ELN: „Keine Gespräche mehr mit Pastrana“

Der Friedensbeauftragte von Präsident Pastrana, Victor Ricardo, und die Nummer 2 der ELN, Antonio García, hatten sich im Februar in Venezuela getroffen, um Sicherheitsgarantien für die geplante Nationalkonvention zu vereinbaren. Auch ein direktes Gespräch zwischen Präsident Pastrana und dem ELN-Chef Nicolas Bautista sollte ausgemacht werden. Doch bei den Gesprächen platzten alle Pläne. Die Regierung wies die Forderung der Guerillaorganisation nach Räumung der vier Gemeinden Morales, Simití, Santa Rosa und San Pablo im Süden der Provinz Bolívar kategorisch zurück. Die ELN bekräftigte hingegen, daß sie die Sicherheit der Konvention, die eigentlich schon am 15. Februar hatte beginnen sollen, nur in einem von der Armee geräumten Gebiet garantieren könne.
Die Durchführung der Nationalkonvention, an der 400 Delegierte verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen teilnehmen sollen, war im vergangenen Juli zwischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und dem ELN in Mainz vereinbart worden. Ein demokratisches Forum sollte entstehen, das vor allem den Unterschichten ein Sprachrohr bieten könnte. Der Haken an dem Projekt ist jedoch, daß Bauernverbände, Basisorganisationen und Gewerkschaften in Kolumbien von den Todesschwadronen so massiv unter Druck gesetzt werden, daß sich kaum jemand traut, öffentlich Stellung zu beziehen. Nur wenn paramilitärische Angriffe wirklich ausgeschlossen sind, könnte eine derartige Konvention funktionieren. Das ist der Grund, warum der Sicherheitsfrage eine so große Bedeutung zukommt.

Die „Santa Ana“-Methode

Die Regierung Pastrana, die schon für die Übergabe von Gebieten im Süden des Landes an die revolutionären FARC massive Schelte aus den USA bezogen hatte, wollte sich auf eine neuerliche Räumung nicht einlassen. Stattdessen schlug sie die sogenannte „Santa Ana“-Methode vor, die vor zwei Jahren bei der Übergabe von entführten OAS-Mitarbeitern angewandt worden war. Danach soll die Armee in der Nähe des Konferenzortes bleiben und nur für die Dauer des Treffens ihre Operationen einstellen. Armeekommandant Tapias Stahelin bekräftigte, daß seine Truppen die Konvention zu schützen bereit seien.
Zahlreiche potentielle Konventionsteilnehmer dürften allerdings genau das befürchten. Erst im vergangenen September hatte Präsident Pastrana 10.000 protestierenden Bauern aus der Provinz Bolívar ganz ähnliche Zusagen gemacht. Kaum war ein Abkommen unterzeichnet, verstärkte die Armee ihre Präsenz in der betroffenen Region und massakrierte in Kooperation mit Paramilitärs mindestens 100 Bauern. In San Pablo, das als Konventionsort im Gespräch war, erschossen Uniformierte Anfang des Jahres unter den Augen der Soldaten 14 Jugendliche in einem Billardsalon.
Ähnlich sind die Erfahrungen auch in San Carlos im Departement Antioquia, wo im Oktober ein Vortreffen für die Nationalkonvention stattfand. Wenige Tage nach dem feierlichen Akt besetzten Paramilitärs ebenfalls mit Rückendeckung der örtlichen Armeeeinheit die Stadt und töteten 50 Personen. Und schließlich kam es sogar bei der zitierten Übergabe in Santa Ana 1997 zu einem schweren Zwischenfall. Ein Armee-Hubschrauber simulierte damals einen Angriff und löste fast eine bewaffnete Konfrontation aus. „Die Santa Ana-Methode ist für die Konvention keine brauchbare Lösung“, sagte ein deutlich verstimmter Antonio García nach den Gesprächen in Venezuela.
Den Meinungsverschiedenheiten vorausgegangen waren Militäroperationen gegen das ELN in den Departements Bolívar und Antioquia und Medienberichte über eine Schwächung der Guerilla. Die konzertierte Aktion von Paramilitärs und Armee habe den ELN wenigstens teilweise aus einer ihrer Hochburgen, der Serranía San Lucas, vertrieben, hieß es. Offensichtlich war die Regierung Pastrana nach den Zeitungsartikeln davon überzeugt, der Organisation weniger Zugeständnisse machen zu müssen als den FARC, deren militärische Macht so groß wie noch nie scheint.

Wenig Bereitschaft zu Kompromissen

Nach dem Abbruch der Gespräche wurden beide Seiten wegen ihres Verhaltens öffentlich kritisiert. Generalstaatsanwalt Bernal, der in Mainz Sprecher der Vorbereitungsgruppe war, wies darauf hin, daß eine Räumung von Gebieten nicht vereinbart worden sei und deshalb nun vom ELN nicht als Vorbedingung genannt werden könne. Demgegenüber erklärte eine Gruppe Abgeordneter aus der Provinz Santander ebenso wie der vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez benannte Vermittler Muller, daß die kolumbianische Regierung mehr Kompromißbereitschaft hätte zeigen müssen. Es sei nicht begreiflich warum man dem ELN etwas verweigere, was man den FARC zugestehe.
Allem Anschein nach wird die geplante Konvention nun im Ausland stattfinden müssen. Im Gespräch dafür sind Schweden, Norwegen, Spanien, Deutschland, Puerto Rico und Venezuela. ELN-Chef Nicolas Bautista stellte jedoch klar, daß die Regierung zu dieser Konvention nicht eingeladen sein werde. Ungeklärt ist auch, wie die Teilnahme von Basisorganisationen gewährleistet werden kann.
Auch der Friedensprozeß mit den FARC steckt in einer schweren Krise. Die Anfang Januar in San Vicente de Caguán aufgenommenen Gespräche sind bis April auf Eis gelegt. Die FARC verlangten beim letzten Zusammentreffen mit Victor Ricardo von der Regierung entschlossene Maßnahmen gegen die Paramilitärs und legten eine Liste von aktiven Paramilitärs vor. Unter diesen sind auch zehn hochrangige Offiziere, die nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen beste Verbindungen zum Drogenhändler und Paramilitärkommandanten Carlos Castaño besitzen sollen. Ob die Räumung der Gebiete im Süden des Landes bis über den Mai hinaus fortbestehen wird, steht in den Sternen. Es ist jedoch ziemlich wahrscheinlich, daß die angekündigte Re-Militarisierung ein Ende der Gespräche bedeuten würde.

Internationalisierter Konflikt

Als ob diese Entwicklung nicht beunruhigend genug wäre, geht an den kolumbianischen Grenzen das Säbelrasseln weiter. Unmittelbar nach einer Reise nach Washington ließ der peruanische Präsident Fujimori Armeeeinheiten ins Amazonasgebiet verlegen, um der kolumbianischen Guerilla Versorgungswege abzuschneiden. Nach Angaben der liberalen Tageszeitung El Espectador hat die Clinton-Administration auch auf Panama, Ecuador und Brasilien Druck ausgeübt, um – wie es in einer Pentagon-Studie heißt – „auf die von Kolumbien ausgehende wachsende Instabilität in der Region zu reagieren“. Die Beilegung der Grenzstreitigkeiten zwischen Ecuador und Peru sei, so El Espectador, von Washington forciert worden, um Truppen beider für den Einsatz an der kolumbianischen Grenze frei zu bekommen.
Der kolumbianische Verteidigungsminister Rodrigo Lloreda zeigte für die Maßnahmen des südlichen Nachbarn jedoch vollstes Verstädnis. „Wenn ich Fujimori wäre, würde ich das gleiche tun“, sagte Lloreda in einem Interview mit El Espectador und wies darauf hin, daß auf dem amerikanischen Militärgipfel im vergangenen Dezember in Cartagena ein derartiges Vorgehen besprochen worden sei. Immer wieder betonte Lloreda in den letzten Tagen die Existenz eines „Plans B“, der in Kraft trete, wenn die Verhandlungen scheiterten.
Was das bedeutet, ist nicht schwer auszumalen: Im Augenblick wird ein neues Bataillon mit 1000 Berufssoldaten aufgebaut, das von US-Offizieren mitkommandiert wird und bis Mitte des Jahres in den Provinzen Guaviare und Meta einsatzfähig sein soll. Die Elite-Einheit soll offiziell den Drogenanbau bekämpfen, wird aber in Wirklichkeit eher dazu dienen, das Hauptquartier der FARC in die Zange zu nehmen. Alle Zeichen stehen auf Sturm.

Stiller Exodus

Ein seltener Empfang für die Angestellten der US-amerikanischen Botschaft in Bogotá: Dutzende Flüchtlinge aus dem Süden der Provinz Bolívar besetzten im Juli 1998 den Eingang des Geländes, um auf ihre katastrophale Lage aufmerksam zu machen. Kein unpassender Ort, schließlich machten sie nordamerikanische Unternehmen für die Flucht verantwortlich.
Ihr Pech bestand darin, daß sie ihre Häuser auf einem Stück Erde mit großen Goldvorkommen gebaut hatten, an dem nordamerikanische Unternehmen wie Corona Goldfields oder Archangel Interesse zeigten. Zum zweiten Problem wurde für sie, daß sie zu den Minenarbeiterfamilien gehörten, die zu über 85 Prozent gewerkschaftlich organisiert waren. Mit welchen Mitteln diese Gesellschaften um Eigentumsrechte und Konzessionen zu kämpfen gewillt waren, bekam als erstes die Gemeinde Rioviejo zu spüren: Paramilitärische Milizen tauchten auf, köpften einen Minenarbeiter, spielten mit seinem Kopf Fußball und spießten ihn auf mit den Worten: „Wir sind gekommen, um dieses Gebiet von Euch für die Unternehmen zu säubern, damit sie in dieser Bergregion investieren können.“ Das Ziel solcher Aktionen: Die Menschen sollen fliehen, bis nahezu das ganze Gebiet von seinen Bewohnern verlassen ist und neu verteilt werden kann (zum „paramilitärischen Projekt“ siehe auch LN 286).
Seit dem Beginn des „schmutzigen Krieges“ Anfang der achtziger Jahre ist die Zahl der Flüchtlinge im Land hochgeschnellt. Nach Zahlen des Beratungsbüros für Menschenrechte und Flüchtlinge CODHES betrug die Zahl der Flüchtlinge von 1985 bis 1995 knapp eine Million und ist in den letzten drei Jahren auf über 1,5 Millionen angewachsen. Ex-Präsident Samper kann allein in seiner vierjährigen Regierungsperiode (1994-1998) einen Rekord von 730.000 Vertriebenen verbuchen. Nach einer Untersuchung der kolumbianischen Bischofskonferenz sind mehr als 50 Prozent aller Flüchtlinge Minderjährige und knapp 60 Prozent Frauen oder Mädchen. Kolumbien ist nach dem Sudan das Land mit der zweithöchsten Anzahl von Binnenflüchtlingen weltweit.

