Hilfe! Polizei!!!

Mittwoch, 12. Februar 1987 in Guatemala Stadt: Vor dem Präsidentenpalast fahren 55 Funkstreifenwagen und 60 Motorräder der Marke BMW sowie 5 Autobusse der Marke Mercedes-Benz auf. Fünf Millionen Mark kostete das Geschenk der deutschen Bundesregierung an die guatemaltekische Polizei. Überbracht wurde es vom damaligen deutschen Botschafter Peter Bensch, ein enger Freund des guatemaltekischen Ex-Diktators General Mejía Victores. Kurze Zeit später treffen die ersten guatemaltekischen PolizistInnen „zu Ausbildungszwecken“ in Deutschland ein, darunter auch der damalige Chef der Nationalpolizei, ein Armeeoberst. Für dieses Programm sind weitere 5,6 Millionen DM der bundesdeutschen Polizeihilfe für Guatemala vorgesehen. Von Anfang an begleiteten laute Proteste in der bundesdeutschen Öffentlichkeit das Projekt: Schwerste Menschenrechtsverletzungen waren auch während der Fassadendemokratie unter dem zivilen Präsidenten Cerezo an der Tagesordnung. Die Spuren der Verbrechen wiesen immer wieder deutlich in die Richtung der eng mit dem Militär verknüpften zivilen Sicherheitskräfte und Geheimdienste. Skandalös war das deutsche Polizeihilfeprojekt zudem, da die Gelder aus dem Entwicklungshilfeetat des BMZ stammten. Seit 1962 fließt die Ausstattungshilfe für zivile wie militärische Sicherheitskräfte im Ausland in der Regel aus den Taschen des Außen-, Verteidigungs- oder Innenministeriums. Begünstigt wurden und werden Länder, in denen gefoltert wird: Nigeria, Indonesien, die Türkei, Kolumbien, das ehemalige Zaire, Äthiopien, und eben zwischen 1986 und 1991 auch Guatemala. Die Interessen der deutschen Regierung sind dabei eindeutig: Die „Hilfe“ soll die Loyalität der Sicherheitsapparate dieser Länder zu Deutschland bzw. zum Westen sicher stellen, sie dient als Türöffner für deutsche Technologie und Wirtschaftsinteressen in den Empfängerländern, und sie bedient schließlich eigene sicherheitspolitische Interessen an einer engeren Zusammenarbeit zur weltweiten Verbrechensbekämpfung.

Autos und Motorräder für die Militärs

Daß die guatemaltekische Polizei auf Kosten des Entwicklungshaushaltes der Bundesrepublik BMW-Motorräder fahren durfte, war also ein Sonderfall. Eilig versuchte man sich im BMZ zu rechtfertigen, es handele sich ja im wesentlichen um eine Ausbildungshilfe und nur in geringem Maße um eine Hilfe zur Austattung der Polizei. Im November 1986 fällte dann der Bundestag einen Haushaltsbeschluß, der Polizeihilfe aus Entwicklungshilfegeldern für die Zukunft verbot.

Der neue Trend heißt Frieden schaffen…

Der Fall Guatemala war jedoch schon vorher beschlossene Sache. Eingefädelt wurde das Projekt nach gelungener Vorarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung vom damaligen Entwicklungshilfeminister Warnke (CSU), Innenminister Zimmermann (CSU) und dem heutigen Entwicklungsminister Spranger (CSU), der kurz zuvor als Staatssekretär des Innenministeriums Guatemala besucht hatte. Während die inner- und außerparlamentarische Opposition in ihrem Protest nicht nachließ und endlich im Oktober 1990 im Auswärtigen Ausschuß immerhin den Beschluß durchsetzen konnte, die Polizeihilfe an Guatemala „auslaufen“ zu lassen, rang sich die Regierung erst im Februar 1991 dazu durch, die Unterstützung an die Polizei auch tatsächlich abzubrechen. Anlaß war ein neuerliches Massaker des Militärs zusammen mit örtlichen Sicherheitskräften an 13 Indígenas in Santiago Atitlán im Dezember 1990. Rund neun Millionen DM waren bis dato ausgezahlt worden!
Also wurde umgesattelt. Der neue, „gefälligere“ Trend des BMZ im sich befriedenden Mittelamerika hieß Förderung der Menschenrechte. Die restlichen 1,4 Millionen DM sollten, so die Auskunft des BMZ von Januar 1994, in die Unterstützung des guatemaltekischen Menschenrechtsbeauftragten gehen. Dieser erhielt in den darauffolgenden Jahren ca. 400.000 DM.
Auch das erzbischöfliche Menschenrechtsbüro, dessen Leiter Weihbischof Gerardi im April diesen Jahres ermordet wurde, erhielt eine Zusage über 1,4 Millionen DM aus Mitteln der technischen Zusamenarbeit. Wurden also aus der Vergangenheit Lehren gezogen?
Als Entwicklungsminister Spranger im Februar diesen Jahres von seiner Guatemalareise zurückkam, beschäftigte ihn laut Pressemeldungen vor allem die Frage, „warum Deutschland nicht auch bei Aufbau und Ausbildung der (nach Friedensschluß geschaffenen, Anm.d.Red.) neuen Polizeitruppe mithelfen“ solle. Erneut scheint er von der Mär einer „neuen Polizei“ überzeugt, ohne daß es in der Zwischenzeit personelle Auslesen oder ernsthafte Untersuchungen über die andauernden Verbindungen zwischen zivilen und militärischen Sicherheitskräften in Guatemala gegeben hätte.

…aber ohne Waffen?

„Gerade eine rechtsstaatliche Polizei, wie wir sie in Deutschland haben, bietet sich als Partner im Bereich der Rechtssicherheit besonders an,“ hieß die altbekannte Rechtfertigung aus dem BMZ. Und weiter: Ein neues Projekt der Polizeihilfe würde wesentlich zu Rechtsstaatlichkeit und Garantie der inneren Sicherheit in Guatemala beitragen.
Wegen der bestehenden Beschlußlage im Haushaltsausschuß des Bundestages sei ein konkretes bilaterales Projekt aus Mitteln des BMZ derzeit allerdings nicht vorgesehen.
Nun gut, für die Zwischenzeit gibt es ja noch die „Hilfe“ aus den Etats der anderen Ministerien…

Gender – ein leiser Kulturwandel ?

Bei Frauen bewirken die Gender-Fortbildungen häufig eine Bewußtwerdung der eigenen Stärken, während Männer meistens mit Abwehr auf das Thema reagieren“, so schildert Sara Hilarión, Psychologin und Gender-Trainerin aus Bogotá, die Reaktionen auf ihre Arbeit. Die Ausbildung zur Gender-Trainerin erhielt sie in einem dreiwöchigen Seminar, das die kolumbianische Gleichstellungsbehörde in Zusammenarbeit mit dem Projekt “Proequidad” der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) durchgeführt hat. Insgesamt wurden in den Seminaren 60 Gender-TrainerInnen ausgebildet (darunter 4 Männer), die aus verschiedenen Regionen Kolumbiens stammen und nun als ‘lokale ExpertInnen’ fungieren. Sie bieten den MitarbeiterInnen von NROs und staatlichen Institutionen Fortbildungen an, die letztendlich darauf abzielen, daß die Organisationen geschlechterdifferenzierend arbeiten, d.h. in ihrer Arbeit die unterschiedlichen Bedürfnisse und Problematiken von Männern und Frauen beachten. Je nach Interesse und Nachfrage einer Organisation führt ein/e Gender-TrainerIn Sensibilisierungskurse mit den MitarbeiterInnen durch oder auch langfristige Projektberatungen, bei denen innerhalb der Organisation MultiplikatorInnen ausgebildet und neue Arbeitskonzepte entwickelt werden.
Nur wenige der 60 ausgebildeten Gender-TrainerInnen können von der Durchführung der Fortbildungen leben, die meisten haben ein zweites berufliches Standbein. Sie arbeiten bspw. als Dozentin an der Uni oder sind MitarbeiterInnen in einer NRO, denn der Arbeitsmarkt als Gender-TrainerIn ist unbeständig und regional sehr verschieden. Während die Gender-TrainerInnen in Bogotá und Medellín relativ viele Angebote bekommen, sieht es insbesondere in den ‘entlegeneren’ Regionen wie etwa an der Karibikküste eher mager aus.
Daß überhaupt ein Arbeitsmarkt für die Gender-TrainerInnen existiert, läßt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: Auf der einen Seite wurden 1991 mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung die Weichen – zumindest formal – zugunsten der Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frau in Kolumbien gestellt. Die neue Verfassung spricht sich explizit gegen die Diskriminierung von Frauen aus und erklärt u.a. den Staat dafür verantwortlich diese zu vermindern. Als die kolumbianische Regierung 1994 zusätzlich die erste integrale Frauenpolitik – „Politik zur Gleichberechtigung und Partizipation von Frauen“ – verabschiedete, wurde es Zeit, sich tatsächlich darüber Gedanken zu machen, wie diese nun konkret in den staatlichen Institutionen umzusetzen sei. Für die Erarbeitung neuer Arbeitsmethoden bedurfte es professioneller Beratung – Arbeit für eine Gender-Trainerin.

Gender – das “Sesam öffne dich” …

Auf der anderen Seite ist die Nachfrage nach Gender-Fortbildungen von Seiten der NROs ebenfalls erheblich gestiegen. In den meisten Fällen hängt dies mit den internationalen Finanzgeberorganisationen zusammen. Steht Gender als derzeitiges „Sesam öffne dich“ des entwicklungspolitischen Geschehens nicht in den Projektanträgen der NROs, bleiben die Pforten für die Gelder in der Regel verschlossen. Wer also finanzielle Unterstützung aus dem Ausland will, sollte zumindest wissen, was ‘Gender’ ist und diesen Begriff auch ab und zu einmal in den Projektanträgen fallen lassen. Bisweilen bekommt eine NRO die Gender-Fortbildung von ihrer Finanzgeberorganisation auch direkt aufgedrückt. So schildert es zumindest eine Mitarbeiterin von „Penca de Sábila“, einer umweltpolitisch arbeitenden NRO in Medellín. Die MitarbeiterInnen ihrer Organisation haben eigentlich nur an der Gender-Fortbildung teilgenommen, weil es die holländische Finanzgeberorganisation gefordert habe. Für sie sei der Gender-Ansatz ein politischer Rückschritt, denn „Penca de Sábila“ habe sich bislang radikaler für Fraueninteressen eingesetzt als dies der Gender-Ansatz impliziere. Häufig verbindet sich natürlich das Eigeninteresse einer NRO an einer Gender-Fortbildung mit den Interessen der finanziell unterstützenden Partnerorganisation.
Daß die TeilnehmerInnnen auf eine Gender-Fortbildung überwiegend positiv reagieren, ist eher die Ausnahme. Im Gegenteil, so berichten viele Gender-TrainerInnen, gebe es auch viel negative Reaktionen auf ihre Arbeit. Besonders am Anfang seien die TeilnehmerInnen häufig angespannt und unsicher. „Einige machen Witze, um den Status des Themas zu verringern, andere weigern sich aktiv teilzunehmen und wieder andere labern einfach herum, ohne sich auf das Thema einzulassen (…) und“, so betont Sara Hilarión, „je intellektueller die Leute sind, desto mehr Angst haben sie vor dem Thema“.
Wechselt man die Seite und fragt bei den MitarbeiterInnen derjenigen staatlichen Institutionen und NROs nach, die an einer Gender-Fortbildung teilgenommen haben, was es ihnen gebracht habe, so erhält man oft folgende Auskünfte: Die Fortbildung habe sowohl auf der persönlichen als auch der professionellen Ebene ein Umdenken in Gang gesetzt.

Von Nonnen und Agrarfunktionären

Eine Nonne, die eine Mädchenschule in Bogotá leitet, berichtet, sie habe sich anfangs gegen dieses Konzept gesträubt. Es sei ihr schwergefallen, umzudenken. Mittlerweile könne sie dem Konzept aber etwas abgewinnen. Das Arbeitsteam der Schule sei jetzt auf der Suche nach Wegen, den Mädchen einen ‘natürlicheren’ Zugang zum anderen Geschlecht zu ermöglichen, denn durch die strikte Geschlechtertrennung hatten sich die Mädchen oft nach Beendigung der Schule sofort dem ‘erstbesten’ Mann an den Hals geworfen. Dieses Umdenken sei ein Beispiel für die Ergebnisse der Gender-Fortbildung.
In Santa Marta, an der Karibikküste Kolumbiens, schildert ein Funktionär des Agrarwirtschafts-Sekretariats der Landesregierung von Magdalena die Auswirkungen der Gender-Fortbildung folgendermaßen: Die Arbeit im Agrarbereich sei traditionell sehr männlich geprägt. In seinem Sekretariat arbeite keine einzige Frau und die Arbeit richte sich meist ausschließlich an die Bauern. Jetzt wolle er sich zunächst einmal daran machen, seine Kollegen dafür zu sensibilisieren, mehr darauf zu achten, welche Rolle die Frauen in der Landwirtschaft spielen und wie sie besser in die Arbeitskonzepte des Sekretariats eingebunden werden könnten. Er habe zwar ziemliche Angst davor, daß ihn seine Kollegen auslachen, aber versuchen wolle er es trotzdem.

Leichter gesagt als getan

Von Schwierigkeiten mit der konkreten Umsetzung des Genderansatzes berichten die MitarbeiterInnen der Organisationen natürlich auch. Oft fehle der politische Wille, aus Worten Taten werden zu lassen; oft bestehe bereits innerhalb der Organisation das übliche Macht- und Hierarchiegefälle zwischen Männern und Frauen, und es stelle sich die Frage, wie dann in einer glaubwürdigen Weise nach außen hin geschlechterdifferenzierend gearbeitet werden könne.
Manchmal stagniert die Umsetzung auch einfach aufgrund der Schwierigkeit, das abstrakte und theoretische Konzept mit konkreten Inhalten zu füllen. So fragt sich ein Mitarbeiter der “Stiftung zur Förderung von Bildung und Kleinindustrie” (FEPI) in Medellín, die pädagogische und ökonomische Programme zur Verbesserung der Lebensqualität der Barrio-BewohnerInnen anbietet, was es bedeute, einen Alphabetisierungskurs ‘gendergerecht’ aufzuziehen. In der ebenfalls in Medellín ansässigen NRO „Conciudadania“, die sich um die politische Beteiligung der BürgerInnen in den Kommunen bemüht, wird die Frage gestellt, wie die Organisation die politische Partizipation von Frauen fördern könne, wenn diese sich so selten an den angebotenen Programmen der Organisation beteiligen.
Schwierigkeiten bei der konkreten Anwendung des Genderansatzes gibt es also genug, aber es wäre wohl auch zu viel erwartet, wenn Umdenkungsprozesse und die Umstrukturierung von Arbeitskonzepten von heute auf morgen vonstatten gingen. Das wird wohl seine Zeit dauern, und ob sich der Genderansatz in den staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen durchsetzt, bleibt abzuwarten. So schätzt dann auch die Leiterin des GTZ-Projektes „Proequidad“ die Lage ein: „Ich würde also wirklich behaupten, daß das Thema in bestimmten Ländern oder Institutionen ins Rollen gekommen ist, daß zwar noch unheimlich viel zu tun ist, daß es aber bestimmt noch eine ganze Weile so weitergeht. Letztendlich ist das ja ein Kulturwandel, ein leiser…“

Der Artikel basiert auf den Interviews, die im Rahmen eines dreimonatigen ASA-Aufenthaltes in Kolumbien gemacht wurden. Der ausführliche Bericht zum Thema kann bei Interesse bei ASA zur Ausleihe angefordert werden.
Das ASA-Programm (Arbeits- und Studienaufenthalte in Afrika, Asien und Lateinamerika) bietet Studierenden und Berufstätigen, die entwicklungspolitisch interessiert sind, die Möglichkeit zu drei bis sechs monatigen Auslandsaufenthalten, bei denen in Projekten mitgearbeitet werden kann und/oder Studien zu bestimmten Themen erstellt werden können.

Infos bei: ASA-Programm, Carl-Duisberg Gesellschaft e.V., Postfach 3509

Frieden als Wahlversprechen

Politischer Klimawechsel in Kolumbien: auf einmal beherrschte das Thema „Frieden“ die Debatten. Der bis dahin für das Amt des Präsidenten als Geheimtip gehandelte rechtspopulistische Ex-Heereschef Haroldo Bedoya erlebte einen rasanten Absturz in den Meinungsumfragen, während die anderen KandidatInnen, der konservative Andrés Pastrana, der liberale Horacio Serpa und die unabhängige Kandidatin Noemi Sanín sich in Friedensversprechungen überboten. Pastrana stellte gar ein Abkommen mit der Guerilla innerhalb von sechs Monaten in Aussicht.
Die Eskalation des Krieges und das Ausmaß der Gewalt lassen sich nicht mehr ignorieren: Paramilitärs entvölkern auf brutalste Weise inzwischen ganze Regionen. Weit über eine Millionen KolumbianerInnen sind auf der Flucht und mittlerweile greift der Terror auch auf die Großstädte über. Auch für die staatliche Seite spitzt sich die Lage zu: Die Guerillaorganisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) hat der Armee in den vergangenen Monaten verheerende Niederlagen zugefügt, und trotz mehrerer neuer Sondereinheiten gelingt es der Polizei nicht, die Entführungen von PolitikerInnen und UnternehmerInnen in den Griff zu bekommen.
Vor diesem Hintergrund hatten sich regierungsnahe Gruppen für die Kongreßwahlen im Oktober 1997 einen „Stimmzettel für den Frieden“ ausgedacht. Die völlig unverbindliche „Papeleta por la Paz“ traf die Stimmung in der Bevölkerung in ihrem Kern: Tatsächlich wählten trotz einer Boykott-Kampagne der Guerilla so viele KolumbianerInnen wie noch nie. Das politische Establishment setzte sich mit diesem politischen Manöver selbst unter Druck: nun waren die KandidatInnen gezwungen, konkrete Vorschläge für Verhandlungen zu präsentieren.
Präsident Samper versuchte daraufhin auf recht plumpe Weise, seinem designierten Nachfolger Horacio Serpa behilflich zu sein. Im Februar diesen Jahres unterzeichneten die Guerillaorganisation ELN (Ejército de la Liberación Nacional) und Vertreter der Regierung im Madrider Außenministerium ein Abkommen, mit dem der Friedensprozeß offiziell wiederaufgenommen werden sollte und konkrete Gesprächsrunden für die Sommermonate vorgesehen waren. Doch der liberale Kandidat Serpa, der anders als sein konservativer Kontrahent Pastrana nicht zu den traditionellen Machteliten des Landes gehört und deswegen schlechtere Ausgangsbedingungen hatte, konnte es nicht abwarten und ging mit dem Erfolg hausieren: Entgegen der Vereinbarung strengster Vertraulichkeit wurde das Abkommen veröffentlicht. Die ELN erkannte darin – sicher nicht zu Unrecht – ein Wahlkampfmanöver und setzte alle weiteren Gespräche bis nach den Wahlen aus.

Wahlkampf im Zeichen der Guerilla

Beide Guerillaorganisationen verstanden es, die KandidatInnen während des Wahlkampfs mit dem Thema von links unter Druck zu setzen. Die FARC empfing mit dem Abgeordneten Victor Ricardo unmittelbar vor den Stichwahlen den persönlichen Berater von Andrés Pastrana in ihrem Hauptquartier. Das Foto von der FARC-Spitze und dem konservativem Wahlkampfleiter war eine Ohrfeige für den liberalen Kandidaten Serpa, denn mit dieser Geste vermittelten die FARC, daß sie Pastrana für den „friedenstauglicheren“ Kandidaten hielten. Zwar erklärte der FARC-Sprecher Juan Antonio Rojas in Europa, daß für seine Organisation „keinerlei Unterschied zwischen Samper und Pastrana“ bestehe, aber er wies auch darauf hin, daß es unter keinem Präsidenten bisher eine derartige Repression gegeben habe wie unter Samper.
Pastrana und sein Wahlkampfteam akzeptierten weitgehend die Forderungen der FARC: innerhalb der ersten 90 Tage seiner Präsidentschaft wolle er den FARC-Kommandanten Marulanda treffen und fünf Munizipien im Süden des Landes entmilitarisieren. Die FARC wurde damit eindeutig aufgewertet.

Die „Himmelspforte“ von Würzburg

Auch die kleinere ELN hat auf dem politischen Parkett bemerkenswerte Erfolge erringen können. Anfang Juli traf sich die lange Zeit vom kürzlich verstorbenen spanischen Pfarrer Manuel Pérez geleitete Guerillaorganisation unter Schirmherrschaft der katholischen Bischofskonferenz Deutschlands mit mehr als 40 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Kolumbiens, darunter zahlreichen Unternehmern. Das im Kloster Himmelspforten unterzeichnete Abkommen verpflichtet die beteiligten Seiten, eine nationale Versammlung vorzubereiten. Eine solche „Nationalkonvention“, auf der bei breiter gesellschaftlicher Beteiligung über notwendige soziale und politische Veränderungen im Land diskutiert werden soll, wurde von der ELN bereits Ende 1995 vorgeschlagen. Die Krise der Samper-Regierung war zu diesem Zeitpunkt auf ihrem Höhepunkt angelangt: die Rechte bereitete unverhohlen einen Putsch vor. Erst jetzt ermöglichten die besondere Situation im Wahlkampf, die Unterstützung aus dem Bonner Kanzleramt und die militärischen Erfolge der Guerilla eine Vereinbarung. Die kolumbianischen Eliten zeigen sich unter dem Druck der Ereignisse etwas kompromißbereiter als sonst. Die Frage ist nur: Für wie lange?

