Panorama in Kolumbien wird immer komplizierter: Während die Pastrana-Administration Mitte Juli in der Gemeinde La Uribe/Meta nun offiziell Verhandlungen mit der größten Guerillaorganisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) eröffnen will, sind die Beziehungen zur ELN (Ejército de Liberación Nacional) auf einem Tiefpunkt angelangt. Daß das so ist, hat vor allem der Präsident zu verantworten. Monatelang hatten Regierungsquellen die ELN als besiegt bezeichnet und alles unternommen, um die im Juni 1998 unter Schirmherrschaft der deutschen Bischofskonferenz vereinbarte Nationalkonvention (ein Treffen von politischen und sozialen Gruppen mit der Guerilla) zu verhindern. Armee und Paramilitärs konzentrierten ihre Aktivitäten auf jene Gebiete, die als möglicher Sitz der Nationalkonvention in Frage kamen, die Bauernbevölkerung der betreffenden Regionen wurde brutal angegriffen und die in Haft sitzenden politischen Sprecher der Guerillaorganisation bedroht.
Vor diesem Hintergrund führte die ELN von April bis Juni eine Reihe spektakulärer Aktionen durch, darunter eine unblutig verlaufene Flugzeugentführung, eine (gemeinsam mit den FARC durchgeführte) Offensive auf das paramilitärische Kerngebiet in Córdoba sowie die Gefangennahme von etwa 70 Oberschichtsangehörigen aus einer Kirche im Süden Calis. Vor allem die zuletzt durchgeführte Aktion Anfang Juni sorgte für Aufregung.
Eine bedenkliche Entwicklung für die ELN dürfte sein, daß Zehntausende im ganzen Land gegen die Entführungen demonstrierten. Die Medien präsentierten die Aktion als Angriff auf die Kirche, unterschlugen allerdings, daß die meisten Geiseln zu der wirtschaftlichen Elite des Landes zählen. Auch auf internationalem Terrain steht die ELN auf einmal als „bad guy“ da. Obwohl die ELN-Kommandanten Nicolás Bautista und Antonio García in einer schon länger geplanten diplomatischen Rundreise durch Europa um Schadensbegrenzung bemüht waren, blieb die Atmosphäre vergiftet. Besondere Empörung rief hervor, daß Nicolás Bautista bei seinem Besuch im Vatikan politische oder wirtschaftliche Gegenleistungen für eine Freilassung der Geiseln forderte. Wie diese aussehen sollen, ist bisher offen, doch es dürfte entweder um die von der ELN geforderte Demilitarisierung eines Gebietes für die Nationalkonvention oder aber um Geldzahlungen gehen.

Rot-grün spielt nicht mit

Diese kompromißlose Haltung hat die im Ausland befindlichen Guerilleros selbst zu Geiseln gemacht. Der Druck auf die sich in Europa (wahrscheinlich Deutschland) aufhaltenden ELN-Führer wächst. Interessanterweise ist es vor allem die ELN selbst, die deutsche Politiker als Vermittler ins Gespräch gebracht hat. Offensichtlich setzt die Organisation, die nach dem Ende des kalten Kriegs neue Hegemonialkämpfe zwischen Euro-Deutschland und den USA heraufziehen sieht, darauf, einen Gegenpol zu den US-Interessen in der Region ins Spiel zu bringen. Dabei hegt die ELN nach eigenen Aussagen keine Illusionen darüber, daß eine europäische Außenpolitik demokratischer wäre als die der USA. Vielmehr gehe es darum, sich überhaupt Spielräume zu eröffnen.
Unter der Regierung Kohl ging dieses Kalkül lange Zeit auf. Ex-Kanzleramtsminister Schmidbauer und das Agentenehepaar Mauss werteten die Guerilla als Gesprächspartner auf und bezogen eine neutrale Position im kolumbianischen Konflikt. Unter Rot-grün hat sich dies nun grundlegend verändert. Volmer und Fischer wollen von den Kolumbien-Kontakten nichts mehr wissen. Die SPD-Abgeordneten Kortmann und Hempel lehnten es Anfang Juni sogar ab, an einer rein humanitären Delegation teilzunehmen, die die Freilassung von 30 Geiseln kontrollieren sollte. Man werde das Spiel der ELN nicht mitspielen, hieß es in einer in der Tageszeitung El Espectador abgedruckten Erklärung aus den Reihen der SPD-Fraktion.
Nachdem ein anderer wichtiger deutscher Vermittler, der in Ecuador ansässige progressive Bischof Emil Stehle, von den kolumbianischen Behörden im Juni Einreiseverbot erhielt, sind nun letztlich nur noch Schmidbauer und die Agenten Mauss übriggeblieben. Diese haben sich im Juni erneut hervorgetan: Der CDU-Abgeordnete Schmidbauer war in Bogotá als Überbringer von ELN-Verhandlungsvorschlägen unterwegs und überwachte die Freilassung von einem Teil der in Cali genommenen Geiseln. Michaela Mauss ging noch einen Schritt weiter und kritisierte die Reaktion der Medien auf die Geiselnahme von Cali. Man habe die Entführung dramatisiert, obwohl den Oberschichtsangehörigen keine ernste Gefahr drohe, gleichzeitig jedoch blieben die Morde an Dutzenden von Bauern im Nordosten Kolumbiens völlig unbeachtet.
Aus was für Interessen handeln Schmidbauer und Mauss? Man darf annehmen, daß Mauss und Schmidbauer auf ihre alten Tage keineswegs zu linken Humanisten werden. Der Grund für ihr Engagement dürfte eher mit den deutschen Investitionserwartungen in dem an Erdöl und Kohle reichen Land zu tun haben, das lange das stabilste Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent besaß. Schon ein Teilabkommen mit der ELN könnte für deutsche Unternehmen interessant werden. Erfahrungen diesbezüglich gibt es bereits, schließlich handelte das Duo 1984 für die Mannesmann AG einen Pipeline-Bau durch ELN-Gebiet aus. Der Konzern verpflichtete sich zu Sozialausgaben in der Region und konnte unbehelligt seine Rohre verlegen. Bewaffnete Wohlfahrtspolitik sozusagen. Aus linker Sicht in Deutschland müssen diese Verbindungen als dubios erscheinen, aus kolumbianischer Sicht gibt es gute Argumente dafür.

Militärische Ambitionen der USA

Die USA streben immer deutlicher eine militärische Lösung an. Beim letzten OAS-Treffen im Mai 1999 schlug die Clinton-Regierung mit Blick auf Kolumbien vor, eine kontinentale Eingreiftruppe zur „Verteidigung der lateinamerikanischen Demokratien“ zu gründen. Die Rechtsregierungen in Peru und Argentinien forcieren ihrerseits eine derartige Intervention, die in gewisser Weise das fortsetzen würde, was man in Jugoslawien vorexerziert hat: militärische Einsätze mit „humanitärer“ Legitimation.
Auf dem OAS-Gipfel wurde das Anliegen noch abgelehnt, doch der Chef des US-Kommandos in Panama Charles William hat bereits angekündigt, daß der im Torrijos-Carter-Vertrag für dieses Jahr vereinbarte Rückzug der US-Truppen möglicherweise ausgesetzt werden muß. Die panamenischen Truppen seien allein nicht in der Lage, die Grenze zu Kolumbien dauerhaft zu sichern. Seit einigen Monaten gibt es dort ständig Überfälle auf Polizeiposten, die im Namen der FARC verübt werden. Die Guerillaorganisation hat jedoch erklärt, nichts mit den Angriffen zu tun zu haben. Warum auch? Mit der panamenischen Polizei haben die FARC keinen Ärger. Da weder die Pastrana-Regierung noch die Paramilitärs ein klares Interesse an einer US-Intervention im Land haben dürften (dafür herrscht zu große Unklarheit über die weiteren Pläne Washingtons), gibt es eigentlich nur einen Beteiligten, der mit den Überfällen gewinnt: die US-Armee selbst, die damit ihre Truppenpräsenz in Panama verlängern möchte. Verwunderlich wäre eine solche Operation nach allem, was man aus Zentralamerika weiß, nicht. Daß die ELN versucht, hiergegen ein politisches Gegengewicht ins Spiel zu bringen, ist vor diesem Hintergrund einigermaßen verständlich – selbst wenn die betreffenden Personen Schmidbauer oder Mauss heißen. Paradox angehendes 21. Jahrhundert: Die guten alten Hegemonialpolitiker stehen für eine „humanere“ Außenpolitik als die Interventionsexperten von Rot-grün.

Die einsame Moderne

Aus europäischer Sicht begegnet man Kolumbien oft mit Vorurteilen. Drogen und Gewalt bestimmen das Bild eines Landes, das einst als Wiege der von Spanien unabhängigen lateinamerikanischen Kultur galt. Tatsächlich aber änderte sich an den ursprünglichen Herrschaftsstrukturen in dem südamerikanischen Land auch nach der Unabhängigkeit wenig. Die Macht der römischen Kirche war bis in unser Jahrhundert fast ungebrochen, und so fanden progressive Ideen neben den gottgewollten nur selten Eingang in den kulturellen Diskurs des Landes.
Eduardo Gómez, Lyriker, Essayist, Theaterkritiker und Vorsitzender der Goethegesellschaft Kolumbiens befaßt sich mit der jüngeren Kulturgeschichte Kolumbiens. Er studierte sechs Jahre an der Universität Leipzig, assistierte am Berliner Ensemble und arbeitete nach Reisen durch Ost- und Westeuropa in der Redaktion der von Camilo Torres gegründeten Zeitung Frente Unido. Neben der wissenschaftlichen und journalistischen Tätigkeit gibt Gómez heute die Literaturzeitschrift Texto y Contexto heraus. Das vollständige Interview ist auf der Internetseite der LN recherchierbar.

Das moderne Kolumbien kann nur auf eine sehr junge Geschichte zurückblicken. Alberto Lleras Camargo, ein Mann der „neuen herrschenden Elite“ kommentierte die Wahl des ersten liberalen Präsidenten Rafael Oloya Herrera 1930 in seinen Memoiren mit den Worten: „Es war keine Wahl gewonnen, sondern es ging eine Welt zuende. Die Priester beobachteten in ihren Kirchspielen ein erschrecktes Schweigen. Das Mittelalter war soeben gestorben.“ Das fortschrittliche Kolumbien befand sich aber von Anfang an in der Defensive. Nach relativ kurzer Herrschaft der Konservativen putschte sich mit Hilfe des Großbürgertums 1953 schließlich der Militär Rojas-Pinilla an die Macht. Bestand zu diesem Zeitpunkt noch die Chance, eine freie kulturelle Entwicklung wieder herzustellen und weiter zu entwickeln?

Auf jeden Fall. Ich gehöre der Generation der 50er Jahre an. In dieser Dekade hatten wir große Hoffnung auf eine neue Welt, in einem universellen Sinn. Die kubanische Revolution am Ende der 50er Jahre bestätigte uns in dieser Ansicht ebenso wie die chinesische Revolution. Die Sowjetunion hatte schon zuvor in den 40er Jahren einen großen Einfluß auf unsere kulturelle Entwicklung. Viele Intellektuelle orientierten sich damals dahingehend. Das waren nicht nur orthodoxe Linke, was ich für sehr positiv erachte, sondern sie formierten sich in einer allgemeinen linken Bewegung.

Wie spiegelte sich diese Entwicklung in der Kunst und Literatur ihres Landes wieder?

In den 50er Jahren entstand die Zeitschrift Míto, die sich an europäischen Formaten orientierte. Durch sie wurden viele Autoren, unter ihnen Jean-Paul Satre, bekannt. Vor allem Brecht erlangte in Kolumbien durch Míto Bekanntheit. Aber auch jungen kolumbianischen Autoren und Dichtern diente die Zeitschrift als Plattform. Zugleich nahm auch die moderne Kunstkritik ihren Anfang. Das hat vieles verändert. Eine wichtige Rolle nahmen zudem die großen europäische Buchhandlungen ein. Das deutsche Verlagshaus Buchholz nahm unter ihnen eine führende Position ein. Über sie konnte man die europäische Literatur bestellen. Mit Buchholz konnte eigentlich nur noch die kolumbianische Zentralbuchhandlung konkurrieren. Zur gleichen Zeit entstand die erste moderne Malereigalerie. Im Kampf gegen das diktatorische System nahm derweil auf politischer Ebene die Studentenbewegung eine äußerst wichtige Rolle ein. Mit ihr verbreitete sich auch die marxistische Literatur, die preiswert und in hoher Auflage publiziert wurde, vor allem in den urbanen Zentren des Landes.

Fand also trotz der Militärregierung eine relativ freie kulturelle Entwicklung statt?

Diese Militärregierung war nicht so restriktiv, wie man vielleicht vermutet. Rojas-Pinilla war von der Großbourgeoisie unterstützt worden, weil sie die vorherigen Regierungen für die Destabilisierung des Landes verantwortlich machten. Unter ihnen entstand, abgesehen von den Jahren der liberalen Regierungen López-Pumarejos [1934-1938/1942-1945, Anm. d.Red.], auch die Guerilla. Die Großbourgeoisie hat verstanden, daß, wenn Rojas-Pinilla die Macht nicht übernommen hätte, eine revolutionäre Situation sehr wahrscheinlich geworden wäre. Sein Putsch wurde also als eine Befreiung von der konservativen Regierung Laureano Gómez (1949-1953) erachtet.
Am Anfang der Regierung Rojas-Pinilla war eine relativ freie kulturelle Entwicklung gewährleistet. Als er jedoch verstärkt seinem Vorbild Perón nacheiferte, sich einen vergleichbaren Populismus zu eigen machte und nach einer weiteren Amtszeit strebte, wandten sich seine vormaligen Unterstützer von ihm ab und putschten nun gegen denjenigen, den sie wenige Jahre zuvor durch einen Staatsstreich an die Macht gebracht hatten. Dadurch entstand eine Junta mehrerer Generäle. Die Wahlen gewann die Nationale Front (Frente Nacionál), ein Sammelbecken der Oligarchie. Die Nationale Front hielt sich 30 Jahre an der Macht, und in dieser Zeit war oppositionelle Politik kaum möglich.

In dieser Zeit verzeichnete die Guerilla, deren Anfänge ja bereits in die vorherige Dekade zurückzuverfolgen sind, massiven Zulauf. Nach über 40 Jahren hat es jedoch den Anschein, daß das ethische Dogma des Guerillakampfes von Ernesto Guevara bei der kolumbianischen Guerilla an Bedeutung verloren hat, die Grenzen zwischen reaktiver und als politisches Mittel akzeptierter Gewalt scheinen verwischt. Wie wird dem Problem der Gewalt in der Literatur begegnet?

Die strukturelle Problematik dieser Gesellschaft ist zu elementar, als daß sie in der Kunst umfassend reflektiert werden könnte. Die Schriftsteller und Intellektuellen tun sich in Kolumbien sehr schwer, das Thema zu behandeln, auch im Hinblick auf die Ursachen, wie wirtschaftliche und soziale Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten, Analphabetismus und Arbeitslosigkeit. Teile der intellektuellen Schicht betrachten die nationalen Probleme auch heute noch von einem europäischen Standpunkt, andere agieren fernab der gesellschaftlichen Realität. Sie analysieren die Situation nicht und setzen sich mit den gesellschaftlichen Problemen erst gar nicht auseinander. Auf beiden Seiten gibt es eine deutliche Entfernung vom Kampf der Guerilla und dem der Arbeiter. Es gibt einige wenige Versuche einer Annäherung zwischen dem Kampf der einfachen Leute und der universellen Kultur. Diese Versuche sind bisher allerdings von mäßigem Erfolgt gekrönt. Die universelle Kultur ist noch immer einer Elite vorbehalten.