Zwischen den Fronten

Da die militärischen Konflikte fast ausschließlich auf dem Land ausgetragen werden, ist die dortige Bevölkerung permanentes Opfer von Drohungen, Übergriffen und Massakern. Kleine Orte, die friedlich und nahezu von der Außenwelt abgeschnitten existierten, werden zu politischen Schlachtfeldern. Oft beginnt es ganz harmlos: Irgendwann kommt die Guerilla für einige Tage in einen Ort. Sie hält politische Sitzungen ab, um die Bevölkerung von ihren Zielen zu überzeugen. Die Campesinos verkaufen oder schenken den Besuchern ein Schwein oder eine Kuh zum Schlachten und geben ihnen Unterkunft. Daß niemand die Teilnahme verweigert, dafür sorgt schon die Angst vor Denunziation. Zudem sind die Konsequenzen in diesem Moment noch nicht abzusehen. Haben die Paramilitärs von der Anwesenheit der Guerilla Wind bekommen, besetzen sie einige Tage später ihrerseits den Ort, ermorden zur Vergeltung „subversive“ Bauern oder verüben regelrechte Massaker an der Bevölkerung. Daß die Guerilla ihrerseits nicht zimperlich mit Zivilisten umgeht, läßt sich nicht leugnen. Allerdings agieren die paramilitärischen Milizen, deren enge Kontakte und Zusammenarbeit mit der Armee ein offenes Geheimnis sind, weitaus rigider und brutaler. Sie werden für etwa 80 Prozent der Massaker verantwortlich gemacht, die mittlerweile fast täglich landesweit von ihnen verübt werden. Die Menschen, fast immer einfache Bauern, stehen zwischen den Fronten der agierenden Parteien – also Guerilla, Armee und Paramilitärs – und haben außer Flucht kaum eine Möglichkeit, sich dem Konflikt zu entziehen.
Neben der „politischen Auseinandersetzung“ mit der Guerilla spielen wirtschaftliche Hintergründe eine mindestens ebenso große Rolle bei Vertreibungen, die von Paramilitärs geplant durchgeführt werden. Das betrifft vor allem wirtschaftlich interessante Landesteile, wie den Chocó an der Grenze zu Panama, wo ein interozeanischer Kanal geplant ist und zudem riesige Rohstoffvorkommen vermutet werden, und das Tiefland des mittleren Magdalena in Zentralkolumbien mit seinen Erdöl-, Gold- und Uranressourcen. Beide Regionen gehören zu den Zonen, aus denen am häufigsten militärische Auseinandersetzungen und Massaker an der Zivilbevölkerung gemeldet werden.

Keine Existenzberechtigung

Inzwischen sind riesige Flüchtlingslager entstanden, die an afrikanische Verhältnisse erinnern. Dort hoffen die Menschen auf Hilfe oder Zusagen seitens der Regierung, daß sie wieder in ihre Heimatorte zurückkehren können. Solche Garantien werden immer wieder gegeben, sind aber völlig unrealistisch. Bauern aus der Ortschaft Coco Tiquiso/Bolívar bekamen das schmerzlich zu spüren: Eine Woche nach ihrer Rückkehr wurden drei von ihnen umgebracht und 20 Häuser niedergebrannt. Dieser paramilitärische Überfall löste in dieser Region eine neuerliche Flucht der Bevölkerung aus.
Aufgrund solcher Aussichten ist nicht einmal jeder zehnte von den Flüchtlingen bereit, in seine Heimatgemeinde zurückzukehren. Sie sind gezwungen, sich eine neue Existenz aufzubauen. Die größte Anziehungskraft strahlen deshalb die Metropolen aus, wo die Entwurzelten bessere und sicherere Bedingungen erwarten. Größtes Auffangbecken ist die Hauptstadt Bogotá und ihr Umland. Laut CODHES kommen täglich über 35 Familien in die Hauptstadt, im Jahr 1998 insgesamt fast 55.000 Personen. Da die Familiensolidarität in Kolumbien sehr stark ist, suchen viele der Flüchtenden Verwandte auf, in der Hoffnung, daß sie ihnen helfen können. Die fatale Folge ist, daß die Familien stark anwachsen und verarmen, weil es für die ehemaligen Bauern in der Stadt so gut wie keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.
Die einzige Chance Geld zu verdienen liegt im informellen Sektor. Das Straßenbild im Zentrum Bogotás ist geprägt von Menschen, die von Bauchläden leben oder Schuhe putzen. Über 50 Prozent der arbeitenden kolumbianischen Bevölkerung sind aber in diesem Sektor beschäftigt. Das Gros der Flüchtlinge bleibt somit arbeitslos oder chronisch unterbeschäftigt, was die soziale Situation in der Stadt weiter verschlechtert und die städtische Kriminalität forciert. Ein Dekret des Bürgermeisters, das die Vertreibung der StraßenverkäuferInnen durch die Polizei aus dem Stadtzentrum vorsieht, verschärft die Situation noch.
Weitere Hürden für eine Integration der MigrantInnen sind fehlende Dokumente und Ausweise, die die Neuankömmlinge bisher nicht brauchten oder nie beantragt hatten. Zudem sind die Kinder nicht registriert. Das erleichtert den staatlichen Behörden den Umgang mit den Flüchtlingen. Sie werden einfach ignoriert: Ein Kind, das nie irgendwo registriert wurde, existiert amtlich auch nicht. Die meisten Menschen lassen sich an den Peripherien der Stadt nieder. Besonders im Süden sind in den letzten Jahren riesige Armenviertel entstanden.

Uneffektive Hilfe

Für die staatlichen Behörden werden die Flüchtlinge dann zum Störfaktor, wenn sie organisiert auftreten und auf ihre Lage aufmerksam machen wollen. Mißliebige Vorkommnisse wie die Botschaftsbelagerung werden kurzerhand als Guerillaaktion gebrandmarkt. Zwar wurde im Juli 1997 mit dem Gesetz 387 ein Nationaler Hilfsplan für die Flüchtlingsbevölkerung verabschiedet, der die Menschen unterstützen soll, aber die Umsetzung ist gekennzeichnet von den typischen Erscheinungsformen in kolumbianischen Behörden: extreme Bürokratie, schlechte Koordination und Korruption.
Ein nationaler Fonds wurde ebenfalls eingerichtet, der den Kauf von Hilfsgütern ermöglichen und den Flüchtlingen finanzielle Unterstützung geben sollte. Das Ergebnis war, daß für sechs Personen umgerechnet nur etwa 20 Mark für zwei Wochen zur Verfügung standen und daß Hilfslieferungen für immense Summen in betroffene Gebiete gesendet wurden, die sich später aber als Fiktion herausstellten und nur auf dem Papier existierten. Das Geld verschwand auf irgendwelchen Privatkonten.
César Casas vom Jesuitendienst, der in Barrancabermeja mit Flüchtlingen arbeitet, stuft die staatlichen Hilfspläne als nutzlos ein: „Für offizielle Statements ist nur die Höhe der Geldsumme wichtig, die eingesetzt wurde, und nicht, was damit gemacht wird.“ Für ähnlich uneffektiv hält er die internationale Hilfe. „Es gibt einige Projekte der Europäischen Union, die sich aber meist in sinnlosen Hilfslieferungen von Dingen erschöpfen, die in den Industrielagerhallen übrig sind. Da werden containerweise Schuhe geschickt, die keinem passen oder nur aus Einzelexemplaren ohne den zweiten Schuh bestehen.“
Für Nicht-Regierungs-Organisationen, die sich mit den Flüchtlingen beschäftigen, ist es äußerst schwierig, den Menschen zu helfen. Zum einen können sie selbst zur Zielscheibe der Paramilitärs werden, zum anderen wollen sich die Bauern nicht von Außenstehenden helfen lassen. Besonders schwierig ist es bei psychologischer Hilfe, die für viele der Betroffenen notwendig wäre, da sie von der erlebten Gewalt traumatisiert sind, ihre emotionale Schädigung in die Familie hineintragen und so auch ihre Kinder, die einen enormen Prozentsatz der Flüchtlinge ausmachen, in Mitleidenschaft ziehen. Etwas einfacher haben es da die Kirchen, die aufgrund der Religiosität der Betroffenen schnelleren Zugang finden.
„Sie haben Angst, sich in der Öffentlichkeit als Flüchtling zu outen, da sie dadurch ihre Sicherheit gefährdet sehen. Abgesehen davon sehen sie keine Möglichkeit, ihre Lage zu ändern. Was sie heute sind, werden sie auch in zehn Jahren noch sein“, erläutert César Casas den Grund, warum es so schwierig ist, die Flüchtlinge zu organisieren und das Problem öffentlich zu machen.
Im Fall eines Flüchtlingsviertels in Barrancabermeja läßt sich das verdeutlichen. Hier gibt es seit 15 Jahren den Versuch seitens der Kirche, eine Gemeindeorganisation zum Aufbau des Viertels zu schaffen. Bisher ist nur eine kleine Gruppe entstanden, der es nicht gelingt, die demotivierte Mehrheit für ihre Pläne zu gewinnen. Für die städtische Bevölkerung genießen die Flüchtlinge zudem den Ruf als Verbrecher oder Guerilleros. Mit solch einem Stigma tritt man in Kolumbien besser nicht öffentlich auf, da es zur Gefahr für das eigene Leben werden kann. Besetzungsaktionen wie die eingangs geschilderte erfordern unter diesen Umständen umso mehr Mut.