Parallele Verhandlungsprozesse…

Für beide Guerillaorganisationen ist der bisherige Verlauf der Gespräche als politischer Erfolg zu werten. Noch nie in den letzten zehn Jahren wurden in den Medien die Positionen der Linken so unverfälscht wiedergegeben wie in den vergangenen vier Monaten. Zudem erkennt der kolumbianische Staat mit der geplanten Entmilitarisierung einiger Munizipien implizit an, daß die Aufständischen in zahlreichen Regionen Regierungsfunktionen ausüben. Und schließlich ist die durch den staatlichen Vernichtungsfeldzug gegen die legale Opposition hervorgerufene politische Isolation durch den Dialog zumindest ansatzweise durchbrochen. Verglichen mit der Situation vor wenigen Monaten stehen FARC und ELN politisch erstaunlich gut da. Nicht einmal die Tatsache, daß sie unabhängig voneinander Gespräche aufgenommen haben, hat ihnen bisher geschadet. Die beiden Organisationen agieren faktisch seit 1992 getrennt voneinander, halten sich aber weiterhin an damals getroffene Vereinbarungen und erwarten, daß sich die unterschiedlichen Ansätze zukünftig ergänzen. So haben sowohl FARC als auch ELN mehrmals bekräftigt, daß sie über Sondierungsgespräche hinausgehende Verhandlungen nur gemeinsam und auf kolumbianischem Territorium führen werden.

… aber unterschiedliche Strategien

Die Verhandlungskonzepte der beiden großen Guerillaorganisationen unterscheiden sich allerdings deutlich. Die FARC konzentrieren sich auf Kontakte mit der Regierung, was den Vorteil hat, die Gegenseite auf ein einheitliches Vorgehen festlegen zu können. Pastrana wird sich bei einem Abkommen verpflichten müssen, die Paramilitärs aufzulösen und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgen zu lassen. Bilaterale Verhandlungen zwischen Staat und Guerilla, wie sie die FARC vorschlagen, bergen jedoch die Gefahr, daß die Dynamik des Krieges fortgesetzt wird.
Diesem Problem versucht die ELN zu begegnen, indem sie wie im Kloster Himmelspforten Gespräche mit allen gesellschaftlichen Sektoren aufnimmt. Sie setzt auf politische Spielräume, indem sie den offiziellen Diskurs („die ganze Gesellschaft für den Frieden“) beim Wort nimmt: Die ganze Gesellschaft soll sich an der Debatte beteiligen, wie die kolumbianische Realität verändert werden könnte. So soll die nationale Versammlung zu „einem Forum für diejenigen werden, denen sonst nie Gehör geschenkt werden: den Indígenas, Schwarzen, Frauen, Vertriebenen, Studenten und Arbeitern.“ (Vgl. Interview mit ELN-Sprecher Pablo Beltrán)

Wider dem Friedensprozeß

Schon jetzt ist fraglich, welche Zukunft der Friedensprozeß überhaupt noch hat. Die massiven Vertreibungen von Bauern gehen weiter. In den Departments Arauca, Santander und Bolívar sind seit den Wahlen insgesamt 40.000 Bauern in die nächstgelegenen Städte geflohen und haben Schulen und Universitäten besetzt.
Schwere Vorwürfe gab es gegen das US-amerikanische Unternehmen Corona Goldfields, das in Bolívar paramilitärische Gruppen finanziert. Armee und Paramilitärs haben sich dort zum Ziel gesetzt, die Guerilla aus dem Gebiet zu vertreiben. In Montecristo und Puerto Coca wurden in den letzten Wochen mehr als 30 Bauern vor den Augen ihrer Nachbarn von Paramilitärs ermordet.
Vor diesem Hintergrund unterstrichen die Guerilla-Organisationen zur Amtsübernahme Pastranas, daß sie gewillt sind, die Armee zurückzudrängen. Zeitgleich starteten FARC und ELN eine Großoffensive gegen drei Armee-Stützpunkte, besetzten Dutzende Städte und verübten Sprengstoffanschläge auf Polizei- und Armeestützpunkte in Medellin, Barrancabermeja und Cúcuta. Die Krise der Armee hat sich dadurch weiter verschärft.

Umbildung der Armeespitze

Pastrana hat unmittelbar nach seiner Amtsübernahme die Armeespitze völlig umgebildet, wobei er sich im Einvernehmen mit den USA darum bemüht, den Eindruck einer gesäuberten Armee zu erzeugen. Gegen eine Reihe hochrangiger Offiziere wurde Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen und Beziehungen zum Drogenhandel erhoben. Der abberufene Generalinspekteur der Armee Ivan Ramírez wurde von der Washington Post gar als Vertrauter des Paramilitär-Kommandanten Carlos Castaño und CIA-Agent entlarvt. Doch am Problem hat sich nichts geändert. Der neue Chef des Generalstabs Rafael Hernández López ist der Verantwortliche für die Ermordung von 13 Bauern in Riofrío (Valle de Cauca) im Jahre 1993.

Politischer Status für Paramilitärs

Torpediert werden die Gespräche mit der Guerilla auch durch den Kontakt mit den Paramilitärs. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Deutschland unterzeichnete eine Delegation des „Friedensrates“, ein aus Generalstaatsanwalt, Unternehmern und Gewerkschafter zusammengesetztes Gremium, das das Treffen bei Mainz organisiert hatte, ein Abkommen mit den Paramilitärs, das diesen praktisch den lang ersehnten politischen Status zugestand. Dabei wurden die Gewerkschafter durch die gegen sie ausgesprochenen Morddrohungen mehr oder weniger zu einer Beteiligung am Treffen gezwungen. „Dialog oder Exil“, hatte Gewerkschaftschef Hernández im Vorfeld seine Situation klargestellt. Für die Paramilitärs war die Anwesenheit der Linken eine wichtige öffentliche Aufwertung. Als Ergebnis verlauteten die Paramilitärs, „Massaker zukünftig so weit wie möglich zu vermeiden.“
Die ELN setzte nach Bekanntwerden des Abkommens zwischen Friedensrat und Paramilitärs die Gespräche zur Vorbereitung der „Nationalkonvention“ zunächst einmal aus. Der Rat solle erst einmal klarstellen, ob man ausgemachte Drogenhändler, die für zahllose Massaker verantwortlich seien, nun als politische Gesprächspartner betrachte. Unternehmerchef Sabas Pretelt und Generalstaatsanwalt Jaime Bernal beeilten sich zwar, dies zu verneinen, aber dennoch ist unübersehbar, daß die staatsnahen Kräfte im Friedensrat eine Gleichsetzung von Paramilitärs und Guerilla durchsetzen wollen. Damit ließe sich eine weitere Aufrüstung der Sicherheitsorgane rechtfertigen und von der staatlichen Verantwortung ablenken.

Verteidigungsministerium übt Ungehorsam

Der Druck auf Präsident Pastrana, die Entmilitarisierung der von der FARC geforderten Gebiete auszusetzen, wird immer größer. Das Abkommen von Mainz wird vom Verteidigungsministerium grundsätzlich in Frage gestellt. Verteidigungsminister Lloreda erklärte Mitte August, daß man nicht an das Abkommen mit der ELN gebunden sei, weil es kein Regierungsvertreter, sondern nur zivile Persönlichkeiten unterzeichnet hätten. Ohne Sicherheitsgarantien der Regierung ist jedoch ein Treffen wie die nationale Konvention unvorstellbar. Zudem weigert sich die Armee, wie von den FARC gefordert, 200 in ihrer Hand befindliche Soldaten gegen eine vergleichbare Zahl Guerilleros auszutauschen.
Da wird es auch nichts nützen, daß ELN und kolumbianischer Kongreß in der letzten Augustwoche ein Vorabkommen unterzeichneten, das der Guerilla eine Präsenz bei den anstehenden Parlamentssitzungen ermöglichen soll. Einmal abgesehen davon, daß die Kongreßsitzungen vor einem leeren Haus stattfinden könnten – gegen mehr als 100 Abgeordnete laufen Strafverfahren wegen der Samper-Drogenaffäre.

“Den herrschenden Eliten die Ohren öffnen”

Sie haben im Zusammenhang mit dem Friedensprozeß von der Möglichkeit gesprochen, Kolumbien in einen Kantonalstaat zu verwandeln. War es in der Schweiz so schön?

Die Eliten in Kolumbien sind bei allen Verhandlungsprozessen bisher davon ausgegangen, daß die Gespräche mit dem Verschwinden der Guerilla, also mit ihrer Demobilisierung enden müssen. Das Modell des Kantonalstaats diente dazu, ihnen klar zu machen, daß wir bereit sind zu reden, aber nicht zu verschwinden –und zwar weder als politische Akteure noch als bewaffnete Kraft.

Das heißt, Sie wollen einen zeitlich definierten Rückzug der Armee aus den Guerillagebieten und keine Aufteilung Kolumbiens wie etwa die Bosnien-Herzegowinas…

Langfristig strebt die ELN und die gesamte Guerillakoordination Simón Bolívar nach wie vor die Machtübernahme an; das heißt im Fall der ELN: Machtübernahme und Aufbau von Selbstverwaltung. Doch dabei kann es durchaus ein Zwischenstadium geben, bei dem die Eliten anerkennen, daß wir in vielen Regionen eine neue Staatlichkeit aufgebaut haben. Das wäre eine Phase gegenseitigen Respekts.

Wie kann man Friedensverhandlungen führen und gleichzeitig auf einen revolutionären Umsturz hinarbeiten?

Wir sind eine Bewegung zur nationalen Befreiung, kämpfen für eine sozialistische Gesellschaft und vertreten ein gerechtes Anliegen. Die Tatsache, daß wir mit verschiedenen Sektoren des Staates geredet haben, bedeutet nicht, daß wir unsere Ziele aufgegeben hätten. Außerdem ist der Dialog noch ganz am Anfang. Es gibt bisher keinerlei Vereinbarungen mit dem kolumbianischen Staat. Und das haben wir auch allen Gesprächspartner hier in Europa gesagt – allen Regierungen, Staatsvertretern und Kirchenleuten. Unsere Option ist sozialistisch.

Der deutsche Agent Mauss, der Ihnen beim Zustandekommen der Reise geholfen hat, ist als Polizeiagent und Kommunistenfresser bekannt. Ein Spitzel, der in den 70er aktiv gegen deutsche Linke vorgegangen ist. Wieso unterhält eine Organisation wie die ELN Kontakte zu einem solchen Agenten?

Das geht zurück auf die 80er Jahre, als wir die Firma Mannesmann angriffen. Das Unternehmen baute damals eine Pipeline durch Ostkolumbien, und wir verhafteten einige Techniker, bis es zu einer Vereinbarung kam. Mannesmann baute damals Sozialeinrichtungen in den Ölfördergebieten und zahlte eine Kriegssteuer an die ELN. Die deutsche Regierung entsandte daraufhin mehrere Agenten, darunter auch Mauss, um sie bei uns einzuschleusen. Wir waren in ihren Augen eine „terroristische Organisation“. Die Agenten berichteten ihrer Regierung jedoch, daß wir nicht nur bewaffnet kämpften, sondern auch politische Konzepte für eine andere Gesellschaft besaßen. Die Einschätzung der Bundesregierung veränderte sich, und sie begann, uns als politische Kraft anzuerkennen. Natürlich verfolgt sie dabei Staatsinteressen. Aber trotzdem ist es wichtig festzustellen, daß ihre Einschätzung heute eine andere ist als vor 15 Jahren.

Was für Beziehungen unterhalten Sie zu Mauss und der deutschen Regierung? Sind es rein diplomatische Kontakte oder gibt es auch so etwas wie einen persönlichen Respekt?

Nach meinem Eindruck gibt es in der Bundesregierung Leute, die über das Ausmaß des Staatsterrorismus in Kolumbien tatsächlich besorgt sind. Das heißt, die kolumbianische Regierung hat an Legitimität verloren, und das verleiht alternativen oder sogar linksradikalen Kräften wie uns Gewicht als Gesprächspartner.

Sie glauben also, daß die Bundesregierung die Legitimität der aufständischen Bewegung in Kolumbien im Prinzip anerkennt?

Ja.

… aber doch nicht bedingungslos…

Deswegen habe ich von der Staatsräson der deutschen Regierung geredet. Über die außenpolitischen Ziele hinaus gibt es wirtschaftliche Interessen. Viele europäische Unternehmen würden gern in Kolumbien investieren, trauen es sich aber wegen des Konfrontationsniveaus nicht. Wir wissen, daß wir um Distanz bemüht sein müssen, wenn wir einen Rest von Souveränität verteidigen wollen. Aber europäische Regierungen und Institutionen können ein Gegengewicht zur Einmischung der USA in Lateinamerika sein.

Mauss hat beim Zustandekommen der Gespräche eine wesentliche Rolle gespielt. Glauben Sie nicht, daß er nur eingesetzt wurde, um sie zu manipulieren?

Das ist möglich. Wir unterhalten weiterhin Verbindungen zur Bundesregierung, und das ermöglicht es uns, in Kontakt mit anderen offiziellen Stellen zu treten. Aber die ELN-Delegation in Europa ist hauptsächlich außerhalb Deutschlands aktiv. Wir waren in Holland, der Schweiz und Spanien und werden weitere Länder besuchen. Die Themen, die wir dort behandeln, haben mit den deutschen Interessen nichts zu tun.

Wird Mauss weiterhin eine Rolle im Verhandlungsprozeß spielen?

Das ist schwierig vorherzusagen. So weit wir wissen, ist die Sicherheitssituation des Ehepaars Mauss’ nach dessen Freilassung nicht geklärt worden. Es gab eine Intrige anderer Geheimdienste gegen die beiden, und sie können deshalb nicht einfach zurück nach Kolumbien. Das wird ihre Rolle bei den weiteren Gesprächen natürlich einschränken.

Es heißt, daß die ELN im Zusammenhang mit den Entführungen wirtschaftliche Verbindungen zu den Mauss’ unterhielt?

Ja, darüber kam der Kontakt zu dem Ehepaar zustande. Die beiden waren im Auftrag der Bundesregierung in Kolumbien unterwegs, um sich um deutsche Staatsangehörige zu kümmern, die wir festgehalten haben. In dieser Hinsicht haben sie eine Rolle gespielt.

…eine wirtschaftliche Rolle…

Natürlich. Wie 1984: Mannesmann hat uns eine Steuer gezahlt und Sozialeinrichtungen gebaut.

Wird die ELN mit Mauss auch weiterhin Lösegeldzahlungen abwickeln?

Bei den Gesprächen in Deutschland haben wir darüber geredet, wie eine andere Finanzierung der ELN aussehen könnte. Alle Seiten wollen ja, daß wir die Entführungen einstellen. Daraufhin haben wir geantwortet: Die Entführungen sind ein Problem, das andere ist nur, wie man eine Organisation wie die ELN finanziert. Wir sind bereit, über andere Modelle zu diskutieren, aber wir sind nicht bereit, als Organisation zu verschwinden.

Es wurde davon geredet, daß es einen von der EU verwalteten Fond für die ELN geben könnte. Eine Guerilla am Schlauch ausländischer Regierungen. Das klingt komisch.

(lacht) Es gibt schon eine Menge Angebote, unter anderem von der Interamerikanischen Entwicklungsbank, einer Abteilung der Weltbank. Letztlich geht es für uns aber um die Anerkennung von zwei Punkten. Erstens: Wir sind eine legitime Kraft, und zweitens: Wir haben ein Recht auf eine eigene Steuerpolitik. Als die Vorschläge unterbreitet wurden, hieß es: „Wer garantiert, daß die ELN mit diesen Geldern nicht offensive Aktionen durchführt?“ Aber die Frage ist falsch gestellt, richtig müßte sie heißen: „Warum sollte die ELN aufhören, eine politisch-militärische Organisation zu sein, die strategische Fortschritte zu erzielen versucht?“ Für uns ist es unverzichtbar, weiter offensiv zu sein. Eine Linke, die stagniert, löst sich auf. Wir lassen uns also unsere Politik nicht vorschreiben. Aber wir sind bereit, über eine Form der Steuererhebung zu diskutieren, die ohne Festnahmen von Industriellen und Viehzüchtern auskommt.

Vor einigen Tagen haben Sie in Genf ein Abkommen mit kolumbianischen Kongreßabgeordneten unterzeichnet, das den Guerillaorganisationen eine Präsenz bei den Parlamentssitzungen zusichert. Die FARC haben die Idee in einer ersten Stellungnahme abgelehnt, weil es keine Sicherheitsgarantien für Guerillasprecher geben würde. Eine FARC-Sprecherin sagte: „Wenn der Kongreß mit der Guerilla reden will, soll er in die Guerillagebiete kommen.“

Das ist eine akzeptable Position, aber nicht die der ELN. Das Internationale Rote Kreuz hat sich angeboten, den Transport und die Unterkunft der Guerillasprecher zu garantieren. In El Salvador hat das funktioniert, die Guerilla-Comandantes haben in Botschaften übernachtet und sind dann zu den Parlamentssitzungen gefahren worden. Das wäre praktisch möglich.

Was wollen Sie überhaupt im Kongreß? Die politische Klasse Kolumbiens ist doch völlig am Ende.

Da gab es beim Treffen in Genf eine schöne Szene. Ich habe die Abgeordneten gefragt, wie viele von ihnen wegen der Absolution Sampers vor zwei Jahren unter Anklage des Obersten Gerichtshofs stehen (damals hatte der Kongreß Gerichtsverfahren gegen den Präsidenten abgewehrt, d. Red.). Es sind 110 Abgeordnete, gegen die ein Verfahren angestrebt wird, aber unter ihnen war angeblich keiner dabei. Ich hab also gefragt, ob die nächsten Parlamentssitzungen im Gefängnis stattfinden werden, und sie haben geantwortet, daß das möglich sei. Also wir wissen, was das für ein Parlament ist, aber auch dort gibt es Leute, die nicht über Stimmenkauf und Klientelismus gewählt worden sind. Wir wollen, daß diese Leute unsere Diskussionen kennenlernen und umgekehrt, daß wir hören, was sie zu Krieg und Frieden zu sagen haben.

Worüber haben Sie mit den Abgeordneten konkret geredet?

Sie wollten wissen, was wir von einer politischen Reform Pastranas halten. Unserer Meinung nach kann es keine solche Reform ohne eine Reform der Armee geben. Nach dem Massenmord an der Unión Patriótica (3000 Aktivisten der linken Partei wurden seit 1985 erschossen, d.Red.) wird nur ein Verrückter auf den Gedanken kommen, in Kolumbien legal aktiv werden zu wollen. Die Armeereform jedoch würde auf einen einzigen Punkt hinauslaufen: Einstellung des Paramilitarismus. Und das hängt nicht von Pastrana, sondern von den USA ab. Ein zweiter Punkt war, daß wir wissen wollten, ob der Kongreß die Paramilitärs politisch anerkennen will. Einige der Abgeordneten waren mit uns einer Meinung, daß das inakzeptabel wäre, aber daß man diese Ablehnung nicht öffentlich äußern dürfe. In einem Land, in dem selbst die Kongreßabgeordneten Angst haben, was kann es da für eine politischen Dialog geben? Und was passiert, wenn es keinen Dialog gibt?

Was sind die nächsten Schritte im Verhandlungsprozeß?

Wir werden weiter mit Vertretern verschiedener sozialer Sektoren die nationale Konvention vorbereiten, wir bleiben in Kontakt mit der Regierung und anderen Teilen des Staates. Diese Gespräche finden gleichzeitig statt. Die wichtigste Frage an Pastrana heißt: Welche Sicherheitsgarantien gibt die Regierung für einen Dialog? Die Nationalkonvention wird in einem von der ELN kontrollierten Gebiet stattfinden. Wir garantieren dort für Verteidigung, Versammlungsorte und Unterkünfte. Aber wir verlangen, daß es in diesem Zeitraum keine Armeeoperationen gibt und anreisende TeilnehmerInnen nicht schikaniert werden.

Die Nationalkonvention wird eine Massenversammlung. Was soll dort eigentlich verhandelt werden?

Das Problem ist, daß diejenigen, die unter dem Konflikt und der Armut in Kolumbien am meisten leiden, keine Stimme besitzen, während die andere Seite, die am wenigsten Probleme hat, mehr als genug Medien zur Verfügung hat. Auf der Konvention sollen diejenigen über die sozialen und politischen Probleme diskutieren können, denen sonst nie jemand zuhört. Vor kurzem wurden acht Foren vereinbart, die ich gern vorlesen würde: 1) soziales und wirtschaftliches System, Staat und Korruption; 2) Demokratie und Staat: Streitkräfte, Klientelismus und Medien; 3) Konflikt und aufständische Bewegung; 4) Menschenrechte und Straflosigkeit; 5) soziale Probleme; 6) Bodenschätze, Souveränität und Ökologie; 7) Kultur und nationale Identität; 8) Agrarproblem und Drogenhandel.

Das Treffen bei Mainz ist von kolumbianischen Linken kritisiert worden, weil z.B. Flüchtlinge, Schwarze und Studenten gar nicht vertreten waren, während Unternehmer und Politiker überrepräsentiert waren.

Das ist richtig. Die Einladungsliste für Mainz haben wir nicht alleine ausgearbeitet, und sie ist in sehr kurzer Zeit zustande gekommen. Für die Konvention wird das Vorbereitungskomitee allerdings auch jene einladen, die in Mainz gefehlt haben: also Studenten, Schwarze, Frauen, Indígenas, Flüchtlinge usw. Die Teile der Gesellschaft, die keine Massenmedien zur Verfügung haben, werden die große Mehrheit des Treffens ausmachen.

Eine weitere Kritik war, daß der Begriff „Treffen mit der Zivilgesellschaft“ der offiziellen Sprachregelung entgegenkommt, die von einer neutralen Gesellschaft ausgeht. Nach dem Motto: „Die Gesellschaft als Opfer der bewaffneten Extreme von rechts und links“.

Die intellektuellen Autoren des Paramilitarismus sind neben der Regierung der USA einheimische Unternehmer und Viehzüchter. Das ist wahr. Genau aus diesem Grund verwendet die ELN den Begriff „Zivilgesellschaft“ nicht. Wir reden einfach von der „kolumbianischen Gesellschaft“. Neutralität gibt es in diesem Zusammenhang nicht. Staat und Guerilla kann man nicht gleichsetzen. Wir verüben keine Massaker, wie sie es tun, und wir verfolgen keine Privatinteressen oder ökonomische Ziele. Wir verfolgen die soziale Opposition nicht. Wenn wir eine gesellschaftliche Debatte anstreben, dann deswegen, damit die Gesellschaft selbst feststellt, wie sie zusammengesetzt ist. In einigen Friedensinitiativen gibt es augenblicklich scharfe Auseinandersetzungen darum, ob Unternehmer die Gesellschaft repräsentieren. Genau darum geht es: zwischen reichen Minderheiten und besitzlosen Mehrheiten zu differenzieren.