Probleme im künstlerischen Umgang mit gesellschaftlicher Gewalt stellen sich in Kolumbien jedoch nicht nur in der Gegenwart. Auf welche Art wurde die koloniale und postkoloniale Gewalt aufgegriffen, die in der Literatur Lateinamerikas generell einen hohen Stellenwert einnimmt?

Diese im kollektiven Gedächtnis manifestierte Problematik thematisiert sich hin und wieder knapp in literarischen Werken. Es ist nicht so, daß Gewalt überhaupt nicht aufgegriffen wird. Jedoch wird meist ein entstelltes Bild gezeichnet, oder es wird rein schöpferisch mit dem Thema umgegangen.
Im Grunde genommen ist all dies jedoch zu wenig. Der relative Wohlstand bei den Intellektuellen in den Städten verhindert, daß sie diese als grob, gefährlich und bedrohend empfundene Annäherung mit dem Volk haben können. Bei den Essayisten wird die gesellschaftliche Gewalt noch am ehesten hinterfragt. Auf dem Gebiet der Philosophie beachtet man es jedoch kaum. Lediglich die marxistischen Strömungen haben das analytische Werkzeug. Allerdings sind sie in ihrer Herangehensweise oft sehr einseitig und auf den politischen Aspekt beschränkt. Die weiteren philosophischen Tendenzen beschränken sich entweder auf rein intellektuelle Diskurse oder sind von sehr konservativem Ideen geprägt, so daß sie für einen kritischen Umgang mit gesellschaftlicher Aktualität nicht geeignet sind.

Ist neben dem Problem der intellektuellen Divergenz nicht auch eine Traumatisierung der kolumbianischen Gesellschaft für die mangelhafte Gewaltreflexion verantwortlich? Ist es denkbar, daß sich die kolumbianische Gesellschaft, sofern man in ihrem Land von einer homogenen Gesellschaft sprechen kann, nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges gar nicht mehr mit dem Problem auseinandersetzten will?

Große Teile der Bevölkerung erkennen dieses Problem in der Tat nicht. Oft geschieht dies auch vorsätzlich und ist in politischem Opportunismus begründet. Man hat nicht verstanden, daß Kultur und gesellschaftliche Entwicklung nicht zu trennen sind, und so wächst die Gefahr, daß wir am Ende alle verlieren. Als Individuum kann man in dieser Situation nur wenig ausrichten. Es gibt zwar die Möglichkeit, an der Universität gesellschaftskritisches Denken zu fördern, allerdings fehlt eine Manifestierung dessen auf breiter gesellschaftlicher Ebene.
Vielleicht liegt das auch daran, daß es keine lebendige marxistische Partei gibt, durch die eine progressive Arbeiterbewegung gefördert wird. Die Kommunistische Partei ist auch heute noch von stalinistischen Tendenzen dominiert und formiert sich aus Leuten, die – zumindest mental – alte sind. Sie sind sehr dogmatisch. In den 30er, 40er und bis in die 50er Jahre hinein waren in der KP viele Intellektuelle aktiv. Auch Gaetán Durán, der Gründer von Míto war in der KP organisiert. Viele andere sympathisierten mit der kommunistischen Bewegung. Die KP hat alle diese Intellektuellen verloren, weil sie überaus dogmatisch und bürokratisch war. Somit fiel das einzige Sammelbecken für progressive Gruppen und Individuen aus. Und, wie gesagt, als Einzelner kann man nur wenig ausrichten und setzt sich ohne eine starke Kraft im Rücken einer erheblichen Gefahr aus. Viele kritische Journalisten wurden ermordet. Viele mußten emigrieren. Alle sind gefährdet. Manche Künstler sind in dieser Situation sehr standhaft geblieben, obgleich sie jahrelang Morddrohungen erhalten. Eine avantgardistische Kultur ist heutzutage beinahe heroisch geworden.

Welche Rolle können die Intellektuellen in einer solchen Situation denn überhaupt einnehmen?

Natürlich könnten sie eine große Rolle spielen, in der gesellschaftlichen Realität ist das aus den beschriebenen Gründen heraus jedoch sehr kompliziert. In manchen Werken, wie Der Oberst hat niemanden, der ihm schreibt von Gabriél García Márquez, ist die Gewalt präsent, allerdings lediglich in einer indirekten psychologischen Form. Sie wird nicht direkt benannt, sondern vielmehr in Alltagssituationen eingebunden. Márquez setzt dies sehr intelligent und in zahlreichen Nuancen um. Es gibt noch einige andere Werke, in denen die Gewalt durch individuelle Schicksale in einer indirekten Form dargestellt wird. Es wäre interessant, wenn dies auch politische Tendenzen annehmen würde. In der Malerei gibt es einige Bilder, so zum Beispiel „La Violencia“ von Obregón, in denen das Thema aufgegriffen wird. Meist ist die Kunst jedoch sehr abstrakt und subjektiv. Subjektivismus ist auch ein Problem der Lyrik. Generell ist die Kunst aber sehr abhängig von Publizität und somit von den Medien.

Und die Medien befinden sich in den Händen der Oligarchie…

Ja, die Zeitungen sind finanziell von der oligarchisch kontrollierten Wirtschaft abgängig. Natürlich versuchen einige, allen voran die Tageszeitung El Espectador eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren. Dies ist inzwischen zu einem täglich neu beginnenden Kampf mit vielen Gefahren ausgeartet. Gerade die Zeitungen befinden sich in Kolumbien in den Händen weniger Familien. Die Medien standen der Armee größtenteils sehr unkritisch gegenüber. Leitartikel und Kommentare waren mehr oder weniger ein Forum für die Armee. Seit zwei Jahren hat sich diese Situation aber geändert. Der Wechsel setzte mit der Niederlage ein, die die Guerilla der Armee zugefügt hat.

Interview: Harald Neuber

Humboldts Konzerthinweise

Humboldts Reise vor 200 Jahren bildet den Rahmen der HeimatKlänge 99 in Berlin. Venezuela, Kuba, Kolumbien und Mexiko heißen die Stationen des Musikfestivals im Tempodrom vom 16. Juli bis 22. August, ab der zweiten Woche jeweils von Mittwoch bis Sonntag. Vom neuen Kanzleramt aus dem grünen Tiergarten verscheucht, steht die Zeltarena jetzt vorübergehend am Ostbahnhof, wo das Grau der Häuserwände dominiert. Kein schlechtes Ambiente für die Auftaktgruppe aus Venezuela.

16.- 18. Juli: Desorden Público

LatinSka aus Venezuela. Die Heimat ist Caracas, wo zwei Szene-DJs sich 1985 zusammentun. Sie nennen ihre Schöpfung Desorden Público, Öffentliche Unordnung, in Anlehnung an die Fahrzeuge der Nationalgarde „Orden Público“. Fast 15 Jahre später ist die Gruppe auf acht Musiker angewachsen, hat mittlerweile vier Platten veröffentlicht und sich auch auf internationaler Bühne etabliert. Ihre Experimentierfreude hat sie den Ska mit Ragga, Cumbia, Salsa, Merengue und afro-venezolanischen Trommelrhythmen mischen lassen. Die Anfänge der Gruppe lassen sich auf ihrer jüngsten CD verfolgen, die eine Zusammenfassung der ersten beiden Platten und anderes Material aus der Zeit von 1988 bis 1990 darstellt.
Aktuelle CD: ¿Dónde está el futuro?, CBS

21.– 25. Juli: Sin Palabras feat. Proyecto F

Tribal House und Rap Cubana. Housemusik trifft auf afrokubanische Perkussion und ruft die Gottheiten der santería auf den Dancefloor. Nachdem der französische DJ Jean Claude Gué Anfang der 90er nach Kuba ging, faszinierten ihn die Lieder der santería, jener Religion, in der die Yoruba-Gottheiten der aus Afrika verschleppten Sklaven verehrt werden. Aber er konnte seiner musikalischen Prägung durch die New Yorker Housemusik nicht entkommen. 1996 war es dann so weit, die Perkussionsinstrumente rückten in den Mittelpunkt, verbanden sich mit den Yoruba-Gesängen und mischten sich mit elektronischen Klängen. Seine Unterstützung auf der Bühne findet das Ganze durch die Rapper von Proyecto F, die zum ersten Mal außerhalb von Kuba zu erleben sind.
Aktuelle CD: House of Drums, Piranha

28. Juli – 1. August: Los de Abajo

PunkSalsa aus Mexiko. „Der Kontext, in dem wir uns entwickelten, war geprägt von Ungerechtigkeit, Vernachlässigung der Armen und dem Fehlen von Wegen zur freien Entfaltung“, sagt Drummer und Gründungsmitglied Yocu Arrellano, und fügt hinzu, „unsere Texte sind politisch, radikal links.“ Die Mehrzahl der sieben Musiker studierte an der UNAM, der autonomen nationalen Universität. Kein Wunder, daß sie 1992 ihren Bandnamen Mariano Azuelas Roman zur Mexikanischen Revolution entlehnten, nach dem Veränderung nur von unten kommen kann. So sind sie also die von unten, los de abajo. Yocu: „Selbstverständlich hat diese Idee Einfluß auf die Musik.“ Aber nicht nur auf ihre Musik. Auch die Energie, die sie auf der Bühne versprühen, vermittelt die Kraft derer von unten. Yocu: „Wir sind kein Mosaik, wir sind ein Kaleidoskop des mexikanischen Lebens.“
Aktuelle CD: Los de Abajo, LuakaBop/Warner

4.- 8. August: Asere meet Totó la Momposina

Son und Cumbia aus Kuba und Kolumbien. Keine Frage, in dieser Woche werden alle ins Tempodrom strömen, die derzeit auch zum Buena Vista Social Club pilgern. Zwar werden sie Vertrautes hören, aber nicht sehen: Das Durchschnittsalter der Jungs von Asere ist 27 Jahre. So wird der Son die Chance haben, jenseits vom Charme der alten Männer sein Publikum zu finden, denn musikalisch stehen die Jungen den Alten in nichts nach. Die Erfolgsstory von Asere begann 1996, als sie der kolumbianschen Sängerin Totó la Momposina begegneten und diese sie unter ihre Fittiche nahm. In Berlin werden sie gemeinsam auf der Bühne stehen, und wir dürfen gespannt sein, was das Zusammenspiel der kubanischen Insel und der kolumbianischen Karibikküste hervorbringen wird.
Aktuelle CD: Asere, Cuban Soul, Bleu-Indigo.
Totó, Carmelina, Bleu-Indigo.

11.- 15. August: Adriana Lucía

Vallenato Joven aus Kolumbien. Hand auf’s Herz: Auf der Bühne steht ein junges Mädel im Dirndl, und derweil die Trachtenkapelle im Hintergrund bläst, singt sie Ihnen davon, wie verliebt sie ist. Was werden Sie tun? Nein, Sie werden nicht davonlaufen! Denn die 17-jährige Adriana Lucía wird ganz sicher nicht im Dirndl auftreten, und sie wird „Enamorate como yo“ und „Siempre te voy a esperar“ singen. Und das klingt doch viel besser als: „Ich werde immer auf dich warten.“ Aber vor allem wird es die Musik sein, die Sie gefangen halten wird, dieser Vallenato mit seinem tanzenden Akkordeon, der sich Anfang des Jahrhunderts im Grenzgebiet von Kolumbien und Venezuela entwickelte. Und denken Sie daran, Adriana Lucía ist zu Hause ein Star. Sie kommt das erste Mal nach Europa, und nur an diesen Tagen.
Aktulle CD: Dos Rosas, Danza y Movimiento

18.- 22. August: Son de México

mit Guillermo Veláquez, La Negra Graciana und Dinastía Hidalguense. Das mußte dann doch noch sein: Die Verneigung vor den alten Soneros. Aus der Pressemitteilung: „Zum Abschluß von Humboldts Reise stellt das Projekt Son de México drei herausragende Vertreter und drei Stile des mexikanischen Son vor. Guillermo Velázquez aus Xichú, Guanajuato, ist der vielleicht am besten bekannte traditionelle Musiker des Landes, als Trovador Erbe der mittelalterlichen Troubadoren, mit seiner eigenen Band Los Leones de Xixú spielt er den son arribeño. Die Sängerin und Harfenspielerin La Negra Gracianan war bis zur Aufnahme ihrer ersten CD im Alter von 60 Jahren nicht über die Bars des Hafenviertels von Veracruz hinaus bekannt, heute ist sie eine lebende Legende. Ihr Stil ist der son jarocho. Abgerundet wird das Projekt durch den son huasteco der Dinastia Hidalguense.“
Aktuelle CD: VA, Son de México, CoraSon

HeimatKlänge im Radio

Leider ist nicht bekannt, ob einer der MusikerInnen oder Gruppen nach dem Auftritt bei den HeimatKlängen noch an anderen Orten gastieren wird. Deshalb zum Trost der Hinweis: Ab der zweiten Woche gibt es jeden Mittwochabend ab 22.05 Uhr einen Livemittschnitt im Hörfunk über SFB4 MultiKulti, angeschlossen ist WDR Radio 5 Funkhaus Europa und Radio Bremen Mittelwelle 936kHz.

Der Blick des Anderen

Im Jahre 1804 trafen in einem vornehmen Pariser Salon zwei Menschen zusammen, denen bis heute eine entscheidende Rolle in den nationalen Mythen beinahe aller lateinamerikanischer Staaten zukommt. Der eine, Alexander von Humboldt, war gerade von einer fünfjährigen Forschungsexpedition zurückgekehrt aus den „Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents“, so seine etwas umständlich anmutende Umschreibung für die heutigen Länder Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und Kuba. Der andere, Simón Bolívar, sollte nach einer umfassenden Ausbildung im Geiste des französischen Jakobinismus in diese Gegenden zurückkehren und zum Anführer der kreolischen Freiheitsbewegung werden. Der Respekt und die Bewunderung, die der „Befreier“ dem Forscher entgegenbrachte – er bezeichnete ihn als den „zweiten, den wahren Entdecker Amerikas“ – beruhte zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht auf Gegenseitigkeit. Nachdem Humboldt an einer baldigen Unabhängigkeit Lateinamerikas aufgrund der mangelnden Selbständigkeit seiner Völker Zweifel angemeldet hatte, rief der 21jährige Bolívar: „Die Völker sind in den Augenblicken, da sie die Notwendigkeit empfinden, frei zu sein, so stark wie Gott.“ Humboldt bezeichnete den jungen Mann hierauf als „Brausekopf“. Erst Jahre später, als das Unternehmen Unabhängigkeit langsam konkretere Formen annahm, entwickelte sich zwischen den beiden ein reger Briefwechsel.
Humboldt ist auch heute noch der bekannteste Deutsche in Lateinamerika und wird beinahe so verehrt wie der große „Libertador“. Kaum ein Ort zwischen Tijuana und Ushuaia, in dem es nicht mindestens eine Calle Humboldt gibt, kaum ein Land ohne einen Fluß oder Berg, der seinen Namen trägt. Als Ende Januar ein Schiff zu Ehren Humboldts in Venezuela eintraf, ließ es sich Präsident Chávez nicht nehmen, die Besatzung persönlich in Empfang zu nehmen. Die Vorsitzende der neu eingerichteten venezolanischen Comisión Presidencial del Bicentenario de la llegada de Humboldt (Präsidentialkomission für das zweihundertjährige Jubiläum der Ankunft Humboldts) stellte ihn gar als „Nationalhelden“ dar. Gleichzeitig diente das Ereignis der gegenseitigen Versicherung, Deutschland und Venezuela müßten jetzt über eine Verbesserung ihrer Beziehungen nachdenken. Auch die Granma, Organ der Kommunistischen Partei Kubas, bildete unter der Schlagzeile „Ein Schiff der guten Hoffnung“ keine Ausnahme von der Regel der ausschließlich positiven Rezeption der Reise.
Hintergrund der ganzen Aufregung sind neben den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die der Forscher ans Licht der europäischen Öffentlichkeit brachte, in zunehmendem Maße die politischen Essays, in denen er keinen Hehl daraus machte, daß der Großteil der lateinamerikanischen Bevölkerung schon damals nichts zu lachen hatte. Seine harsche Kritik am spanischen Kolonialsystem, an der Sklaverei und an der Ausbeutung der Indios durch die Missionare bilden die Hauptbezugspunkte für die Vereinnahmung seiner Person in den Geschichtsbüchern. Es ging bei der Schelte der Unterdrückung aber oftmals nicht nur um den humanistischen Aspekt, sondern auch um die wirtschaftliche Effizienz, die zwangsläufig Schaden nahm, wenn in den Bergwerken jeden Tag unzählige Indios unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen zugrunde gingen.