Konfliktmetropole Barrancabermeja

Erschwerend kommt hinzu, daß die EinwohnerInnen von Barrancabermeja müde sind von den Problemen, die hier nicht zuletzt durch die Migration auftreten. Die Stadt am Rio Magdalena ist schließlich zum Aushängeschild für den kolumbianischen Konflikt avanciert. Mit ihren Raffinerien bildet sie das Zentrum der Erdölindustrie und ist mit den Ölfeldern und Viehzuchtgebieten im Umland wirtschaftlich bedeutend. In diesem Gebiet des mittleren Magdalena hat sich der militärische Konflikt in den letzten Jahren derart zugespitzt, daß bereits Tausende Menschen nach Barrancabermeja geflohen sind, wo sie Arbeit zu finden hoffen.
Dabei ist die Stadt mit ihren knapp 300.000 EinwohnerInnen Schauplatz von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Guerilla und Paramilitärs, da es hier traditionell starke soziale Bewegungen gibt, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Im Gebiet des Magdalenatals entstanden in den achtziger Jahren die ersten paramilitärischen Verbände Kolumbiens, die den ungehinderten Handel mit dem Erdöl durchsetzen und dafür Guerillabewegungen sowie soziale Organisationen zerstören sollten. Besonders die Erdölarbeitergewerkschaft USO war in der Folgezeit permanenter Repression ausgesetzt.
Der Zeitung El Tiempo zufolge ist im letzten Jahr durchschnittlich alle vier Tage eine Bombe in Barrancabermeja explodiert, über 370 Menschen sind ums Leben gekommen. Es herrscht ideologischer und wirtschaftlicher Krieg. Die Stadt ist gleichzeitig Ziel und Ausgangspunkt von Flüchtlingskolonnen geworden. Erst zwischen Juli und Oktober 1998 gab es einen neuerlichen Exodus von über 10.000 Menschen nach Barrancabermeja, der die Stadt an den Rand einer Versorgungskrise gebracht hat.

Poeten ohne Feder

Wer glaubte, alle Dichter seien Schriftsteller, muß sich eines besseren belehren lassen: In vielen Regionen Europas und Amerikas haben sich Traditionen improvisierter Poesie erhalten, in denen der Moment des Vortrags wichtiger ist als die Verschriftlichung und Vervielfältigung. In Kolumbien beispielsweise nennt man die Erfinder von sekundenschnell zurechtgezimmerten Versen Trovadores, im brasilianischen Nordosten Violeiros und in Kuba Repentistas. In Chile ist ihr Gesang wehmütig, während im karibischen Raum das rhythmisch-spielerische Element stets unüberhörbar ist.
Einer, der diese Vielfalt auf internationalen Treffen und Wettstreiten „oraler Poesie“ kennengelernt hat und wie kaum ein anderer das Panorama mündlicher Dichtung im iberischen Raum kennt, ist Alexis Díaz Pimienta. Der 1966 in Havanna geborene Kubaner ist in seinem Land als ein literarisches Chamäleon bekannt: Neben Auftritten als Repentista, unter anderem im kubanischen Fernsehen, veröffentlichte er mehrere Poesiebände, Kurzgeschichten sowie eine bislang in Umfang und Reichweite einzigartige Studie über orale Poesie („Teoría de la improvisación. Primeras páginas para el estudio del repentismo”. Editorial Sendoa, Oiartzun/Spanien, 1998). Sein letztes Buch, der Roman Prisionero del Agua, gewann den spanischen Literaturpreis Novela Alba/Prensa Canaria und erscheint voraussichtlich 1999 in deutscher Übersetzung beim Suhrkamp-Verlag.
In seinem Heimatland, meint Díaz, ist die mündliche Poesie so lebendig wie eh und je: „Da gibt es Bauern, die über hundert Kassetten – alle feinsäuberlich beschriftet – mit aufgezeichneten Dichterwettbewerben zuhause stehen haben.” Der Wettstreit zwischen zwei Repentistas – Kontroverse genannt – folgt festen Regeln. Beide Künstler singen, begleitet von Gitarre und Rythmusinstrumenten, abwechselnd zehn Verse mit jeweils acht Silben und einem festen Reimschema. Zum Ritual gehören die Begrüßung und Verabschiedung des Publikums am Anfang beziehungsweise Ende des Treffens. Was dazwischen geschieht, hängt davon ab, ob ein Thema vorgegeben wurde, zum Beispiel von einer Jury. In jedem Fall muß der Dichter seinem Kollegen direkt antworten, zumindest aber den Faden des Vorgängers weiterspinnen. „Insgesamt habe ich in solch einer Situation etwa anderthalb Minuten, um mir eine Antwort auszudenken“, erzählt Díaz. Schnelligkeit und Spontaneität sind unverzichtbar; bei Wettbewerben auf Kuba wird allerdings auch darauf geachtet, daß die Verse poetische Bilder oder gelungene Metaphern enthalten – und tatsächlich fällt es bei so manchem Gedicht schwer zu glauben, daß es innerhalb von Sekunden entstanden ist.
Die Lateinamerika-Nachrichten sprachen mit Alexis Díaz Pimienta während eines Besuches in Kolumbien über seine Tätigkeit als Repentista und Schriftsteller, sowie über derzeitige Realität und Perspektiven der improvisierten Poesie.

Wie war Ihr erster Kontakt mit der oral improvisierten Poesie? Wie sind Sie Repentista geworden?

Ich habe mit fünfeinhalb Jahren angefangen. Mein Vater war auch Repentista, und bei uns zuhause gab es regelmäßig Feste und Tanzparties, auf denen Poesie improvisiert wurde. In diesem Ambiente bin ich groß geworden. Sehr früh ging ich mit meinem Vater zusammen zum Improvisieren in die Nachbarschaft, später hatte ich dann auch Auftritte in Radio und Fernsehen.

Welches sind die hauptsächlichen Themen des Repentismo in Kuba?

Die Themen der improvisierten Poesie sind sehr unterschiedlich, und es gibt kein „verbotenes Thema”. Am beliebtesten ist vielleicht der romantisierende Gesang auf Landschaft und Leute, der canto paisajista. Das Göttliche spielt in der oral improvisierten Poesie keine Rolle, da dafür in Kuba – wie in ganz Lateinamerika – keine Tradition existiert; besungen wird der Mensch und konzeptuelle Themen, wie etwa die Zeit, die Liebe oder der Tod. Darüber philosophieren wir – aber natürlich stets aus einem lyrischen, poetischen Blickwinkel.

Auch über Politik?

Ja, die Politik ist sehr stark unter den Themen vertreten. Der Repentismo war immer mit Geschichte und Politik auf Kuba eng verbunden. Ob der Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien, der Krieg gegen Machado, gegen Batista, oder die Kubanische Revolution – die improvisierte Poesie war immer auf der Höhe der Ereignisse.

Wir leben in einer Zeit, in der die Schriftsprache dominiert. Orale, das heißt mündliche Ausdrucksformen sind zweitrangig geworden.

Generell gibt es aber in der gesamten heutigen Welt eine Rückkehr zur Oralität, die wiederentdeckt wird als Ergebnis einer Übersättigung mit der Schrift, mit schematisierter Information, mit zuviel Technologie. Wir kehren zurück zum lebendigen, gesprochenen Wort, und von allen Ausdrucksformen, in denen das lebendige Wort einen wichtigen Anteil hat, ist, glaube ich, die Improvisation jene mit der meisten Zukunft.

Die oral improvisierte Poesie ist also nicht vom Aussterben bedroht?

Nein, ich denke, genau das Gegenteil ist der Fall. Diese Art von Ausdruck erlebt derzeit ihre besten Momente: eine Renaissance, eine Zeit der Wiederbelebung. In den letzten zehn Jahren wurden wissenschaftliche Arbeiten über sie veröffentlicht, es gab Symposien und Kongresse. Außerdem verfügen wir bereits über eine umfangreiche Bibliographie, unter anderem mein erst vor zwei Monaten erschienenes Buch „Theorie der Improvisation“. Ich denke, die improvisierte Poesie war noch nie so akademisch „verankert“ wie heute, und darum waren die Bedingungen für eine Wiederbelebung noch nie so günstig wie jetzt. Und gerade die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, etwa in Kuba, aber auch in Spanien und Kolumbien, findet großen Anklang.

Mich beeindruckt die scheinbare Leichtigkeit, mit der Sie gereimte Verse aus dem Nichts zaubern und singen. Es scheint, als ob Sie zugleich hören und erfinden könnten. Wie fühlen Sie sich während eines Auftritts – ist das nicht eine unglaubliche innere Spannung, absolute Konzentration?

Man spürt große Spannung, große Konzentration. Und man entwickelt eine Art multisensuelle Aktivität, das heißt man erfindet, hört zu, wählt aus, beobachtet die Reaktion des Publikums und antwortet zugleich. All dies geschieht simultan. Es gibt zwei Payadores – so nennen sich die Kollegen in Argentinien –, die eine Studie geschrieben haben, „Der Payador aus der Perspektive der Medizin”. Sie haben Untersuchungen gemacht, wie der Organismus während des Auftritts funktioniert, und haben wirklich kuriose Dinge beobachtet: der Blutzucker sinkt, zum Beispiel, und die Hände schwitzen mehr; es gibt eine ganze Reihe von physiologischen Phänomenen, die zustande kommen, wenn wir improvisieren, und die den Streßzustand wiederspiegeln.
Manchmal betritt ein Dichter die Bühne und hatte vorher irgendein Wehwehchen, zum Beispiel Kopf- oder Zahnschmerzen. Wenn er anfängt zu singen, verschwinden diese Schmerzen, und wenn der Auftritt vorbei ist, kommen sie wieder. Die Konzentration ist so intensiv, daß man in Extase versetzt wird.

Gibt es Tage, an denen Ihnen einfach keine Verse einfallen?

Klar. Manchmal funktioniert es sehr gut, und manchmal möchte ich am liebsten die Bühne verlassen.

Ein lange vorher verabredeter Auftritt stellt also immer ein Risiko dar.

Diesen Nachteil hat man, wenn man den Repentismo hauptberuflich betreibt: Man muß auftreten, unabhängig vom jeweiligen Befinden. Die Semiprofis haben es leichter, die können singen, wenn sie Lust haben. Wenn sie keine Lust haben, singen sie nicht. Als Profi hingegen muß man auftreten, wenn die Nachfrage es verlangt. Manchmal hat man einfach keine Lust. Und darum variiert auch die Qualität der Arbeit

Kann man vom Repentismo allein leben?

In Kuba leben alle Kollegen davon. Dort sind wir Profis und haben unser Gehalt, um auftreten zu können. Aber Kuba ist wohl auch das einzige Land auf der Welt, wo das so ist. Vielleicht gibt es anderswo vereinzelte Fälle von Kollegen, die von ihrer Arbeit leben können, etwa einige Künstler im spanischen Baskenland, oder der eine oder andere Payador in Argentinien – aber derart massiv wie in Kuba ist das nirgendwo möglich. Wir sind als Profis organisiert, haben eine stabile Arbeitsbeziehung, festen Lohn, gewerkschaftlichen Rückhalt und Anspruch auf Rente.

Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen dem geschriebenen Gedicht und dem improvisierten? Ist das letztere überhaupt „Literatur“?

Ja, das schon, aber eben orale Literatur. Die Oralität hat ihre eigenen Gesetze und Regeln, eine ganz eigene Grammatik. Viele Theoretiker wie etwa Walter Ong haben versucht, diese Regeln, die die Grammatik der Oralität bestimmen, zu Papier zu bringen. Innerhalb der Oralität wiederum existiert die improvisierte Oralität, die ihrerseits eigene, ihr innewohnende Gesetze und Techniken besitzt.
Das bedeutet, daß die improvisierte Poesie einerseits Text ist – genauer gesagt, oraler Text –, und andererseits orale Improvisation. Dies ist zwar reine Nomenklatura, aber dennoch sehr wichtig: wir dürfen improvisierte Poesie nicht einfach als puren Text betrachten, denn das hieße, sie zu limitieren, und sie aus ihrem Kontext zu entreißen, welcher ihr – als Text – erst ihre wahre Konsistenz gibt. Wir würden ihre kommunikativen Möglichkeiten beschneiden, ihre unbeschränkte poetische Kraft.

Nach einigen Literaturpreisen für Kurzgeschichten und Poesie haben Sie vor kurzem einen Preis für Ihren Roman Prisionero del agua gewonnen. Wie hat der Repentista Alexis Díaz Pimienta den Romanautor Alexis Díaz Pimienta beeinflußt?

Das beantwortet wohl besser ein Literaturkritiker als ich… aber was mir manchmal gesagt wird, ist, daß meine Prosa musikalisch ist und daß die Sprache sehr fließt. Vielleicht entdeckt man hinter dem geschriebenen Diskurs einen Sprachfluß, der typisch für die Oralität ist – und das kommt daher, daß ich aus der Welt des Repentismo komme. Ich bin über die improvisierte Poesie zur geschriebenen Literatur gekommen, nicht umgekehrt. Zuerst war ich Repentista, und ich bin es auch weiterhin.
Aber irgendwann hatte ich eben so viele Ideen, daß der Repentismo mir als alleinige Ausdrucksform nicht mehr ausreichte, und ich habe neue Formen gesucht: die geschriebene Poesie, Kurzgeschichten, Romane, Essays. Trotzdem versuche ich nach wie vor, keine Hürden zwischen Leser und Text aufzubauen, oder, wenn man so will, zwischen Leser und Autor. Ich denke, das ist ein Überbleibsel oder ein Einfluß der oralen Welt, meines Schemas in der oralen Kommunikation.

KASTEN

Die improvisierte Poesie ist spontane Dichtung, Theater, gesprochener Text, Austausch mit dem Publikum, Wettstreit; eigentlich darf man sie nicht allein als Text betrachten, sondern muß sie „live_ erleben. Dennoch drucken wir hier eine kleine (und in Sekundenschnelle gedichtete!) Kostprobe des kubanischen Repentista Bernardo Cárdenas ab. In der deutschen Übersetzung wurde das Versschema widergespiegelt, die Reime fallen allerdings weg.

Ojalá yo sepa el día
en el que me voy a morir
para poderle decir
adiós a la gente mía.
Entrar a una canturía
de versos improvisados
y sobre los verdes prados
– el paisaje que más quiero –
escuchar un aguacero
de laúdes afinados.

Wüßte ich doch vorher den Tag
an dem ich fortgehen werde
um jenen, die mir nahe sind,
ein letztes Adios zu sagen.
Um dann, getaucht in Gesänge
mit improvisierten Versen,
auf grünen Wiesen – die Landschaft,
die mir am liebsten war –
wie einen sanften Wolkenbruch
gestimmte Lauten zu hören.

Zwischen Diktatur und Demokratie

Unter denen, die sich im Be-
reich der Sozialwissenschaften mit Lateinamerika beschäftigen, gehört Dieter Boris zu den eher wenigen, die sich den Blick für das Ganze bewahrt haben, weil sie mit Recht meinen, nur so könne die Dimension und Bedeutung einzelner Erscheinungen sinnvoll eingeschätzt werden. Dieser Blick des Generalisten bewahrt ihn auch vor der Gefahr, den wechselnden wissenschaftlichen Modetrends hinterherzulaufen. Das geschieht zunächst in der sehr lesenswerten Einleitung. Hier wird deutlich gemacht, daß die sozialen Bewegungen in Lateinamerika nicht allesamt neu sind, denn Aufstände der indigenen Bevölkerung, Rebellion der Bauern und Bäuerinnen, später die ArbeiterInnenbewegung und regionale StudentInnenbewegungen hat es schon lange vor der „Hochkonjunktur“ der „neuen sozialen Bewegungen“ in den achtziger Jahren gegeben. Auch stellen nicht alle Bewegungen eine lateinamerikanische Besonderheit dar, denn die Frauenbewegung und die Umweltbewegung beispielsweise nahmen in Lateinamerika etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung und Stärke zu wie in Europa oder Nordamerika. Die während der siebziger und achtziger Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas etablierten Militärdiktaturen haben allerdings mit der Unterdrückung der normalen Möglichkeiten politischer Artikulation durch Parteien einerseits und der Schaffung von dramatischen Notsituationen durch politische Verfolgung und soziale Gefühllosigkeit andererseits den Boden für eine Reihe von Bewegungen bereitet, die unter „normalen“ Umständen wahrscheinlich nie entstanden wären. Dazu gehören vor allem die Menschenrechtsbewegungen, die sich um die verschwundenen politischen Gefangenen gekümmert haben und noch kümmern, die solidarischen Organisationen einer Art Volksökonomie, die Stadtteilbewegungen und andere mehr.
Lesenswert ist die Einleitung auch besonders, weil Dieter Boris hier die seither unternommenen Versuche zur Bildung von Theorien über soziale Bewegungen einer kritischen Revision unterzieht und sich gegen die Ansicht zur Wehr setzt, die „veraltete“ Klassenanalyse sei in Zukunft durch die Analyse sozialer Bewegungen zu ersetzen (statt zu ergänzen). Natürlich könnten, so argumentiert er, die sozialen Bewegungen nicht auf ein Klassenphänomen reduziert werden. Das schließe aber nicht aus, daß sie in der Klassengesellschaft „verortet“ seien. Fast nebenbei vermittelt Dieter Boris an dieser Stelle auch, daß der modische und sehr unscharfe Begriff der „Zivilgesellschaft“ in Lateinamerika eher vernebelnde als aufklärerisch-erkenntniserweiternde Funktionen gehabt hat.

Analyse im Vergleich
und am Beispiel
Nach einem kurzen Ausblick auf neuere Tendenzen der Entwicklung der Sozialstruktur in den Ländern Lateinamerikas unternimmt Dieter Boris den Versuch, die Konsequenzen der Demokratisierungsprozesse für die Weiterentwicklung der sozialen Bewegungen zu kennzeichnen. Nach seinem Urteil sind diese Bewegungen in Ländern wie Chile und Uruguay mit dem Wiederaufkommen der politischen Parteien sehr geschwächt worden, während sie ihren Einfluß etwa in Bolivien und Paraguay halten und in Brasilien oder Ecuador sogar ausbauen konnten. Diese Typenbildung ist nicht ganz unproblematisch; richtig ist aber sicherlich, daß die Veränderungen in den Ländern unterschiedlich waren und sind. Dabei erstaunt, daß Dieter Boris eine ganze Reihe von Faktoren anführt, die diese Unterschiede bewirkt haben könnten, aber nicht auf das Ausmaß eingeht, in dem eine neoliberale Gesellschaftspolitik es geschafft hat, mit „Modernisierungsreformen“ entsolidarisierende Wirkungen zu entfalten. Das war eben in Chile und Uruguay weitaus mehr der Fall als etwa in Brasilien.
Der größte Teil des Buches ist der Analyse der einzelnen Bewegungen gewidmet. Dabei geht Dieter Boris jeweils von einer Schilderung der Strukturprobleme aus, die die Entstehung oder das Wiederaufblühen einer sozialen Bewegung bewirkt haben, also: der Mangel an Land für die Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, die kulturelle Benachteiligung für die indigenen Bewegungen, die Wirkungen der Öffnung zum Weltmarkt für die ArbeiterInnenbewegung, Mord, Folter und Unterdrückung für die Menschenrechtsbewegungen, Machismus und männliche Vorherrschaft für die Frauenbewegung, die steigende Belastung der Umwelt für die Umweltbewegung usw. Daran knüpft jeweils eine sehr nützliche differenzierende Übersicht über die Entwicklung der jeweiligen Bewegungen in ganz Lateinamerika an, die schließlich in eine detailreiche Darstellung am Beispiel eines einzelnen Landes mündet.
Daß Brasilien im Unterschied zu allen anderen Ländern gleich dreimal erscheint, hat nicht nur mit der Größe dieses Landes zu tun, welches – nach geographischer Größe und Bevölkerung – fast die Hälfte Lateinamerikas ausmacht, sondern auch mit der größeren Bedeutung, die die sozialen Bewegungen hier eingenommen haben. Die neue Gewerkschaftsbewegung mit ihrer engen Beziehung zur Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und die kirchlichen Basisbewegungen innerhalb des größten katholischen Landes der Welt konnten in solch einem Buch einfach nicht fehlen.