Entstehen denn wirklich soziale Bewegungen, die wie Sie erhoffen, die soziale Wirklichkeit thematisieren?

Ja, aber leider als Konsequenz der Angst. Die Bevölkerung hat im letzten Jahr zunehmend gefordert, die Kriegshandlungen einzustellen. Allmählich beginnen aber viele festzustellen, daß Frieden auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Sie merken, daß von den 30.000 Morden jährlich nur 3000 unmittelbar mit dem Bürgerkrieg zu tun haben. Oder daß jährlich 300.000 Kleinkinder an Infektionskrankheiten sterben. Die Gesellschaft formiert sich zu einem politischen Subjekt. Das absurde daran ist, daß der Paramilitarismus diese Reaktion selbst provoziert hat. Er hat den Terror entfacht, damit die Bevölkerung irgendwann fordert: „Stoppt, entwaffnet euch alle“ – ohne daß es soziale Veränderungen gegeben hätte. Aber die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit nimmt zu, und wir werden einen Prozeß unterstützen, in dem Frieden nicht mit Demobilisierung, sondern mit Gerechtigkeit gleichgesetzt wird.

Warum wollen Sie die Paramilitärs eigentlich auf keinen Fall als Gesprächspartner akzeptieren?

Das ist die Kernfrage. Wenn wir die Paramilitärs als selbständige Kraft anerkennen würden, sprächen wir die intellektuellen Hintermänner von jeder Verantwortung frei und amnestierten auch noch gleich die materiellen Autoren mit. Denn sobald die Paramilitärs einen politischen Status erhalten, ist ihnen die Amnestie sicher. Das ist angesichts der Kriegsverbrechen ethisch völlig inakzeptabel.

Sie sagen, daß die USA hinter dem Paramilitarismus stehen. Aber in den vergangenen Wochen hat die Regierung in Washington die Absetzung mehrerer hochrangiger Offiziere und die Auflösung einer Geheimdienstbrigade gefordert.

Es gibt tatsächlich eine Veränderung in der Politik, aber keinen strategischen Wechsel. Die USA sagen sich von den brutalsten Verbrechern los und verweigern ihnen das Einreisevisum. Sie haben sogar zugegeben, daß Generalinspekteur Ramírez CIA-Agent war. Aber das ist Heuchelei. Die US-Regierungen haben diese Generäle im Staatsterrorismus ausgebildet und jetzt, wo sie an Prestige verloren haben, sagen sie sich von ihnen los. An der Strategie ändert sich nichts. Ein Beispiel: In Europa ist die kolumbianische Regierung mit der Behauptung hausieren gegangen, sie hätten die Militärspitze gesäubert. Doch der neu ernannte Chef des Generalstabs Rafael Hernández ist der Verantwortliche eines Massakers an 13 Bauern im Jahre 1993. General Alejo del Rio, der für den Massenmord an Schwarzen, Indígenas und Bananenarbeitern in Urabá verantwortlich ist, steht zwar unter Anklage, wird aber nicht vom Dienst suspendiert. Die US-Regierung weiß das, doch sie will daran nichts ändern. Die Doktrin des US-Außenministeriums geht nämlich davon aus, daß die kolumbianische Armee ineffizient ist und deswegen von Paramilitärs unterstützt werden muß. Vor allem, wenn die Regierung derartig im Nachteil ist wie im Augenblick.

Warum sind die Guerillas in Kolumbien eigentlich noch getrennt? Früher galten die FARC als reformistisch und die ELN als ultraradikal, inzwischen haben sich die Positionen angenähert. Die FARC agieren heute sogar offensiver als die ELN…

Also zunächst: die Guerillakoordination Simón Bolívar existiert. Es geht ihr zwar gesundheitlich schlecht, aber sie liegt auch nicht im Koma. Es fehlt an Begegnungen zwischen den Organisationen, obwohl die politischen Differenzen nicht groß sind. Unser Verhältnis ist ein bißchen wie das zwischen Cousins. Wir sind verwandt, aber wir gehören zu verschiedenen Familien. Ich glaube jedoch, daß es ganz gut ist, daß es zwei verschiedene linke, radikale Organisationen gibt, damit die Bevölkerung wählen kann. Wenn in den Gebieten, wo FARC und ELN präsent sind, eine der beiden Organisationen ihre Macht mißbraucht, beschwert sich die Bevölkerung bei der anderen Organisation und das führt dann zu einer Diskussion. Die Existenz von zwei Organisationen wirkt also wie ein Korrektiv. Die Guerilla ist nicht allmächtig.

Sie streben weiterhin eine bewaffnete Revolution an. Das klingt ein bißchen aus der Mode.

Revolutionen sind grundlegende strukturelle Veränderungen. Wenn auf dem Treffen bei Mainz festgestellt wurde, daß solche Veränderungen notwendig sind, dann ist etwas Wesentliches in der kolumbianischen Gesellschaft im Gange. Unsere Aufgabe ist es, mit revolutionärer Gewalt soziale Fragen auf die Tagesordnung zu bringen. Man spricht heute deswegen von der Ausbeutung des Erdöls durch Multis, weil wir jahrelang Pipelines sabotiert haben, und man diskutiert mit den protestierenden Flüchtlingen, weil wir den Senator Espinosa entführt haben. In einer Gesellschaft, in der die herrschenden Eliten nicht zuhören wollen, muß man ihnen die Ohren mit Gewalt öffnen. Und das tun wir.

Frieden „inmitten des Krieges“

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe: Mitte Februar drangen Berichte der Defense Intelligence Agency (DIA) der USA an die Öffentlichkeit, denen zufolge das kolumbianische Militär „ungeeignet, schlecht ausgebildet und armselig bewaffnet“ für den Kampf gegen die Guerrilla sei. Innerhalb von fünf Jahren, so die Experten weiter, könnten die Rebellen den endgültigen Sieg davontragen und das südamerikanische Land sich aufgrund der wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Guerrillagruppen und Drogenhändlern in einen „Narcostaat“ verwandeln.
Auch wenn hinter der Veröffentlichung des Berichtes, als Teil der konstanten US-amerikanischen Druckstrategie gegenüber Kolumbien, wohl in erster Linie politische Interessen stehen, ist die militärische Bilanz der Armee seit zwei Jahren in der Tat ausgesprochen dürftig. Bei mehreren Angriffen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), die mit rund 15.000 Mann und Einnahmen von 480 Millionen Dollar im Jahr 1997 (Schätzung des kolumbianischen Verteidigungsministeriums) die größte Rebellenorganisation des Landes ist, mußte das Militär empfindliche Niederlagen einstecken. Allein bei einer Attacke von etwa 1000 Guerrilleros der FARC auf die Antidrogenbasis Miraflores im Department Guaviare im Süden Kolumbiens wurden Anfang August mehr als 100 Soldaten und Polizisten als „Kriegsgefangene“ entführt und die Militäreinrichtungen dem Erdboden gleichgemacht. Der Angriff bewies erneut die strategische und logistische Stärke der Rebellenorganisation, der das unflexible kolumbianische Militär wenig entgegenzusetzen hat. Es ist fraglich, ob die von Verteidigungsminister Rodrigo Lloreda Caicedo angekündigten internen Reformen oder das Versprechen von US-Präsident Bill Clinton, die Militärhilfe um 21 Millionen Dollar zu erhöhen, zu einer grundsätzlichen Änderung führen. Caicedo will die Militäreinheiten zukünftig in größeren und weniger exponierten Stützpunkten konzentrieren und die Zahl der Wehrdienstleistenden ab Ende des Jahres um 10.000 verringern, aber im Gegenzug mehr Berufssoldaten einstellen. Die Idee einer „Professionalisierung“ der Streitkräfte entspringt nicht nur militärstrategischen Überlegungen. Nach einer Umfrage der Tageszeitung El Espectador schwindet die Unterstützung der Bevölkerung für den 18monatigen Kriegsdienst: 60 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Wehrpflicht aus.
Zusätzlich sieht sich die Armee schwerwiegenden Anschuldigungen gegenüber: in einem offenen Brief vom Mai stellte amnesty international fest, daß die Streitkräfte gemeinsam mit den paramilitärischen Gruppen für die überwiegende Anzahl der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Neben direkten Übergriffen von Soldaten gegen die Zivilbevölkerung geraten immer wieder hohe Offiziere ins Kreuzfeuer der Kritik, denen die Gründung oder Unterstützung solcher Vereinigungen vorgeworfen wird.

Schuldeingeständnis mit einem Staatsakt

In einem offiziellen Staatsakt am 29. Juli erkannte der damalige Noch-Präsident Ernesto Samper Pizano gegenüber Familienangehörigen der Opfer die Schuld des Staates für drei Massaker und zwei außergerichtliche Hinrichtungen an, die zwischen 1991 und 1993 in den Provinzen Cauca, Antioquia und Santander Norte sowie in der Hauptstadt Bogotá von Mitgliedern des Militärs und der Polizei begangen wurden. Sie befinden sich fast alle auf freiem Fuß, da sie nur von Militärgerichten belangt werden können und derartige Prozesse in der Regel mit Freispruch enden. Der Anwalt Luis Carlos Domínguez, der einige Familien der Opfer vertritt, wies darauf hin, daß Präsident Samper „die Verantwortung für Sachverhalte übernimmt, die vor seinem Amtsantritt stattfanden. Der nächste Präsident wird allerdings zusätzlich die Schuld des Staates für die Zunahme des Paramilitarismus während dieser vier Jahre übernehmen müssen.“
Ebenfalls haben verschiedene regionale bewaffneten Banden, die sich oft selbst als autodefensas bezeichnen und deren vorrangiges Ziel die gewaltsame Bekämpfung der Guerilla ist, in besorgniserregendem Umfang an Einfluß gewonnen. Vor allem durch gezielte Hinrichtungen von Personen, die angeblich Kontakte zur Guerilla unterhalten. Die Schwäche des Staates dient als Rechtfertigung für eine radikale Einschüchterungs- und „Säuberungs“-Politik, der nicht selten auch engagierte MenschenrechtlerInnen zum Opfer fallen, die sich um die Aufklärung der Sachverhalte bemühen.
Offenbar agieren paramilitärische Privatarmeen ebenfalls im Auftrag von Großgrundbesitzern und Firmen bei der Durchsetzung von Landinteressen. Ins öffentliche Bewußtsein rückte das Problem im Mai, als in Folge eines Massakers im am Rio Magdalena gelegenen Ölhafen Barrancabermeja ein Generalstreik ausgerufen wurde, der das Land nach vier Tagen an den Rand einer Benzinversorgungskrise brachte. Am Abend des 16. Mai drang eine Gruppe schwerbewaffneter Männer in die Stadt ein, erschoß elf Personen an Ort und Stelle und entführte weitere 35. Die Bildung einer „Wahrheitskommission“ unter Beteiligung der katholischen Kirche und verschiedener Nichtregierungsorganisationen hat dazu geführt, daß die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen neun Angehörige von Polizei und Militär eingeleitet hat, die möglicherweise an dem Überfall beteiligt waren.

„Weihnachten ohne Guerrilla“

Zu direkten Gefechten zwischen Guerilla und Paramilitärs kam es u.a. Ende August im Süden des Departments Bolívar (Nordkolumbien). Dem Vernehmen nach wollen letztere die traditionelle Vorherrschaft der Rebellengruppen in der Bergregion von Perijá brechen. Carlos Castaño, Chef der paramilitärischen Vereinigungen, hat angekündigt, dort an Weihnachten „seine Hängematte aufzuspannen“. Offenbar hält er seine Gegner in dieser Region, die ELN (Nationale Befreiungsarmee) sowie die unbedeutende Abspaltung ERP (Armee der Volksrevolution), für relativ schwach. Zwischen „Paras“ und FARC ist es hingegen bislang kaum zu offenen Gefechten gekommen.

Konspiratives Treffen im Urwald

Innerhalb dieses komplexen Szenarios, in dem Guerillagruppen (vor allem FARC und ELN), paramilitärische Banden und der Staat mit seinen Streitkräften von zweifelhafter Reputation und Kompetenz eine Rolle spielen, wird von Seiten der Politik – insbesondere seit Amtsantritt von Präsident Andrés Pastrana am 7. August – und verschiedenen Vertretern der “Zivilgesellschaft” ein Ausweg gesucht. Das konspirative Treffen im kolumbianischen Urwald zwischen Pastrana und FARC-Chef Manuel “Tirofijo” Marulanda Vélez war zwar eine Überraschung und ein Hoffnungsschimmer für die kolumbianische Öffentlichkeit, ist jedoch zweifellos von langer Hand vorbereitet worden. Da niemals zuvor ein kolumbianischer Präsident persönlich mit den Anführern der FARC gesprochen hatte, war das Echo auf die Videoaufzeichnungen entsprechend enthusiastisch. Doch spätestens zehn Tage darauf – in den drei Tagen vor Vereidigung des neuen Präsidenten – wurde klar, daß der Weg zum Frieden noch sehr weit ist: Die Rebellen griffen in einer landesweiten Offensive massiv staatliche Einrichtungen an. Die FARC bekräftigten zwar erneut ihren grundsätzlichen Willen zum Frieden, machten aber deutlich, daß der Frieden nur „inmitten des Krieges“ geschlossen werden kann.
Auch der anfängliche Optimismus, den der Vertrag von Mainz zwischen Vertretern der kolumbianischen Zivilgesellschaft und der ELN ausgelöst hatte, ist mittlerweile gedämpft. Die Zweifel an der Legitimität dieser “Zivilgesellschaft” werden immer lauter.
Das Ergebnis der Mainzer Verhandlungen nimmt sich ohnehin eher mager aus. So wird das Versprechen der ELN, künftig keine Minderjährigen, Schwangeren oder Personen über 65 Jahre mehr zu entführen, von einigen als falsches Zugeständnis interpretiert, da die Zivilgesellschaft damit indirekt allen „sonstigen“ Entführungen zustimme. Einer der schärfsten Kritiker der Mainzer Verhandlungen ist Verteidigungsminister Caicedo, der darauf hinwies, daß die Menschenrechtskonvention Geiselnahmen grundsätzlich nicht zuläßt.
Die ELN ihrerseits argumentiert, daß sie finanziell von der Lösegelderpressung abhänge und nur bereit sei, von Entführungen abzusehen, wenn eine entsprechende Ersatzfinanzierung bereitgestellt würde. Insgesamt bleibt der Verdacht, daß die ELN durch relativ unbedeutende Konzessionen eine politische Anerkennung sucht und auf politischem Terrain Land gewinnen will, ohne wirklich an der Beendigung des bewaffneten Konfliktes interessiert zu sein.
Zunehmend setzt sich jedoch die Auffassung durch, daß die Rebellen an den anstehenden politischen Reformen beteiligt werden müssen. Im Gespräch ist beispielsweise das Verbot von Privatgeldern für politische Kampagnen und eine grundlegende Neugliederung des Kongresses. Daß der Staat den Krieg auf militärischem Wege nicht mehr gewinnen kann und der (Verhandlungs-)Frieden, vor allem mit den starken FARC, keineswegs „umsonst“ zu haben ist – dieses Bewußtsein hat inzwischen weite Teile von Bevölkerung und Politik erfaßt.

Angst vor dem Militärabzug

Präsident Pastrana hat bereits mit Einverständnis des Militärs angekündigt, der Forderung der FARC nachzukommen, aus fünf Munizipien im Süden des Landes die Streitkräfte komplett abzuziehen. Diese Region soll dann nach Vorstellungen der FARC zur neutralen Verhandlungszone deklariert werden. Im Gespräch ist eine Fläche von über 60.000 Quadratkilometern mit rund 100.000 EinwohnerInnen, welche vorwiegend von Landwirtschaft und Viehzucht leben. Die Gegend ist traditionelles „Hoheitsgebiet“ der Guerilla und hat in den letzten Jahren besonders heftig unter dem bewaffneten Konflikt gelitten. Währenddessen herrscht in den betroffenen Munizipien Angst: „Viele Familien ziehen weg. Sie lassen ihre Finca zurück und verkaufen ihre Rinder zu Tiefstpreisen, weil sie nicht wissen, was hier mit ihnen passieren wird“, berichtet ein Bewohner des Ortes La Macarena (Meta).
Die Forderung nach einem Abzug der Armee scheint tatsächlich auf den ersten Blick harmloser als sie ist: Militärstrategen warnen davor, daß im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen möglicherweise eine blutige Rückeroberung des „verlorenen Raums“ notwendig werden würde, deren Ausgang nicht vorhersehbar ist.
Guerillaführer „Tirofijo“ träumt außerdem schon seit langem davon, Teile von Südkolumbien in einen Bundesstaat mit weitgehender Autonomie zu verwandeln. Ein ähnlicher Vorschlag der ELN, auf ihr Einflußgebiet bezogen, hat energischen Widerspruch in der Politik ausgelöst. Der Senator Lemos Simmonds bezeichnete ihn als „Wahnsinn“ und sieht die „Integrität und Souveränität Kolumbiens“ gefährdet.
Angesichts der spezifisch kolumbianischen Erfahrungen mit Krieg und Friedensverhandlungen ist ein negativer Ausgang des Verhandlungsversuchs nicht auszuschließen, wenngleich die positiven Signale insgesamt überwiegen. Der politische Schaden in dem Land, das von jahrzehntelangem gegenseitigen Mißtrauen beherrscht wird, wäre allerdings fatal – und der Frieden auf Jahre wieder in weite Ferne gerückt.

Der Agent als Stehaufmännchen

Nach der Festnahme von Werner und Ida Mauss bei Medellín im November 1996 mochte kaum einer an die Friedensmission des berühmt-berüchtigten Privatagenten und seiner Frau glauben, die sie immer wieder zu ihrer Verteidigung ins Feld führten. Zu trübe schienen die Wasser, in denen sie seit 1984 in Kolumbien gefischt hatten – undurchsichtige Mittlerdienste für Mannesmann und Siemens, schließlich ausgiebige Hilfestellung für die Guerillaorganisation ELN (Ejército de Liberación Nacional) bei deren Entführungsgeschäften (vgl. LN 271)
Knapp zwei Jahre später hat sich das Blatt gewendet. Bereits im Juli 1997 wurde das Agentenpärchen – mit den Entlassungscheinen Nummer 007 und 008 – auf freien Fuß gesetzt, allerdings mit der Auflage, bis zur endgültigen Beendigung des Prozesses in Kolumbien zu bleiben. Im Mai dieses Jahres war es dann soweit: Die Staatsanwaltschaft übernahm die Argumente der Verteidigung und sprach den 58jährigen und seine italienische Frau in allen Punkten frei. Der eigentliche Paukenschlag folgte einige Wochen später, als in Mainz Friedensgespräche zwischen der ELN und VertreterInnen der kolumbianischen „Zivilgesellschaft“ angekündigt wurden. Tatsächlich fanden diese vom 12. bis zum 15. Juli im fränkischen Zisterzienserkloster Himmelspforten statt – unter der Schirmherrschaft der deutschen katholischen Bischofskonferenz.

Nach Freilassung wieder auf Mauss-Mission

Daß es dazu kam, war auch das Verdienst von Mauss & Mauss, die nach ihrer Freilassung – diesmal mit Wissen der kolumbianischen Regierung – zweimal ins zentrale Lager der ELN reisten und andererseits Kontakte zu einflußreichen Vertretern des Establishments aufnahmen, etwa dem Unternehmer Sabas Pretelt, einem führenden Mitglied des vom Parlament eingesetzten „Friedensrates“.
Der Zeitpunkt der Gespräche war aus Sicht der ELN günstig gewählt: Der Regierungswechsel von Samper zu Pastrana stand bevor; in der Mainzer Gruppe befanden sich zwar einige Samper-Berater, aber kein Mitglied der neuen Regierung, die vor allem den Kontakt mit den mächtigeren FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) pflegte. Mit der Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen, einer alten ELN-Forderung, wurde ein Präzedenzfall geschaffen, den Pastrana nicht mehr ignorieren kann. Das in Kolumbien zunächst mit Optimismus aufgenommene Himmelspfortener Abkommen war ein Erfolg für die ELN um Chefunterhändler Pablo Beltrán, der auf der Pressekonferenz nach der Unterzeichnung zum ersten Mal unmaskiert an die Öffentlichkeit ging.
Doch in den darauffolgenden Wochen zeigte sich, daß Pastrana keineswegs auf das Kalkül der Rebellen einzugehen bereit ist: Sein Friedensbeauftragter Víctor Ricardo traf sich zwar mit Kanzleramtsminister Schmidbauer und den in Itagüí (bei Medellín) inhaftierten ELN-Sprechern Francisco Galán und Felipe Torres. Daß es jedoch bereits, wie in Himmelspforten angekündigt, im Oktober zur „Nationalen Konvention“ kommen wird, auf der ELN, Regierung und „Zivilgesellschaft“ Grundsatzdebatten über die zukünftige politische und soziale Ordnung Kolumbiens und vor allem über die Erdölpolitik führen werden, scheint derzeit unwahrscheinlich. Pastrana selbst distanzierte sich deutlich vom Himmelspfortener Abkommen mit dem Hinweis, die dort vertretene „Zivilgesellschaft“ sei von der ELN ausgesucht worden.