Ein Kind der Aufklärung

Er war ein Kind der Aufklärung, die die ideologische Grundlage für die Entwicklung von der Feudalgesellschaft zum Kapitalismus bot. Weil er die Modernisierung nach europäischen Maßstäben predigte, für die eine Überwindung des Kolonialstatus unerläßlich war, paßten seine Parolen dann auch hervorragend zu den wissenschaftsgläubigen Parolen à la Ordem e Progreso (Ordnung und Fortschritt), die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts von den lateinamerikanischen Staatsmännern ausgegeben werden. Auch wenn die Begeisterung für eine fünfjährige Forschungsreise also auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mag: Sie gehört zu dem Bild, in das sich ein Präsident wie Chávez stellen möchte, wenn er sich immer wieder als Nachfolger Bolívars preist.

Humboldt für alle

Bislang interessierte man sich hauptsächlich für Humboldt als Naturwissenschaftler, während die Bedeutung dieses kulturhistorischen Teils des Werks weniger beachtet wurde. Im Rahmen der Ausstellung und der begleitenden Vorträge wird versucht, Licht ins Dunkel dieses Bereichs zu bringen, der heute mehr denn je umstritten ist. Humboldt hat die für ihn fremde Welt stets mit dem Blick des Anderen, des Außenstehenden, betrachtet und beschrieben, so die Meinung des Veranstalters. Und tatsächlich besteht eine Spannung zwischen der vorgefundenen Welt und Humboldts Versuch, sie in ein europäisches, im Kielwasser der Französischen Revolution entstandenes Weltbild zu pressen. Bei dem Gesamtheitsanspruch, auf dem sein Wissenschaftsverständnis beruhte und seinem stetigen Bekunden seines Interesses an der „Wahrheit“, kann es nicht erstaunen, daß er sich allzu oft seiner eigenen Wurzeln nicht bewußt gewesen zu sein scheint. Dankenswerterweise beschäftigen sich mehrere Vorträge sowie einer der zwölf Themenräume, in die die Ausstellung unterteilt ist, mit seiner Berliner Umgebung. Denn diese aufklärerischen Kreise vermittelten ihm die Ansichten, die später bestimmend für seine Wahrnehmung wurden. Daß er nämlich „kein Revolutionär“, sondern „ein Mann der Kompromisse mit der Wirklichkeit und der Macht“ war, bemerkt nicht nur Manfred Kossok von der Universität Leipzig. Die Einschätzung dürfte von den meisten TeilnehmerInnen des Symposiums, das aus so illustren Namen wie Beatriz Sarlo und Jaime Labastida Ochoa besteht, geteilt werden.
Es geht jedoch nur nebenbei um die Frage, wessen Geistes Kind der Mensch Humboldt „wirklich“ war oder ob es tatsächlich stimmt, daß er ohne irgendeinen Auftrag von offizieller europäischer Seite gereist ist. Viel wichtiger erscheint die grundsätzliche Problematik, einen fremden Kontinent mit den eigenen, europäischen Begrifflichkeiten erklären oder gar verbessern zu wollen. Denn es steht ohnehin fest, daß sein Name bis heute für die Legitimierung des Machtanspruchs der kreolischen Oberschichten instrumentalisiert wird und seine Entdeckungen auch den Boden für die zweite, die kapitalistische Eroberung Lateinamerikas bereiteten. Und auch das Jubiläumsjahr wird nicht klären, ob sich Humboldt tatsächlich im Grabe herumdrehen würde, könnte er hören, wie manch ein lateinamerikanischer oder europäischer Politiker stolzbrüstig mit seinem Namen hausieren geht.

Reformen ja, aber in welche Richtung?

Vertrauen ist in diesen Tagen ein vielzitiertes Wort in den Ministerien der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Verlorenes Vertrauen und potentielle Anleger möchte man wiedergewinnen und die Wirtschaft für das nächste Jahrtausend fit machen. Kein leichtes Unterfangen, denn Venezuela ist wie kein anderes Land der Region von den Erdöldollars abhängig und hat sich Strukturreformen in den vergangenen Dekaden hartnäckig verweigert. Das soll nun anders werden, wenn es nach dem ehemaligen Oberstleutnant und Putschisten geht, der Venezuela seit gut drei Monaten regiert und dem Establishment einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Nicht nur der überbordenden Korruption will er entgegentreten, sondern auch den Staatssektor verschlanken und damit dem weit verbreiteten Klientelismus und der Ämterpatronage entgegentreten.
Dagegen regen sich natürlich Widerstände, und der 44jährige Chávez hatte denn auch alle Hände voll zu tun, um die gewünschten Sondervollmachten im Parlament durchzusetzen. Dort herrscht die Opposition, die dem militärisch zackigen Chávez nicht so ohne weiteres freie Hand lassen will. Dessen Ermächtigungsgesetz läßt ihm einen Gestaltungsfreiraum, der den ParlamentarierInnen zu weit geht. Langfristige Änderungen in der Sozialgesetzgebung oder der öffentlichen Verwaltung will man doch lieber selbst im Parlament verabschieden, statt dem Oberstleutnant a.D. seinen Willen zu lassen.
Der allerdings setzte sich durch, indem er in einer spektakulären Fernsehansprache Anfang April die Bevölkerung bat, ihn bei seinem Kampf gegen die reformunwilligen ParlamentarierInnen zu unterstützen. Seitdem hat Chávez die gewünschten Sondervollmachten, um die Zukunft des Landes zu gestalten und der sozialen Krise Herr zu werden. Sechs Monate hat der ehemalige Oberst nun Zeit, das überbordende Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen. Auf neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder gute 15 Milliarden Mark ist das Loch in den öffentlichen Kassen angewachsen, das Chàvez nun schnellstmöglich auf ein erträgliches Maß senken will.
Wie schnell es gehen kann, wenn die Basisindikatoren wie Haushaltsdefizit oder Verschuldung in eine Schieflage geraten, hatten sowohl Brasilien als auch Ecuador in jüngster Zeit erleben müssen. Ähnlich wie in Ecuador ist in Venezuela die Währung bereits mächtig unter Druck geraten. Das Land stöhnt derzeit unter einer Inflationsrate von 26,1 Prozent und liegt damit gleich hinter Ecuador (73,8 Prozent) auf Platz zwei der lateinamerikanischen Rangliste. Um nicht das gleiche Schicksal wie das Nachbarland zu erleiden, das von der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 70 Jahren gebeutelt wird, will Chávez das Haushaltsdefizit auf drei bis fünf Prozent reduzieren. Eine Banktransaktionssteuer von 0,5 Prozent soll 1,1 Milliarden US-Dollar in die leeren Kassen bringen, und auch von der Umwandlung der Umsatzsteuer in eine variable Mehrwertsteuer erhofft sich die Regierung weitere Mittel.

Chávez für Privatisierungen

Doch es soll nicht allein bei Korrekturen zur Sanierung der Staatsfinanzen bleiben. Chávez hat sich zur Überraschung vieler auch der Reorganisierung der staatlichen Verwaltung, die mit Entlassungen einhergehen wird, verschrieben und sich für Privatisierungen ausgesprochen. Besonders letztere Maßnahme wird im Ausland aufhorchen lassen, denn noch im Wahlkampf hatte Chávez zum Entsetzen der USA gegen die Veräußerung der nationalen Besitztümer polemisiert. Daß der 44jährige nun genau den gegensätzlichen Kurs einschlägt und die Veräußerung verlustbringender Aluminiumwerke genauso anvisiert wie den Rückzug des Staates aus dem Elektrizitäts- und Tourismussektor, dürfte bei Investoren und beim IWF mit Wohlwollen notiert werden. Genau dieses Wohlwollen benötigt Chávez allerdings auch, denn selbst wenn es ihm wie geplant gelingen sollte, das Defizit auf fünf Milliarden US-Dollar zu drücken, ist er darauf angewiesen, Kredite zur Deckung dieses Finanzlochs an Land zu ziehen. Dies dürfte denn auch der Grund dafür sein, daß sich Mitte Mai ein Spezialistenteam des IWF eingehend mit den Finanzen des Landes beschäftigte.
Auch für die von Chávez angepeilte Restrukturierung eines Teils der Auslandsschulden in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar wird für die Empfehlung des IWF entscheidene Bedeutung haben, und so kann die Einladung an den IWF dann doch nicht sonderlich überraschen.
Venezuela lebt und atmet mit dem Ölpreis und die einseitige Abhängigkeit von den Petrodollars macht das Land extrem verletzbar gegegüber dem Preisverfall auf den internationalen Märkten, sagt Santiago Montenegro von der kolumbianischen Universität der Anden, der sich mit den Modernisierungskonzepten in den Nachbarländern im Vergleich zu Kolumbien beschäftigt.
Mit dem Einbruch des Erdölpreises auf dem Weltmarkt, der im letzten Jahr um rund 25 Prozent pro Barrel (159 l) fiel, wurde dem Land wieder einmal die einseitige Abhängigkeit vom schwarzem Gold vor Augen geführt. Der Motor der venezolanischen Wirtschaft kam mehr als ins Stottern, denn nicht weniger als 78 Prozent der Export- und 61 Prozent der Regierungseinnahmen entfielen 1996 auf den Erdölsektor, in dem 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet werden. Die dritte Krise binnen fünf Jahren war perfekt und hatte viel dazu beigetragen, daß der radikale Töne anschlagende Chávez in den Präsidentenpalast einziehen und den greisen Caldera ablösen konnte.

80 Prozent leben in Armut

Chávez setzte auf die populistische Karte und wettert erfolgreich gegen das „korrupte Establishment“ des Landes. Diese Wahlstrategie hat ihm Unterstützung bei den verarmten Massen eingebracht, nicht aber die Akzeptanz des wichtigsten venezolanischen Handelspartners – den USA – und des Establishments. Allgemein wird dem wenig diplomatischen Chávez zwar zugute gehalten, daß er den Umbau des Staates im Gegensatz zu seinen Vorgängern ernsthaft betreibe und durchaus auch gewillt sei, die Situation der Bevölkerungsmehrheit zu verbessern. Rund 80 Prozent der VenezolanerInnen leben laut Weltbankstatistiken in Armut, und dort findet sich denn auch Chávez wichtigste Klientel, die er bisher spielend für sich mobilisieren konnte. Doch über kurz oder lang wird die Bevölkerung den populistischen Präsidenten an seinen Erfolgen messen. Sein Kabinett genießt allerdings wesentlich weniger Vertrauen als er selbst, da echte Fachleute auf der Regierungsbank rar sind und Minister in benachbarten Ressorts unterschiedliche Denkrichtungen vertreten.
Zudem hat Chávez viele Militärs in den Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung eingesetzt, die zum Teil für ihren neuen Job wenig qualifiziert sind. Damit einher gingen Spekulationen, daß der Oberstleutnant außer Dienst einen autokratischen Weg einschlagen könnte. Zwar hat sich dies bisher nicht bewahrheitet, aber die Rehabilitierung sämtlicher am Putsch von 1992 beteiligter Uniformträger hinterläßt doch einen schalen Beigeschmack, zumal eben niemand außer Hugo Chávez Friás weiß, wolang es gehen wird.

Opfer der Öffnung

Wenn Frau Adelfa Valencia am Abend nach Hause kommt, bringt sie gerade genug Reis mit, damit die Kinder nicht mit knurrenden Mägen ins Bett müssen. Die Zwiebeln, die sie auf dem Markt von Altos de Cazuká anbietet, finden kaum Käufer. Denn hier, am äußersten Südrand von Bogotá, wo vor allem Vertriebene aus anderen Landesteilen siedeln, sind alle arm. Man kauft gerade das Nötigste. Aber die Krise ist nicht nur in den Elendsvierteln spürbar. Jaime Benavides, ein Ingenieur, der mit seinen Brüdern in einem Familienbetrieb Maschinenersatzteile und Qualitätswerkzeug für die Industrie herstellt, klagt über die Absatzflaute: „Wir machen nicht einmal die Hälfte des Umsatzes von vor zwei Jahren. Die Produktion stagniert landesweit.“ Selbst die Allergrößten machen sich Sorgen. So wurde ein Mitglied der mächtigen Santodomingo-Gruppe – eines der größten Wirtschaftsimperien des Landes – in einem Billig-Supermarkt mit dem Einkaufswägelchen gesehen. Man müsse heute beim Geldausgeben aufpassen, erklärte er einem erstaunten Journalisten.
1998 verzeichnete Kolumbiens Wirtschaft ein prekäres Wachstum von 0,2 Prozent. Das waren, wie die Statistiker meldeten, die schlechtesten Werte seit der großen Depression der 30er Jahre. Doch es sollte noch dicker kommen: im ersten Quartal 1999 wurde erstmals ein Negativwachstum gemessen, stolze -4,0 Prozent im Vergleich zum ersten Vierteljahr 1998. Kolumbien, das trotz Guerilla und Drogenkrieg selbst in den 80er Jahren, im „verlorenen Jahrzehnt“ Lateinamerikas, ein robustes Wachstum vorweisen konnte, befindet sich auf einer wirtschaftlichen Talfahrt, deren Ende, allen Beschwichtigungsversuchen der Wirtschaftsverantwortlichen zum Trotz, noch nicht abzusehen ist. Die Arbeitslosigkeit, derzeit auf einem Rekordhoch von offiziell 19,5 Prozent, dürfte sich kaum vermindern, solange die Betriebe massenweise zusammenbrechen. Und der Konjunkturmotor Privatkonsum wird sich schwerlich einstellen, wenn immer mehr KolumbianerInnen kein Einkommen haben.
Externe Ursachen wie die Asienkrise, der russische Wirtschaftskollaps und die Erschütterungen im benachbarten Brasilien reichen als Erklärung nicht aus. Auch die Zerschlagung der Kokainkartelle von Medellín und Cali haben sich auf die Gesamtwirtschaft nur marginal ausgewirkt, denn die Drogenbarone hatten ihre Millionen in erster Linie in Immobilien und Luxusgüter investiert. Allenfalls die Baubranche wurde durch die Festnahme der Spitzen des Cali-Kartells geschädigt. Die Verringerung der Bautätigkeit kann vor allem in Cali, aber auch in Bogotá visuell wahrgenommen werden.