Soziale Bewegungen
und Neoliberalismus?
Daß Dieter Boris im allgemeinen die eher erfolgreicheren nationalen Bewegungen als Beispiele für seine Einzeldarstellungen ausgesucht hat, wird man kaum kritisieren können, zumal ja die Einschätzung der Situation in ganz Lateinamerika diesen immer vorausgeht. Das einzige Kapitel, bei dem eine andere Auswahl sicher besser gewesen wäre, ist das Kapitel über die Guerilla, in dem Nicaragua im Mittelpunkt steht. Selbst wenn man zugesteht, daß es sich bei den Guerillas um soziale Bewegungen handeln kann – und in Nicaragua wurden sie 1979 zum Kristallisationspunkt sehr breiter Bewegungen –, läßt sich fragen, ob der Sieg der Sandinisten damals nicht eine untypische Ausnahme darstellt, die ganz besonderen Bedingungen zu verdanken war und ob nicht etwa Kolumbien besser als Beispiel gedient hätte, um die Vielfalt der Probleme zu beleuchten. Wichtig wäre in diesem Kapitel auch gewesen, etwas stärker zu differenzieren. Jedenfalls kann die bündnisunfähige und auch gegenüber der übrigen Linken zum Terror entschlossene peruanische Guerilla Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) ebenso wenig mit den anderen (maoistischen, trotzkistischen, castristischen) Guerillas in einem Atemzug genannt werden wie die zapatistische Guerilla in Chiapas (Mexiko), die sich vom Kampf um die politische Macht offiziell verabschiedet hat und mit den modernsten Methoden weltweiter Kommunikation arbeitet.
Die Menschenrechtsbewegungen in Argentinien um die „Mütter der Plaza de Mayo“, die Avantgarde der lateinamerikanischen Frauenbewegung in Chile, die Bewegungen von ElendsviertelbewohnerInnen in Lima, die erfolgreich agierende indigene Bewegung in Ecuador und die ökologische Bewegung in Mexiko-Stadt, der größten Metropole der Welt mit entsprechend großen Umweltproblemen bieten dagegen gute Gelegenheit, die allgemeinen Probleme der jeweiligen Bewegungen vertiefend zu analysieren.
Wer sich in der deutschsprachigen Welt mit zentralen gesellschaftlichen und politischen Problemen Lateinamerikas beschäftigen will, wird auf die Lektüre dieses wichtigen Buches – auch wegen seines sehr ausführlichen Literaturverzeichnisses – kaum verzichten können.

Dieter Boris: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. VSA-Verlag, Hamburg 1998, 254 Seiten.

Kolumbianische Realitäten

Ein Hauch von Frieden weht über das Land. Seit einem halben Jahrhundert bestimmen Gewalt und Bürgerkrieg das Leben in Kolumbien. Nun schickt sich erneut ein Präsident an, einen Ausweg aus der Spirale von Mord und Totschlag zu suchen. Ausgestattet mit der Selbstverständlichkeit der Machtausübung, wie sie nur die Konservativen besitzen, spricht der ehemalige Fernsehtalkmaster und heutige Staatschef Andrés Pastrana landauf, landab unermüdlich vom Frieden. Fraglos ein ehrenwertes Unterfangen, selbst wenn manche ihm neben persönlichem Ehrgeiz vor allem die Absicht unterstellen, auch in Kolumbien eine neoliberale „Strukturanpassung“ durchsetzbar zu machen. Die längerfristigen politischen Kosten seines hohen Einsatzes lassen sich derzeit kaum abschätzen. Enttäuscht die jetzige Regierung die von ihr geschaffene hohe Erwartungshaltung, indem die Verhandlungsbemühungen scheitern, werden weitere Gespräche auf absehbare Zeit unmöglich.

Die Gefahr ist groß, nicht nur wegen der erzeugten Erwartung. Bisher läßt Pastrana nicht die ernsthafte Absicht erkennen, grundlegende Probleme und Konfliktursachen auch nur zu benennen, geschweige denn anzugehen. Zwar scheint eine Unterstützung seiner Friedensinitiatve und sogar weitergehende soziale Veränderungen in Wirtschaft und Politik durchsetzbar. Aber die Beilegung des bewaffneten Konflikts braucht mehr als soziale Reformen. Ohne wirkliche Veränderung der Machtverhältnisse, ohne Offenlegung vor allem der wirtschaftlichen Interessen und ohne echte Beteiligung der Bevölkerung wird sich die ebenso diffuse wie explosive Mischung aus Guerilla, Armee, Drogenmafia, Paramilitärs, in- und ausländischen Konzernen sowie korrupten PolitikerInnen und StaatsvertreterInnen nicht entschärfen lassen.

Der Komplexität des Konfliktes mögen sich viele KolumbianerInnen durchaus bewußt sein. Doch scheinen die wenigsten wissen zu wollen, worum es dabei geht. Die FARC-Guerilla kritisiert das fehlende Bewußtsein ihrer Landsleute über das wirkliche Ausmaß der Auseinandersetzungen. Wesentlichen Anteil daran haben die Medien: Immer auf der Suche nach der schnellen Nachricht, wird Information zweitrangig. Oder auf erstaunlich hemmungslose Weise manipuliert und verdreht. In den Köpfen vieler KolumbianerInnen hält sich hartnäckig das Bild einer gewaltbereiten, rücksichtslosen Guerilla. Jeder militärische Angriff der Aufständischen wird in Funk und Fernsehen ausführlich von Verteidigungsminister und Generälen verdammt. Die gezielten Morde der Todesschwadronen verstärken das kollektive Gefühl, in einem Land zu leben, das im Strudel der Gewalt untergeht. Nach politischen Forderungen und Interessen, nach den Ursachen des langjährigen bewaffneten Konflikts und nach den Verbindungen der Paramilitärs zur Armee fragt öffentlich kaum jemand.

Das ist zum Teil ein Ergebnis der soziokulturellen Entwicklung Kolumbiens, wo politisch motivierte Morde an der Tagesordnung sind. Wo ein Menschenleben bisweilen nicht mehr als zehn Mark wert ist. Wo der Umgang mit dem Tod so routiniert ist, daß nur zehn Minuten nach der Tat allenfalls leicht rosa verfärbtes Spülwasser davon zeugt, daß hier soeben ein Mensch erschossen wurde. Wo US-amerikanische Unfallchirurgen zum üben hinfahren, um den Umgang mit Schußverletzungen zu trainieren. Und wo ein jeder im Dunkeln intuitiv die Straßenseite wechselt, wenn ihm zwei oder drei Gestalten entgegenkommen.

Um in diesem Klima von geballter Gewalt und ständiger Bedrohung überleben zu können, braucht es Ventile. Die extreme Ausgelassenheit, die Lust am Feiern erscheinen, von außen betrachtet, angesichts der dauernden Klagen über das Leben in Kolumbien schizophren. Ebenso die alljährlich mit Riesenpomp zelebrierte Wahl der „Miss Colombia“, die in Form spärlich bekleideter junger Damen über die Bildschirme flimmert und bisweilen die Hälfte der Fernsehnachrichten einnimmt. Dann bleibt eben keine Zeit mehr für andere Meldungen, geschweige denn für Informationen. Und die KolumbianerInnen sind abgelenkt vom Trauerspiel in ihrer Heimat. Sonst müßte man vielleicht wirklich eines Tages die eigene Haltung verändern.

Kein Grund zur Eile

Mit einer Unterbrechung der Friedensverhandlungen und Forderungen nach einem konsequenten Vorgehen gegen die Paramilitärs reagieren die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) auf den jüngsten Terror. Seit dem Beginn der Gespräche in San Vicente haben paramilitärische Verbände mehr als 150 Menschen in verschiedenen ländlichen Gebieten Kolumbiens ermordet. Mit der jüngsten Terrorwelle wollen die Todesschwadronen ihrer Forderung Nachdruck verleihen, in Friedensbemühungen einbezogen zu werden. Seitdem die Regierung nach der zweiten großen Guerilla des Landes, dem Nationalen Befreiungsheer (ELN), auch den FARC politischen Status zugebilligt hat, fordern die Paramilitärs dieselbe Akzeptanz. Dabei führen sie einen systematischen Krieg gegen die Bevölkerung, die sie der Sympathie für die Guerilla verdächtigen oder die einfach nur den Expansionsbestrebungen von GroßgrundbesitzerInnen sowie in- und ausländischen InvestorInnen im Wege ist.
Um der Regierung die Arbeit zu erleichtern, überreichten die Comandantes deren Delegation beim bisher letzten Treffen im südkolumbianischen San Vicente del Caguán eine Liste von Militärs und Politikern, die nach ihren Erkenntnissen mit den Todesschwadronen zusammenarbeiten. Die Liste ist brisant: Neben zehn ranghohen Generälen befindet sich darauf niemand geringeres als der Sicherheitschef von Präsident Andrés Pastrana. Bisher sind dessen Reaktionen auf diese Anschuldigungen in den Wirren des verheerenden Erdbebens untergegangen, das Ende Januar das Kerngebiet des Kaffeelandes Kolumbien zerstörte. Pastrana mußte deswegen auch seine geplante Europareise absagen, auf der er sicherlich auch bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) Geld zur Finanzierung seiner Friedensmission locker machen wollte.
Schließlich tritt der medienerfahrene Präsident auf zwei inländischen Bühnen gleichzeitig auf. Der Friedensprozeß mit dem ELN soll am 13. Februar seine Fortsetzung finden und in zweimonatigem Rhythmus vorangebracht werden. In den Verhandlungen mit den FARC bleibt ihm nach den jüngsten Entscheidungen der Guerilla nun etwas mehr Zeit.