Um Rehabilitation bemüht

Wie ist die Rolle der Bundesregierung und ihrer inoffiziellen Mittler vor Ort einzuschätzen? Natürlich streicht Schmidbauer immer noch die konsularische Begleitung der „humanitären Mission“ von Mauss und Mauss heraus, als diese bei der ELN die Freilassung deutscher Geiseln erwirkten. Aber ebenso hatte und hat er immer auch deutsche Wirtschaftsinteressen im strategisch interessanten Kolumbien im Blick. Dafür nimmt er auch kurzzeitige Verstimmungen mit Washington in Kauf. Auch jetzt haben die USA signalisiert, daß zumindest Mauss bei weiteren Friedensschritten außen vor bleiben soll.
Für Werner und Ida Mauss lag es nahe, sich nach ihrer Freilassung um ihre Rehabilitierung zu bemühen. Möglich wurde der Erfolg durch ihre langjährigen freundschaftlichen Beziehungen zur ELN-Spitze, die anhaltende Rückendeckung Schmidbauers, aber auch ihr Geschick bei der Einbeziehung kolumbianischer Unternehmer, Kirchenleute und Politiker – besonders hierbei dürfte Ida Mauss eine Schlüsselrolle gespielt haben. Entscheidend war aber auch, daß die Staatsanwaltschaft keine stichhaltigen Beweise für kriminelle Aktivitäten des Agentenpärchens beibringen konnte. Dies auf den Druck aus Bonn zurückzuführen, greift entschieden zu kurz – Mauss´ Intimfeinde, allen voran Antioquias Ex-Gouverneur Alvaro Uribe, hätten nur allzu gerne Justiz und Presse mit handfesten Belegen über Waffenschmuggel, Zahlungen von Bestechungsgeldern im Auftrag deutscher Multis oder ähnlichem versorgt. So scheint sich im Fall Mauss tatsächlich das rechtsstaatliche Prinzip in dubio pro reo durchgesetzt zu haben.
Ob es in absehbarer Zeit zu einem Friedensschluß kommen wird, hängt nun wirklich nicht vom Gespann Schmidbauer/Mauss ab. Als schillernde Figuren sind Werner und Ida Mauss zwar dankbare Objekte für die kolumbianische Presse. Zunächst galten sie als finstere Spione, nach ihrer Freilassung konnten sie als populäre Abenteurer auf Friedensmission punkten. Über Krieg und Frieden jedoch entscheiden andere.

KASTEN

Büchertip: Die Vorgeschichte, spannend erzählt

Ignacio Gómez und Peter Schumacher, die Ende 96/Anfang 97 in der Bogotaner Tageszeitung El
Espectador über die sich langsam entfaltenden Vorgeschichte von Mauss in Kolumbien berichteten, haben zwei Bücher vorgelegt: »Der Agent und sein Minister – Mauss und Schmidbauer in geheimer Mission« (Elefanten Press, Berlin 1997) und »La última misión de Werner Mauss« (Planeta, Bogotá 1998). Bereits in Titelgebung und Aufmachung zeigt sich, daß die jeweils federführenden Autoren unterschiedliche Akzente gesetzt haben: Das Cover der deutschen Ausgabe ziert ein stilisierter Schattenmann mit Schlapphut, auf dem Planeta-Titel ist ein Foto des müden „zivilen Beraters“ (Eigencharakterisierung Mauss) zu sehen, aufgenommen auf der Pressekonferenz nach seiner Festnahme. Schumacher schildert den Aufstieg des Pferdewirts aus einfachen Verhältnissen bis zum Agenten, der es durch seine vielfältigen Aktivititäten – einschließlich eines einjährigen Vertrages beim BND – zum Multimillionär brachte. Detailliert und packend wird das Mauss´sche Kolumbienengagement aufgerollt. Zu Recht kritisiert Schumacher in seiner Schlußanalyse die deutsche Geheimdiplomatie – die kolumbianische Regierung war über die engen Beziehungen von Mauss zur ELN im Dunkeln gelassen worden, auch, als der Agent parallel zur Vorbereitung des für Dezember 1996 geplanten Friedenstischs im Bonner Kanzleramt die Freilassung europäischer Geiseln betrieb – teilweise gegen Zahlung von Lösegeldern in Millionenhöhe. So kommt er zur harten Einschätzung des Friedensplans als „peinliche Farce“, denn „mißbrauchtes Vertrauen erstickte die zarten Ansätze von Gesprächsbereitschaft zwischen den Konfliktparteien“, die Entführungsindustrie sei angeheizt worden.
Auch Gómez´ Buch erschien vor der überraschenden Wendung der letzten Monate. Doch er hält sich mit Bewertungen zurück, erzählt hingegen manche Episoden geradezu romanesk. Besonders aufschlußreich sind seine Enthüllungen über die Mauss-Konkurrenz der Sicherheitsfirma Control Risks, die ihre Mitarbeiter aus den diversen britischen Geheimdiensten rekrutiert und weltweit dem lukrativen Geschäft der „Beratung“ bei Entführungen nachgeht. Sie assistierte der kolumbianischen Polizei, als diese die Verhaftung von Werner und Ida Mauss plante. Gómez macht kein Hehl daraus, daß er Hoffnungen auf einen Friedensprozeß mit der ELN setzte – verständlich also, daß aus dieser Perspektive Mauss besser wegkommt.
Fazit: Beide Bücher sind spannend geschrieben und zum besseren Verständnis der heutigen Entwicklungen wärmstens zu empfehlen.

Der Wirbelsturm und die Sonne

Gut ein Drittel des Sammelbandes “Kolumbien heute” wird kulturellen Phänomenen gewidmet, unter anderem der modernen Lyrik, dem Roman und dem Theater, sowie – üppig vielfarbig illustriert – den bildenden Künsten und der Architektur. Nicht nur das kolumbianische Spanisch, sondern auch zwei karibische Kreol- und zahlreiche Indianersprachen werden charakterisiert. Leider fehlt ein vergleichbarer Überblick über die reichhaltige Musiklandschaft. Dennoch: Gründlich wie sonst keine andere deutschsprachige Publikation führt dieser Teil in die Kulturszene jenseits von García Márquez ein.
Dagegen wird mit vornehmer akademischer Zurückhaltung das Wirken der Regierung Samper ausgeklammert, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung immerhin bereits drei Jahre im Amt war und schon damals ein Paradebeispiel für das Phänomen „Machterhalt durch Vetternwirtschaft“ darstellte. Die historische Dimension ihrer Themen arbeiten jedoch alle AutorInnen gründlich heraus, so auch in den Beiträgen zur indigenen und zur schwarzen Bevölkerung. Ohne die jahrhundertelange Diskriminierung zu verharmlosen, werden hier die realen Fortschritte in der Organisation und Bewußtwerdung von Indígenas und AfrokolumbianerInnen aufgezeigt, die etwa in der Verfassung von 1991 ihren Niederschlag gefunden haben. Allzuoft geraten diese Menschen allerdings zwischen die Fronten der bewaffneten Auseinandersetzungen von (weiß-mestizisch geführten) Armee-Einheiten, Paramilitärs und Guerillagruppen. Oder sie stehen einem westlich geprägten Entwicklungsbegriff im Wege, etwa bei Großprojekten der Erdölförderung, der Energiegewinnung durch Wasserkraftwerke oder des Agrobusiness.
Die Landfrage wird zwar häufig gestreift, aber nicht als eigenes Thema unter die Lupe genommen – ein Manko, ist sie doch eine zentrale Ursache für die heutige Konfliktsituation, die in manchen Gegenden bereits bürgerkriegsähnliche Züge angenommen hat. Die seit 1961 zaghaft laufende Agrarreform wird seit gut zehn Jahren von einer Gegenreform überlagert: Mit Unterstützung der Armee vertreiben Paramilitärs im Dienste der neuen Großgrundbesitzer, meist Drogenhändler, Hunderttausende von Campesinos. Wer als Guerillasympathisant bezeichnet wird und nicht schnell genug flieht, muß mit seiner Ermordung rechnen. In den letzten Jahren wird so das strategisch hochinteressante Gebiet im Nordwesten geräumt, wo nach dem Willen staatlicher Entwicklungsplaner ein weiterer interozeanischer Kanal gebaut werden soll.

Zeugnisse gegen das Vergessen

Viel plastischer werden solche Fragen wie auch die vielfältige Komplizenschaft des Staatsapparates mit den rechten Todesschwadronen im Misereor-Buch „Gegen das Vergessen“ behandelt. Der exilierte Menschenrechtsanwalt Luis Guillermo Pérez läßt ausführlich neun Frauen und sieben Männer zu Wort kommen, politisch aktive Menschen und Angehörige von Verschwundenen. In diesen erschütternden Zeugnissen treten die Einzelschicksale hinter den immer wieder zitierten Zahlen hervor – über 20 000 politische Morde in zehn Jahren, die wiederum „nur“ rund 10 Prozent aller Morde ausmachen, eine Aufklärungsrate, die gegen Null tendiert, über eine Million Flüchtlinge im eigenen Land…
Der Erzbischof von Cali sieht in der Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik eine grundlegende Voraussetzung für den Frieden: „Gerechtigkeit ist eher gefordert als Barmherzigkeit“.
Eine breite Blutspur zieht sich durch fast sämtliche Texte, und der systematische Charakter des „paramilitärischen Projekts“ von der Auslöschung der linken Partei Unión Patriótica (UP) über Repressionen gegen Gewerkschafter und Menschenrechtler bis zur Vertreibung von Campesinos wird evident. Bewundernswert der Optimismus des engagierten Rechtsanwalts und UP–Mannes Josué Giraldo: „Bei einem verheerenden Wirbelsturm weiß man sehr wohl, daß an irgendeiner Stelle am Himmel die Sonne noch immer da ist (…). Nach den Unwettern wird der Himmel wieder wolkenlos sein…“
Eine fundierte Einleitung und weitere verbindende Texte von Bettina Reis stellen den gesamtgesellschaftlichen Kontext her, von der Menschenrechtsarbeit unter schwierigsten Bedingungen, den Hintergründen des „schmutzigen Krieges“, der sozialen Lage in Stadt und Land, der Fortschritte der Indígenabewegung bis hin zur Repression gegen GewerkschafterInnen. Unter permanentem Ausnahmezustand, der die Ansätze zu einer zivilen Gesellschaft systematisch zertrümmert, kann sich eine demokratische Linke ebensowenig entwickeln wie eine zivile Gesellschaft.
Merkwürdig blaß bleiben allerdings hier wie auch im Sammelband die Aktivitäten von FARC, ELN und den kleineren noch aktiven Guerillaverbänden, die nun wahrlich mehr als ein marginales Phänomen darstellen. Bei aller Abscheu gegenüber den Paramilitärs: Ihr Vormarsch ist auch eine Reaktion auf das Erstarken der Guerilla in den letzten fünfzehn Jahren, die ihre Kriegskassen mit Entführungen, Erpressung von Schutzgeldern und der „Besteuerung“ des Drogenhandels auffüllt.
Eine Analyse der langlebigsten lateinamerikanischen Rebellengruppen steht also noch aus – auch in Kolumbien gibt es hierzu nur Bruchstückhaftes. Ob es unter dem neuen Präsidenten Pastrana tatsächlich zu einem Friedensprozeß und zum Abklingen des “Wirbelsturms“ kommen wird? Für Josué Giraldo käme dies auf jeden Fall zu spät – wenige Monate nach seinen bewegenden Ausführungen wurde er im Beisein seiner zwei kleinen Töchter erschossen.

Hypothek Samper

Die Stichwahl der kolumbianischen Präsidentschaftswahlen fällt mit dem 21. Juni zwischen Redaktionsschluß und Erscheinen dieser Ausgabe. Die LeserInnen wissen also, wer zum neuen Präsident von Kolumbien gewählt wurde. Der Blick auf den Wahlkampf zeigt das politische Kräfteverhältnis zu Beginn der neuen Amtszeit.

NichtwählerInnen bei fast 50 Prozent

Die Wahlen wurden als Neuauflage der Entscheidung von 1994 inszeniert. Damals konnte sich der Liberale Ernesto Samper um Haaresbreite gegen den Konservativen Andrés Pastrana durchsetzen. Diesmal hatte Pastrana gegenüber Sampers Kronprinzen Horacio Serpa die besseren Karten. Der 44jährige Pastrana lag zwar nach der ersten Runde an zweiter Stelle, doch nur um den Hauch von 0,3 Prozentpunkten. Beide erzielten am 31. Mai 35 Prozent der fast elf Millionen abgegebenen Stimmen. Die Sensation aber lieferte die ehemalige Außenminsterin Noemí Sanín, die ohne einen großen Parteiapparat im Rücken 27 Prozent des Gesamtvotums abkassierte und in den drei größten Städten, Bogotá, Cali und Medellín, ihre Rivalen weit hinter sich ließ. Die von den traditionellen Parteien enttäuschten KolumbianerInnen liefen ihr scharenweise zu. Ein Signal, daß das alte Zweiparteiensystem vielleicht doch ausgedient hat.
Von Saníns WählerInnen und den zehn Millionen, die gar nicht zur Wahl gingen, hing die Entscheidung ab. Denn der ehemalige Armeechef Harold Bedoya, der mit seiner Fuerza Colombia die militaristische Option verfocht und den äußerst rechten Rand der Wählerschaft abgraste, blieb unter zwei Prozent.
Die Liberalen sind die mit Abstand größte Partei Kolumbiens. Sie stellten die letzten drei Präsidenten und sind praktisch nicht zu schlagen, wenn sie geeint antreten. Doch jedesmal, wenn sie sich spalten, bekommen die Konservativen ihre Chance. Diesmal wurden sie verstärkt durch den bei internen Vorwahlen durchgefallenen ehemaligen Generalstaatsanwalt Alfonso Valdivieso, der auf eine aussichtslose eigene Kandidatur verzichtete und sich dem konservativen Herausforderer anschloß. Er gilt als Mann Washingtons, der sich jahrelang dafür einsetzte, das von den USA kritisierte Verbot der Auslieferung von kolumbianischen StaatsbürgerInnen aus der Verfassung zu tilgen. Eine Bestimmung, die vor allem für die international gesuchten Drogenbosse relevant ist. Auch der an der Seite Pastranas für das Amt des Vizepräsidenten kandidierende Gustavo Bell hat eine liberale Vergangenheit. Außerdem tritt er für die politisch sonst unterrepräsentierte Atlantikküste als Integrationsfigur auf. Selbst Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez stellte sich öffentlich hinter den Mann aus seiner Heimatregion und wählte diesmal konservativ. Die populären Boxer und Leichtathleten, die Horacio Serpa aufbieten konnte, vermochten das Gewicht des berühmten Erzählers nicht aufzuwiegen. Und die Fußballer, für die sich die KolumbianerInnen in diesen Tagen weit mehr interessierten als für die Kandidaten, ließen sich nicht vereinnahmen.
Andrés Pastrana versprach eine Mehrwertsteuersenkung von 16 auf 12 Prozent, mehr Kredite für die Bauern und bessere Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen. Der 56jährige Horacio Serpa, der selbst aus bescheidenen Verhältnissen stammt, kündigte an, er wolle die Sozialreformen verwirklichen, die Samper nur im Programm aufgeführt hatte, und versuchte sich als Friedensmacher zu profilieren. Er kennt den Gegner gut, denn mit einigen Comandantes hat er einst Jura studiert. Sein Plan, in einem Geheimabkommen mit der castristischen Volksbefreiungsarmee (ELN), der zweitgrößten Rebellenorganisation, noch vor der Stichwahl eine Verhandlungsrunde zustandezubringen, schlug allerdings fehl, als das im Februar unterzeichnete Abkommen durchsickerte. Außerdem starb kurz danach der ELN-Oberkommandierende Manuel Pérez, ein spanischer Priester, dessen Nachfolger es mit dem Frieden nicht so eilig hat.

Den Gegner vom Platz schießen

Daß Serpa, der in den jüngsten Umfragen deutlich zurücklag, doch als Erstplazierter in die Stichwahl gehen kann, ist in erster Linie dem alten Klientelsystem zu verdanken, das von den in den Städten erhobenen Umfragen nicht berücksichtigt wird. Vor allem auf dem Lande sind alte Loyalitäten ausschlaggebend, und lokale Caudillos können mehrere hundert Stimmen beeinflussen. Dieses Potential sei noch nicht ausgeschöpft, meinte der ehemalige Innen- und Justizminister, der, angesteckt vom Fußballfieber, vor der Entscheidungsrunde verkündete, seine Mannschaft würde den Gegner vom Platz schießen. Seine große Schwäche: Er wird als Kandidat des Continuismo gesehen, während Pastrana, ebenso wie Noemí Sanín, seine Kampagne auf die Notwendigkeit des Wandels aufgebaut hat.
Auch bei einer Fernsehdebatte, der Pastrana gerne ausgewichen wäre, gelang es dem ausgefuchsten Serpa nicht, sein rhetorisches Talent voll in die Waagschale zu werfen. Eine Frage, bei der er nur verlieren konnte, ließ Pastrana als Gewinner erscheinen. Der verkündete nämlich großmütig, er würde seinen Amtsvorgänger Ernesto Samper unter keinen Umständen ausliefern, wenn dieser in den USA – ähnlich wie einst General Noriega – in einem Strafverfahren verurteilt würde. Serpa erklärte hingegen, er würde sich an die Gesetze halten, also seinen Freund und Verbündeten fallenlassen. Die Auslieferung kolumbianischer Staatsbürger, bis vor kurzem von der Verfassung verboten, war das dringendste Anliegen der USA, das auch von Pastrana unterstützt wurde.
Bis zuletzt setzte sich das Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Kandidaten auch in den Meinungsumfragen fort. Noemí Sanín, die sich gleich nach den Wahlen für 14 Tage in die USA verabschiedete, ließ sich nicht dazu bewegen, durch einen Fingerzeig den Präsidenten zu küren. Von Samper und Serpa hat sie sich während der Drogengeldaffaire abgewandt, und mit Pastrana verbindet sie seit Ewigkeit tiefe gegenseitige Abneigung. Trotzdem tut sich der ehemalige Bürgermeister von Bogotá beim Werben um ihre WählerInnen leichter, denn seine Botschaft ist die politische Wende. Aber auch Serpa setzte sich nach der ersten Runde mit seinen Beratern und den wichtigsten liberalen Parlamentariern zusammen, um Gemeinsamkeiten mit den Wahlslogans der geschlagenen Noemí Sanín zu suchen.
Auf Serpa lastet die Hypothek Sampers, der seinerzeit die Stichwahl gegen Pastrana nur dank einer Spende von sechs Millionen Dollar vom Drogenkartell von Cali für sich entscheiden konnte. Serpa selbst konnte sich nie gänzlich vom Verdacht reinwaschen, er hätte vom Ursprung dieser Gelder gewußt. Von der vierjährigen Amtszeit Sampers wird neben dem Skandal um die Wahlkampffinanzierung das Ausufern der politischen Gewalt in Erinnerung bleiben. Samper wurde zwar von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen freigesprochen, doch blieb er den Rest seiner Amtszeit in der politischen Defensive. Daher konnten die Militärs ohne politische Rücksichten die Guerillabekämpfung zunehmend paramilitärischen Verbänden überlassen, die nicht zwischen bewaffneten Rebellen und deren zivilen Sympathisanten unterscheiden. Die Übergriffe gegen die Menschenrechte haben sich daher in einem Maße verschärft, daß die Armee sogar in den Berichten des US-State Department heftig attackiert wurde. Rund 30 Arbeiter, die kurz vor der ersten Wahlrunde in der Erdölstadt Barrancabermeja verschleppt wurden, sind inzwischen von den Paramilitärs exekutiert und verbrannt worden. Auch in der Hauptstadt schlagen die Profikiller ungehindert zu. Anfang Mai war der bekannte Anwalt und Menschenrechtsaktivist Eduardo Umaña ermordet worden.

Die “Vietnamisierung” Kolumbiens

Daß diese Gruppen auf eigene Rechnung arbeiten, kann keiner mehr behaupten, seit im Mai die XX. Brigade, eine Geheimdiensteinheit der Armee, aufgelöst wurde. Ihre Verbindungen zu Todesschwadronen waren von der US-Botschaft aufgedeckt worden. Sie spezialisierte sich darauf, alles, was als linke Opposition betrachtet wurde, auszuspionieren und zu vernichten. 80 Prozent der Personen, die sie als subversiv etikettiert hatte, sind keine Guerilleros, sondern MitarbeiterInnen von Gewerkschaften, NGOs und Menschenrechtsgruppen. General Iván Ramírez, ein ehemaliger Kommandant dieser Einheit, rächte sich an den USA für ein Einreiseverbot, indem er gegenüber Radio Caracol auspackte, die US-Militärberater hätten die Truppen in den 60er und 70er Jahren für den schmutzigen Krieg ausgebildet. Noch vor zwei Jahren hätten die Chefs der XX. Brigade ausgezeichnete Beziehungen zur CIA unterhalten.
Auch jetzt spielen die US-Berater wieder eine entscheidende Rolle. Sie fliegen die Einsätze gegen die Coca- und Schlafmohnplantagen, zu deren Vernichtung sich die kolumbianische Regierung verpflichtet hat. Daß trotz eines Rekordergebnisses bei der Ausrottung der illegalen Kulturen – 18.000 Hektar Coca und 4000 Hektar Opiumpflanzen – die Anbaufläche im Jahre 1997 neuerlich gewachsen ist, hat an der Anti-Drogen-Strategie der USA bisher wenig verändert. Erst auf der UNO-Drogenkonferenz Anfang Juni in New York hat sich auch Präsident Clinton der Meinung der LateinamerikanerInnen und EuropäerInnen angenähert, wonach ein erfolgversprechender Ansatz gegen den Drogenmißbrauch integral sein muß. Auf der einen Seite müßten die Industriestaaten mehr gegen den Konsum und den Export der für die Drogenerzeugung notwendigen Chemikalien unternehmen, auf der anderen Seite führe die Vernichtung der Kulturen nicht zum Ziel, solange die Bauern keine brauchbare Alternative angeboten bekämen. Solche Programme gibt es zwar längst, doch sind sie reine Kosmetik geblieben und nehmen keine Rücksicht auf die Vorschläge und Erfahrungen der Betroffenen. Die Organisationen der Coca-Bauern haben sich längst bereit erklärt, auf legale Produkte umzusteigen und die weitere Vernichtung des Urwalds zu verhindern, wenn ihnen angemessene Unterstützung gewährt wird.
Was Clintons Erklärungen wert sind, muß abgewartet werden. In Washington interessieren sich nämlich vor allem die Geheimdienste und die Militärs für Kolumbien. Der Kommandant des derzeit noch in Panama stationierten Südkommandos der US-Streitkräfte, General Wilhem, war in den letzten Monaten ebenso zu Besuch in Bogotá wie der FBI-Chef und der Anti-Drogenzar Barry McCaffrey. Zwar wurde dem Land heuer die Zertifizierung für gute Zusammenarbeit bei der Drogenbekämpfung nicht verweigert, doch zeigt die Präsenz von militärischen US-Beratern – mehr als 250 Agenten sollen vor allem bei der Drogenbekämpfung eingesetzt sein – daß die USA selber die Regie übernehmen wollen. Von “Vietnamisierung” sprechen Politiker, die sich unangenehm an das zunehmende Engagement Washingtons im Indochina der 50er und 60er Jahre erinnert fühlen.