Fehler vergangener Wirtschaftspolitik

Für den Wirtschaftsprofessor Jorge Iván Rodríguez liegen die Wurzeln für den wirtschaftlichen Niedergang in der falschen Politik der Regierung von César Gaviria (1990-1994). Noch im Jahre 1987 hatte die Zentralbank eine äußerst positive Bilanz über 20 Jahre Wechselkurskontrolle gezogen. Die Einnahmen aus dem Kaffeeboom konnten zum Beispiel dank der Devisenkontrollen für ganz Kolumbien genutzt werden. Ohne sachliches Argument, einzig als Gebot der neoliberalen Mode, wurde dann 1991 der Wechselkurs freigegeben. Dazu Rodríguez: „Plötzlich strömten aus ganz Lateinamerika Dollars ins Land, denen die Wirtschaft nicht gewachsen war. Ziel war es, die Inflation zu dämpfen. Doch gleichzeitig wurde der Peso aufgewertet.“ Die starke Währung wiederum ermunterte zu Importen im großen Stil, während die Exporte schwieriger wurden. Noch 1991 hatte die Außenhandelsbilanz einen positiven Saldo von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), 1995 gab es bereits ein Defizit in derselben Höhe. Ein Verlust von elf Prozentpunkten in nur vier Jahren ließ die Alarmglocken schrillen. Tatsächlich hatte der folgende Präsident Ernesto Samper mit seiner Sozialpolitik im Sinne, den Wirtschaftsliberalismus abzumildern. Im November 1994 zog sein Wirtschaftsminister Guillermo Perry allerdings in einem Disput mit der Zentralbank den Kürzeren, als er die Abwertung des Peso forderte. Wenige Monate später war die Regierung durch den Skandal um die Drogengelder im Wahlkampf handlungsunfähig. Den Rest seiner Amtszeit war Samper mit Schadensbegrenzung beschäftigt und konnte keine visionären Projekte mehr angehen.
Also wurde das Land weiterhin mit Dollars überflutet, die aus spekulativen Gründen kurzfristig angelegt wurden. Für die Spekulanten ein sicheres Geschäft: drei Jahre lang wurde die Parität von US-Dollar und Peso von 1:1000 gehalten, während die Inflationsrate sich mit rund 20 Prozent in kontrollierbaren Grenzen hielt. Die Banken boten damals bis zu 45 Prozent Nominalzinsen. Das entsprach real immerhin 15-17 Prozent – mehr als das Doppelte dessen, was auf dem internationalen Kapitalmarkt verzinst wurde. Da die kolumbianischen Banken keine Kredite in Fremdwährung vergeben dürfen, konnten sie die überschüssigen Dollars nur zu den gängigen Bedingungen im Ausland veranlagen.

Importe bestimmen die Ökonomie

Die mit Hartwährungspolitik gekoppelte Öffnung hat die kolumbianische Wirtschaft nachhaltig geprägt. Produkte, die früher im Lande veredelt wurden, können jetzt billiger aus dem Ausland importiert werden. Autoersatzteile oder pharmazeutische Produkte, die früher ganz oder teilweise in Kolumbien hergestellt wurden, sind jetzt im Originalwerk in Europa oder den USA preiswerter zu haben. So wurden industrielle Betriebe nach und nach zu Importhäusern.
Daß ein so fruchtbares Land wie Kolumbien zwei Drittel seiner Grundnahrungsmittel importieren muß, ist skandalös. Schuld am Niedergang der Agrarproduktion ist einerseits die politische Gewalt, die mehr als eine Million Bäuerinnen und Bauern von ihrem Boden vertrieben hat, andererseits die ausländische Konkurrenz, die die Waren billiger auf den Markt werfen kann. Vor allem die Nachbarländer Ecuador und Venezuela, die aus ihren weichen Währungen Kapital zu schlagen verstehen, sind zu den wichtigsten Handelspartnern nach den USA geworden.
Warum die kolumbianischen Unternehmer sich diese Politik gefallen ließen, erklärt Jorge Iván Rodríguez damit, daß die großen Konsortien sich vor allem auf Produkte spezialisierten, die kaum von ausländischer Konkurrenz betroffen sind, etwa Bier und Erfrischungsgetränke oder Zement. Die Großen steckten ihr Kapital außerdem in Banken, Bauunternehmen und Telekommunikation.
Ihre Kredite nahmen die großen Konzerne wie Santodomingo oder Ardila Lulle in den USA in Dollars auf. Das war billiger, als sich im Inland zu verschulden. Deswegen sind sie auch jetzt gegen eine Abwertung, weil damit ihre Schulden steigen würden.

Der Trend wird fortgesetzt

Unter der neuen Regierung, die seit August im Amt ist, gebe es weniger Korruption, meint der Maschinenfabrikant Jaime Benavides. Aber sein Vertrauen in die Wirtschaftspolitik ist beschränkt. Präsident Andrés Pastrana, der in der Konservativen Partei groß geworden und gewohnt ist, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten, hat sein Wirtschaftskabinett mit Leuten bestückt, die schon unter Gaviria die Liberalisierung betrieben haben. Daß sie ihre eigene Politik verurteilen und den Rückwärtsgang einlegen würden, war nicht zu erwarten. Im Gegenteil: bei der Privatisierung wurden ein paar Gänge zugelegt. Nicht einmal der Gesundheits- und der Erziehungsbereich sind davon ausgenommen. Außerdem sind auch die angeblich so sauberen Technokraten nicht vor den Versuchungen des Kapitalismus gefeit. So werden Staatsbetriebe vor der Privatisierung gezielt entkapitalisiert und dann unter dem Wert verkauft. Die Streiks im öffentlichen Dienst, die Ende April Bogotá und andere Großstädte für einen Tag lahmlegten, dürften nur der Beginn größerer sozialer Auseinandersetzungen gewesen sein.
Als einziger Rettungsanker in der Depression wird derzeit die Erdölindustrie betrachtet, die dank des steigenden Ölpreises deutlich mehr abwerfen wird als prognostiziert. Erdöl hat den Kaffee als wichtigstes Exportprodukt längst überholt. Einen stetigen Zuwachs verzeichnen auch die Schnittblumenexporte, ein Wirtschaftszweig, der die Savanne von Bogotá in ein riesiges Treibhaus verwandelt hat. Allerdings ist auch in der Blumenindustrie bald der Zenit erreicht, denn trotz Sozialdumping können die Produzenten nicht mit den Produktionskosten der ecuadorianischen Konkurrenz mithalten.

Die Wahl der toten Helden

Damit wird der jahrzehntelange Konflikt zwischen den USA und der panamesischen Souveränitätsbewegung beigelegt sein, der die Beziehungen zwischen beiden Ländern schwer belastete. Aufgrund der historischen Bedeutung der Wahlen hatten die beiden wichtigsten politischen Strömungen zwei Symbolfiguren als Kandidaten aufgestellt, die weniger sich selbst, als vielmehr die verstorbenen Helden ihrer Bewegungen repräsentieren. „Zwei Tote sind die Kandidaten“, brachte Richard Millette, ein politischer Beobachter, die Konstellation auf den Punkt.
Mireya Moscoso, die mit 44,6 Prozent die Wahlen gewann, kandidierte für die rechtsgerichtete Arnulfistische Partei. Sie ist die Witwe des Parteigründers und dreimaligen Präsidenten Arnulfo Arias, dem ausdauerndsten Verfechter einer fortdauernden Präsenz der USA in Panama. Nach Arias’ Tod 1988 stieg die heute 52-jährige Moscoso zur führenden Politikerin der Arnulfisten auf. Bei den Präsidentschaftswahlen 1994 unterlag sie nur knapp Ernesto Pérez Balladares von der PRD (Partei der Demokratischen Revolution), der das Land die letzten Jahre regierte. Bevor sie am Wahlsonntag ihre Stimme abgab, erklärte Moscoso am Grab ihres Ehemanns: „Die Präsidentschaft wird nicht meine, sondern Arnulfos sein.“ Im Wahlkampf versprach die Multimillionärin und Besitzerin einer Kaffeeplantage, das in Panama grassierende Übel der Korruption einzudämmen und energisch gegen Armut und Arbeitslosigkeit zu kämpfen, die im Zuge der neoliberalen Politik unter Balladares zugenommen haben.
Ihr Konkurrent Martín Torrijos ist der Sohn des Generals Omar Torrijos. Dieser putschte Arias 1968 aus dem Amt und konnte 1977 – gestützt auf eine nationalistische Massenbewegung – einen Vertrag mit US-Präsident Jimmy Carter aushandeln, der die USA bis Ende 1999 zur Rückgabe des Kanals verpflichtet. Der 35-jährige Martín Torrijos war unter Balladares zunächst stellvertretender Innen- und Justizminister, bevor er zum Kandidaten nominiert wurde. Eigentlich wollte Balladares selbst eine zweite Amtszeit antreten. Dazu hätte allerdings die Verfassung geändert werden müssen, was durch eine Volksabstimmung aber abgelehnt wurde. So entschied sich die PRD für den wenig charismatischen Torrijos junior als Kandidaten, der mit seinem noch immer populären Vater werben sollte.

Wahlsieg verpflichtet

Angesichts des bevorstehenden Truppenabzugs mutet das Wahlergebnis nun etwas paradox an. Die US-freundliche Mireya Moscoso wird das letzte Sternenbanner der Kanalzone einholen lassen und den historischen Auftrag ihrer nationalistischen Gegner erfüllen. Das hätten diese natürlich lieber selbst erledigt. Doch noch in der Wahlnacht erkannte Torrijos junior das Wahlergebnis an. Damit tritt die PRD seit 31 Jahren zum ersten Mal friedlich die Macht an die rechtsgerichtete Opposition ab.
Der Abzug der US-Truppen wird sich wider Erwarten ebenfalls recht einvernehmlich vollziehen. Nachdem die USA jahrelang nach Möglichkeiten suchten, die Truppenpräsenz aufrechtzuerhalten, wird sie den Vertrag von 1977 nun doch erfüllen. Bis heute verfügt die US-Armee über 18.400 ha Gelände und 26 Militäranlagen entlang des Kanals. Noch immer sind mehrere tausend US-Soldaten in Panama stationiert. Die Aufgabe der Truppe hat sich im Lauf der Jahrzehnte gewandelt. Erst durch die militärische Intervention der USA 1903 konnte Panama, das zuvor zu Kolumbien gehörte, gegründet werden. Der einzige Zweck der Staatsgrüdung bestand im Bau des geostrategisch wichtigen Kanals. Als dieser 1914 fertiggestellt war, blieben die US-Truppen vor Ort, um ihn zu sichern. Später gingen von Panama immer wieder US-Interventionen in Zentralamerika aus. Die Militärbasen wurden zu einem Kontrollinstrument für den unruhigen „Hinterhof“ der USA und sind es bis heute geblieben.
Um eine längerfristige Präsenz von US-Truppen zu sichern, brachten die USA 1995 das Projekt eines Multilateralen Drogenbekämpfungszentrums (CMA) ins Spiel. Nach Vorstellung des Chefs des Südkommandos der US-Army, General Barry McCaffrey, sollten 5.000 US-Soldaten in Panama stationiert bleiben und mit Militärs aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern gegen den Drogenhandel vorgehen. Doch letztes Jahr scheiterte das CMA am anhaltenden Widerstand von Präsident Balladares.

Abzug oder Nichtabzug – das ist hier die Frage

Mit dem Sieg Moscosos könnten jetzt ähnliche Pläne allerdings wieder verstärkt in die Diskussion kommen. Während der US-Botschafter in Panama Simon Ferro zwar erklärte, die US-Regierung beabsichtige keine neuen Verhandlungen über den Verbleib von Militärstützpunkten, werden aus der Republikanischen Partei Stimmen laut, die US-Präsident Bill Clinton genau dazu aufrufen. Insbesondere Rechtsaußen-Senator Jesse Helms tut sich dabei hervor. Er hatte bereits letztes Jahr gefordert, die Torrijos-Carter-Verträge rückgängig zu machen.
Unmittelbar wird der Abzug aber fortgesetzt. Nur drei Tage nach den Wahlen stellte die US-Armee am letzten Mittwoch den Betrieb des Luftwaffenstützpunktes Howard ein. Jetzt wird der Luftraum über der Karibik von Key West in Florida überwacht. Oberst Gregory L. Trebon befürchtet zwar, daß Drogenhändler in Zukunft verstärkt die Route über Panama nehmen könnten. Es sei nun allerdings Aufgabe Panamas, „sich mit dieser Angelegenheit herumzuschlagen.“ Die US-Behörden würden das Land dabei aber auch in Zukunft „logistisch unterstützen.“
Keine Unterstützung versprechen die USA in bezug auf das sensible Thema der Altlastenbeseitigung auf den ehemaligen Militärbasen. Etwa 3.200 Hektar sind nach Angaben einer Arbeitsgruppe der panamesischen Regierung hochgradig chemisch verseucht. Auf ihnen führte die US-Armee seit dem Zweiten Weltkrieg Waffentests und Übungen mit chemischen Kampfstoffen unter Tropenbedingungen durch. Nicht detonierte Bomben, Granaten, Minen und scharfe Patronen liegen auf den zum Teil wieder vom Dschungel überwucherten Schießplätzen. Nach verschiedenen Schätzungen würde die vollständige Beseitigung des Mülls eine knappe Milliarde Mark kosten, viel Geld für den ohnehin hochverschuldeten panamesischen Staat. Während Panama von den USA die Erfüllung einer Klausel des Torrijos-Carter-Vertrags fordert, die die USA zur Beseitigung der Schäden verpflichtet, verweigern sich diese mit dem Argument, die Säuberung sei technisch nicht möglich.

“Carlos Castaño hat sich nicht verselbständigt“

In den Medien wird oft behauptet, der Paramilitarismus habe sich verselbständigt, die Truppen des paramilitärischen Chefs Carlos Castaño würden von der Regierung Pastrana nicht mehr kontrolliert. Inwieweit ist das richtig?

Carillo: Das ist völlig falsch. Der Paramilitarismus entstand als staatliche Politik zur Bekämpfung der Aufständischen und richtet sich gegen diejenigen, die zu ihrem Einflußbereich gezählt werden. Ständig werden neue Beweise für die Verbindungen zwischen Armee und Paramilitärs vorgelegt. Selbst die kolumbianische Justiz, die nun wahrlich nicht staatskritisch ist, hat eine Reihe von Prozessen gegen Armeeoffiziere und hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft eröffnen müssen.

Aponte: Man muß nur zwei einfache Beobachtungen anstellen: Wo agieren die Paramilitärs? Ausschließlich dort, wo die Sicherheitsinteressen der Eliten auf dem Spiel stehen. Sie verfolgen die Gewerkschaften in den wirtschaftlich sehr wichtigen Exportbranchen wie der Bananen- und Erdölproduktion und säubern jene Gebiete, die für den Staat militärstrategisch wichtig sind. Wo sind ihre Stützpunkte? Es gibt Hunderte von Zeugenaussagen, die belegen, daß die Paramilitärs neben oder in Armeekasernen untergebracht sind und sich regelmäßig mit hochrangigen Offizieren treffen. Die Paramilitarismus ist nach wie vor eine staatliche Politik.