Guerilla ohne Zeitdruck

Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen. Mit zweimonatiger Verspätung zwar, aber voll Optimismus waren die Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Zentralregierung und der größten und ältesten Guerilla Lateinamerikas aufgenommen worden. Mit großem Bahnhof hatte Präsident Pastrana am 7. Januar in San Vicente del Caguán Einzug gehalten. Doch schon damals hatte ihm der FARC-Chef den Auftritt vermasselt: Manuel Marulanda erschien nicht zur Auftaktsitzung in dem herausgeputzten Viehzüchterstädtchen am Ostrand der kolumbianischen Anden. Die Guerilla argwöhnte ein Attentat auf ihren legendären, mittlerweile 68jährigen Anführer.
Das wäre, da sind sich alle Beteiligten einig, ein harter Schlag für die Friedensbemühungen. Nicht nur, weil der mit dem Spitznamen „Tirofijo“ (Schußsicherer) belegte Marulanda Vélez als entschiedener Verfechter einer friedlichen Beilegung des jahrzehntealten Konfliktes gilt. Viel bedeutsamer dürfte seine Rolle als eine Art Ur- und Übervater der FARC-Bewegung sein, der von vielen Aufständischen regelrecht verehrt wird. „Marulanda hat so viel Lebenserfahrung,“ meint beispielsweise Comandante Fabián, der 33jährige dritte Mann der Südfront, voller Bewunderung, „daß er viel schneller als die anderen die Zusammenhänge erkennt. Seine Entscheidungen sind richtig und weise.“ Der betagte Guerillero scheint als einziger in der Lage zu sein, die unterschiedlichen Strömungen innerhalb dieser Guerilla zusammenhalten zu können.
Bei einer derart großen und in völlig unterschiedlichen Regionen agierenden Organisation ist das keine leichte Aufgabe. „Die Konflikte sind eng mit regionalen und lokalen Problemen verbunden und unterliegen regionalen und lokalen Dynamiken,“ erklärt der stellvertretende Leiter des Forschungsinstituts CINEP in Bogotá, Diego Pérez. „So agiert die Guerilla beispielsweise in Urabá anders als im Süden des Landes, in Vaupés, Putumayo oder Guaviare oder als in Magdalena Medio. Es ist daher sehr schwierig, in Kolumbien globale, allgemeine und landesweite Lösungen zu finden.“ Das Hauptinteresse der Guerilla läge darin, ihre lokale Macht zu festigen. Eine Übernahme der zentralstaatlichen Macht sei trotz ihrer militärischen Stärke sehr kompliziert.
Leonel Narváez, der Vikar für Sozialpastoral in San Vicente und gleichzeitig Vorsitzender des örtlichen Friedenskomitees, beschreibt eine andere Kontroverse innerhalb der FARC: „Es gibt eine Spaltung in der Frage nach Krieg oder Frieden. Neben militärischen und kriegerischen gibt es eindeutig pazifistische Strömungen, wie sie Manuel Marulanda oder die Comandantes Raúl, Fabián und Joaquín repräsentieren, die Verantwortlichen für die Entspannungszone.“
Nach optimistischen Einschätzungen sind erste Veränderungen, die aus den Verhandlungen hervorgehen könnten, frühestens in fünf Jahren zu erwarten. Andere Beobachter verdoppeln diese Frist. Das bestätigt auch der Soziologe Alejo Vargas, Vizerektor der Nationaluniversität und Vertreter der sogenannten Zivilgesellschaft in den bisherigen Gesprächen mit der ELN-Guerilla. „Die FARC stehen nicht unter Druck und haben es keineswegs eilig, zu einer Lösung des bewaffneten Konflikts zu kommen.“ Vor allem in der Weite des südostkolumbianischen Amazonasbeckens könnten sie aus einer Position der Stärke in die anstehenden Verhandlungen gehen. Die Redakteurin Mariela Guerrero von der linken Zeitschrift Alternativa geht sogar davon aus, daß die FARC gar nicht über Frieden verhandeln wollen: „Ich glaube, ihr Hauptziel ist der Austausch von gefangenen Guerilleros gegen von ihnen festgehaltene Soldaten und Polizisten.“ Über dieses Problem, das viel Emotionen schürt und die Gemüter in Kolumbien mehr zu bewegen scheint als der mittlerweile fast vierzig Jahre dauernde Bürgerkrieg, beraten die Delegationen parallel in einem gesonderten Verfahren.
Die Comandantes in San Vicente betonen indes ihre Absicht, eine friedliche Beilegung des bewaffneten Konflikts zu erreichen. Allerdings, das dürfte die unterschiedlichen Interpretationen erklären, wollen sie keinen Frieden um jeden Preis. Ihr Ziel heißt: Frieden mit sozialer Gerechtigkeit. Nicht die Übernahme der Macht, keine sozialistische Umwälzung streben sie an, sondern die Beteiligung an einer pluralistischen Übergangsregierung. „Wir vertreten die Interessen der großen Mehrheit der Besitz- und Machtlosen,“ erklärt dazu Comandante Fabián von der Südfront. „Wir sind eine Bewegung mit tiefgreifenden politischen Motiven.“

“Sozialdemokratische Forderungen”

Auf die Frage, was das konkret bedeutet, verweist er auf ein Zehnpunktepapier für eine pluralistische Regierung aus dem Jahre 1993: „An diesen Forderungen hat sich im wesentlichen nichts geändert.“ Neben der Bekämpfung der Todesschwadronen und einer Reform von Armee und Polizei umfassen die grundsätzlichen FARC-Forderungen die Erhöhung der Sozialausgaben auf 50 Prozent des Gesamthaushalts, eine Landreform zu Gunsten der kleinen und mittleren Bauern, Staatsmonopol bei der Ausbeutung von Bodenschätzen und ein gerechteres Steuersystem. „Das sind alles Forderungen, wie sie auch eine linke sozialdemokratische Regierung aufstellen kann, meint dazu der langjährige Vorsitzende der kolumbianischen Bankiersvereinigung, César González, heute unabhängiger Wirtschaftsberater. Seiner Einschätzung nach gibt es in Teilen der Unternehmerschaft des südamerikanischen Landes durchaus die Bereitschaft, die erforderliche Modernisierung der Wirtschaft auch mit sozialen Verbesserungen zu begleiten.

Tauwetter zwischen Medien und FARC

Doch von den politischen Forderungen der Aufständischen ist in Kolumbien ebenso wenig bekannt wie von den Ursachen des fast vierzig Jahre währenden Bürgerkriegs. Die Guerilla ist zwar fest in ihren Stammgebieten verankert, doch in den Städten und nicht betroffenen Landesteilen begreifen nur Wenige den bewaffneten Konflikt und seinen AkteurInnen. Gerade die FARC haben zudem mit einem enormen Imageproblem zu kämpfen. In den Köpfen vieler KolumbianerInnen hat sich hartnäckig das Bild einer gewaltbereiten, rücksichtslosen und eine kommunistische Herrschaft anstrebenden Guerilla festgesetzt, die dem Land keine Ruhe gönnen will. Erheblichen Anteil an diesem Dilemma haben die kolumbianischen Medien, die politisch wie wirtschaftlich abhängig sind und bis auf wenige Ausnahmen recht unverblümt im Herrschaftsinteresse agieren. Die Guerilla beklagt sich zu Recht über regelmäßige Manipulationen und Verfälschungen in der Berichterstattung.
Das gegenseitige Mißtrauen zwischen den Aufständischen und der kolumbianischen Journaille sitzt tief. Doch im Vorfeld der Aufnahme der Gespräche in San Vicente ist etwas Bewegung in die starren Fronten gekommen. Es besteht großes Interesse von Seiten der PressevertreterInnen, die in den letzten zwei bis drei Jahren ganz vorsichtig eingeleitete Öffnung der Medien gegenüber der Guerilla fortzusetzen. Und die FARC weichen ihre aus Unkenntnis im Umgang mit der Presse und Angst vor ständiger Verfälschung entstandene Blockadepolitik auf. Die Ernennung des ehemaligen Priesters „Camilo“ zum Pressebeauftragten der FARC in San Vicente ist ein weiterer Schritt in diese Richtung und erfüllt eine häufige Forderung der JournalistInnen.

Von politischen zu wirtschaftlichen Kämpfen

Ihre Politik der Abschottung konnten die Aufständischen auch deshalb so lange verfolgen, weil der Krieg in Kolumbien vorwiegend in abgelegenen, wenig zugänglichen und wirtschaftlich unterentwickelten Regionen stattfindet. Dazu gehört auch das jetzt entmilitarisierte Territorium in den Departments Caquetá und Meta. Im Laufe dieses Jahrhunderts haben Bauern aus anderen Landesteilen allmählich die „Llanos“, den kolumbianischen Teil Amazoniens, besiedelt. Im Unterschied zu den früh kolonialisierten Regionen gehört den Campesinos das Land, auf dem sie leben und das sie bebauen. Historisch zeigte der Staat in dieser Region keinerlei Präsenz und nahm weder soziale Aufgaben noch wirtschaftliche Funktionen wahr. Staatliche Organisationen konnten somit nie die Rolle eines Vermittlers in alltäglichen oder politischen Konflikten ausfüllen. „Die Guerilla hat in dieser Region praktisch staatliche Aufgaben übernommen,“ erklärt Diego Pérez von CINEP, die ausgeprägte Verankerung der Aufständischen in der Zivilbevölkerung. „Die Guerilla wendet Recht an, auf ihre Art, aber sie übernimmt die Rechtsprechung. Sie schlichtet Konflikte, löst alltägliche Probleme der Gemeinden und ist eine Art Beschützer der Bevölkerung gegenüber externen Angreifern.“
In erster Linie gegenüber den Vernichtungsfeldzügen gegen die Drogenproduktion, die der kolumbianische Staat gemeinsam mit der US-amerikanischen DEA (Drugs Enforcement Agency) regelmäßig startet. Der politisch motivierte Guerillakampf ist längst durch massive ökonomische Auseinandersetzungen überlagert. „Die Gewalt in Kolumbien wird in zunehmendem Maße nicht mehr von politischen, sondern verstärkt von Wirtschaftsinteressen bestimmt,“ meint Diego Pérez. „Was im Süden des Landes, in den Departments Meta, Caquetá oder Putumayo passiert, hängt im wesentlichen mit der Ökonomie der Kokaproduktion zusammen. Und die Guerilla ist wichtigste Nutznießerin dieser illegalen Anbauprodukte.“ Eine direkte Beteiligung an Produktion und Handel, die ihr immer unterstellt wird und mit dem Kampfbegriff der „Narcoguerilla“ in den Köpfen verankert werden sollte, habe CINEP allerdings noch bei keiner Untersuchung feststellen können.
Die Position der FARC gegenüber der Drogenproduktion ist eindeutig. „Wir haben nie den Kokaanbau als solchen verteidigt,“ erklärt Comandante Joaquín, der Chef der Südfront, „sondern die Leute, die davon leben. Wir können nicht einfach sagen, hört auf Koka anzubauen – wovon sollen diese Leute denn sonst leben.“ Von den Zwischenhändlern, die Kokapaste herstellen oder weiterverkaufen, kassiere die Guerilla eine Art Steuern, schließlich würde der Staat ja auch vergleichbare Wirtschaftsaktivitäten besteuern. Die Kontrolle über den Südosten Kolumbiens ist daher für die Guerilla nicht nur aus strategischen Gründen überlebenswichtig.
Für die kolumbianische Regierung und vor allem für die USA ist der Drogenanbau von zentraler Bedeutung, der große Bruder im Norden betrachtet es gar als ein Problem der nationalen Sicherheit. „Bisher gibt es keinen überzeugenden Vorschlag,“ kritisiert Alejo Vargas, „denn ein Substitutionsprogramm für die Kokaproduktion in einem so ausgedehnten Gebiet und einer so großen Zahl davon abhängiger armer Bauern wie in Amazonien ist nur an ein mittel- oder langfristiges Programm zu denken. „Für eine Fläche von 100.000 Hektar bedarf es Investitionen im Umfang von mindestens zehn Milliarden Dollar. Das würde die Kapazität des kolumbianischen Staates schlichtweg überfordern“.

KASTEN

Interview mit Comandante Joaquín, Chef der FARC-Südfront und Unterhändler in den Friedensverhandlungen mit der Regierung

Denken Sie, die politische Klasse dieses Landes ist reif, die Präsenz der FARC im politischen Leben Kolumbiens zu akzeptieren?