Fruko und (s)ein Joe

Seine Plattenfirma nennt ihn gerne den ‘Godfather of Colombian Salsa’ und erzählt die Geschichte von Julio Ernesto Estrada Rincón aus Medellín. Nach dem Tod des Vaters muß der Zwölfjährige zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Ernesto schleppt Kabel und macht den Laufburschen bei Kolumbiens großer Plattenfirma Discos Fuentes. In seiner Freizeit übt er Gitarre, Piano und Bass und macht sich mit der Tontechnik vertraut. Mit dreizehn macht er die ersten Probeaufnahmen und erregt die Aufmerksamkeit von Firmenchef Antonio Fuentes. Als Musiker und Tontechniker arbeitet Ernesto fortan in verschiedenen Bandbesetzungen. Ende der 60er kommt er so nach New York und hier zieht ihn die Salsa voll in ihren Bann. Zurück in Kolumbien gründet er 1971 seine eigene Band: Fruko Y Sus Tesos. Selbstverständlich steht Fruko alias Ernesto bei Discos Fuentes unter Vertrag. Was als Studioband startet entwickelt sich langsam zu einem Bühnenerlebnis. Daß Fruko mit der Plattenfirma im Rücken gute Voraussetzungen hat, ist nur ein Teil der Erfolgsgeschichte. Salsa gilt als Musik der Unterschichten und mit seiner Verbindung von New Yorker Salsa und kolumbianischen Liedtexten trifft er das Lebensgefühl der Menschen in den Großstädten Kolumbiens. Seine Version von El Preso, der Gefangene, wird sein Hit: „In der Welt, in der ich lebe, gibt es immer vier Ecken, aber zwischen Ecke und Ecke gibt es immer das gleiche. / Für mich existiert der Himmel nicht, auch nicht der Mond oder die Sterne, für mich gibt es keine Sonne, für mich ist alles Finsternis… / Für immer verurteilt in dieser furchtbaren Zelle, in die weder die Zärtlichkeit noch die Stimme eines Menschen eindringt. Hier vertreibe ich mir die Tage und die ganze Nacht. Nur die immerwährende Erinnerung an meine Mutter hält mich am Leben.“
Mit diesem Song beginnt die Best-of-CD, deren achtzehnter und letzter Titel ihr den Namen verleiht: Todos bailan Salsa. Und so kommt sie auch daher, flott und tanzbar, aber es ist, wie der Liedtext beweist, keine Dudel-Salsa. Mambos sind ebenfalls vertreten und, zufällig passend zur Jahreszeit, La Pachanga Del Futbol: „Valderrama kommt an den Ball … spielt ihn zu Herrera … der mit der Hacke zu Asprilla … das ist das …
Gollasooooooooooo!“
Ob Pate oder nicht, Fruko hat der Salsa in Kolumbien mit den Weg bereitet. Viele Jahre steht er mit seinen Tesos an der Spitze der heimischen Salsaszene und inspiriert andere Musiker. Dabei hat besonders eine Stimme seine Tesos lange bereichert: die von Joe Arroyo.

Das Patenkind

„Mir hat es nie an etwas gemangelt / Von Kleinauf / Erwarb ich Ruhm / Ich kann nicht klagen…“ Wer sich freudig, fetzig mit solchem Liedtext beim lieben Gott bedankt (A Mi Dios Todo Te Debo), muß es im Leben etwas einfacher gehabt haben. 1971 wird Joe Arroyo von Discos Fuentes unter Vertrag genommen. Im gleichen Jahr gründet Fruko seine Band. Zehn Jahre wird Joe Arroyo Fruko Y Sus Tesos seine Stimme geben. Der Pate hat sein Patenkind. Joe lernt bei Fruko sein Handwerk und entwickelt dabei mehr und mehr seinen eigenen Stil. 1981 ist es soweit: La Verdad nennt er seine eigene Band und beantwortet damit alle verwunderten Fragen nach seinem Ausstieg bei Fruko und seiner Weiterarbeit am eigenen Stil. Er verbindet Elemente der Salsa mit Rhythmen aus der karibisch-kolumbianischen Folklore und legt darüber seine klare Stimme.
Die nun vorliegende Best-of-CD bietet mit 18 Songs einen guten Überblick über das musikalische Schaffen von Joe Arroyo. Der Aufmacher La Noche zeigt die Richtung an: Es geht, nicht nur, aber vorwiegend um Liebe und Gefühl. Zwischenmenschliches auf hohem musikalischem Niveau. Und wer sich persönlich davon überzeugen möchte, hat Ende Juli und Anfang August die Möglichkeit dazu. Insgesamt sechsmal wird Joe Arroyo in Deutschland auf der Bühne stehen.

Todos Bailan Salsa: Best of Fruko Y Sus Tesos, TUGCD 1014.
La Noche: Best of Joe Arroyo, TUGCD 1015.

Samba, Coca und Tore, die überall lauern.

Wie alle männlichen Einwoh-
ner Uruguays wollte ich einmal Fußballer werden.“ Aus dem Jugendtraum, zu dem sich Eduardo Galeano in seinem 1997 erschienenen Buch „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“ bekennt, ist nichts geworden. Zum Glück, denn ob der Fußballer Galeano „Die offenen Adern Lateinamerikas“ und damit eines der wichtigsten Bücher der letzten 30 Jahre über diesen Kontinent geschrieben hätte, ist zumindest sehr fraglich. So aber hat der leidenschaftliche Fan, „Der Spieler mit der Nummer Zwölf“, sich selbst aufgestellt und erzählt Geschichten und Anekdoten über das Spiel, das überall auf der Welt so viele Menschen in seinen Bann zieht .
Zu Beginn des Buches, das im Original unter dem Titel „El fútbol a sol y sombra“ erschienen ist, beschreibt der Uruguayer in seinem typischen anekdotischen Stil alles, was zum Spiel dazugehört: der Fan, der Schiedsrichter, das Stadion, der Ball werden hin und her gespielt und im Licht, aber eben auch im Schatten betrachtet. Auch historische Kuriositäten gräbt Galeano aus. Wer wußte schon, daß erst 1938 drei argentinische Tüftler aus Córdoba den Ball erfanden, der der Vorgänger des heutigen runden Leders ist. Sie erfanden eine Blase mit Ventil, die man mit einer Pumpe aufblasen konnte. Seitdem ist es möglich zu köpfen, ohne sich an dem Netz zu verletzten, das vorher den Ball zusammengehalten hatte.
„Verrückte, das sind verrückte Engländer“, so zitiert Galeano aus den Erinnerungen eines Journalisten. Der hatte als Kind verwundert seinen Vater gefragt, warum die blonden Jungen gleich neben dem Irrenhaus andauernd gegen einen Ball treten.

So kam der Fußball
nach Lateinamerika…
Die Frage, wer mit diesen Verrücktheiten angefangen hat, wird letztendlich wohl nie entschieden werden. Doch waren es unbestreitbar die Engländer, die neben Eisenbahnen, Manchester-Kapitalismus und anderen nützlichen Dingen auch den Fußball mit (höchst britischen) Regeln nach Lateinamerika exportierten. Genauer gesagt, an den Río de la Plata. Dort fand auch 1889 das erste „Länderspiel“ zwischen Montevideo und Buenos Aires statt, das eben die britischen Handelsvertreter und Diplomaten unter sich ausmachten. Ziemlich schnell allerdings wurde der Fußball immer weniger englisch und immer mehr südamerikanisch. Die Mützen, Hüte und schweren „Manfield-Stiefel“ wurden abgelegt, Trikots wurden erfunden, Brasilien lieferte Capoeira und Samba als Zugaben, die La-Plata-Länder den Tango. „Wie der Tango, so wuchs auch der Fußball von den Vorstädten aus. Und so entstand an den Füßen der ersten virtuosen südamerikanischen Spieler der „toque“, die typisch südamerikanische Art des Dribblings: der Ball, der wie ein Instrument gespielt wird, wie eine Gitarre, wie eine Quelle der Musik.“
Viele Porträts der oft glücklichen, meist aber auch tragischen und einsamen Helden des Mannschaftsports Fußball zeichnet Galeano in seiner kleinen Geschichtsschreibung nach. So das Schicksal des ersten schwarzen Fußballers in Lateinamerika, des Uruguayers Andrade oder des krummbeinigen Brasilianers Garrincha, der bei der WM 1962 zum besten Spieler gewählt wurde, aber seinen Tod „arm, im Suff und einsam“ starb.

Uruguayische Höhenflüge
Überall auf der Welt heißt Fan sein auch parteiisch sein. Und wenn ein Chronist des Fußballs aus einem Land kommt, in dem schon die Kinder als Anhänger von Nacional oder Peñarol auf die Welt kommen, dann ist es vielleicht auch verständlich, daß Galeano seine Landkarte der Fußballwelt anders zeichnet als die Geographen. Und zumindest in der Vergangenheit war Uruguay im Fußball eine Weltmacht. Schließlich hat es zwei Olympiasiege und zwei WM-Titel errungen. 1924 gewann die Mannschaft aus Uruguay bei der Olympiade in Frankreich als erste südamerikanische Mannschaft die Goldmedaille. Auf dem Weg dahin hatten sie aber allerlei Demütigungen zu überstehen: Im Spiel gegen Jugoslawien wurde die Fahne verkehrt herum aufgezogen (mit der Sonne nach unten) und anstelle der Nationalhymne wurde ein brasilianischer Marsch gespielt. Das Spiel aber gewann Uruguay mit 7 : 0. Heute ist von diesem Glanz allerdings nicht viel übriggeblieben, außer einer grenzenlosen Selbstüberschätzung. Der uruguayische Soziologe Rafael Bayce beschreibt das so: Im Vorfeld der WM 1986 wurden in einer Umfrage die einheimische Bevölkerung und die in anderen Ländern nach den Chancen der einzelnen Teams befragt. Die Meinung über die bundesdeutschen Kicker von Deutschen und Nichtdeutschen war ungefähr gleich, und auch die Brasilianer schätzten ihre Mannschaft nicht viel besser ein als der Rest der Welt. Die Spanier überschätzten ihre Truppe nach dieser Umfrage etwa sechsmal, die Uruguayer jedoch etwa 45mal gegenüber den Befragten in anderen Ländern. Ein schon pathologisches Anzeichen von Realitätsflucht, wie Bayce anmerkt.
Die schönste Geschichte im Buch stammt übrigens nicht vom Autor selbst. In „Tor durch Sanfilippo“ des argentinischen Schriftstellers Osvaldo Soriano spielt der Held ein „Fußballspiel“ im Stadion San Lorenzo nach. Zwischen Kochtöpfen, Käse und Knackwürsten erzielt José Sanfilippo noch einmal „das schnellste Tor der Geschichte“, diesmal allerdings in einem riesigen Einkaufszentrum von Buenos Aires, das Stadion ist inzwischen abgerissen.

Schattenseiten
Wie immer bei Galeano ist auch seine kleine Geschichte des Fußball nicht zu trennen von dem, was sich jenseits des Spielfeldes abgespielt hat. Natürlich erzählt er auch vom „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador im Jahr 1969. Und von der WM 1978 in Argentinien. Während die holländischen Vizeweltmeister sich weigerten, den Führern der argentinischen Diktatur die Hand zu geben, steht stellvertretend für die deutsche Haltung ein Zitat von Berti Vogts, dem damaligen deutschen Mannschaftskapitän: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Aber nicht nur davon, auch von Nationalismus, der Macht der FIFA und von dumpfer Gewalt ist die Rede. Kommerz buchstabiert Galeano von A wie adidas bis Z wie Zirkusaffen (die Spieler) durch.
Nach dem Endspiel der WM 1970 in Mexiko zwischen Italien und Brasilien titelte die englische Presse: „Ein solch schöner Fußball müßte verboten werden“. Wenn es dieses Jahr mit ähnlichen Lobeshymnen nichts werden sollte, ist Galeanos Buch sicher eine kleine Entschädigung. Wenn doch, dann ist es eine prima Zugabe. Brasilien überrollte übrigens Italien damals mit 4 : 1.
Eben dieses Spiel, das WM-Fi-
nale zwischen Brasilien und Italien am 21. Juni 1970, ist für den englischen Journalisten Chris Taylor die Geburtsstunde des lateinamerikanischen Fußballs. Was angesichts der triumphalen Erfolge in den vorhergegangenen 50 Jahren doch etwas verwundert. Aber wie auch immer, die „beste, die erregendste Mannschaft der Welt“, wie er das brasilianische Team von 1970 bezeichnet, nicht gesehen zu haben, stimmt schon etwas betrüblich.
Taylors 1998 erschienenes Buch „Samba, Coca und das runde Leder“ ist das Resultat von „Streifzügen durch das Lateinamerika des Fußballs“, wie es im Untertitel heißt. Streifzüge, die er zwischen 1995 und 1997 unternommen hat, einem Zeitraum, der von der Qualifikationsrunde zur WM in Frankreich beherrscht wurde. Nie wird er auf den 223 Seiten des Buches aber betriebsblind: immer versucht er auch die Hintergründe des Spiels zu vermitteln, das Spielfeld des Fußballs hat für ihn die Größe des gesamten Kontinents, die Protagonisten sitzen nur allzu oft an den Hebeln der Macht und lassen die oben erwähnten Zirkusaffen bzw. die Spieler tanzen. Und doch, trotz der politischen, historischen und sozialen Informationen ist es ein Buch über Fußball. Über den Fußball, wie er sein könnte und sein sollte und eben ein Buch über den Fußball, wie er tatsächlich ist.

“Hoffnungslos nostalgisch“
Seine Reise beginnt Chris Taylor am Río de la Plata. Eduardo Galeano hätte sicher seine Freude daran, daß die erste Station auf den Streifzügen des fußballverrückten Engländers Uruguay ist. Mit einer ungeheuren Detail- und Faktenkenntnis spielt sich der Autor akribisch von dort bis nach Mexiko vor. Auch eine Art der Geschichtsschreibung.
Charakteristisch für den Fußball in Uruguay, Argentinien und Brasilien sind die großen Duelle zwischen den ewigen Rivalen Peñarol und Nacional, Boca Juniors und River Plate, Flamengo und Fluminense. Wer wie warum zu welchem Verein gehört und wie sich diese im Laufe der Zeit entwickelt und verändert haben, beschreibt Taylor in einer bewundernswerten Neutralität. Wer einige Zeit in einem dieser Länder verbracht hat, kann es kaum vermeiden, irgendwann einmal Stellung dazu beziehen, welcher „sein“ Verein ist, Ausländer oder nicht. Das wird auch Chris Taylor nicht anders gegangen sein, anmerken läßt er es sich aber nicht.
Der Fußball in Uruguay ist für ihn „hoffnungslos nostalgisch“. Das Land lebt von und in seiner Vergangenheit, die auch schon mal deprimierende Gegenwart wird ausgeblendet. Spätestens seit der WM 1986 gilt Uruguay allgemein aber als unwürdiges Team von Grätschern und Rauhbeinen, daran haben auch die internationalen Erfolge von Nacional und Peñarol wenig geändert. Die „garra charrúa“, einst Ausdruck für Mumm, Kampfgeist und Wildheit ist heute zu einem Synonym für Nachtreten und den Gegenspieler wüst von den Beinen zu holen, geworden. Außer den Uruguayern selbst war dann auch wohl niemand traurig, daß das Land die Qualifikation zur WM 98 in Frankreich nicht schaffte. Argentinien: Die WM 1978, das Ballspektakel fürs Vaterland unter der Militärdiktatur, die Rivalität zwischen den wechselnden ehemaligen Nationaltrainern „El Narigón“ (Große Nase) Bilardo und „El Flaco“ (Der Hagere) Menotti und natürlich das Phänomen Maradona sind die Stationen von Chris Taylor. Das politische Potential des Fußballs wird hier besonders offensichtlich. Die Militärdiktatur wußte dieses geschickt auszunützen. Dagegen half auch nicht der „Waffenstillstand“, den die Montoneros, eine peronistische Stadtguerilla für die Dauer der WM 1978 verkündeten. Ihre Hoffnung, daß sich das Interesse der Welt auf die Verbrechen der Militärjunta richten würde, ging im Siegestaumel beim Gewinn des Titels unter. Ein Titel, durch den der linke Intellektuelle Menotti die Wünsche der Militärs erfüllte.

Andenluft und Fußballtoto
In Bolivien findet Taylor Vereine mit solch schönen programmatischen Namen wie The Strongest, Destroyers oder Always Ready, auch hier kam der Fußball mit der englischen Eisenbahn Ende des letzten Jahrhunderts an. Heute geht es in Bolivien vor allem um eins: der gefährlichste Gegner ist für das Land die Höhenangst der Anderen. Seit der Empfehlung der FIFA von 1995, internationale Spiele ab einer Höhe von über 3.000 Metern über dem Meeresspiegel zu verbieten, sind die bolivianischen Fans außer sich vor Wut und die Souveränität scheint ähnlich bedroht wie vor 150 Jahren, als das Land im „Krieg um den Pazifik“ seinen Zugang zum Meer verlor. Wer hat die Bolivianer denn gefragt, ob sie bei 40 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit in Bahia in den brasilianischen Tropen spielen wollen. In Kolumbien sind es die Drogenkartelle, die eher offen als verdeckt bei jedem Spiel mit auflaufen. Die Mannschaften des Cali-Kartells traten in den achtziger Jahren gegen die des Medillín-Kartells an. Unsummen wurden unter der Regie der Drogenbosse verwettet. Und das nicht nur auf das Ergebnis. Auch darauf, wer den ersten Eckball schießt, wer zur Halbzeit führt, auf nahezu alles. Wurde eine Rechnung danach nicht eingehalten, wurde schon mal mit der Waffe abgerechnet. Viel verändert hat sich bis heute nicht. 1997 stellte eine Untersuchung fest, daß 80 Prozent des Kapitals bei den Topvereinen in den Händen der Drogenkartelle liegen. Trotzdem hat der kolumbianische Fußball aber auch durch seine internationalen Erfolge Aufsehen erregt. Mit einem historischen 5:0 Sieg in Buenos Aires qualifizierte sich die Mannschaft 1993 für die WM in den USA und wurde dort als Geheimfavorit gehandelt. Tatsächlich endete der Ausflug aber in einem Debakel und ein Spieler überlebte die Niederlage nicht. In „Eigentor in den Tod: Warum Andrés Escobar sterben mußte“ beschreibt Taylor dieses dunkle Kapitel. Der Kolumbianer wurde nur wenige Tage nach seinem verhängnisvollen Eigentor im Spiel gegen die USA in seiner Heimatstadt Medellín erschossen. Im Gerichtssaal wurde behauptet, daß der Killer sechs Schüsse abfeuerte und dazwischen jeweils Tor brüllte.

Kommerz, Korruption
und Abhängigkeiten
Nicaragua, „Das Land, das der Fußball vergaß“, durchstreift Chris Taylor hauptsächlich deshalb, weil es eines der wenigen Länder in Lateinamerika ist, in dem der Fußball keine Rolle spielt. Entsprechend geht es in dem Kapitel auch fast mehr um Baseball, den aus den USA importierten Nationalsport, als um Fußball. Aber der Autor sieht einen Hoffnungsschimmer: in der kleinen Stadt Diriamba, von dem Verlag das „Schalke Nicaraguas“ genannt, hat er eine Ecke ausgemacht, in der das Herz für Fußball schlägt.
Nur auf der letzten Station seiner Streifzüge, auf dem Spielfeld Mexiko verläuft sich der Autor. Zu undurchschaubar ist das Geschäft mit dem Fußball. Mannschaften werden nach Bier-sorten benannt oder umgekehrt, und Televisa, das größte Fernsehunternehmen der spanischsprachigen Welt, besitzt neben den Übertragungsrechten auch noch gleich die Vereine selbst. Zu undurchsichtig auch das bizarre Gestrüpp der Ersten Liga, die in vier Gruppen mit vier (oder auch fünf) Mannschaften unterteilt ist. Über Auf- und Abstieg wird nach jeweils drei Saisons entschieden, die durchschnittliche Punktzahl aus allen Runden ist entscheidend. Ähnlich der Situation in der Politik, ist auch der Fußball in Mexiko ein unentwirrbares Knäuel von Kommerz, Korruption und Abhängigkeiten. Trotzdem glauben aber die Mexikaner, ihr Fußball sei sauber. Nicht daß sie es nicht besser wissen würden, die seit jetzt 69 Jahren regierende PRI, die Partei der Institutionalisierten Revolution, hat dafür zu viel Anschauungsunterricht geliefert; sie wollen die Wahrheit nicht wissen.
Obwohl vom Stil her sehr unterschiedlich, haben die Fußballbücher von Eduardo Galeano und Chris Taylor doch vieles gemeinsam. Die Verfasser outen sich als leidenschaftliche Fans und beide versuchen, das Spiel mit dem runden Leder, bei dem die Tore lauern, auf ihre ganz eigene Weise zu schildern. Und beide schreiben über viel mehr als nur über das Spiel mit „dem rollenden Runden im flachen Eckigen“ (A. Mitscherlich). Der eine als Schriftsteller, der andere als Journalist. In ihrer gemeinsamen Unterschiedlichkeit ergänzen sich die beiden Bücher deshalb hervorragend. Ein perfekter Doppelpack für alle diejenigen, die vor dem Spiel und nach dem Spiel immer noch nicht genug von der „Droge“ Fußball haben. Aber genauso für die anderen, die es auch geben soll: wer immer schon mal verstehen wollte, wieso man in Begeisterung ausbrechen kann, wenn 22 Verrückte nach einem Ball treten, der ist vielleicht nach der Lektüre weniger ratlos
Natürlich darf in beiden Büchern auch nicht der Querpaß auf den neben Pelé und Maradona berühmtesten Fußballer des lateinamerikanischen Kontinents fehlen, einen asthmakranken Torhüter aus Argentinien mit dem Vornamen Ernesto, der später in Kuba und dann in Bolivien seinen Teil zur lateinamerikanischen Identität beitrug. Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.

Eduardo Galeano „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, Peter Hammer Verlag 1997, Wuppertal, 277 Seiten.
Chris Taylor „Samba, Coca und das runde Leder“, Schmetterling Verlag 1998, Stuttgart, 223 Seiten.