Aus Washington gab es zuletzt kritische Stellungnahmen zur Menschenrechtssituation in Kolumbien. Darüberhinaus werfen einige US-Geheimdienste Carlos Castaño vor, Drogenhändler zu sein. Ändert sich etwas an der Politik der USA?

Aponte: Uns erscheint diese Position heuchlerisch. Man muß daran erinnern, daß das Konzept der paramilitärischen Gruppen von US-amerikanischen Militärstrategen entwickelt wurde. Es ist Bestandteil der Nationalen Sicherheitsdoktrin, wie sie die US-Regierung in ganz Lateinamerika zur Anwendung brachte. Nun haben die Paramilitärs in Kolumbien sowohl Beziehungen zu den Viehzüchtern und den politischen Eliten, als auch zum Drogenhandel. Und aus diesem Grund bezieht Washington öffentlich Stellung gegen die Paramilitärs, nutzt sie andererseits aber weiter aus, um die Situation im Land zu kontrollieren. Es mag paradox erscheinen, doch Tatsache ist, daß der Paramilitarismus gebraucht wird, um einen Aufstand zu verhindern, und deswegen auch weiter gefördert wird.

Es heißt, die Familie Castaño sei nach dem Zerfall des Medellín-Kartells zum wichtigsten Drogenhändlerclan aufgestiegen. Ist das auch nur eine Lüge?

Carillo: Für mich ist das ein Ablenkungsmanöver, über das im Ausland viel geredet wird, an das jedoch in Kolumbien kein Mensch glaubt. Castaño ist kein Drogenhändler wie Pablo Escobar oder die Gebrüder Rodríguez Orejuela. Er ist ein Agent des kolumbianischen Staates zur Bekämpfung der Aufstandsbewegung. Darüber hinaus verteidigen die Paramilitärs die wirtschaftlichen Interessen der Eliten, darunter auch diejenigen des Drogenhandels. Das heißt, die Paramilitärs haben kein eigenes politisches Projekt, sie sind dazu da, die Geschäfte der Oligarchie zu verteidigen, und das kann genauso eine Bananenplantage wie ein Koka-Laboratorium sein. Die Paramilitärs haben also möglicherweise dem Drogenhandel neue Handelswege eröffnet, aber sie sind kein Drogenkartell.

Castaño ist also, anders als Pablo Escobar dies war, nicht autonom…

Maecha: Nein. Er hat sich nicht verselbständigt. Das Problem ist allerdings, daß im Kolumbien häufig das Gegenteil behauptet wird, vor allem in den herrschenden Medien. Für sie ist Castaño die dritte Konfliktpartei, die den Staat zum unparteiischen Mittler zwischen den Extremen machen soll, zur einzigen Kraft, die die beiden Seiten noch auseinanderhalten kann. Was mit dieser Darstellung bezweckt werden soll, liegt auf der Hand: Der Staat wird von jeder Verantwortung freigesprochen und soll gestärkt werden.

Die Regierung Pastrana zeigt sich im Ausland als gemäßigte, kompromißbereite Regierung. Was hat sich verändert, seitdem der konservative Präsident Mitte 1998 das Amt übernahm?

Aponte: Pastrana hat viel von Frieden gesprochen, aber seine Politik läuft auf eine Verschärfung des Konflikts hinaus. Das sieht man am deutlichsten an seinen Wirtschaftsplänen. Der sogenannte „Entwicklungsplan“ sieht Lohnsenkungen und den Abbau von Sozialversicherungen vor. Er verschärft die Einkommensgegensätze und macht es immer mehr KolumbianerInnen unmöglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Frieden kann es nicht ohne soziale Gerechtigkeit geben, das weiß auch Pastrana. Insofern sind seine Verhandlungsangebote an die Guerilla nicht mehr als Medienpropaganda. Tatsächlich hat sich die Repression gegen die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen auch eher verschärft.

Carillo: Pastrana hat im Ausland durch zwei Ereignisse gepunktet: die Wiederaufnahme der Beziehungen zu den USA und der Dialog mit den FARC. Doch aus unserer Sicht sind dies nicht die Hauptprobleme Kolumbiens. Der Konflikt in unserem Land ist Ergebnis einer miserablen sozialen Situation, das heißt ein Friedensvorschlag muß mit Inhalten gefüllt werden, mit realen Veränderungen. Die Wirtschaftspolitik Pastranas spricht eine andere Sprache. Allein in Bogotá werden im Augenblick 20.000 StraßenhändlerInnen vertrieben.

Zielt die Politik Pastranas nur auf einen Prestigegewinn ab?

Maecha: Möglich. Der kolumbianische Staat steckt in einer tiefen Krise und muß Fortschritte in der Befriedung des Landes machen – auf subtile oder auf gewalttätige Weise. Die aufständische Bewegung ist in den vergangenen fünf Jahren in unerwarteter Weise gewachsen, gleichzeitig haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung spürbar verschlechtert. Diese Mischung ist hochexplosiv. Die Regierung erkennt offiziell eine Arbeitslosenrate von 17 Prozent an, und zwar Arbeitslose, die keinerlei Absicherung absitzen. Darüberhinaus gibt es eine ausufernde Korruption, gegen die seit nun acht Jahren in den Eliten eine Lösung gesucht wird. Die Regierung muß also etwas unternehmen, wenn sie eine Explosion verhindern will.

Aber wird diese Befriedung eher gewalttätig oder politisch sein?

Maecha: Ein großer Teil der Eliten, einschließlich der Armee, scheint auf eine gewalttätige Lösung zu setzen. Das Problem ist allerdings, daß der Paramilitarismus als eine Art staatlicher Terrorismus der Subversion keine strategische Niederlage zugefügt hat. Er hat die sozialen Bewegungen stark geschwächt – allein 3000 GewerkschafterInnen sind umgebracht worden – aber er hat der Guerilla neuen Zulauf verschafft.

Immer mehr Menschenrechtsbüros müssen schließen. Mein Eindruck ist, daß das Vakuum, das die regierungskritischen Nichtregierungsorganisationen (NRO) hinterlassen, von regierungsfreundlichen ausgefüllt wird. Es gibt eine ganze Reihe Menschenrechtsorganisationen, die von den wirtschaftlichen Eliten unterstützt werden, wie die Anti-Entführungsorganisation País Libre oder die Indigena-Gruppe Organización Indígena de Antioquia. Die Gruppen treten international als Sprachrohr einer unabhängigen
Menschenrechtsbewegung auf. Sind die Nichtregierungsorganisationen zu einem Teil des Krieges geworden?

Maecha: Vielleicht. Aber ich glaube, daß es eher so ist, daß sich viele NRO anpassen, weil sie wirtschaftlich ausgehalten werden, oder auf die Drohungen der Todesschwadrone reagieren. Der Paramilitarismus hat den Diskurs der NRO völlig aufgeweicht. Es tut mir leid, das so hart sagen zu müssen, aber von meinem Standpunkt aus kommt es regelrecht einem Verrat an den Menschenrechten gleich, was viele NRO in den letzten Jahren betrieben haben.
Das zweite, was die NRO beeinflußt, ist die Unterstützung der internationalen Agenturen. In Kolumbien ist es heute praktisch unmöglich, von internationalen Stiftungen eine Finanzierung für ein Projekt mit politischen Gefangenen zu bekommen, von Geldern für die Verteidigung von Kriegsgefangenen ganz zu schweigen. Geld gibt es für Projekte, die von Frieden, Ökologie und Entwicklung reden, aber nicht für solche, die sich nach offener Opposition anhören.
Man sollte also grundsätzlich immer berücksichtigen, daß „Nicht-Regierung“ zu sein noch lange nicht bedeutet, auch oppositionelle Positionen zu vertreten.

Es gibt also keinen strategischen Plan, bestimmte NRO zu zerschlagen und durch regierungsfreundlichere zu ersetzen?

Aponte: Natürlich gibt es ein Interesse, die Veröffentlichung bestimmter Informationen zu verhindern. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung spielt eine wesentliche Rolle im Krieg.

Maecha: Unter den NRO sind alle politischen Spektren vertreten, und natürlich gibt es auch welche, die von Viehzüchtern und Industriellen gegründet wurden und sich ausschließlich mit dem Thema Entführungen beschäftigen, weil das die Seite des kolumbianischen Konflikts ist, die sie am deutlichsten zu spüren bekommen. Dagegen kann man nichts einwenden, schließlich ist es Aufgabe der internationalen Öffentlichkeit, sich ein reelles Bild der kolumbianischen Wirklichkeit zu machen. Man muß sich in Europa damit auseinandersetzen, mit wem man es zu tun hat und welche Interessen eine bestimmte NRO vertritt.

KASTEN:
Weiter und doch nicht weiter
Auf Verhandlungserfolg folgt die schwerste Krise für Pastrana

Nach anfänglichem Zögern einigten sich die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und die Pastrana-Regierung Anfang Mai doch noch auf eine gemeinsame Tagesordnung für weitere Verhandlungen. Zunächst hatte es so ausgesehen, als ob die Guerillaorganisation weitere Gespräche in anbetracht der paramilitärischen Angriffe auf GewerkschafterInnen und soziale Bewegungen abbrechen würde. Regierung, FARC und eine hochrangige Parlamentarierdelegation unterzeichneten in der Provinz Caquetá einen gemeinsamen Themenkatalog, der in den kolumbianischen Medien als Durchbruch interpretiert wurde. In zu bildenden Kommissionen sollen zwölf Hauptpunkte mit so kritischen Themen wie Sozialpolitik, Umstrukturierung der Armee, Substitution des Drogenanbaus und Austausch von Kriegsgefangenen diskutiert werden.
Doch schon wenige Tage nach dem unerwarteten Erfolg bei den Gesprächen schlitterte die Regierung Pastrana in ihre bisher schwerste Krise. Nachdem der Präsident bekannt gegeben hatte, daß das von den FARC kontrollierte Gebiet im Süden des Landes für die Dauer der Verhandlungen in den Händen der Aufständischen bleiben solle, widersetzte sich die Armeespitze und machte gegen das Angebot Pastranas mobil. Verteidigungsminister Rodrigo Lloreda und 16 hochrangige Generäle gaben aus Protest am 27. Mai ihre Rücktritte bekannt. Eine unbefristete Überlassung der Gebiete sei für sie nicht hinnehmbar, hieß es drohend, was manche Beobachter dazu brachte, gar von einem Mini-Putsch zu sprechen. Um solchen Putsch-Gerüchten vorzubeugen, übte man sich in verbaler Schadensbegrenzung. Die USA stärkten in einer ersten Stellungnahme dem Präsidenten den Rücken und das (verbliebene) Oberkommando der Streitkräfte versprach, der Friedenspolitik Pastranas nicht im Wege zu stehen. Doch hinter den Kulissen lassen sich große Zerwürfnisse vermuten. Nicht zuletzt, weil sich Pastrana unmittelbar nach den Rücktritten mit dem Oberkommando und 64 Generälen in Tolemaida zu Gesprächen über die weitere Verhandlungspolitik getroffen hat.
Das erwähnte Gebiet von 42.000 Quadratkilometer, welches die Krise auslöste, hatten die FARC vergangenen November in den Provinzen Caquetá und Meta von der Regierung übergeben bekommen, um dort die Sicherheit der Gespräche zu garantieren. Tatsächlich gilt die Region seitdem als ausgesprochen ruhig. Kriminalität und politische Verbrechen verschwanden fast völlig von der Bildfläche, was offensichtlich bei Teilen der Oligarchie und gerade bei der Armeespitze Unruhe auslöst. Schließlich könnte das Beispiel Schule machen und den Einfluß der Guerilla vergrößern.
Auch in anderer Hinsicht polarisiert die Rechte die Situation. In der Nähe von Medellín entführten Paramilitärs die liberale Abgeordnete Piedad Córdoba, die als eine der wenigen KritikerInnen der Ultrarechten im Parlament gilt, und verlangten die Anerkennung als politische Kraft. Die von der Armee getragenen Todesschwadrone wissen, daß eine derartige Anerkennung zu einem Abbruch der Kontakte zwischen Regierung und Guerilla führen würde.
Unter Druck geriet die Pastrana-Administration auch international. Ein mit JuristInnen und MenschenrechtsaktivistInnen hochkarätig besetztes Meinungstribunal in Barrancabermeja verurteilte den kolumbianischen Staat am 16. Mai wegen seiner Mitverantwortung für das im Vorjahr verübte Massaker an 32 BewohnerInnen der Erdölstadt Barrancabermeja. Nach Zeugenaussagen halte man es für offensichtlich, daß Mitglieder von Armee und Polizei an den Morden beteiligt gewesen seien. Zudem habe die Regierung nichts unternommen, um den Fall aufzuklären. Trotz der Eröffnung der Verhandlungen stehen Kolumbien nun schwere Zeiten bevor.
Raul Zelik

Kosovo-Krieg als Präzedenzfall

Am 25. März 1999, einen Tag nach Beginn der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien, meldeten sich die in der Rio-Gruppe zusammengeschlossenen lateinamerikanischen Staaten zu Wort. Sie äußerten ihre Besorgnis über die Bombardierungen, forderten alle Seiten zu Gesprächen über eine friedliche Lösung auf und verlangten, daß sowohl die Minderheitenrechte als auch die territoriale Integrität der Staaten respektiert werden müsse. Die Erklärung hebt hervor, daß die NATO internationales Recht verletzte, und verweist auf Artikel 53 der UN-Charta. Dort ist unter anderem festgelegt, daß es regionalen Bündnissen ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat nicht gestattet ist, Gewalt gegen andere Staaten anzuwenden.
Mit ihrer Erklärung haben die lateinamerikanischen Regierungen nicht nur rasch, sondern – gemessen am üblichen diplomatischen Tonfall – auch sehr entschieden gegen die NATO-Einsätze Stellung bezogen. Immerhin hatte der argentinische Präsident Carlos Menem noch im Golfkrieg regelrecht darum gebettelt, auch Truppen gegen den Irak entsenden zu dürfen. Davon ist jetzt nichts zu vernehmen. Allerdings war das Unternehmen damals als UN-Einsatz deklariert. Jetzt ist es allein die NATO.

Doch nicht nur das macht für die Lateinamerikaner den Unterschied aus. Sie haben allen Grund, der NATO-Selbstermächtigung mit größtem Mißtrauen zu begegnen, denn was für Europa noch neu ist, haben sie selbst schon zu oft erlebt. Immer wieder sind die USA gegen einen von ihnen vorgegangen, ohne sich um die UN-Charta oder internationales Recht zu scheren. Dabei hat es viele Varianten gegeben: 1965 gegen die Dominikanische Republik wurde noch die Organisation Amerikanischer Staaten bemüht, um wenigstens auf ein regionales Bündnis verweisen zu können. 1983 gegen Grenada hieß es zunächst, Staaten der Karibik hätten die USA um ein Eingreifen gebeten. Einige Regierungschefs eben dieser Staaten erfuhren davon erst aus der Zeitung. Glücklicherweise konnten sie sich dann 24 Stunden später doch wieder erinnern, die GIs angefordert zu haben. 1989 schließlich gegen Panama verzichtete Bush gänzlich aufs Feigenblatt und marschierte ohne jedwede Legitimation los. Der UN-Sicherheitsrat, der das einzige Gremium ist, das einen Militäreinsatz gegen ein anderes Land verfügen kann, wurde nie ernstgenommen.