Das ist kein Problem der Reife der politischen Klasse. Denn das ist eine rückständige, reaktionäre und blutrünstige politische Klasse, die sich mit gegen das Volk gezücktem Bajonett und Blei an der Macht gehalten hat und an der Macht hält. Immer wenn eine politische Bewegung entstand, die reale Chancen hatte, die Macht zu ergreifen, schalteten sie sie physisch und mit Gewehren aus.

Was ist ihre Konsequenz daraus für die jetzigen Verhandlungen?

Wir haben immer gesagt, daß wir die Waffen nicht abgeben werden. Jetzt verhandeln sie mit uns, weil wir die Waffen haben. Und später sind diese Waffen die Garantie dafür, daß die Vereinbarungen eingehalten werden.

Bis wohin reicht im Moment der Friedenswillen der FARC? Das ist der dritte derartige Prozeß in den letzten 15 Jahren, was hat sich gegenüber früher geändert?

Da hat sich gar nichts geändert. Unsere Suche nach Frieden geht auf den Ursprung unserer Bewegung zurück. Unsere Perspektive ist ein Frieden mit sozialer Gerechtigkeit, daran hat sich nichts geändert. Wie wir den Frieden sehen und wie wir gesehen werden, da gibt es natürlich große Unterschiede.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Nach außen wird das Bild verbreitet, daß unsere Bewegung nur deshalb in den Bergen hockt, weil es uns Spaß macht, wir bequem leben und uns so um alles drücken, weil es uns gefällt, daß uns die Mücken stechen. Die Leute wissen einfach nicht, was wir wollen. Das Entscheidende wäre es, die historischen, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen zu verbreiten, die dazu geführt haben, daß eine Handvoll Leute einen bewaffneten Aufstand beginnen, der heute unsere Bewegung ist.

Eine Frage zur EU: Könnte nicht eine Freilassung der festgehaltenen Europäer zu besseren Beziehungen beitragen?

Nein, dazu ist eines zu sagen: Die wirtschaftlichen Entführungen erfolgen mit politischen Zielen. In diesem Krieg, der im wesentlichen vom Kapital aufgezwungen wird, müssen die Kapitalisten die Kosten tragen. Die Europäer, die hierherkommen, sind Vertreter der transnationalen Unternehmen. Einige davon bezahlen die paramilitärischen Gruppen dafür, daß sie die Besitzer des Landes ermorden und vertreiben.

Also steht jemand im Dienste internationaler Unternehmen, bevor Sie ihn entführen. Trifft es nie einen Touristen?

Na ja, die werden vielleicht auch manchmal festgehalten, aber mit dem Ziel, ihnen die Lage zu erklären, damit sie in ihr Land zurückkehren und sie dort öffentlich machen. Denn bei den Touristen sind wir daran interessiert, daß sie unsere Realität verbreiten, die Marginalisierung der Bevölkerung, die abgrundtiefen Unterschiede zwischen arm und reich.
Interview: Jens Holst

“Eine politische Lösung ist keine Frage von sechs oder zwölf Monaten“

In Kolumbien wird überall von Friedensverhandlungen gesprochen. Die Angriffe von Armee und Paramilitärs sind aber so heftig wie schon lange nicht mehr. Es gibt neue Flüchtlingsströme. Was gibt es mit so einem Staat überhaupt noch zu verhandeln?

Natürlich gibt es viele Anzeichen dafür, daß das Establishment keine friedliche Lösung will, aber das heißt nicht, daß wir uns als politische Bewegung nicht um eine solche Lösung bemühen würden. Wir sind der Meinung, daß man die Oberschicht zum Einlenken zwingen muß: durch soziale Proteste, den Druck der internationalen Öffentlichkeit und durch militärische Aktionen gegen die Armee. Außerdem wollen wir nicht nur mit der Regierung, sondern auch mit den verschiedensten gesellschaftlichen Sektoren sprechen. In den inzwischen 50 Jahren bewaffneten Konflikts hat es in Kolumbien mehr als eine Million Tote gegeben sowie allein seit 1990 mindestens 1,2 Millionen Flüchtlinge. Aus diesem Grund müssen wir uns um eine politische Lösung bemühen.

Wie lange bleiben die von der Armee geräumten fünf Munizipien in den Händen der FARC? Wie sehen die nächsten Schritte bei den Gesprächen aus?

Mit der Regierung ist eine dauerhafte Räumung des Gebietes vereinbart worden. Eine politische Lösung des Konflikts in Kolumbien ist ja keine Frage von 6 oder 12 Monaten, nicht einmal von vier Jahren. Der Verhandlungsprozeß wird über mehrere Regierungsperioden hinweg gehen, denn die Ursachen des bewaffneten Konflikts liegen sehr tief. In dieser Zeit müssen die sozialen Probleme, die dem Konflikt zugrunde liegen, beseitigt werden.
Das schwerwiegendste Problem ist im Augenblick der schmutzige Krieg und die staatliche Repression gegen die Opposition. Solange die kolumbianische Bevölkerung ihre Rechte nicht frei einfordern kann, kann es keinen offenen Dialog geben. Sobald die freie Meinungsäußerung garantiert ist, können wir über jene Veränderungen diskutieren, die längerfristig ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Darunter fällt die Reform des Justizapparats, also unter anderem die Abschaffung der Denunziations- und „Anti-Terror“-Gesetze, die Umstrukturierung der Armee, das heißt ein Ende der Nationalen Sicherheitsdoktrin, eine grundlegende Landreform sowie einschneidende Reformen der wirtschaftlichen Struktur.

Mit der Räumung der fünf Munizipien durch die Armee ist faktisch auch anerkannt worden, daß die Guerilla eine legitime politische Kraft im Land darstellt. Inwiefern wollen Sie in diesen Gebieten eigentlich auch beweisen, daß Sie besser und verantwortungsvoller verwalten können als das Establishment?

Unser wichtigstes Ziel ist im Moment, daß dort so viele Leute wie möglich an Gesprächen teilnehmen können. Wir wollen eine freie politische Auseinandersetzung gewährleisten und dort Gewerkschafter, Stadtteilorganisationen, Kirchen, Bauern, Studentengruppen, internationale Organisationen, ja sogar RegierungsvertreterInnen empfangen. Das heißt, wir müssen das Gebiet wirklich unter Kontrolle haben. Ansonsten wird die Armee die Gespräche mit Anschlägen sabotieren und von paramilitärischen Aktionen sprechen.

Welche Rolle spielt die kommunale und regionale Selbstverwaltung, also so etwas wie das von der ELN vorschlagene „Poder Popular“ (Volksmacht), in den von den FARC dominierten Gebieten?

Wir haben durchaus positive Erfahrungen gesammelt, vor allem in Gemeinden, die früher Coca angebaut haben und nun zur Produktion von Lebensmitteln übergegangen sind. Wir wollen, daß für derartige kommunale Projekte die Gelder zur Verfügung gestellt werden, die Kolumbien aus dem Erdöl-und Kohleexport zieht…

Aber das sind ökonomische Projekte und keine politische Selbstverwaltung. Haben Sie nicht das Ziel, in den von Ihnen dominierten Gebieten ein alternatives, paralleles Kolumbien aufzubauen?

Nein, nicht in dem Sinne eines parallelen Landes. Wir wollen natürlich ein Beispiel für eine gute Verwaltung abgeben, aber nicht indem wir die Integrität des Landes in Frage stellen.

Sie streben also keine „befreiten Gebiete“ an, sondern es geht vor allem darum, daß politische Gespräche stattfinden können.

Natürlich wollen wir auch, daß es eine transparente Verwaltung gibt. Aber das wichtigste ist, daß in diesen Gebieten alle politische Meinungen und Glaubensrichtungen respektiert werden, egal ob die Leute liberal oder konservativ, katholisch oder adventistisch sind. Es muß dort wirklich demokratische Verhältnisse geben.

Sie sagen, daß Sie politische Meinungsfreiheit gewährleisten wollen, aber es ist auch kein Geheimnis, daß die Guerilla vielerorts autoritär gegenüber der Bevölkerung auftritt. Was gibt es für Garantien, damit nicht wieder die Macht der Waffen entscheidet?

Alle GuerillakämpferInnen in Kolumbien unterliegen einem von der Guerillakoordination vereinbarten Verhaltenskodex, der die Beziehungen zur Zivilbevölkerung klärt. Dieser Kodex wird in Kursen und Schulungen unterrichtet. Es ist tatsächlich nicht auszuschließen, daß der Kommandant einer Einheit Anhänger der Liberalen oder Konservativen Partei für Verbrechen ihrer jeweiligen Parteiführung bestrafen will. Aber genau deswegen gibt es diesen Kodex, der besagt, daß Meinung und Glauben der Zivilbevölkerung in jeder Hinsicht respektiert werden muß.

Ein Verhaltenskodex ist eine Sache, seine Umsetzung eine andere. Welche Kontrollmechanismen gibt es?

Die Guerilleros sind verpflichtet, Verstöße gegen den Kodex zu melden, auch wenn diese von ihrem Vorgesetzen begangen wurden. Nach allen Aktivitäten gibt es außerdem eine Auswertung, in der Verstöße angesprochen werden können. Und drittens nehmen wir die Kritik der Zivilbevölkerung sehr ernst. Wenn eine Gemeinde eine Beschwerde gegen eine Einheit hat, kann die Bevölkerung sie jederzeit an eine höhere Befehlsebene weitergeben. Vergehen gegen die Zivilbevölkerung werden als schwere Delikte behandelt und von uns bestraft.

Was Sie sagen, ändert doch nichts am Problem: Wenn der örtliche Guerillakommandant nicht von einer unabhängigen Instanz kontrolliert wird, sondern von seinen Untergebenen und Freunden, ist es kein Problem für ihn, jede Kritik unter den Teppich zu kehren.

Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Guerilla und staatlichen Autoritäten. Bei uns kämpfen alle Leute aus politischen und ethischen Prinzipien. Wenn jemand die Zivilbevölkerung schlecht behandelt, haben alle die Verpflichtung, diese Vergehen öffentlich zu machen. Da gibt es keinen Korpsgeist. Wenn wir uns wie die Armee verhalten würden, hätten wir kaum die Unterstützung, die wir heute haben.

Die FARC haben sich bis 1989 eng am sowjetischen Beispiel orientiert. Das ist inzwischen zusammengebrochen, Sie aber vertreten immer noch ein sozialistisches Konzept. Was unterscheidet Sie von realsozialistischen Organisationen von früher?