Der Tod des Comandante

Der spanische Priester, der die ELN seit 1982 geleitet hatte, war am 14. Februar, 60jährig, an Hepatitis gestorben: militärisch ungeschlagen und doch ein Opfer des strapazenreichen Lebens im Untergrund. General Fernando Tapias, der die Meldung bestätigte, gab zu, es wäre ihm lieber gewesen, den Guerillachef zu fangen, doch entscheidend sei, daß der „Oberterrorist“ keine Sabotageakte mehr leiten könne. Erstaunlich moderat fiel dagegen das offizielle Regierungskommuniqué aus, in dem der Friedenswille des Kommandanten gewürdigt wird: „Sein letzter Wille liegt im Vorabkommen von Viana, das unter seiner Anleitung unterschrieben wurde.“

Ein Priester in der Guerilla

Eigentlich wollte er in der Heimat sterben, im Dorf Alfamén der spanischen Provinz Zaragoza. Seine Verwandten, die heute noch dort leben, hat er nicht mehr gesehen, seit er sich vor 30 Jahren der Guerilla anschloß. Manuel Pérez Martínez war damals ein junger Priester, der, vom Fieber der Befreiungstheologie angesteckt, zwei Jahre durch Lateinamerika vagabundiert war. Aus der Dominikanischen Republik hatte man ihn ausgewiesen und auch in der kolumbianischen Hafenstadt Cartagena, wo er mit zwei Kollegen in den Armenvierteln arbeitete, durfte er nicht lange bleiben. Nach Spanien deportiert, kehrte er kurz darauf heimlich nach Kolumbien zurück, um sich dem Volksbefreiungsheer (ELN) als Kämpfer anzubieten. Das war damals für engagierte Geistliche nichts Ungewöhnliches: schon der legendäre Camilo Torres hatte 1966 in der an der kubanischen Revolution orientierten Guerillagruppe den Tod gefunden.
Aber auch bei der Guerilla eckte der hitzköpfige Aragonier an. Nach einem Disput mit Comandante Ricardo Lara Parada wurde er nach wenigen Wochen aus dem ELN ausgestoßen und durfte erst 1970, als sich eine andere Fraktion innerhalb der Organisation durchsetzte, wieder zurückkehren. Camilo Torres war es gelungen, in den Flügelkämpfen innerhalb der Organisation zu vermitteln. Aber nach seinem Tod entbrannten wieder heftige Dispute zwischen der aus Studenten und Arbeitern zusammengesetzten urbanen Fraktion und dem Campesino-Flügel. Die inneren Konflikte erlaubten es der Armee, die ELN-Guerilla 1972/73 fast völlig aufzureiben. Der Oberkommandierende Fabio Vásquez verschwand auf Nimmerwiedersehen nach Kuba, seine beiden Brüder und zwei Priester fielen im Kampf.
Es schlug die Stunde des Manuel Pérez, alias Poliarco, dem es gelang, die revolutionäre Organisation wieder auf die Beine zu bringen. 1982 übernahm er formal den Vorsitz der politischen Kommission, ließ es sich aber auch nicht nehmen, immer wieder bei militärischen Aktionen mitzumischen. Unter seiner Führung wurde verstärkt die wirtschaftliche Infrastruktur Kolumbiens attackiert. Die Armee macht Manuel Pérez für mehr als 500 Anschläge auf Ölpipelines verantwortlich: “Sabotage der Infrastruktur für die Auslieferung der Naturschätze an die Multis”, wie der Guerillachef die Aktionen rechtfertigte.
Die Stärke des ELN, so wissen Insider, besteht in seiner horizontalen Organisation. Die wichtigen Entscheidungen werden immer mit den etwa 5.000 Mann und Frau starken Truppen diskutiert. Von der größten Guerilla Kolumbiens, den militärisch vertikal organisierten kommunistischen FARC, unterscheidet es sich auch durch die größeren Skrupel gegenüber Geschäften mit den Drogenhändlern.

Die Guerillakoordination Simon Bolívar

Dennoch suchte Manuel Pérez die Friedenspolitik mit den Rivalen abzustimmen. Er ist der geistige Vater der „Guerillakoordination Simon Bolívar“, die in drei gescheiterten Verhandlungsrunden der Regierung gegenübertrat.
Das vor wenigen Wochen in Madrid unterzeichnete Abkommen, das neuen Verhandlungen den Weg bereiten soll, war ein Alleingang des ELN. Manuel Pérez, bereits todkrank, konnte es noch absegnen.
Daß dieses unter Vermittlung der spanischen Regierung geschlossene Abkommen wirklich noch unter dieser Regierung zu ernsthaften Friedensverhandlungen führt, ist eher zweifelhaft. Der neue Oberkommandierende der ELN, Nicolás Rodríguez Bautista, alias Gabino, hat angedeutet, die Übereinkunft sei wegen einiger Vorbehalte eingefroren. Gabino, der beim ELN aufgewachsen ist und als engster Vertrauter des Verblichenen galt, dürfte zwar keine grundsätzlich andere Politik vertreten, doch er ist eine Generation jünger und hat es nicht so eilig, zu Lebzeiten noch große Taten zu setzen.
Eilig hat es nur Präsident Ernesto Samper, dem wenig mehr als zwei Amtsmonate verbleiben und der in dieser knappen Zeit noch etwas leisten will, das den Skandal um die Spende des Drogenkartells von Cali für seinen Wahlkampf in den Hintergrund treten läßt.

Sieg im Volkssport

André Markovits hat vor einigen Jahren ein interessantes Essay geschrieben mit dem Titel: „Why is there no soccer in the United States?“ Unter dieser Fragestellung gelingen ihm wichtige Einblicke in die Besonderheiten des kulturellen Systems der USA. Für Lateinamerika müßte die Frage lauten „Why is there so much soccer in Latin America?“

Triumphe am Amazonas

Conde, eine etwas triste Stadt am Rio Tocantins, zwei Stunden von der Amazonasmetropole Belém entfernt, versprüht den herben Charme eines heruntergekommenen Badeortes, der inzwischen zur Aluminiummetropole und zum Industriehafen mutiert, aber auch schon im Neuen dekadent wirkt. Ein Strand mit Aussicht auf die Hafenanlagen, die fast das einzige Licht in die dunkle Nacht verströmen. Der tropische Regen will nicht aufhören und wir sitzen in einer recht finsteren Bar fest. An der Wand hängt als einziger Schmuck ein Bild von Ronaldinho, wie Ronaldo in Brasilien genannt wird, mit seinem Zahnspaltenstrahlen, das seine soziale Herkunft unübersehbar macht. Und im Fernsehen läuft natürlich Fußball, das Endspiel von São Paulo, Corinthians gegen FC São Paulo (ein packendes Spiel übrigens, das São Paulo mit den großartigen Rai und Denilson souverän gewinnt). Ich bin schnell als Gringo erkannt und nach meiner Herkunft befragt. „Ah, Deutschland…“ – und sofort kommt die Analyse. „Keine Chance bei der WM, guck hier, Ronaldinho, was habt ihr dem entgegenzusetzen.“ Meine Einwände – „also wißt Ihr eigentlich, wie der Torschützenkönig der italienischen Liga heißt: Bierhoff und nicht Ronaldinho“ – rufen ungefähr dieselbe Reaktion hervor, wie wenn ich erzähle, daß man in Europa fischt, indem man Löcher in vereiste Seen schlägt. Schnell hat sich in der kleinen Bar eine Triumphgemeinde über den Gringo zusammengeschlossen: Daß Brasilien mit Ronaldinho und Giovanni (der aus der Gegend stammt) unschlagbar ist, gilt als ausgemacht. Ich werde verspottet und verhöhnt, und an diesem tristen Abend feiert die Bar in dem abgelegenen Ort Amazoniens Brasilien, seine bisherigen und künftigen Titel. Als ich schließlich mit meinen spielverderberischen Hinweisen aufhöre – die WM hat ja noch gar nicht begonnen, Erinnerungen an die jüngsten Niederlagen gegen Argentinien und die USA(!) – und mich dumpfen Trinksprüchen ergebe, kippt die Stimmung. Ich werde allgemein bedauert, da ich aus einem Land komme, in dem man „futebol perna de pau“ (Holzbeinfußball) spiele, da wir keinen Romário, Ronaldinho, also keine cracks (oder craques auf gut portugiesisch) haben, und natürlich wird dem armen Kerl noch mehr Bier eingeflößt, um ihn angesichts solch verzweifelter Existenz etwas zu trösten.
Die kleine Episode enthält viele Elemente, die für die Stellung des Fußballs in Lateinamerika bezeichnend sind. Überall in der Welt hat Fußball mit Nationalismus oder zumindest mit nationalen Hochgefühlen zu tun. In Lateinamerika aber sind es geschundene Nationen, Völker, die marginalisiert sind und sich so fühlen, die sich in einigen Momenten nicht nur als Gemeinschaft von Hungerleidern, Gaunern oder Rumbatänzern wahrgenommen sehen. Nationale Identitäten in Lateinamerika sind aus verschiedenen Gründen oft prekär. In Brasilien, dem mit Abstand größten Land des Kontinents, bezeichnen sich die Menschen oft nicht als Brasilianer, sondern als baianos, mineiros, paulistanos etc. Daß im Inneren Amazoniens Brasilien gefeiert wird, ist keineswegs so selbstverständlich. In der Regel sieht man sich dort nicht gerne als Teil Brasiliens, fühlt sich von den „sulistas“, den Leuten aus dem „Süden“ Brasiliens (der bereits in Brasilia und Sao Paulo anfängt) systematisch verarscht.
Auch in Deutschland, Frankreich usw. ruft Fußball nationale Emotionen wach. Aber in „entwickelten“ Ländern ist der gesellschaftliche Zusammenhang viel stärker durch Institutionen vermittelt als in Lateinamerika. Sieg oder Niederlage mag schmerzlich sein, aber es ist nicht das zentrale Moment der Selbstdefinition. Es gibt gute Gründe für den Verdacht, daß dies in Brasilien, und nicht nur dort, anders ist. Ein brasilianischer Anthropologe und Fußballtheoretiker resümiert: „Wenn tatsächlich Karneval, Volksreligiosität und Fußball in Brasilien – im Unterschied zu Ländern in Europa und Nordamerika – grundlegend sind, dann sind die Quellen unserer sozialen Identität nicht zentrale Institutionen der sozialen Ordnung wie etwa Gesetze, Verfassung, das Universitätssystem oder die finanzielle Ordnung. Vielmehr sind es dann die Musik, das Verhältnis zu den Heiligen, die Gastfreundschaft, die Freundschaft, die Kameradschaft und natürlich Karneval und Fußball, die es dem Brasilianer erlauben, in einen permanenten Kontakt mit seiner sozialen Welt einzutreten.“

Könige und Horden

Ein gutes Beispiel für den zentralen Stellenwert des Fußballs für die Selbstdefinition als Nation lieferte die Tragödie Kolumbiens bei der WM 1994. Wir erinnern uns: In den Qualifikationsspielen trumpfte die kolumbianische Mannschaft mächtig auf. Als sie am 5.September 1993 die Argentinier in Buenos Aires mit 5:0 vom Platz fegten, ist plötzlich ein neuer Titelanwärter geboren. Dann die Ernüchterung bei der WM. Drei Spiele, zwei Niederlagen, darunter gegen die USA und ein unbedeutender Sieg gegen die Schweiz. Schließlich der absolute Tiefpunkt. Noch während die WM (ohne Kolumbien) weiterläuft, wird in Medellín Andrés Escobar erschossen, der im Spiel gegen die USA ein Eigentor fabriziert hatte. Darauf die kolumbianischen Wochenzeitschrift Semana: „Der Mord an Andrés Escobar bestätige als jüngste, nicht letzte Episode das wahre Wesen dieser Horde, auf deren Bezeichnung als Land wir beharren.“
Als Kontrast zu dieser mißlungenen Nationswerdung via Fußball, seien die euphorischen Worte des brasilianischen Dramatikers Nelson Rodrigues zitiert, die er nach dem WM Sieg 1962 in Chile schrieb: „Plötzlich erreicht der Brasilianer – vom armen Schlucker bis zum feinen Herren eine unerwartete und gigantische Dimension…Wir sind 75 Millionen Könige. Freunde, nach diesem Sieg will ich nichts mehr von Rußland oder den USA hören. Das ist die Wahrheit: Rußland und die Vereinigten Staaten beginnen der Vergangenheit anzugehören. Es war ein Sieg des brasilianischen Menschen, des größten der Welt. Heute hat Brasilien die Fähigkeit, eine Nation von Napoleons Größe zu schaffen.“
Nun, solche Euphorie mag heute befremdlich wirken, aber auch noch nach dem WM Sieg von 1994 titelt das seriöse Journal do Brasil: „Wir sind die Herren der Welt“. Das können natürlich so nur die sagen, die nie in Verdacht geraten, wirklich die Herren der Welt zu sein.

Vom Elitevergnügen zum Nationalsport

Der Aufstieg des Fußballs in Lateinamerika enthüllt ein spannendes und überraschendes Stück Sozialgeschichte. Überall begann der Fußball als Elitesport, eingeführt durch höhere Angestellte englischer Gesellschaften. Das erste klar bezeugte Fußballspiel auf brasilianischem Boden organisierte ein Brasilianer englischer Abstammung namens Charles Miller: The Sao Paulo Railway Team besiegt The Team OF Gas mit 4:2. In der Folge formieren sich die ersten Klubs, Treffpunkt der jungen Elite, die ausdrücklich Schwarze nicht zuließen, auch nicht auf dem Spielfeld.
Der Transformation des Fußballs vom Elite- zum Volkssport kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Nur so viel: Es dürften wohl gerade funktionale Elemente des Fußballs sein, die ihn nicht nur in großen Teilen Lateinamerikas zu der modernen Sportart schlechthin gemacht haben. Im Gegensatz zur aristokratischen Betonung der Performance (etwa im Dressurreiten) ist Fußball durch seine Erfolgsorientierung geprägt. Er spiegelt die Leistungsorientierung einer modernen Industriegesellschaft wieder. „Siegen, Siegen, Siegen“, heißt es in der Hymne des populärsten brasilianischen Klubs – Flamengo – und auf diesen Siegeswillen steuert die Logik des Fußballs erbarmungslos zu.
Diese Erfolgsorientierung muß schließlich das elitär aristokratische Gefüge unterminieren: die Erfahrung zeigt, daß ein Klub, der bereit war alle Talente einzuspannen (zunächst die Arbeiter der Firmen, schließlich auch Schwarze) einfach erfolgreicher war als reine Oberschichten-Teams. Das Aufkommen des Fußballs erscheint damit als ein Moment der partiellen Industrialisierung und Proletarisierung der urbanen Zentren Lateinamerikas. Dabei ist er sicherlich nicht ein Reflex, sondern ein aktives Element – zumindest auf der ideologischen Ebene –eines langsamen und widersprüchlichen Prozesses. Die industrielle Moderne Lateinamerikas wächst in einer durch traditionelle Hierarchien geprägten Gesellschaft, die weder kulturell noch sozial auf die Industrialisierung eingestellt war. Das heißt, der Markt und seine universellen Gesetze leben in problematischer Symbiose mit den traditionellen Hierarchien.

Der Aufstieg der Schwarzen im Fußball

In dieser Konstellation steht der Fußball zumindest mit einem starken Standbein in der Sphäre der universellen Geltung, in der letztendlich die Leistung auf dem Feld zählt und nicht die gesellschaftliche Stellung außerhalb desselben. In einer noch hierarchisch-traditionell geprägten Gesellschaft ist das Fußballfeld wahrlich Spielwiese für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit á la Kapitalismus. Diese doch recht abstrakten Ausführungen sollen nun an einem Beispiel dokumentiert werden.
In den Frühzeiten des brasilianischen Fußballs versuchte der Klub América (Rio de Janeiro), sein Team durch lokale Cracks zu verstärken. Bei der Talentsuche stieß man auf einen Seemann namens Manteiga (Butter), wohl wegen seiner „butterweichen „ Flanken so genannt. Manteiga wird angeworben und bei der Firma eines der Direktoren des Klubs beschäftigt. Als sich Manteiga für sein erstes Spiel beim neuen Verein umziehen will, verlassen andere Spieler die Kabine. Manteiga war schwarz. Neun Spieler der ersten Mannschaft treten aus dem Verein aus, um gegen den Einsatz des Schwarzen zu protestieren. Die Vereinsführung hält an Manteiga fest, der aber den Druck aufgrund des Wirbels um seine Person nicht aushält. Bei einer Reise Américas nach Salvador, der Hauptstadt des schwarzen Brasiliens und Heimatstadt Manteigas, setzt er sich ab und bleibt dort.
Am 13. November 1927 findet das Endspiel um die brasilianische Meisterschaft statt. Wie üblich stehen sich ein Team aus Rio und eins aus Sao Paulo gegenüber. Fußball ist inzwischen zu einer Massenveranstaltung geworden. Das Stadion von Sao Januário, zu seiner Zeit das größte Lateinamerikas, ist mit 50.000 Zuschauern gefüllt, unter ihnen der Präsident der Republik, Washington Luís. Was während dieses Spiels geschieht, beschreibt der Chronist des Aufstieges der Schwarzen im brasilianischen Fußball, Mário Fulho, folgendermaßen:
„Plötzlich ist das Spiel unterbrochen, es geht nicht weiter, der Schiedsrichter hat einen Elfmeter gegen Sao Paulo verhängt. Die Paulistas verlassen das Feld. Washington Luís bleibt ernst, er gibt einen Befehl an einen Offiziellen. Er gibt den Befehl, das Spiel solle weitergegehen, dies sei ein Befehl des Präsidenten der Republik.
Der Regierungsbeamte tritt aufs Feld, geht zu den Spielern Amílcar und Fetício. Und mit finsterem Gesicht übermittelt er die Botschaft: ‘Der Präsident der Republik hat den Wiederbeginn des Spiels angeordnet.’ Die Antwort von Fetício, einem ‘verstellten Mulatten’, der nicht mal der Kapitän des Teams aus Sao Paulo war, lautete, daß da oben, auf der Ehrentribüne, der Doktor Washington Luís seine Befehle geben könne, aber hier unten auf dem Feld sei er es, der befehle. Und um zu zeigen, daß dies nicht nur Worte waren, gab er ein Zeichen, und die Spieler aus Sao Paulo verließen hinter ihm den Platz. Washington Luís, Präsident der Republik, konnte nur weggehen, aufs äußerste verletzt.“
Zwischen beiden Episoden liegen nur einige Jahre, und sie markieren weniger eine gradlinige Geschichte als Extrempunkte in einem Feld von Konflikten. Die Diskussion etwa um die schwarzen Spieler wird endgültig erst 1958, durch den Aufstieg Pelés entschieden. Daß 1927 ein Farbiger dem brasilianischen Präsidenten so gegenüber treten konnte, zeigt, daß der Fußball in der Lage war, ein eigenes soziales „Feld“ zu erzeugen, das zumindest partiell eine Gegenerfahrung zu den traditionllen Hierarchien darstellte.

Die Originalität der Kopie

Fußball in Lateinamerika ist ein europäisches Erbe. Das zeigt sich auch heute noch in Klubnamen und Fachvokabular (chute – brasilianisch für Schuß, vom englischen shoot). Die Übernahme europäischer Gepflogenheiten ist keine Überraschung auf einem Kontinent, der Länder beherbergt wie Argentinien und Uruguay, die sich lange Zeit eher als verirrter Teil Europas sehen wollten, dessen Eliten sich den Eliten Europas näher fühlten als dem eigenen Volk. Jeder kennt in Südamerika den Kalauer, daß ein Argentinier ein Italiener ist, der spanisch spricht, ein Engländer sein möchte und dessen Eliten auch heute eher Miami und Paris heimsuchen als im eigenen Hinterland Urlaub zu machen. Aber den Fußball in Lateinamerika als pure Übernahme (quasi-)kolonialer Traditionen (wie Hockey in Indien und Pakistan) zu sehen, hieße gerade die Pointe des lateinamerikanischen Fußballs zu verkennen: Der lateinamerikanische Fußball ist anders als der europäische. Er hat die englische Balltreterei gründlich transformiert. Er insistiert auf der Originalität der Kopie – allerdings ist diese, seine angebliche Besonderheit heute gerade umstritten. Zitieren wir zunächst einen europäischen Zeugen, Nick Hornby, den Autor des besten Fußballbuches („Fever Pitch“) der letzten Jahre. Mitten in seinen Beschreibungen trostloser Spiele seines Vereins Arsenal London findet sich angesichts des WM-Sieges 1970 in Mexico ein kurzer Abschnitte über Pelé und den brasilianischen Fußball: „Es war jedoch nicht nur die Qualität ihres Fußballs, es war die Art, wie sie die unerhört raffinierte Verschönerung des Spiels so betrachteten, als sei sie ebenso funktional und notwendig wie ein Eckball oder ein Einwurf… Selbst die brasilianische Art, Tore zu feiern, war fremdartig, lustig und beneidenswert, alles zur gleichen Zeit. In gewisser Weise haben die Brasilianer es für uns alle verdorben. Sie hatten eine Art platonisches Ideal enthüllt, das für immer unerreichbar bleiben sollte, sogar für sie selbst.“

Futebol-arte oder herzloser Erfolg

Futebol-arte heißt die brasilianische Selbstqualifizierung, und in Argentinien hatte einst Cesar Menotti, der Trainer der Weltmeisterelf von 1978, die Parole vom „linken“ Fußball ausgegeben. Beide Konzepte sind alles andere als eindeutig oder unumstritten. Um diese Frage der Besonderheit des lateinamerikaischen Fußballs hat sich in den letzten Jahrzehnten eine große und populäre Debatte entspannt, die Grundfragen lateinamerikanischer Identität berührt. Wie bestimmt Lateinamerika sich in der heutigen Welt, in der „Moderne“. Ist es nur die Anpassung, die erbarmungslose Mimikry, die einen Platz in einer zunehmend vereinheitlichten Welt ermöglicht? Oder gibt es eine lateinamerikanische Besonderheit und kann sie sich behaupten? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht so eindeutig wie es zunächst scheint. Natürlich sind Intellektuelle, Sportjournalisten und viele Fans zunächst Anhänger des futebol-arte. Aber dem Fußball ist eben auch die (fast) unbedingte Erfolgsorientierung zu eigen, und nach einigen Niederlagen mit futebol-arte verstärken sich immer wieder die Stimmen, die nach einem kühlen, erfolgsorientierten Fußball rufen. In Argentinien hatte Menottis Nachfolger Bilardo diesen „europäischen“ Fußball auf seine Fahnen geschrieben und wurde entsprechend von Menotti kritsiert: „Er tötet das Herz unseres Fußballs mit seiner Betonstrategie“, er wolle nur „Anpassung und Berechnung statt Emotion und Risiko“ . Aber als Bilardo Argentinien 1986 zum zweiten WM-Titel führte, verstummte solche Kritik.