Vom Kosovo-Krieg ist Lateinamerika zunächst nicht betroffen. Es steht nicht zu erwarten, daß Tarnkappenbomber Ziele in Mexiko-Stadt ins Visier nehmen, weil in Chiapas eine humanitäre Katastrophe stattfindet. Auch in Kolumbien werden über anderthalb Millionen Flüchtlinge die USA nicht bewegen, Munitionsdepots der Paramilitärs zu bombardieren. Ganz im Gegenteil: die Nordamerikaner sind seit Jahren dabei, gerade das mexikanische und das kolumbianische Militär massiv zu unterstützen. Die USA führen hier nicht offen Krieg, sind aber intensiv an ihm beteiligt. Selbstverständlich ohne völkerrechtliche Legitimation, und lange vor den Raketen auf Belgrad.

Trotzdem ist der Krieg gegen Jugoslawien ein katastrophaler Präzedenzfall, auch wenn Joschka Fischer unermüdlich versichert, es sei keiner. Die Ausschaltung des UN-Sicherheitsrates durch die Regierungen der USA und der anderen Pakt-Staaten ist etwas anderes als frühere militärische Alleingänge der einen oder anderen Großmacht. Denn dieser Krieg wird von der NATO geführt, dem allein übriggebliebenen Pol der alten bipolaren Welt, zudem ist er ein Affront gegen Rußland. Die USA geben erneut den Ton an. Das sind keine guten Aussichten für internationales Recht und die Charta der Vereinten Nationen.

Ein Linker war er nicht

Raúl Silva Henríquez wurde am 27.9.1907 in Talca als achtes von neunzehn Kindern geboren. Nach der Schule in seiner ländlichen Heimatstadt ging er 1930 ins Priesterseminar der Salesianer in Santiago, zog dann nach Italien und wurde dort im Juli 1938 zum Priester geweiht. Nach der Ernennung zum Bischof wurde er im November 1959 Weihbischof in der Hafenstadt Valparaíso. Nach nur 20 Monaten berief ihn wiederum Papst Johannes XXIII. zum Erzbischof von Santiago. Vom Juni bis zum Mai 1983 leitete er 22 bewegte Jahre hindurch die katholische Kirche in der chilenischen Hauptstadt. Schon früh, im Februar 1962, wurde Silva Henríquez zum zweiten Kardinal in der Geschichte Chiles ernannt.
Von Anfang an stand für Kardinal Silva die kirchliche Soziallehre im Mittelpunkt seines geistlichen Handelns; er forderte soziale Gerechtigkeit und die Bekämpfung der Armut. Konsequent unterstützte er die vorsichtige Reformpolitik seines guten Freundes Eduardo Frei, des Vaters des derzeitigen Präsidenten gleichen Namens, der von 1964-70 regierte. In Anbetracht heftiger Kritiken der Großgrundbesitzer und Unternehmer betonte der Kardinal wiederholt, die Landreform stehe in vollem Einklang mit der kirchlichen Soziallehre. Aus seiner Skepsis gegenüber der sozialistischen Unidad-Popular-Regierung machte er nie einen Hehl, seine Loyalität gegenüber Salvador Allende stand jedoch nie in Zweifel. Bis zuletzt versuchte er, den Dialog zwischen den politischen Gegnern aufrecht zu erhalten. Mit seiner Abscheu gegenüber dem Militärputsch am 11. September 1973 und den massiven Menschenrechtsverletzungen hielt Silva Henríquez nicht hinter dem Berg. Nur einen Monat später rief er gemeinsam mit anderen Kirchen das „Komitee für den Frieden“ ins Leben, um den Opfern des Putsches Hilfe anbieten zu können.

Loyal gegenüber Allende

Die folgenden Jahre waren durch anhaltende Auseinandersetzungen mit General Pinochet gekennzeichnet, der seine politischen Gegner erbarmungslos verfolgte. Tausende wurden ermordet, verschleppt, gefoltert oder verschwanden für immer, andere flohen ins Ausland. Die katholische Kirche konnte sich in den ersten Jahren der Diktatur als einzige kritisch zum Regime äußern. Und sie gab vielen Oppositionellen Arbeit und Brot. Kardinal Silva gründete die „Akademie für Christlichen Humanismus“, in der arbeitslos gewordene linke ProfessorInnen wissenschaftlich arbeiten konnten.
Auf Druck der Militärs mußte das „Friedenskomitee“ Ende 1975 aufgelöst werden. Aber schon am 1. Januar des folgenden Jahres rief Kardinal Silva als Nachfolgeorganisation das Solidaritätsvikariat ins Leben. Verfolgte des Regimes erhielten hier Rechtsbeistand, Selbsthilfegruppen und Volksküchen finanzielle Unterstützung, die Angehörigen der Opfer des politischen Terrors Raum und Beistand. Die Zeitschrift „Solidaridad „ war lange Jahre das einzige Presseorgan in Chile, das kritische Meinungen und Einschätzungen veröffentlichen durfte. Ohne das Engagement von Raúl Silva Henríquez, bei dem der Einsatz für die Armen und Unterdrückten im Mittelpunkt seines geistlichen Handelns stand, wäre diese beispiellose Arbeit der Kirche in Chile nicht möglich gewesen. Als überzeugter Anhänger der Beschlüsse der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Puebla (Mexiko) und Medellín (Kolumbien) war Kardinal Silva immer ein Verfechter der Option für die Armen. Von der regimetreuen Presse wurde er wiederholt in die Ecke des Kommunismus gedrängt. Ein linker Bischof war er jedoch nicht, viele gesellschaftliche Forderungen der Befreiungstheologen gingen ihm zu weit. Die politischen Umstände ließen den im Grunde seines Herzens konservativen Kirchenfürsten in die Rolle eines fortschrittlichen Pragmatikers hineinwachsen. Vergleichbar mit seinem Kollegen in El Salvador, Oscar Arnulfo Romero, dem er nach seinem Tode sichtlich bewegt bescheinigte, er habe seine Pflicht als Bischof getan, „sein Leben für seine Brüder, für seine Schafe hinzugeben“.
Bis zum Rücktritt von Raúl Silva als Erzbischof von Santiago am 6. Mai 1983 erlebte die chilenische Kirche einen Höhepunkt ihres irdischen Auftrags. Während der Militärdiktatur in dem Andenstaat konnte sie ihr ganzes moralisches Gewicht in die Waagschale werfen. Nicht zuletzt die Ernennungspolitik des Vatikans hat es in den letzten Jahren verhindert, daß einer seiner Nachfolger die Bedeutung von Kardinal Silva erreicht hätte. Mit seinem Tod geht eine Ära der lateinamerikanischen Kirche zu Ende.

Pastrana verliert an Boden

Die Entführung des Linienfluges Bucaramanga–Bogotá Mitte April durch das ELN (Nationales Befreiungsheer) schien aus einem Agenten-Film zu stammen, allerdings mit offenem Ausgang. Die Guerillaorganisation, die in den kolumbianischen Medien in den vergangenen Monaten als stark geschwächt gehandelt wurde, ließ unter den Augen der Flugsicherheit eine Fokker 50 der Fluglinie Avianca mit mehr als 40 Personen an Bord regelrecht verschwinden. Trotz schwerster Sicherheitsmaßnahmen auf dem Flughafengelände von Bucaramanga war es einer Gruppe gut gekleideter Männer, darunter auch ein Pfarrer, gelungen, Waffen in die Maschine zu schmuggeln und wenige Minuten nach dem Start die Kontrolle über das Flugzeug zu übernehmen.
Erstaunen rief in den Medien vor allem hervor, daß einer der Entführer offensichtlich beste Kenntnisse über die Maschine besaß. So deaktivierte der Copilot der ELN sämtliche Ortungsgeräte, brachte das Flugzeug damit vom Radar der Kontrollstationen und ließ die Maschine wenig später auf einer stillgelegten Piste nahe der Kleinstadt Simití in der Provinz Bolívar landen. Nach Berichten von freigelassenen Passagieren sei die Landebahn dort bereits von mehreren Hundert ELN-Guerilleros gesichert gewesen. Auch in den anliegenden Ortschaften, in die man während der folgenden mehrstündigen Autofahrt gelangt sei, habe „alles grün ausgesehen“, so die Augenzeugen.
Die Omnipräsenz der Guerilla besaß eine klare Botschaft, immerhin hat das 8.000 Quadratkilometer große Gebiet im Süden der Provinz Bolívar für beide Seiten enormen Symbolwert: Armeespitze und Paramilitärs hatten zur Jahreswende großspurig verkündet, die ELN aus der Gegend vertrieben zu haben, in der 80 Prozent der kolumbianischen Goldvorkommen vermutet werden. Auf der anderen Seite wollte die Guerillaorganisation die Gemeinden Simití, Morales, San Pablo und Santa Rosa zum Sitz der zwischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Guerilla im vergangenen Jahr vereinbarten Nationalkonvention machen.

Ein dramatisches Warnsignal

Im April nun ließ sich die ELN nicht mehr aus dem Gebiet vertreiben. Nach Angaben der Tageszeitung Vanguardia Liberal aus Bucaramanga seien so viele Guerilleros zwischen Simití und San Pablo zusammengezogen worden, daß die Armee auch nach über einer Woche nicht in der Lage war, die Stellungen der Rebellen einzunehmen. Die Militärs seien daher dazu übergegangen, die Region aus der Luft unter Feuer zu nehmen. Bei Redaktionsschluß war die Situation so kritisch, daß sowohl die Angehörigen der Entführten als auch der Gouverneur der Provinz Santander eine Einstellung der Bombenangriffe forderten. Die Regierung Pastrana lehnte dies jedoch nicht nur strikt ab, sie kappte auch noch den letzten Kanal zur ELN. Die in Medellín inhaftierten ELN-Sprecher Felipe Torres und Francisco Galán wurden schweren Repressalien unterworfen. Man nahm den beiden Guerilleros, die als Vertreter ihrer Organisation gewisse Sonderrechte besitzen, Funkgeräte und Telefone ab und untersagte ihnen alle Besuche.
Auch in anderen Landesteilen ist die Entwicklung dramatisch. In den Provinzen Córdoba, Antioquia, Cauca, Boyacá und Arauca kam es zu weiteren schweren Angriffen durch die ELN, in Bogotá zündete die Untergrundorganisation mehrere große Sprengsätze vor Armeekasernen. Dabei äußerten ELN-nahe Quellen in Europa, daß sich die Organisation durchaus des Ernstes dieser Eskalation bewußt sei. Immerhin wurde die Flugzeugentführung von mehreren Menschenrechtsorganisationen, unter ihnen auch die Angehörigen der Verschwundenen, ASFADDES, offen kritisiert. Es besteht nämlich kein Zweifel, daß damit die Genfer Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung verletzt wurden. Doch die gleichen Quellen bekräftigten auch, daß die ELN ein dramatisches Warnsignal habe abgeben wollen. Wenn in den nächsten Monaten kein gesellschaftlicher Dialog über eine politische Lösung in Gang kommt (und die Voraussetzung dafür vor allem ein Ende des paramilitärischen Terrors), wird Kolumbien in einen blutigen Bürgerkrieg stürzen.
Eine Meinung, die auch der exilierte Journalist und Soziologe Alfredo Molano teilt. Im El Espectador äußerte der Publizist, die Guerilla sei jahrelang ein Randphänomen der Gesellschaft gewesen. Erst durch die Paramilitärs sei die kolumbianische Gesellschaft so stark polarisiert worden, daß nun ein offener Bürgerkrieg zwischen Staat und Aufständischen nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich sei.

Die Gespräche mit den FARC bleiben „eingefroren“

Auch vom Treffen zwischen Friedensberater Victor Ricardo und der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbien) am 20. April gab es keine guten Neuigkeiten. FARC-Kommandant Raúl Reyes erklärte nach der Zusammenkunft bei San Vicente de Caguán (Südkolumbien), die Gespräche blieben vorerst eingefroren. Seine Organisation wolle zunächst einmal prüfen, ob die Regierung tatsächlich Maßnahmen gegen die Paramilitärs ergriffen und Verbindungen zwischen Armee, hochrangigen Politikern und Todesschwadronen gekappt habe. „Das Treffen war nicht dazu da, eine neue Dialogrunde zu eröffnen, sondern von der Regierung Ergebnisse im Kampf gegen den Paramilitarismus präsentiert zu bekommen“, äußerte Reyes kühl. Wenn in der Frage nichts passiert sei, sei eine schnelle Wiederaufnahme der Verhandlungen unwahrscheinlich.
Die FARC hatten die erst Anfang Januar aufgenommenen Gespräche für drei Monate ausgesetzt, nachdem paramilitärische Gruppen in einer Woche 200 Personen ermordet hatten. Die Guerillaorganisation erklärte, sie könne nicht mit einer Regierung diskutieren, die die Massaker an der Bevölkerung mitzuverantworten habe, und legte ein 20seitiges Dokument über die Hintermänner des schmutzigen Krieges vor. Zwar wurden nach der Ermordung von drei US-amerikanischen Umweltschutzaktivisten (siehe LN Nr. 298) auch die FARC von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert, doch die Vorwürfe der Guerilla gegen die Armee bleiben dennoch richtig. Selbst das US-State Department, das die kolumbianischen Militärs mit jährlich 400 Millionen US-Dollar unterstützt, mußte letztlich zugeben, daß „örtliche Militärkommandanten in verschiedenen Regionen taktische Vereinbarungen mit den paramilitärischen Gruppen getroffen haben“.
In der Tageszeitung El Colombiano äußerten der eher rechte Politologe Alfredo Rangel und der CINEP-Mitarbeiter Mauricio García daher auch unabhängig voneinander, daß Pastrana geschwächt in die neue Verhandlungsrunde gehe. „Die Regierung hat es nicht verstanden, die Unterbrechung (…) zu nutzen und wieder die Initiative zu ergreifen“, äußerte Alfredo Rangel. Der Pfarrer Mauricio García betonte darüberhinaus, daß Pastrana keine schlüssige Sozial- und Entwicklungspolitik verfolge, die eine Grundlage für den Friedensprozeß schaffe.
Die einzige nennenswerte Aktivität des Präsidenten war die Abberufung der wegen ihrer Verbindungen zu den Paramilitärs schwerbelasteten Generäle Fernando Millán und Alejo Rito del Río, die in Santander, Bolìvar und Urabá an der Vorbereitung mehrerer Massaker beteiligt waren. Die Armee protestierte zwar gegen den „Kniefall vor den FARC“, aber als ernsthafte Maßnahme gegen den schmutzigen Krieg wird Pastrana die Entlassung der Generäle dennoch nicht darstellen können. In den von der Armee scharf kontrollierten Ortschaften um die entmilitarisierte Zone im Süden des Landes herum häufen sich die paramilitärischen Drohungen. Wenn das Gebiet der FARC weiterhin geräumt bleibe, werde man ins Gebiet der FARC vordringen und die Dorfbewohner massakrieren, kündigten die Todesschwadrone an.