Mit coitus interruptus zum Sieg?

Als Brasilien bei den WMs 1982 und 1986 mit technisch brillanten Teams ausschied, schlug die große Stunde der Anpasser. Schön gespielt, aber verloren – soll das unser Schicksal sein, sollen wir zum ewigen Scheitern in Eleganz verurteilt sein? Nein, sagte Lazaroni, der Trainer von 1990, verkündete die Ära Dunga (ein technisch mittelmäßiger Spieler) und den futebol de resultados – und verlor ebenfalls. Als es 1994 dann doch gut ging, mit einem weniger radikalen Konzept, aber doch mit einem ziemlich defensiven System, freute sich Brasilien über den Titel, doch die richtige Euphorie wollte nicht aufkommen. Die Folha de Sao Paulo schrieb, der Fußball des WM-Teams sei wie coitus interruptus.
Symptomatisch für eine solche Diskussion um den Fußball ist eine Reaktion des brasilianischen Trainers von 1994, Parreira, der auf die Frage eines französischen Journalisten, ob die brasilianische Mannschaft nicht übertrieben diszipliniert und organisiert spiele, antwortet: „ Ich habe verstanden. Ihr wollt das alte Brasilien, schlecht organisiert und improvisiert. Was ist falsch daran, sich zu organisieren? Wenigstens im Fußball, wenn es nach mir ginge, werdet ihr nie mehr ein unorganisiertes Brasilien sehen.“ Parreira wird über die Taktik seiner Mannschaft befragt und antwortet mit Reflexionen über Brasilien.
Fußball bietet ein Diskussionsfeld, das weit über ihn hinausgeht. In den unzähligen Fußballdiskursen (Artikeln, Fernsehkommentaren, Gesprächen) entwerfen Lateinamerikaner ein Bild davon, wie sie ihr Land sehen (möchten), entwickeln Utopien und Kritiken. Und sie diskutieren dabei das Verhältnis Lateinamerikas zum Rest der Welt. Offensichtlich ist die Polarisierung futebol-arte versus erfolgsorientierter Fußball eine der unzulässigen Vereinfachungen, zu der polarisierte Debatten neigen, aber sie markiert das Spannungsfeld der aktuellen Diskussionen. Ist der futebol-arte nur eine wehmütige Erinnerung, gar ein platonisches Ideal, wie Hornby meint? Diktiert die Globalisierung auch im Fußball? Oder hält sich dieser hartnäckige Rest, die Spielfreude, die ästhetische Wonne, die alegría?
Was wird nun in diesem scheinbar endlosen „Kampf zweier Linien“ die bevorstehende WM bringen? Einen weiteren Rundensieg des kalkulierten, rationalisierten Einheitsfußballs oder ein erneutes Aufflackern des „anderen“ Fußballs, der eine Hoffnung wachhält, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen worden ist, weder in Lateinamerika noch anderswo?

Wer mehr zum Thema lesen will, sei ausdrücklich auf das Jahrbuch Lateinamerika 19, 1995 verwiesen. Teile dieses Artikels finden sich dort in dem Aufsatz „Das Vaterland der Fußballschuhe. Ein kleine Sozialgeschichte des brasilianischen Fußballs.“. Die Ausführungen über die kolumbianische Fußballtragöde basieren auf einem Aufsatz von Ciro Krauthausen im selben Jahrbuch. Das zitierte Buch von Nick Hornby ist bei KiWi erschienen und sei auch Nicht-Fußballfans zur Lektüre empfohlen.

Die Freude des Torhüters auf den Elfmeter

Ich will Präsident werden und der Korruption in meinem Land ein Ende setzen,” sagte Südamerikas Fußballer des Jahres 1996. Bevor es vielleicht einmal soweit sein könnte, wird er für sein Land nach Frankreich fahren und dort zumindest versuchen das eigene Tor sauber zu halten.
José Luis Felix Chilavert González, 32 Jahre alt, Torwart und paraguayischer Staatsbürger, hat einen großen Anteil daran, daß Paraguay nach zwölf Jahren Wartezeit wieder zur Endrunde einer Fußballweltmeisterschaft fahren wird. Dabei verhinderte Chilavert nicht nur jede Menge Tore gegnerischer Stürmer, er schoß und schießt selber welche: Als der Schiedsrichter kurz vor Ende des Qualifikationsspiels gegen Argentinien Freistoß gepfiffen hatte, schnappte er sich den Ball, legte ihn sich zurecht und zirkelt ihn aus 20 Metern zum 1:1 Endstand ins Tor des argentinischen Gastgebers. Für Chilavert nichts Ungewöhnliches, hat er doch während seiner bisherigen Karriere als Torhüter schon über dreißig Mal ins gegenerische Netz getroffen. Die Mehrzahl davon als sicherer Elfmeterschütze vom ominösen Punkt.
Als Gruppenzweiter hinter Argentinien schaffte Paraguay den Sprung zur WM. Und die Argentinier wurmt es heute noch, daß sie dabei im eigenen Land ausgerechnet gegen Paraguay unentschieden spielten. Der Schütze zum Ausgleich bekommt das fast an jedem Spieltag der Liga zu spüren, denn als Vereinsspieler hütet José Luis Chilavert das Tor des argentinischen Spitzenclubs Vélez Sarsfield. Und auch das mit Erfolg: Beim Abbruch der laufenden Rückrundensaison steht er mit seinem Verein an der Tabellenspitze, hat von sechzehn Spielen nur eines verloren und mit zwölf Gegentreffern die wenigsten Tore von allen kassiert. Zwar fehlen noch drei Spieltage, aber alles spricht für Vélez als Meister, wenn, ja wenn die Runde zu Ende gespielt wird.
Daß die Saison in Argentinien wegen der Gewalt auf den Rängen vorerst abgebrochen wurde, liegt nicht an Chilavert. Aber ein Vorbild im Sinne von ‘Keine Macht den Doofen’ ist Chilavert beileibe nicht. Er gilt als undiszipliniert, arrogant, exzentrisch, cholerisch und als guter Schauspieler. Außerhalb des Spielfeldes wurde er im September 1996, pikanterweise kurz nach seinem 1:1-Ausgleich, von einem argentinischen Zivilgericht zu drei Monaten Gefängnis und einer dreizehnmonatigen Spielsperre verurteilt, weil er zwei Jahre zuvor einen Platzwart verprügelt hatte. Ins Gefängnis ging er allerdings nicht und auch die Spielsperre wurde vom argentinischen Verband ausgesetzt. Während der Qualifikationsrunde wurde er nach einer Faustkampfeinlage gegen den kolumbianischen Spitzenspieler Faustino Asprilla für fünf Spiele gesperrt und auch in der nun ausgesetzten Rückrundensaison stand er wegen unsportlichem Verhaltens nicht alle sechzehn Begegnungen im Tor.

Prügelknabe Chilavert

Trotz Negativschlagzeilen nach Prügelszenen ist Chilavert der unumstrittene Star der paraguayischen Nationalelf. Ein überragender Keeper, reaktionsschnell auf der Linie, mit gutem Stellungsspiel, und er kann Fußball spielen. Eine Eigenschaft, die nicht jeder Torwart besitzt. Seine Laufbahn begann bei seinem Heimatverein Sportivo Luqueño. Bereits mit fünfzehn Jahren stand er im Tor der ersten Mannschaft. Mit achtzehn wechselte er 1984 zu Guariní Asunción in die erste Liga. Und, logisch, das Ausland kaufte ihn weg: Ein Jahr später stand er im Tor des argentinischen Erstligisten San Lorenzo. Vier Jahre später zog es ihn zu Real Zaragoza in die spanische Liga, aus der er 1992 noch immer ohne irgendeinen bedeutenden Titel nach Argentinien zum Renommierverein Vélez Sarsfield zurückkehrte. Hier begann das Titelsammeln: Dreimal hat er die argentinische Meisterschaft, 1994 die Copa Libertadores (südamerikanischer Vereinsmeisterpokal), danach gegen den AC Mailand den Weltpokal für Vereinsmannschaften und 1996 die Supercopa gewonnen. Auch als Einzelspieler heimste er einige Titel ein: 1995 Argentiniens Fußballer des Jahres, 1996 Südamerikas Fußballer des Jahres und 1997 wurde er gar zum Welttorhüter des Jahres gewählt.
Seine Laufbahn im Tor der Nationalmannschaft begann während seiner Zeit in Spanien mit einem 2:1 Sieg gegen Kolumbien. Einer der Torschützen: José Chilavert. Sein erstes Turnier als die Nummer Eins für Paraguay spielte er 1991 in Chile bei der Copa América. Nach der Vorrunde war aber schon Schluß. Zwei Jahre später schaffte es Paraguay immerhin ins Viertelfinale. Richtig große Erfolge feierte Chilavert mit der Nationalelf bislang jedoch nicht. So ist allein die Qualifikation für die WM in Frankreich als Zweitplazierter vor Kolumbien und Chile ein Triumph, der die paraguayischen Fußballfans in Euphorie versetzte. Aber auch ein Verdienst des brasilianischen Trainers Paulo Cesar Carpegiani. Er brachte Chilavert 1995 nach einem zweijährigen Dauerstreit des Keepers mit den Funktionären des Fußballverbandes ins Nationalteam zurück und machte aus einer Ansammlung von Arbeitsmigranten ein Team: Von den 22 für Frankreich vorgesehenen Spielern stehen gerademal drei bei paraguayischen Vereinen unter Vertrag. Die Mehrzahl spielt in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien. Und was die WM-Teilnahme für die nationale Befindlichkeit bedeutet, bringt Abwehrspieler Carlos Gamarra auf den Punkt: “Wir werden der Welt beweisen, daß wir gute Fußballspieler haben. Viele denken doch, bei uns wohnen nur Indios, Analphabeten und Bauern.”
Sollte Paraguays Nationalelf in Frankreich gut abschneiden, die eine oder andere Überraschung an den Tag legen und vor allem Chilavert hinten den Kasten sauber halten und vorne einen rein machen, dann könnte der ohnehin schon als Nationalheld geltende Torhüter eines Tages wirklich das Präsidentenamt hüten, sauber halten und das Land nach vorne bringen. Bleibt also nur zu hoffen, daß er nicht die Sportart wechselt und mit General Oviedo in den Ring steigt.

Die Gringos gehen – der Weihnachtsmann kommt

In Albrook, einer der bereits verlassenen Kasernen des Kommando Süd der US-Streitkräfte am Kanal von Panama, hat in einem der zurückgelassenen Verwaltungsgebäude die City of Knowledge Einzug gehalten, panamaisches Prestige-Projekt unter besonderer Fürsorge des Staatspräsidenten Ernesto Perez Balladares. In der Werbebroschüre wirbt die Stiftung für sich als „einzigartiges Projekt“, unter dessen Dach die Koordination internationaler Lehr- und Forschungsinstitutionen betrieben werden soll, mit dem Ziel, Panama als internationalen Forschungsstandort zu etablieren. Zugpferd ist der US-Forschungskoloß Smithsonian Institute, der seit Jahren schon in den tropischen Wäldern Panamas Biodiversitäts-Studien durchführt.
Kürzlich beschloß die EU, innerhalb der City of Knowledge einen Technologie-Park mit 1,1 Mio US-Dollar zu unterstützen. Die Zugangskriterien zur Ciudad del Saber, wie sie wahlweise genannt wird, scheinen zwar hoch (Internationalität, Renomée und Erfahrung, Interdisziplinarität, Kompatibilität, Innovation, etc.), in der Praxis aber reduziert sich die Sache auf das Zur-Verfügung-Stellen von Infrastruktur für jedwedes Unternehmen, das die Standortvorteile Panamas für seine Zwecke, seien es akademische oder privatwirtschaftliche, nutzen will. Im Dezember vom Parlament ins Leben gerufen, wird nun mächtig die Werbetrommel gerührt. Wenn die City of Knowledge Ende nächsten Jahres nach Fort Clayton, zur Zeit noch von US-Amerikanern besetzt, umziehen wird, „hat sie sich“, so hofft Direktor Prof. Jorge Arosemena, Ex-Chef der Universidad de Panama, „international als First-Class-Forschungszentrum etabliert“.

Rückgabe bis zum Jahr 2000

Die City of Knowledge ist das Vorzeigeobjekt Panamas innerhalb der nicht ganz einfachen Aufgabe, die Territorien der nach und nach an die Staatssouveränität übergebenen US-Kasernen an den Ufern des Kanals in den urbanen und ökonomischen Großraum Panama-Stadt zu integrieren. Viel mehr an städteplanerischen Ideen hat sich die Autoridad de la Region Interoceanica (ARI), die für die Verwaltung, Planung und Nutzung der übergebenen Kasernen-Areale zuständig ist, für die zum Teil ziemlich heruntergekommenen Grundstücke und Immobilien noch nicht einfallen lassen.
Auf dem Gelände des ehemaligen Militärflughafens Albrook wird der Regionalflughafen Paitilla, der zur Zeit noch im Herzen der Stadt die Bankentürme säumt, angesiedelt, hier und da hat man sich eine Altenwohnanlage oder ein Ärztezentrum ausgedacht, verschiedene Regierungsinstitutionen sollen hierher umziehen. Der Großteil der Freizeitanlagen, Sozialzentren, Supermärkte, Verwaltungs-, Büro- und Wohnhäuser aber wird schlicht verkauft. Ursprünglich wollte man eine Quote für InländerInnen freihalten, mangels städteplanerischer Visionen wurde dies dann aber obsolet und schließlich vergessen.
Die Kanal-Verträge zwischen Panama und den USA, 1977 von den Präsidenten Torrijos und Carter unterzeichnet, sehen den vollständigen Abzug der US-Truppen aus Panama bis zum 31.12.1999 vor. Nun ist er im vollen Gange, nach und nach werden unter zeremonienschweren Gedenkfeiern die einzelnen Territorien übergeben und die US-Flaggen eingeholt. Im September 1997 begann der offizielle Abzug, zur Zeit verbleiben noch rund 4000 Soldaten mit ihren Familien in den Basen Davis und Espinar an der Atlantikküste, sowie Amador und Albrook am Pazifik.
Von der Mehrheit der panamaischen Bevölkerung wird der Abzug der Gringos begrüßt, in bestimmten Kreisen erzeugt er allerdings durchaus auch Unbehagen. Die Präsenz der US-Armee bedeutete nämlich in dreierlei Hinsicht einen bedeutenden Faktor für die nationale Ökonomie: Sie steigerte den direkten und indirekten Konsum, sei es in Form von Konstruktionen und Reparaturen oder aller Arten von Dienstleistungen. Außerdem ließ Washington sich die Gastfreundschaft Panamas Ausgleichszahlungen von etlichen Millionen US-Dollar kosten, die jährlich direkt in die Staatskassen flossen. Und nicht zuletzt sind der Kanal und die Freihandelszone das wichtigste Standbein der panamaischen Ökonomie.
Die Einnahmen aus dem Export von landwirtschaftlichen Gütern oder Tourismus sind gering, als internationaler Finanzstandort hat Panama in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung verloren. Die US-Amerikaner waren Garant für die „Stabilität“ im Land und die Offenhaltung des Kanals. Was, wenn sie nun weg sind?, fragen sich nicht wenige. Werden wir in der Lage sein, die Sicherheit und Zukunft des Kanals zu schützen?

Das Centro Multilateral Antidrogas (CMA)

So liegt die Idee nahe, nach einer Möglichkeit zu suchen, unter Umgehung der Torrijos-Carter-Verträge weiterhin die Anwesenheit amerikanischer Streit- und Sicherheitskräfte im Land zu gewährleisten – eine Idee, die im State Department schon zu genüge erörtert worden sein dürfte. Folgerichtig hatte man von US-Seite aus schon frühzeitig das Interesse an einer „reduzierten militärischen Präsenz“ auch nach der Erfüllung der Torrijos-Carter-Verträge angekündigt.
1995 begannen die Regierungen Panamas und der Vereinigten Staaten diesbezüglich informelle Gespräche. Rasch war die Idee eines multilateralen Zentrums zum Anti-Drogen-Kampf geboren, das Centro Multilateral Antidrogas (CMA). Der verstorbene Außenminister Panamas, Gabriel Lewis Galindo, bot in nobler und uneigenütziger Geste panamaisches Territorium zur Initiierung des internationalen Anti-Drogen-Kampfes feil, die Vereinigten Staaten brauchten nur noch, ebenso nobel und uneigennützig, die Geste anzunehmen. Wenngleich als ziviles Projekt konzipiert, war die militärische Komponente von Beginn an fundamental. Aufgabe der US-Streitkräfte und Sicherheitsdienste wäre die Überwachung des Luft- und Seeraumes. Das Gespenst des Drogenhandels tat seine Dienste. Am 23. Dezember des vergangenen Jahres kamen die Unterhändler der beiden Staaten zu einer vorläufigen Übereinkunft. Obschon geheim gehalten, veröffentlichte die mexikanische Presse Ende Januar die wesentlichen Inhalte: 2500 (US-)Soldaten sollen vom 1. Januar 2000 an ihre Arbeit aufnehmen, insgesamt spricht man von einem Personalstock von bis zu 3500 Personen. 53,5 Millionen Dollar jährlich werden die USA dem südlichsten Staat Mittelamerikas für die ersten zwölf Jahre zahlen, danach soll der Vertrag alle fünf Jahre neu ausgehandelt werden. 33 Gebäude auf der 1914 erbauten Howard Base stehen für das CMA zur Verfügung. Um die Multilateralität (und Legitimität) des Zentrums zu garantieren, sieht der Vor-Vertrag vor, die Unterstützung und Mitwirkung von mindestens vier weiteren lateinamerikanischen Staaten zu erreichen.

Quarry Heights – Abschied und Kontinuität

Politisch koordiniert werden soll das CMA von einer Außenstelle des Ministerio de Relaciones Exteriores auf der Quarry Heights Base, jener Base, die 84 Jahre lang das logistische Nervenzentrum der Aktivitäten des Kommando Süd der US-amerikanischen Streit- und Sicherheitskräfte darstellte. Unzählige Operationen und militärische Eingriffe in etlichen Staaten Lateinamerikas wurden von hier aus geplant und geleitet. Auch die Invasion im Dezember 1989 gegen das Regime des General Manuel Antonio Noriega, der jahrelang auf der Gehaltsliste der CIA gestanden und eng mit der Reagan-Administration gegen die sandinistische Revolution in Nicaragua gearbeitet hatte, wurde von hier aus durchgeführt. Noriega verbüßt nun in den USA eine Haftstrafe von 40 Jahren. Hunderte von Zivilisten wurden bei der nur wenige Tage andauernden Invasion getötet.
Im vergangenen September wurde die Kommandantur nach Miami verlegt. Am 8. Januar diesen Jahres übergab der Botschafter der Vereinigten Staaten, William Hughes, dem Außenminister Ricardo Alberto Arias offiziell die Verwaltung von Quarry Heights. Der US-Repräsentant hatte es sich bei dieser Gelegenheit nicht nehmen lassen, eine glorienreiche Rede zu halten über den Sieg der Freiheit über totalitäre Ideologien in der Hemisphäre, dank der würdevollen Arbeit tausender Männer und Frauen, die stets vor Ort waren, „wann und wo auch immer sie gerufen waren“.

Anlaß zur Sorge – Beispiel I

Ein nicht unwichtiger Teil der strategischen Arbeit des Comando Sur der USA wird zu Hause erledigt. Georgia, Fort Benning: Escuela de las Americas. Hunderte lateinamerikanischer Militärs erhielten hier Ausbildung in Kriegsstrategie, Aufklärung, Anti-Guerilla-Kampf, Terror, Zensur und Folter. Heute bekleiden sie, wenn sie nicht gerade zufällig im Gefängnis sitzen wie Noriega, hohe Posten innerhalb ihrer Armeen.
Vor wenigen Wochen wurden Friedensrechtler in den USA zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie es gewagt hatten, die Einfahrt der Escuela de las Americas für einige Stunden zu blockieren und die Militärs Mörder zu schimpfen. Es ist somit ein äußerst heikler Punkt, daß eine Aufgabe des CMA laut Vertragstext „Anti-Drogen-Training für Militärs und Polizisten“ sein wird. Panama hatte nach der Invasion 1989 seine Armee offiziell abgeschafft. Entsprechend wurden seitdem keine Personen mehr nach Georgia gesandt. Nun besteht durchaus Anlaß zur Befürchtung, daß zwar Panamaer nicht mehr nach Fort Benning, Fort Benning aber nach Panama kommen wird.

Anlaß zur Sorge – Beispiel II

Ende des vergangenen Jahres ging ein Kooperationsvorschlag bei der City of Knowledge ein mit dem Ziel, das Tropic Test Center (TTC), ein angeblich ziviles Forschungszentrum, in die Akademie zu integrieren. In der Beschreibung seiner Tätigkeiten wird man dann stutzig. 60 Prozent seiner Arbeit bestehe aus Munitionstests, die man auf speziellem Gelände in Gamboa, Nuevo Emperador oder Fort Sherman durchführe.
Die Friedensorganisation Fellowship of Reconciliation (FOR) gibt Aufschluß über das TTC. Es handele sich um eine militärische Agentur, die seit 30 Jahren Tests mit aller Art von Geschossen, darunter Nervengas und radioaktive Munition, im Auftrag des Pentagons durchführe. „Das TTC versucht in Geheimverhandlungen, auf panamaischem Boden verbleiben zu können“, gibt FOR zu wissen. Da das TTC keine Möglichkeit mehr für eine Angliederung an das multilaterale Drogenzentrum sehe, versuche man nun die Variante über die City of Knowledge (man erinnere sich an den hübschen Euphemismus jener in Klassenzimmer umgerüsteten Baracken und durch Studenten ausgetauschten Soldaten). „Mein Eindruck ist, daß alles (was in Vietnam benutzt wurde)“, so Rick Stauber, Autor eines Pentagon-Berichts über uranhaltige Projektile, „vorher hier in Panama vom TTC unter tropischen Bedingungen an verschiedenen Orten getestet wurde.“ Balladares scheint eine weitere Präsenz des TTC unter bestimmten Bedingungen gewährleisten zu wollen, die Verhandlungen werden auch hier geheim geführt.