Die sozialen Proteste nehmen wieder zu

Besonders katastrophal für Pastrana, von dem inzwischen nur noch 35 Prozent der KolumbianerInnen ein positives Bild besitzen, ist jedoch die Verschärfung der sozialen Probleme. Praktisch alle Wirtschaftsdaten sind rückläufig. Der kolumbianische Mittelstand, der in den vergangenen 20 Jahren auf das stabilste Wirtschaftswachstum des Subkontinents zählen konnte, ist am Verarmen. Das verarbeitende Gewerbe ist eingebrochen wie noch nie in der Geschichte. Die Industrieproduktion schrumpfte im Januar 1999 um 13,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, in der Automobilindustrie waren es gar 63 Prozent. Die Arbeitslosigkeit – wegen der hohen Dunkelziffern sowieso schwer zu registrieren – erreichte im April 19 Prozent, die Nachfrage nach Energie fiel um etwa den gleichen Wert.
Von sozialem Ausgleich will Pastrana schon gar nichts wissen. Die Reichtumsgegensätze wachsen enorm, und der Präsident ist weit davon entfernt, von der neoliberalen Politik seiner Vorgänger abzurücken. So ist es denn auch wenig überraschend, daß die Protestbewegungen wieder wachsen. Die Lehrergewerkschaft FECODE hat sich bei den letzten Wahlen spürbar radikalisiert und im April einen unbefristeten Streik aufgenommen. Staatsangestellte, StraßenverkäuferInnen, Schuldnerverbände und StudentInnen nahmen sich die Straße, zudem kam es im Nordosten des Landes erneut zu Bauernprotesten. Die Landbewohner errichteten in der Nähe Bucaramangas Straßensperren und forderten die Asphaltierung von Zufahrtswegen in ihre Dörfer.
Pastrana antwortete auf all diese Proteste nur mit der Entsendung von Truppen. Der noch im vergangenen August so gefeierte „Friedenspräsident“ hat sich verbraucht – keine Seite setzt mehr besondere Hoffnung in ihn. Korruptionsfälle und schwere Zerwürfnisse innerhalb des Kabinetts haben das Ansehen der Regierung stark erschüttert. So teilten viele BeobachterInnen, was der republikanische Abgeordnete des US-Bundesstaates Florida, Lincoln Diaz-Balart, gegenüber dem El Espectador erbost äußerte: „Pastrana ist ein Desaster, seine Regierung besteht aus Amateuren.“

Die Gewalt rückt ins Zentrum

Es ist Mittagszeit im Zentrum von Buenos Aires. Ohrenbetäubender Lärm dringt durch die Straßenschluchten der argentinischen Metropole. Die spätsommerliche Hitze treibt den in ihre Mittagspause strömenden Menschen den Schweiß auf die Stirn. Taxis haben die breiten Avenidas zur Rennstrecke auserkoren. An der Kreuzung langweilt sich ein dunkelblau gekleideter Polizist, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Schlagstock, Handschellen, Pistole, eine Unmenge von Taschen am Gürtel.
Marta Palma Echeverría hat gerade die Tür ihrer kleinen Bar in der Avenida Corrientes aufgesperrt. Schon seit Jahren führt sie gemeinsam mit vier anderen die Kneipe, eine Mischung aus Café und Restaurant. Bis der Koch kommt, möchte sie die Stühle von den Tischen gestellt haben, die Kasse überprüfen, einige Dinge vorbereiten. Wenige Minuten später erscheint Carolina, die nachmittags die wenigen Gäste bedient. Der größte Teil der Kundschaft kommt erst gegen Abend, wenn die porteños, wie die Bewohner der argentinischen Hauptstadt genannt werden, die zahlreichen Theater und Kinos auf dem Broadway von Buenos Aires aufsuchen und in das gegenüberliegende Kulturzentrum La Plaza, ins benachbarte Teatro Astral oder ins unweit entfernt liegende Teatro General San Martín gehen.

Überfall mit Angstschweiß

Beide Frauen stehen gerade an der Theke, als plötzlich zwei Jungen durch die Glastür in die Kneipe stürmen. Die beiden 15- bis 16jährigen fackeln nicht lange, einer von ihnen zieht eine Pistole unter seinem T-Shirt hervor, hält sie an Carolinas Stirn, schreit, Marta solle alles Geld herausrücken, das in der Kasse ist. Die Wirtin öffnet die Kasse, doch der andere der beiden, etwas kleiner, stößt sie beiseite, zieht die wenigen Geldscheine aus den Fächern. Er sagt nichts, über sein Gesicht rinnen Schweißperlen. Er hat Angst. Der andere brüllt, schubst Carolina weg, wartet auf seinen Kumpanen, der über die Theke springt. Beide rennen nach draußen. In wenigen Augenblicken ist alles vorbei, wie ein Film in Zeitraffer, und unversehens sind die zwei Halbwüchsigen in der Menge verschwunden.
Marta und Carolina haben Glück gehabt. Nicht immer kommen die Opfer der Überfälle, die in Buenos Aires in letzter Zeit stetig zugenommen haben, ungeschoren davon. Die zumeist jugendlichen Täter sind nicht nur fast immer bewaffnet, sie sind oft nervös oder stehen unter Drogen. Und viel schlimmer: Sie haben nichts zu verlieren. Die chorros, wie in Lateinamerika die Diebe genannt werden, kommen aus den Vorstädten, dort, wo in den villas miserias die Armut grassiert, viele Menschen arbeitslos sind und die Kinder keine Perspektive haben. Ihre Eltern können ihnen keine anbieten. Viele Frauen sind alleinerziehend, da sich der Mann aus dem Staub gemacht hat, weil er die Familie nicht ernähren kann. Oft kommen sie aus der Provinz, aus dem Nordwesten, aus Tucumán, Santiago del Estero, Salta oder San Salvador de Jujuy, wo die Arbeitslosigkeit noch höher liegt als in der Bundeshauptstadt und in der Provinz Buenos Aires. Oder sie sind Immigranten aus den noch ärmeren Nachbarländern Bolivien oder Paraguay, oder solche, die den weiten Weg aus Kolumbien oder Peru an den Río de la Plata gemacht haben, um sich am Stadtrand der 15-Millionen-Megalopolis niederzulassen, zwischen streunenden Hunden und Wellblechsiedlungen.
Die brasilianische Wirtschaftskrise hat Argentinien, das mit dem großen Nachbarn im Norden über den Mercosur, den gemeinsamen Markt, verbunden ist, schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit erlebte einen neuen Schub. Offiziell soll sie bei 14 Prozent liegen, in Wirklichkeit sind eher doppelt so viele Menschen ohne feste Arbeit. Und wer einen Job hat, bekommt wenig, 300 oder 500 Pesos im Monat – Peso und Dollar stehen immer noch im Verhältnis 1:1. In einer Stadt wie Buenos Aires, wo die Preise auf europäischem Niveau liegen, ist dies zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. „Feste Arbeit ist rar, dagegen blüht der informelle Sektor. Die Leute schlagen sich mit Gelegenheitsjobs oder als Straßenhändler durch“, sagt Natalia, die Jura an der Universität Buenos Aires studiert hat und jetzt Ledergürtel und -taschen im Centenario-Park vekauft. Davon kann sie einigermaßen leben, für große Sprünge reicht es nicht. Eine kleine Wohnung im Viertel Villa Crespo, Miete 300 Pesos ohne Nebenkosten, ein Fernseher auf Raten, Futter für die zwei Katzen, einmal Ausgehen im Monat, mehr nicht.
„Früher war die Stadt relativ sicher“, erzählt Natalia. Aber die Armut ist immer schlimmer geworden.“ Nicht nur die Unterschicht ist davon betroffen, mehr und mehr Leute aus der einst für südamerikanische Verhältnisse breiten Mittelschicht fallen durch das soziale Sieb und leben in Armut und Unsicherheit. „Unsere Politiker sind schuld“, sagt Natalias Freundin Graciela, die Räucherstäbchen verkauft. „Die belügen uns nur. Präsident Menem hat das Land in die Hände der Mafia gegeben, die staatlichen Unternehmen an das Ausland verscherbelt.“ Die neoliberale Wirtschaftspolitik von Carlos Menem und seiner Wirtschaftsminister Domingo Cavallo und Roque Fernández war erfolgreich – für die Reichen. Für die Armen und die Mittelschicht hieß das: Rückgang des Realeinkommens, Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität.

Argentinien lateinamerikanisiert sich

„Argentinien hat sich lateinamerikanisiert. Der Mittelstand verschwindet. War Buenos Aires einst eine der sichersten Millionenstädte Lateinamerikas, war die Straßenkriminalität eine Angelegenheit der kleinen Taschendiebe und Trickbetrüger, so sind die Räuber heute schwer bewaffnet“, weiß der Rechtsanwalt Ricardo Rosental. „Dazu kommt die ansteigende Drogenkriminalität.“
Cristian, der aus der nordöstlichen Provinz Missiones stammt, hat eine Arbeit als Kellner gefunden: „In der Provinz gab es keine Arbeit. Meine fünf Brüder und ich lungerten nur herum oder drehten krumme Dinger, kleine Diebstähle oder Drogendeals. Wir waren richtige kleine chorros. „Eduardo Duhalde ist oberster Chef der Provinzpolizei und gleichzeitig einer der wichtigsten Leute im Drogenhandel“, sagt Cristian. Er meint den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der sich für die Präsidentschaftswahlen am 24. Oktober bewirbt. Bis dahin muß Duhalde noch die internen Wahlen der peronistischen Regierungspartei, der Partido Justicialista (PJ), überstehen und gegen Menems Favoriten Ramón Ortega antreten – auch der Ex-Formel-1-Fahrer Carlos Reutemann war zeitweise im Gespräch. Und Menem setzt alle Hebel in Bewegung, um durch einen Beschluß des obersten Gerichts zum dritten Mal antreten zu dürfen. Dann kann sich der Kandidat der PJ erst mit dem Gegenkandidaten messen, dem Bürgermeister von Buenos Aires, Fernando De la Rua, von der eher sozialdemokratisch orientierten Unión Cívica Radical, der ältesten Partei Argentiniens. De la Rua setzte sich in den Vorwahlen des Oppositionsbündnisses Alianza gegen Graciela Fernández Meijide von der Bürgerrechtsbewegung FREPASO durch, Mutter eines während der Militärdiktatur Verschwundenen.

Kein Vertrauen in Politik und Polizei

Natalia, Graciela, Marta, Carolina, Ricardo und Cristian: Sie alle sind für Meijide oder De la Rua. Duhalde schenken sie kein Vertrauen. „Er gibt sich jetzt sozial, eröffnet Schulen und zeigt sich bei jeder Gelegenheit. Aber er ist ein Wolf im Schafspelz“, sagt Natalia. Graciela pflichtet ihr bei: „Die Provinzpolizei ist eine der größten Verbrecherbanden des Landes.“ Die Polizei der Provinz Buenos Aires ist berüchtigt für ihre Korruption und für ihre Skandale: Die Polizei war verwickelt in die Attentate auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum 1994 mit über hundert Toten, wenn nicht gar selbst Täter und Auftraggeber.
„Wie können wir der Polizei vertrauen, wenn sie selbst kriminell oder zumindest unfähig ist“, mein Natalia. Die Polizei ist zudem hilflos gegen die geballte Explosion der Kriminalität. Eine Hilflosigkeit, die sich in Schießwut ausdrück: Täglich liest man, daß einer der chorros, der Diebe, erschossen worden ist von einem Polizeibeamten. Und das löst Gegengewalt aus: Einem Autofahrer wurde in den Kopf geschossen, als er an einer Kreuzung hielt und sich weigerte, seine Armbanduhr einer Gruppe von Jugendlichen zu geben; dem Gast in einem Café wurde eine tödliche Kugel verpaßt, als er bei einem Überfall selbst zur Waffe greifen wollte.
Nach einer Untersuchung des argentinischen Justizministeriums sind 40 Prozent der Einwohner von Buenos Aires im vergangenen Jahr Opfer von Einbrüchen oder Überfällen geworden. Folge sind Ohnmacht und Resignation. Die Wut vieler Menschen richtet sich nicht nur auf die Regierenden, sondern auf die noch Schwächeren: Die Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Einwanderern aus den Nachbarstaaten hat zugenommen – was die Regierung gerne aufgreift. Sie legte kürzlich ein neues Gesetz gegen illegale Immigranten vor. Und die Polizei macht Jagd auf die Illegalisierten. Kriterien sind: dunkle Haut, schwarze Haare und indianisches Aussehen. Die politische Opposition im Parlament hüllt sich in Schweigen. Und Menem sammelte mit seiner harten Linie Pluspunkte im Kampf um eine Verfassungsreform, die vor allem ein Ziel hat: ihm eine erneute Kandidatur zu ermöglichen.
Derweil befassen sich die Medien ausführlich mit dem Thema Kriminalität. Andrea Rodríguez von der neuen kritischen Wochenzeitschrift veintiuno (einundzwanzig), die von dem von Página 12 kommenden Jorge Lanata gegründet wurde, sprach mit dem ehemaligen Chef der New Yorker Polizei, William Bratton, der am Río de la Plata zu Gast war. Sowohl Menem als auch De la Rua liebäugeln mit dem New Yorker Modell der „Nulltoleranz“, das in Nordamerikas Big Apple mitverantwortlich für den Rückgang der Kriminalität war – eine Politik, deren Kehrseite auch eine weit ausufernde polizeiliche Brutalität war.
Bratton antwortete auf die Frage der Übertragbarkeit der „Nulltoleranz“ auf Buenos Aires mit dem Hinweis, daß seine Vorgehensweise nicht umzusetzen sei: „Die Kriminalität sinkt nicht, solange es Korruption bei der Polizei gibt. In New York gibt es keine Gratis-Pizza als Schutzgeld für Polizisten.“ Die Löhne und Gehälter der Polizisten müßten angemessen sein. Bratton vergaß zu sagen, daß der Rückgang der Kriminalität in New York auch am wirtschaftlichen Wiederaufschwung und der verbesserten Arbeitsmarktsituation lag, eine Perspektive, die für argentinische Verhältnisse momentan utopisch scheint.
Marta steht noch unter dem Schock des Überfalls. Zwei Polizisten, die mit heulende Sirene angekommen waren, nehmen desinteressiert die Personalien auf und registrieren den Tathergang. Eine Chance auf Aufklärung besteht nicht. Marta zittert. Nur langsam schöpft sie wieder Kraft, um weiterzuarbeiten. Die ersten Gäste kommen. Sie sagt: „Wir müssen weitermachen. In unserem Land gibt es so viele arme Menschen, denen es an Geld, Bildung und an einer guten Regierung fehlt. Hoffentlich wird es irgendwann mal anders. Am schlimmsten ist die fehlende Aussicht auf Verbesserung.“

Die Bevölkerung schließt sich ein

Ricardo, der Rechtsanwalt, hat den Eingang zu seiner Dachterrasse im Stadtviertel Palermo Viejo mit einem Gitter versehen. Er meint: „Jeder muß damit rechnen, daß er überfallen wird. Wir schließen uns allmählich ein in unseren Wohnungen, leben in einem goldenen Käfig, wie es in brasilianischen Städten schon lange üblich ist. Buenos Aires ist dabei, Rio als gefährlichste Stadt im Mercosur zu überholen.“ Selbstkritisch fügt Ricardo hinzu: „Wir glaubten immer, wir seien eine europäische Exklave auf einem anderen Kontinent. Nun steht Lateinamerika mit all einen Problemen vor der Tür: Willkommen, Lateinamerika.“

Proteste gegen die Regierung

“Wir sind hier Zeugen eines wirtschaftlichen Flächenbrandes“, kommentierte ein Mitglied der sozialdemokratischen Partei Ecuadors in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País die wirtschaftliche Krise in dem Andenstaat. Ein Statement, das in den letzten Wochen von vielen Seiten zu hören war, und nun hat die tiefe Finanzkrise der lateinamerikanischen Märkte nach Brasilien und Peru Anfang Februar auch Ecuador erfaßt. Die Subventionen der internationalen Finanziers für die betroffenen Staaten des Subkontinentes wirken dabei wie ein Tropfen auf den heißen Stein, haben doch selbst die milliardenschweren IWF- und Weltbankhilfen an Brasilien kaum Abhilfe schaffen können. So auch im Fall Ecuadors.
Erst im Oktober 1998 waren von der Beilegung des langjährigen Grenzkonfliktes zwischen Ecuador und Peru positive Impulse zur Stabilisierung der ecuadorianischen Wirtschaft ausgegangen, zumal die Vereinigten Staaten, internationale Kreditinstitute und die wirtschaftlich führenden Staaten Lateinamerikas massiven Druck auf die beiden Präsidenten Jamil Mahuad und Alberto Fujimori ausgeübt hatten, den Friedensvertrag nun endlich zu unterzeichnen. Schließlich stand dieser Konflikt der Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone „von Feuerland bis Kanada“, so wie sie sich US-Präsident Clinton wünscht, grundlegend entgegen. Mit der jüngsten ecuadorianischen Krise ist dieser Traum für Clinton jedoch wohl noch weiter in die Ferne gerückt.

Kein Centavo für Waffen

Noch Anfang Februar hatte Clinton 40 Millionen Dollar für „gemeinsame grenzüberschreitende Projekte“ in Ecuador und Peru bewilligt. „Die Gelder“, so erklärte der US-Präsident nach einer Unterredung mit Mahuad und Fujimori im Weißen Haus, „sollen zur Ansiedlung von Kleinbetrieben im Grenzgebiet, zur Unterstützung lokaler Gemeinden und einem Friedenspark dienen.“ Zudem seien Gesundheitsprojekte angedacht. Am Rande des Treffens in Washington versprachen Mahuad und Fujimori der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IaDB), die Rüstungsausgaben beidseitig zu reduzieren. „Kein einziger Centavo“, erklärte Mahuad willig, „soll in den nächsten Jahren für Waffen ausgegeben werden.“ Zuletzt griffen Peru und Ecuador 1995 zu den Waffen. Als Gegenleistung für die Unterzeichnung des Friedensabkommens wurde ihnen auch von verschiedenen Geberorganisation Finanzhilfe in Aussicht gestellt. Neben einem rund drei Milliarden Dollar schweren Entwicklungsprogramm für das ehemalige Kriegsgebiet will die US-amerikanische Regierung in den kommenden zehn Jahren weitere 500 Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IaDB) und der Anden-Entwicklungsgesellschaft (ADC) wurden den beiden Staaten ebenfalls Zusagen über jeweils rund 500 Millionen Dollar gemacht, und auch die Weltbank, die Europäische Union und Japan haben ihre Beteiligung angekündigt.
Dieses Ambiente der Zuversicht wurde nur einen Tag danach, am siebten Februar, durch die Nachricht von gewaltsamen Demonstrationen gegen die Wirtschaftspolitik in Ecuador jäh erschüttert. Der Protest gegen Mahuads umfassende Maßnahmen zur Sanierung des Staatshaushaltes hatte seit seinem Amtsantritt im August letzten Jahres stetig zugenommen und gipfelte Ende der ersten Februarwoche schließlich in gewaltsamen Protesten. Die Gewerkschaften drohten für den 20. Februar mit dem Generalstreik, falls der Präsident die Sparmaßnahmen bis dahin nicht zurücknehme, machten ihre Drohung aber erst Ende der ersten Märzwoche war. Vor allem die Einstellung staatlicher Subventionen für die Strom- und Gaspreise, die zu einem kurzzeitigen Preisanstieg von bis zu 400 Prozent geführt hatten, waren Anlaß der Proteste. Der Ölpreisverfall an den internationalen Märkten hatte die Finanzkrise Ecuadors massiv verschärft: Öl ist das wichtigste Exportgut. Außerdem leidet das Land noch immer unter den Milliardenschäden, die das Klimaphänomen El Niño verursachte. Neben diesen Maßnahmen wurden die Gehälter öffentlicher Bediensteter eingefroren und eine zuvor bewilligte Gehaltserhöhung für Lehrer zurückgenommen. Es seien „schmerzliche, aber notwendige Maßnahmen“, rechtfertigte Jamil Mahuad die Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung. Ziel sei, das 1,5 Milliarden Dollar umfassende Haushaltsdefizit zu reduzieren und die Inflationsrate zu senken. Zuletzt erreichte die Inflation 43 Prozent und stand damit in Lateinamerika an der Spitze.

Der Sucre im freien Fall

Ob die Unterstützung der internationalen Finanziers nun „zu spät“ kam, wie ein Sprecher der IaDB äußerte, oder „im Umfang zu gering“ waren, wie es Jamil Mahuad bemängelte, änderte am Resultat nichts. Als die ecuadorianische Zentralbank Mitte Februar den Kurs der Landeswährung freigab, stürzte der Sucre innerhalb weniger Stunden um mehr als ein Zehntel ab. Im Devisenhandel der Hauptstadt Quito rutschte der Sucre von 7380 je Dollar auf einen Wert von 10000 Währungseinheiten je Dollar. Am Abend des Tages wurde ein „relativ stabiler Wert“ von 8200 Sucres für einen Dollar bekanntgegeben. Das entspricht einer de-facto-Abwertung von 11 Prozent. Erst einen Tag zuvor hatte Jamil Mahuad den Rücktritt des Finanzministers Fidel Jaramillo bekanntgegeben, der für die von Mahuad eingeleiteten Wirtschaftsreformen verantwortlich gemacht wurde.

Mord auf offener Straße

Doch nicht nur die wirtschaftliche Misere heizte in diesen Tagen die Stimmung in der Bevölkerung an. Am 17. Februar wurden in der Nähe des Parlamentsgebäudes in Quito zwei der führenden linken Oppositionspolitiker erschossen. Jaime Hurtado und Pablo Tapia von der Demokratischen Volksbewegung (MPD) waren zu Fuß unterwegs, als ein Unbekannter das Feuer auf sie eröffnete und unerkannt entkommen konnte. Noch am Morgen des Tages hatte der 62jährige Hurtado, dreifacher Familienvater und Vorsitzender der MPD, die Sparmaßnahmen der Regierung öffentlich kritisiert. Im Anschluß an die Tat kam es in der Nähe des Parlamentes zu Unruhen, die von der Polizei äußerst brutal mit Schlagstöcken und Tränengas zerschlagen wurden. Innenminister Vladimiro Alvarez beeilte sich, die Morde zu verurteilen und kündigte „umfassende Untersuchungen“ an. Besonders in der Hauptstadt Quito schlug die Stimmung nach dem Mordanschlag gefährlich um, weshalb verschiedene Menschenrechtsorganisationen eine Woche später zu einem „Marsch für das Leben“ gegen den sich abzeichnenden Gewaltausbruch aufriefen. Die Bevölkerung müsse sich bewußt werden, warnte ein Sprecher der lateinamerikanischen Menschenrechtsvereinigung ALDHU, daß das Land Gefahr laufe, eine ähnliche Eskalation wie in Kolumbien oder Peru zu erleben.
Elsie Monje von der Ökumenischen Menschenrechtskommission CEDHU erklärte: „Sollte es sich bewahrheiten, daß Hurtado und seine zwei Begleiter gezielt ermordet wurden, dann wäre das ein Zeichen für eine beunruhigende Zunahme der Gewalt.“ Wie der im November ermordete Gewerkschaftsführer Saul Cenar habe auch der Parlamentsabgeordnete und vormalige Präsidentschaftskandidat Hurtado sich besonders für die Interessen der Bevölkerung eingesetzt. Mitglieder der MPD äußerten offen Beschuldigungen gegen die christdemokratische Regierung Mahuads. Wenige Tage später wurde ein Kolumbianer festgenommen, der einer kolumbianischen paramilitärischen Vereinigung angehören soll und sich an Hurtado habe rächen wollen, weil dieser die Guerilla im Nachbarstaat unterstützt hatte. Beweisen konnte man dies letztlich jedoch nicht.
Noch während sich die Lage auf den ecuadorianischen Straßen zu beruhigen schien, kam die Hiobsbotschaft. Der Sucre erlitt am dritten März erneut einen empfindlichen Kursverlust. Ein Dollar entsprach nun bereits 16000 Sucres – eine Realabwertung von 55 Prozent. Am ersten März hatte der brasilianische Real bereits deutlich an Wert verloren und mehrere lateinamerikanische Währungen mit sich in den Strudel gezogen. Um eine weitere Flucht aus der Währung zu verhindern wurde die Hälfte der nationalen Dollarguthaben für die Dauer von einem Jahr eingefroren und die Banken kurzerhand für zunächst einige Tage geschlossen, was aber mit Hilfe von neu eingeführten „Bankfeiertagen“ noch ausgeweitet wurde, da sich noch immer keine Stabilisierung der monetären Fluktuationen abzeichnete.

Verhängung des Ausnahmezustands

Angesichts der schweren Finanzkrise und der immer noch aufrechterhaltenen Drohung der Gewerkschaften, den Generalstreik auszurufen, reagierte Präsident Mahuad panisch und verhängte eine Woche später, am zehnten März, den Ausnahmezustand. Für 60 Tage wurde die Versammlungsfreiheit per Dekret eingeschränkt. Streikende wurden aufgefordert, zu ihren Arbeitsplätzen zurückzukehren, bei andauernden Arbeitsniederlegungen wurde der Armee das militärische Interventionsrecht gewährt. Innenminister Alvarez erklärte, die Regierung habe auf „illegale Arbeitsniederlegungen“ reagieren müssen, weil diese eine „schwere destabilisierende Wirkung“ gehabt hätten. Das Militär, so fuhr er fort, habe vor allem die Aufgabe, die Ölfördereinrichtungen und Elektrizitätswerke zu sichern. Die Regierung kündigte an, einen „Plan zur Bewältigung der Krise“ vorzustellen. Kritiker warfen dem Präsidenten verständlicherweise fehlende Sensibilität im Umgang mit den Ängsten in der Bevölkerung vor. Bereits Mitte der ersten Märzwoche war es zu Panikreaktionen in der Bevölkerung gekommen, als ein Regierungsvertreter äußerte, daß ein Zwangsumtausch der vorhandenen Dollarguthaben in die Landeswährung möglich sei.

Der Caipirinha-Effekt wirkt bis in die Anden

Nach Einschätzung des Präsidenten der ecuadorianischen Vereinigung der Privatbanken verlor die Regierung im Augenblick der Bankenschließung die Kontrolle über das Land. Wenn sie nicht grundlegende Probleme anpacke, dann steuere Ecuador auf eine Katastrophe zu. Die Gewerkschaften ließen sich nicht beirren. Sie riefen für den neunten und zehnten März den Generalstreik aus. Der Protest richtete sich nach wie vor gegen die Erhöhung des Treibstoffpreises, der durch die Streichung der staatlichen Subventionen für Öl und Gas verursacht wurde.

Opfer auch in Führungskreisen

Während des zweitägigen Generalstreiks kam es vor allem in den Städten zu massiven Zusammenstößen zwischen DemonstrantInnen und Polizei bzw. Armee. Nach Polizeiangaben wurden an den beiden Tagen insgesamt 324 Personen festgenommen. Geschäfte und Schulen blieben geschlossen. Parallel zu den Protesten erklärten vier der fünf Mitglieder des Direktoriums der Zentralbank von Ecuador aus Protest gegen das Sparpaket ihren Rücktritt. Ungeachtet der Konsequenzen verkündete Mahuad unbeeindruckt in einer Fernseh- und Radioansprache, er werde an den Sparmaßnahmen festhalten und weitete diese sogar noch aus. Die Mehrwertsteuer soll von zehn auf fünfzehn Prozent erhöht, die öffentlichen Ausgaben um mindestens 300 Millionen Dollar gekürzt werden. Gegen Steuerhinterzieher seien drastische Maßnahmen geplant.
Nach Beendigung des Generalstreikes stellten wiederum die Erdölarbeiter aus Protest gegen die angekündigte Privatisierung der staatlichen Erdölunternehmen die Beförderung von 325.000 Barrel Rohöl durch die einzige Pipeline des Landes ein. Die Taxifahrer in Quito schlossen sich an und versperrten in der Hauptstadt aus Protest gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise die Straßen. Obwohl die Polizei gegen eine Straßensperre in der Nähe des Regierungspalastes mit Tränengas vorging, konnte sie die Straße nicht räumen. Zum ersten Mal trafen sich Regierungsvertreter mit Sprechern der DemonstrantInnen. Innenminister Alvarez sagte, die Regierung sei gesprächsbereit, lasse sich aber nicht erpressen. Und doch lenkte sie wenige Tage später ein. Am 18. März hob Mahuad nicht nur den Ausnahmezustand, sondern auch die Erhöhung der Treibstoffpreise auf. Amtlichen Angaben zufolge hatte er sich kurz zuvor mit dem Kongreß darauf verständigt, „zur Bewältigung der derzeitigen Finanzkrise“ die Steuereinnahmen um 520 Millionen Dollar zu erhöhen. Mit 59 Für- und 41 Gegenstimmen bei fünf Enthaltungen verabschiedete der Kongreß den Maßnahmenkatalog, der darüber hinaus Zoll- und Mehrwertsteuerbefreiungen aufhebt, eine Steuer auf Luxusautos einführt, den Erdölpreis um zwei Dollar pro Barrel erhöht und zugleich Steuern auf Wechselkursgewinne und Kapitalerträge vorsieht. Zugleich wurden den Lehrern die zuvor gestrichenen Gehaltserhöhungen zugesagt.

Der Präsident appelliert an die Bevölkerung

Für das Paket stimmte neben der Regierungspartei auch ein breites Mitte-Links-Bündnis. Mahuad äußerte sich „sehr zufrieden“ über die Beilegung des Konflikts. Er rechtfertigte sein ursprüngliches Sparprogramm und wies jegliche Schuldzuweisungen von sich. Er sei „gezwungen worden, die Preise für Benzin zu erhöhen, nicht, weil ich den Menschen Probleme verursachen wollte , sondern weil Ecuadors Krise so groß ist, daß wir Einnahmen brauchen, um unseren Schuldendienst zu leisten“. „Hiermit rufe ich das Land auf, zu Frieden und Normalität zurückzukehren“, sagte er in einer erneuten Ansprache an die Bevölkerung. Mit dem neuen Reformpaket wurden die „schwersten Proteste des Landes seit mehreren Jahrzehnten“ zwar vorerst beendet, nicht aber die Krise. Kaum waren die Menschen wieder zur „Normalität“ zurückgekehrt, trat der Handelskammerpräsident Javier Espinoza bereits mit der Forderung an die Öffentlichkeit, man müsse die Privatisierungen nun vorantreiben, um die Wirtschaft zu modernisieren.
Nach letzten Meldungen wird Ecuador von einem neuen Bankenkrach erschüttert. Mit der Banco de Progreso hat am 23. März innerhalb von nur vier Monaten nun das achte Geldinstitut seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Der Konkurs dieses wie auch der anderen sieben Kreditinstitute konnte nur durch eine Übernahme aller Schulden durch einen staatlichen Einlagensicherungsfonds (AGD) abgewendet werden. Der Präsident der Banco de Progreso beschuldigte die Regierung zuvor, die Bank durch den Abzug staatlicher Einlagen „absichtlich in den Ruin getrieben“ zu haben.

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