Internationale Unterstützung

Für das CMA sucht man nun dringend internationale Unterstützung, sei es zu Zwecken der Legitimation, sei es der Funktionalität des CMA wegen. Die Regierungen El Salvadors und Boliviens haben Zustimmung und Interesse signalisiert, am CMA mitzuwirken.
Bei seinem Staatsbesuch im November des vergangenen Jahres erkundigte sich der spanische Staatspräsident José María Aznar nach dem Stand der Verhandlungen und setzte ebenfalls schon den ersten Fuß in die Tür des High-Tech-Zentrums: „Wir werden die Sache mit höchstem Interesse verfolgen, und in dem Maße, in dem die Gespräche und Verhandlungen fortschreiten, sehen wir die mögliche Beteiligung Spaniens und anderer Staaten der Europäischen Union“. Im Hinblick auf die Dominanz der Vereinigten Staaten in den Anfangsverhandlungen betonte er allerdings die Notwendigkeit, „die Multilateralität des CMA“ zu garantieren. José Ignacio Salafranca, Präsident der Europäischen Volkspartei, versicherte anläßlich einer Delegationsreise von Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die EU sei durchaus in der Lage, das CMA zu unterstützen, sobald denn erstmal seine Parameter definiert seien. Er wies auf die „wichtigen finanziellen Mittel hin“, die die EU in der Vergangenheit „im Subkontinent“ mobilisiert habe, „um dieses Problem zu bekämpfen“ und betonte, die EU könne sich “des Anti-Drogen-Kampfes nicht entziehen“, darum ihr „positiver und aktiver Beitrag“ zum CMA. Es gilt als sicher, daß Kolumbien zu den ersten gehören wird, die sich am CMA beteiligen – zu verlockend ist die Aussicht für die vom Guerillakampf geschundene Armee, Training und Militärhilfe zu ergattern.

Internationale Skepsis

Doch die internationale Zustimmung ist reichlich beschränkt. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten steht der Verlängerung US-amerikanischer Präsenz in Mittelamerika eher skeptisch gegenüber.
Mexikanische Sicherheitskreise drücken ihre Ablehnung aus gegen ein „verkleidetes Projekt, das die Vergewaltigung regionaler Souveränitäten legitimiert“. Sergio Gonzales Galvez, bis Februar Außenminister Mexikos (seine Nachfolgerin, Rosario Green, hält gleichwohl nun schon moderatere Töne für das Projekt bereit), bekräftigte die Opposition seines Landes gegen das Projekt, solange sein ziviler und multilateraler Charakter nicht gewährleistet sei und damit die Möglichkeit für die USA ausgeschlossen sei, von dort aus militärische Operationen gegen andere Nationen des Kontinents durchzuführen. Der Vertragstext aber hält sich über die konkreten Aktivitäten des CMA relativ bedeckt. Vom „Einholen und Verarbeiten von Primärinformationen über Wege des Drogenhandels“ ist die Rede, der Koordinierung von Überwachung und Kontrolle in der Region, von humanitären Rettungsaktionen sowie von „weiteren Missionen“ – und hier liegt der Hase im Pfeffer. Als US-Chefunterhändler Thomas McNamara im Februar nach Panama reiste, um die offensichtlich ins Stocken geratenen Verhandlungen wieder aufleben zu lassen, wurde er zu jeder Gelegenheit nach der Bedeutung dieser Formulierung gefragt – und blieb eine Antwort schuldig. Und dies, obwohl seitens der USA bzw. des Pentagons darauf beharrt wird, daß jene Textpassage „unentbehrlich und nicht verhandelbar“ sei: „Ohne das bringt das ganze Projekt nichts“, erklärte ein Pentagon-Funktionär lapidar.
Um was es bei „weiteren Missionen“ letztendlich gehen könnte, läßt das Beispiel Kolumbiens ahnen. Das Bekanntwerden wiederholter Menschenrechtsverletzungen der kolumbianischen Armee, Foltercamps, Massenermordungen und die Zusammenarbeit mit guardias blancas hatten deren Unterstützung im internationalen Rahmen problematisch werden lassen. So war in den letzten zehn Jahren die US-Militärhilfe für die berüchtigte Armee stark zurückgeschraubt worden.
Da es den USA aber mit der Zeit gelungen war, ihrer Militärhilfe durch die strategische Anwendung von Begriffen wie Menschenrechte, Humanismus und eben Drogenhandel ein neues Outfit zu verleihen, konnte im letzten Jahr militärisches Gerät im Wert von mehr als 100 Millionen US-Dollar übergeben werden. Kolumbien ließ sich natürlich nicht lange bitten und beantragte sogleich den Kauf von zwölf Kampfhubschraubern Cobra. (Sollte der Handel von US-Seite genehmigt werden, wäre Kolumbien das erste Land Lateinamerikas, das nach der Aufhebung des US-Embargos gegen den Verkauf von High-Tech-Waffen in die Hemisphäre durch Präsident Clinton Ende vergangenen Jahres solch hochentwickeltes Gerät erhielte.) Ist der Anti-Drogen-Kampf aber erst einmal institutionalisiert und legitimiert, läßt er sich beliebig mit anderen, allzu bekannten Interessen verbinden. „Wir sehen das Problem des Drogenhandels als vorrangig an“, zitiert Ende März die Washington Post einen hohen Pentagon-Funktionär, „aber wir sind sehr sensibel gegenüber der Tatsache, daß es eine Verbindung gibt zwischen Drogenhändlern und den Aufständischen“ (gemeint sind FARC- und ELN-Guerilla). Dann wird er deutlich: Obschon seine Regierung noch (!) nicht „präpariert“ sei, einen militärischen Schlagabtausch direkt zu unterstützen, der nicht mit dem Thema Drogen zu tun hätte, so herrsche doch große Besorgnis angesichts jüngster Niederlagen der Armee und einer wachsenden Feuerkraft der Guerilla.

Nationaler Widerstand

Zur gleichen Zeit regt sich Widerspruch innerhalb des Landes gegen eine verlängerte Präsenz der US-Streitkräfte. „Die Übereinkünfte zwischen Panama und USA, ein Anti-Drogen-Zentrum am Kanal zu installieren“, so Ex-Präsident Guillermo Endara, „sind ein teuflisches Geschenk an die Clinton-Administration“. Kurioserweise ist es eben jener Politiker, den die USA nach ihrer Invasion 1989 als Präsidenten der Republik einsetzten, der heute als einer der vehementesten Wortführer gegen das CMA Front zu machen sucht. Gewerkschaftliche, religiöse und studentische Gruppen rufen zum Widerstand auf gegen das CMA, welches nichts mehr sei als „ein neuer Mechanismus der Kontrolle über die Region“, mit dessen Hilfe und „dem Vorwand des Drogenhandels die USA ihre üblen hegemonialen Interessen im neuen Jahrhundert weiterführen werden“.
Selbst innerhalb der Regierungspartei Panamas, der revolutionären demokratischen PRD, wird das Unternehmen mit verhaltener Kritik begutachtet, war es doch der Gründer der Partei selbst, General Omar Torrijos, der zu seiner Zeit meinte, seine Heimat sei nicht eher souverän, bevor die USA nicht gänzlich das Land verlassen hätten.
Als Staatspräsident Balladares im Februar seine Absicht verkündete, bei den Wahlen 1999 erneut als Kandidat anzutreten, stellte er ein Volksreferendum in Aussicht, bei dem gleichzeitig über eine dazu notwendige Verfassungsänderung und über das CMA-Projekt abgestimmt werden solle. Die Chancen, in beiden Punkten erfolgreich zu sein, stehen nicht allzu schlecht. Obschon eine Mehrheit der Bevölkerung der ökonomischen Situation des Landes und der Außenpolitik der Vereinigten Staaten eher kritisch gegenübersteht und trotz des autokratischen Regierungsstils von Balladares, befürwortet doch eine große Anzahl die weitere Präsenz US-amerikanischer Streitkräfte im Land, und genießt die Opposition des Landes keine große Popularität.
In einer am 23. März veröffentlichten Umfrage (Dichter & Nerira; http/www.prensa.com/encuesta) sprachen sich 60 Prozent der Befragten für das CMA aus. Auf die Frage, ob man zufrieden sei mit der Weise, wie die Regierung die Verhandlungen führe, antworteten allerdings 31 Prozent mit Ja, 48 Prozent mit Nein, 21 Prozent beantworteten die Frage gar nicht. Befragt nach der Erfüllung seines Amtes waren 63 Prozent der Meinung, Balladares erfülle dies gut bis exzellent, bei der Sonntagsfrage schneidet er mit rund 30 Prozent als eindeutiger Sieger ab. Der Regierung stellen 58 Prozent der Befragten ein gutes Zeugnis aus, in Kontrast zum Parlament, dessen Arbeit 64 Prozent mit schlecht oder miserabel bewerten. 58 Prozent der Befragten hält die Opposition des Landes für nicht vorbereitet, ab 1999 die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

Stillstand der Verhandlungen

Doch auch mit diesem demographischen Rückhalt ist die Zukunft des CMA noch ungewiß. Nicht nur inländische Opposition und auswärtige Kritik blasen der endgültigen Verabschiedung eines CMA-Vertrages zwischen Panama und den USA Wind ins Gesicht. Die Verhandlungsbasis der Panamaer ist weder politisch noch ökonomisch souverän, und so hat die Regierung durchaus etwas zu verlieren – bzw. zu gewinnen. Offensichtlich sind sich Balladares und sein Chef-Unterhändler Jorge Eduardo Ritter dessen sehr bewußt, und man ist nicht bereit, sich zu billig zu verkaufen.
Ein Punkt, der die Geister scheidet, ist die Eigentumsfrage über die Einrichtungen des CMA. Panama weigert sich strikt, der Forderung der USA nachzukommen, ihr juristische Verfügung über das Zentrum zu überlassen. In den letzten drei Monaten sind die Verhandlungen praktisch keinen Schritt weiter gekommen. „Ich bin sicher, daß die Vereinigten Staaten ihre Überwachung von einem anderen Ort aus fortführen werden, sollte Panama nicht zu einer Übereinkunft kommen“, meinte spitzfindig Außenminister Ricardo Alberto Arias im vergangenen November. Und im gleichen Ton, befragt nach dem Verhandlungsstand mit den USA, bekräftigte am 26. März Präsident Balladares, daß sein Land keinerlei Eile habe, das Thema einer möglichen Einrichtung eines CMA zu definieren. „Sollte sich dies hinauszögern und kein Referendum vor Ende des Jahres möglich sein, nun dann lassen wir das halt offen“. In jedem Fall dürften die Verhandlungen die Wahlen, die im Mai 1999 abgehalten werden, nicht stören. Und er wurde noch deutlicher: „Wir werden nicht akzeptieren, daß das CMA als Vorwand für die Errichtung einer Militärbasis benutzt wird.“ Es sei nicht einfach, mit den USA zu verhandeln. „Die Geschichte der Beziehungen unseres Landes mit den Vereinigten Staaten ist geprägt von dem Versuch, sich von vornherein unseren Konditionen zu entledigen.“ Während das State Department schon zufrieden sei, daß es eine gewisse US-amerikanische Präsenz in Panama gebe, „hätten die im Pentagon am liebsten, daß das ganze Land eine Militärbasis sei“.
Es bleibt also abzuwarten, wann und unter welchen Konditionen das CMA seine Arbeit aufnehmen wird. Panama, soviel scheint jedenfalls sicher, wird ohne die Mitwirkung anderer Staaten keinen offiziellen Startschuß geben. Und den USA läuft die Zeit davon, nachdem der Versuch, über die Drohung mit Ausweichstandorten wie Miami oder Honduras Druck zu machen, nicht aufgegangen ist.
Nachtrag: Am 29.März erklärte der Botschafter Panamas in Washington, Eloy Aljaro, die Verhandlungen seien bis auf weiteres ausgesetzt, und man warte nun auf den nächsten Schritt, der von Washington kommen müsse.

Welche Wahl hat Kolumbien?

Im westeuropäischen Koordinatensystem würden Pastrana als Christ- und Serpa als Sozialdemokrat spielend durchgehen – ersterer sollte Ende März auf Einladung der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung einen werbewirksamen Deutschlandtrip absolvieren, Treffen mit Kanzler Kohl inklusive. Wie schon Ernesto Samper bezeichnet sich Serpa gerne als Sozialdemokrat – doch in der Regierungspolitik der letzten vier Jahre, die er über weite Strecken als Innenminister mitgestaltete, war davon nichts zu spüren. Überschattet war diese zum einen von den – berechtigten – Vorwürfen gegen den Präsidenten, dieser habe seinen Wahlsieg über Pastrana letztlich der Millionenspritze des Cali-Kartells in der Endphase des Wahlkampfs zu verdanken. Zum anderen weitete sich der Krieg aus, wobei die Guerillagruppen ELN und FARC militärisch besser dastehen als je zuvor.
Eine „dritte Kraft“, die die weitverbreitete Politikverdrossenheit aufbrechen, Wechsel- und NichtwählerInnen mobilisieren und das Zweiparteiensystem durcheinanderwirbeln könnte, hat unter den jetzigen Rahmenbedingungen keine Chance. Da gibt es zum einen den rechtsextremen ehemaligen General Harold Bedoya, der letztes Jahr von Präsident Samper als Armeechef abgesetzt wurde. Auf der anderen Seite präsentieren sich als bürgerlich-unorthodoxes Gespann Noemí Sanín und Antanas Mockus, die nach einer Befragung festlegen wollen, wer sich noch vor der ersten Runde zurückzieht, um ihre Kräfte zu bündeln (diese Entscheidung soll Anfang April bekanntgegeben werden). Die derzeitigen Umfragen sagen Serpa, Pastrana und den übrigen Kandidaten zusammen jeweils etwa ein Drittel der Stimmen voraus.

Keine Chance für die „Anti-Politik“

Für die meisten KolumbianerInnen ist „Politiker“ ein Schimpfwort – als größtes nationales Übel sehen sie die Korruption. Deswegen kommt es bei Kommunal-, Regional- und auch Kongreßwahlen immer wieder zu Überraschungserfolgen von sogenannten „Anti-PolitikerInnen“ – so zogen zuletzt der Filmemacher Sergio Cabrera (Die Strategie der Schnecke), Journalisten und Fernsehstars ins Parlament ein. Vor allem in den Großstädten ist die Stimmabgabe an „freie“ Kandidaten beliebt – der Philosophieprofessor Antanas Mockus brachte es 1994 nach einem „Anti-Wahlkampf“ sogar bis zum Bogotaner Bürgermeister. Doch auf dem Land haben parteilose KandidatInnen kaum eine Möglichkeit, sich gegen die Tricks liberaler und konservativer Klientelisten durchzusetzen – wer überhaupt wählt, tut das zumeist nur, um an handfeste Vorteile zu kommen (zum Beispiel Freibier, kostenlose ärztliche Behandlung, Stipendien). Und die sind nur über die lokalen „Kaziken“ zu haben – da wird schon mal kurzfristig der zur Wahl erforderliche Personalausweis ausgeliehen. Der kolumbianische Euphemismus hierfür lautet „gebundene Stimmabgabe“.
Als Retter des Vaterlandes präsentiert sich Harold Bedoya, der mit klassischen Law-and-Order-Sprüchen brilliert. Ob er Ende der siebziger Jahre, als er an der berüchtigten US-Militärakademie „School of the Americas“ einen Lehrauftrag hatte, auch die Todesschwadronen Alianza Americana Anticomunista leitete, wurde nie offiziell untersucht. Umso offensichtlicher war jedoch sein Obstruktionskurs als Chef der Streitkräfte, etwa 1995, als er die Gesprächsversuche der Regierung mit der FARC-Guerilla vereitelte. Von Samper verlangte er seinerzeit einen schriftlichen Befehl zum Truppenabzug von einer weitläufigen Fläche im Südosten des Landes – dies eine Vorbedingung der FARC zur Aufnahme von Friedensgesprächen. Wäre der Präsident darauf eingegangen, hätte er – so Bedoyas Kalkül – vor dem Verfassungsgericht des Vaterlandsverrats angeklagt werden können.

Das Phänomen Bedoya

Doch in der Folgezeit geriet die Armee militärisch immer mehr ins Hintertreffen. Als sich der Militär vor einem halben Jahr als Präsidentschaftskandidat outete, analysierte das Magazin Semana, das Phänomen Bedoya sei „eher Ausdruck einer landesweiten Frustration als eine erfolgversprechende Kandidatur“. Nach einem Zwischenhoch im Februar stagnieren die Umfragewerte des Ex-Generals bei etwa 10 Prozent – damit zeigt sich zwar ein beträchtliches Stimmenpotential auf der extremen Rechten, doch um es etwa Alberto Fujimori gleichzutun, fehlt dem rhetorisch unbeholfen wirkenden Hardliner das Charisma.
Eine nennenswerte demokratische Linke kann sich weiterhin nicht entfalten, denn im Schatten des Krieges geht die Repressionswelle gegen BasisaktivistInnen unvermindert weiter – zuletzt wurde der Vorsitzende der Medelliner Menschenrechtskommission ermordet. Bis auf den ehemaligen Chef der Linkspartei M-19, Antonio Navarro Wolff, der als Bürgermeister der Provinzhauptstadt Pasto erfolgreich war und mit einem glänzenden Ergebnis ins Repräsentantenhaus gewählt wurde, sind kaum noch fortschrittliche PolitikerInnen im Kongreß vertreten. Bleibt als geringstes Übel bei den Präsidentschaftswahlen das Duo Sanín/Mockus, die sogenannte „Option für das Leben“. Die unter Präsident Gaviria (1990-94) als Außenministerin amtierende Konservative hat aus gutem Grund auf den Segen ihrer Partei verzichtet, und mit ihrer (derzeitigen) Partnerschaft mit Mockus möchte sie die aufgeklärten urbanen Wählerschichten ansprechen, die mit den Klientelisten Serpa und Pastrana nichts anfangen können. Linksliberale Publizisten unterstützen Sanín und Mockus wegen ihrer persönlichen Integrität. Doch kaum jemand rechnet damit, daß einer von ihnen in den zwei verbleibenden Monaten noch auf Platz zwei kommen könnte – denn als ausgesprochene Individualisten haben sie erst gar nicht versucht, eine Bewegung um ihre programmatischen Leitmotive „Gewaltabbau durch Bewußtseinsbildung“ und „Kampf der Korruption“ zu scharen.
Das derzeit plausibelste Szenario ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Serpa und Pastrana im Juni. Pastranas Vater Micael war von 1970-74 einer der reaktionärsten Präsidenten des Landes. Pastrana selbst sammelte nach einer Blitzkarriere als mehrfach ausgezeichneter Journalist 1988 als erster gewählter Bürgermeister von Bogotá Verwaltungserfahrung. Ebenso wie vor vier Jahren gibt sich der mittlerweile 43jährige als überparteilicher Kandidat.

Déjà vu: Das rot-blaue Duell

Da er von prominenten (neo-)liberalen Samper-Gegnern wie Ex-Generalstaatsanwalt Alfonso Valdivieso und dem Sekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), César Gaviria, sowie von protestantischen Gruppen unterstützt wird, könnte er als „Blauer“ tatsächlich nennenswert ins „rote“, liberale Wählerpotential einbrechen. Ebenfalls nichts Neues ist seine Scheu vor direkten Debatten mit seinen Konkurrenten: Am sichersten fühlt er sich, wenn er sich bei Wahlkampfauftritten auf wohlfeile Allgemeinplätze zurückziehen kann. Nach US-amerikanischem Vorbild hat er ein professionell geführtes Wahlkampfteam aufgebaut; im Internet stößt man nicht nur rasch auf seine Homepage, sondern auch auf Anti-Serpa-Pamphlete.
Folgender Witz erhellt das gespannte Verhältnis zwischen der Bogotaner Oberschicht und dem in jenen Kreisen als links verschrieenen Serpa: Als der liberale Kandidat in den elitären Contry Club geht, wird er von den Kindern der Mitglieder mit Jubel begrüßt. Auf Nachfrage erhält der überraschte Serpa die Erklärung: „Wenn Sie die Wahlen gewinnen, ziehen unsere Eltern mit uns nach Miami um.“
In der Tat gefällt sich der schnauzbärtige, schlagfertige Populist, der vor knapp zwei Jahren auf Initiative von Werner Mauss im Bonner Kanzleramt mit Geheimdienstkoordinator Schmidbauer an einem Friedensplan zwischen Regierung und ELN bastelte, gerne in Sozialrhetorik. Und kürzlich gestand er ohne Umschweife ein, daß die Regierung Samper auf sozialem Gebiet versagt habe. Er wolle „eine andere Politik einleiten, die sich um die Verbesserung der Wirtschaft“ drehe. Und mit den Rebellen wolle er nun das persönliche Gespräch suchen. Die bedingungslose Solidarität, mit der er dem angeschlagenen Samper immer wieder den Rücken freihielt, und sein enger Draht zu selbst den korruptesten liberalen Provinzfürsten garantieren ihm zwar eine solide Stammwählerschaft, doch ungebundene WählerInnen werden ihn als Verlängerer der diskreditierten Samper-Herrschaft sehen und sich schon deswegen auf die Seite Pastranas schlagen. Durch die frühzeitige Nominierung der letzten Außenministerin María Emma Mejía als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft ist Serpa jedoch zuletzt wieder in die Offensive gegangen.
Wie auch immer der nächste kolumbianische Präsident heißen wird: Auf eine baldige Befriedung des Landes wagen bisher nur die unverdrossensten Optimisten zu hoffen.

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