Wir halten den Sozialismus für weiterhin notwendig, weil der Kapitalismus die sozialen Probleme vor allem der unterentwickelten Länder nicht lösen kann. Hier hat ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang zu Erziehung und Gesundheit.
Die Sowjetunion ist unserer Meinung nach untergegangen, weil sie die Grundprinzipien des Sozialismus nicht umgesetzt hat: die Befriedigung der materiellen und spirituellen Bedürfnisse der Bevölkerung. Das heißt jedoch nicht, daß es dort nicht auch positive Resultate gegeben hätte. Alle hatten Arbeit, etwas zu essen, kostenlosen Zugang zu Bildung, Kultur und Gesundheit. Wir müssen also ausgehend von den Eigenheiten Kolumbiens die positiven Seiten des Realsozialismus von den negativen trennen.
Aber das ist nicht unser unmittelbares Ziel. Wir kämpfen heute in Kolumbien für eine Regierung der nationalen Aussöhnung, die innerhalb des Kapitalismus agiert. Ihre Aufgabe ist es, eine Demokratie herzustellen, die es allen ermöglicht, ihre Ideen zu vertreten.

Die FARC kämpfen also heute für die Durchsetzung der Sozialdemokratie…

Nicht für die Sozialdemokratie, die es heute in unseren Ländern gibt. Aber es stimmt, wir kämpfen im Moment auch nicht für den Sozialismus. Wir wollen ein demokratisches System, das die Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung berücksichtigt, und in dem wir dann legal für den Sozialismus arbeiten können. Trotzdem sind wir keine Sozialdemokraten. Wir wollen ein System, das sich nicht nur für die Belange der Menschen im eigenen Land interessiert. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Sozialdemokratie.

Das Projekt „demokratische Revolution“ ist ja nicht gerade eine Innovation im Parteikommunismus, es entspricht dem klassischen Etappenmodell des Leninismus. Doch in allen Fällen bisher haben diese Revolutionen nicht zu mehr Demokratie geführt, sondern zur Errichtung einer bürokratischen Herrschaft unter Führung der KPs. Was können Sie der kolumbianischen Bevölkerung sagen, damit man Ihnen diesmal glaubt?

Das war tatsächlich ein Kernproblem des Sozialismus. Es ist ein großer Vorteil für uns, daß wir heute von diesen Erfahrungen lernen können. Wir wissen, daß die große Herausforderung lautet, eine Demokratie zu gewährleisten, die die Entfaltung des Individuums ermöglicht, und das ist auch der Grund, warum wir heute in der Guerilla erwarten, daß alle politischen Meinungen respektiert werden. Wir wollen natürlich Leute von kommunistischen Ideen überzeugen, aber das kann man nicht erzwingen. Wir können allerdings durchsetzen, daß es eine Ordnung gibt, in der alle frei debattieren können.

Wenn man die aktuellen Verhandlungsvorschläge von FARC und ELN betrachtet, sieht man eigentlich nur Gemeinsamkeiten. Warum hat man sich da nicht zusammengeschlossen, um gemeinsam Gespräche zu beginnen?

Das ist eine Frage, die wir uns auch stellen. Es gibt wirklich kaum taktische und strategische Unterschiede. Wir haben es einfach mit der Geschichte zweier unterschiedlicher Organisationen zu tun. Es gab Versuche, sich zusammenschließen, es gab 1987-92 die Guerillakoordination Simón Bolívar, aber diese Zusammenarbeit ist auseinandergegangen. Wir haben aber inzwischen viele gemeinsame Erfahrungen gesammelt und respektieren uns gegenseitig. Ich habe daher die Hoffnung, daß wir früher oder später zu einer Vereinbarung mit allen Guerillaorganisationen kommen werden, nicht nur mit der ELN, sondern auch mit den kleineren Organisationen EPL und dem Jaime Bateman.

USA forcieren eine militärische Lösung

Bei der ungewohnten Selbstkritik von Madeleine Albright Anfang Dezember war es unter anderem um die Rolle der Militärschule „School of America“ in Fort Brenning/Georgia gegangen, auf der in den vergangenen Jahrzehnten Tausende von lateinamerikanischen Generälen in Anti-Guerilla-Strategien und psychologischer Kriegsführung unterrichtet worden sind. Doch während sich Albright wegen der Vergangenheit in Chile in Betroffenheit übte, machte die Clinton-Regierung in Kolumbien weiter wie gehabt – und dies, obwohl die Greueltaten dort immer schrecklichere Ausmaße annehmen.

Eskalation der Gewalt

In einer noch nicht dagewesenen Eskalation der Gewalt massakrierten paramilitärische Gruppen seit September mehr als 1000 Menschen. Mit Todeslisten in der Hand durchkämmten Todesschwadrone in der Erdölstadt Barrancabermeja und San Carlos ganze Stadtviertel, in der Provinz Bolívar zerstückelten die Schlächter Bauern mit der Motorsäge und folterten Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu Tode. Allein in der zweiten Januarwoche des neuen Jahres töteten sie im ganzen Land 150 Zivilisten aufgrund vermeintlicher Guerilla-Sympathien.
Die engen Verbindungen zwischen Todesschwadronen und der Armee sind dabei nirgends ein Geheimnis. So retteten in Montecristo in der Provinz Bolívar Armee-Einheiten im vergangenen Oktober 150 von der Guerilla eingekreiste Paramilitärs durch die Entsendung von Helikoptern und Spezialeinheiten. Auch die Massaker in den Städten Barrancabermeja, San Carlos und San Pablo fanden mit offensichtlicher Rückendeckung der Armee statt. Darüber hinaus deckte die Washington Post schon im vergangenen August auf, daß der damalige Geheimdienstkoordinator der kolumbianischen Armee Iván Ramírez nicht nur bis vor kurzem auf der Gehaltsliste der CIA stand, sondern auch als enger Vertrauter des Paramilitär-Chefs und Drogenhändlers Carlos Castaño gilt. Zudem stellte die Washington Post auch den Kommandanten der 5. Brigade Fernando Millán sowie den Chef der 17. Brigade Rito Alejo Del Río als Kriegsverbrecher fest. Der demokratische Abgeordnete Kennedy ergänzte diese Enthüllungen mit der Information, daß mehr als die Hälfte der 240 in Fort Brenning/Georgia ausgebildeten kolumbianischen Offiziere in Menschenrechtsverletzungen verwickelt seien.

Direkte Unterstützung in der Guerillabekämpfung

Dennoch bekräftigt das US-Verteidigungsministerium seit einigen Monaten die Notwendigkeit einer direkten Unterstützung der kolumbianischen Armee. Der Chef des US-Kommandos Süd Charles Wilhelm kündigte auf dem Militärgipfel in Cartagena an, daß die USA die kolumbianische Regierung nicht mehr nur in der Drogenbekämpfung, sondern nun auch offen im Krieg gegen die linke Guerilla unterstützen werde. „Wenn Kolumbien weiter destabilisiert wird, wird dies Auswirkungen auf die ganze Region haben“, erklärte Wilhelm besorgt vor der Presse. Im Rahmen des neuen Kooperationsvertrages vereinbarte man deshalb, verstärkt US-Militärberater einzusetzen, um eine Professionalisierung der kolumbianischen Armee und ihres Geheimdienstapparates zu gewährleisten. Zur strukturellen Absicherung der Kooperation gründeten die beiden Regierungen zudem eine „Bilaterale Verteidigungsgruppe Kolumbien-USA“, in der die US-amerikanische Seite von einem Beamten mit dem seltsamen Titel „Staatssekretär für Spezialoperationen und Konflikte geringer Intensität des US-Departments“ vertreten sein wird.
Das neue Programm ist bereits im Januar angelaufen. In den nächsten Wochen werden 300 US-amerikanische Ausbilder von Spezialeinheiten sowie eine unbestimmte Zahl von CIA-Hochtechnologiespezialisten in Kolumbien erwartet. Von zwei neugegründeten kolumbianischen Elite-Bataillonen, die offiziell zur Drogenbekämpfung dienen sollen, aber in unmittelbarer Nähe des Hauptquartiers der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) agieren, wird eines direkt von US-amerikanischen Militärberatern geleitet. Zudem stellte die US-Luftwaffe der kolumbianischen Regierung Satelliten und Spionageflugzeuge zur Überwachung der im Rahmen der Friedensgespräche demilitarisierten Gebiete im Süden des Landes zur Verfügung.
Insgesamt erwarte man in diesem Jahr, so der Politologe Eduardo Pizarro von der Universidad Nacional in Bogotá, die Aufstockung der US-Militärhilfe auf 400 Millionen US-Dollar, womit Kolumbien zum drittgrößten Empfänger dieser Art von Finanzhilfen in der Welt avancieren würde. Das größte Problem stellt dabei das US-amerikanische Leahy-Gesetz dar, das Waffenlieferungen an solche Armee-Einheiten verbietet, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden. Da es in Kolumbiens Armee kein einziges Bataillon gab, das diesen Auflagen entsprach, wurde auf Anraten der USA Ende 1998 kurzerhand eine bisher in den internen Konflikt nicht involvierte Grenztruppe in eine Brigade umgewandelt. Von Einreiseverboten für in Menschenrechtsverletzungen verwickelte Generäle ist hingegen nicht mehr die Rede.

Im Zeichen der Drogenpolitik

Der Soziologe Alfredo Molano, der als einer der wichtigsten Beobachter des Friedensprozesses gilt, äußerte in der Tageszeitung El Espectador Mitte Januar aus diesem Grund besorgt die Einschätzung, daß eine US-amerikanische Militärintervention immer wahrscheinlicher werde.
Das einzige positive Zeichen in diesem Zusammenhang war das Treffen zwischen dem Lateinamerika-Berater Clintons, Peter Romero, und den FARC in Costa Rica Ende 1998. Bei der nicht-öffentlichen Zusammenkunft, für die Romero in den USA von republikanischen Politikern inzwischen scharf kritisiert wurde, unterbreitete die Guerilla den USA den Vorschlag, den Coca-Anbau in ihren Gebieten völlig zu unterbinden, wenn die US-Regierung Finanzhilfen für Substitutionsprogramme zur Verfügung stelle.
Doch trotz dieses Lichtblicks stehen die Zeichen weiter auf Sturm. Nach den schweren Niederlagen der kolumbianischen Armee im Kampf gegen die Guerilla sind in den vergangenen 18 Monaten alle wichtigen US-Sicherheitsorgane in Kolumbien zur Inspektion gewesen, darunter nicht nur Verteidigungsminister William Cohen, sondern auch der Chef der “Drogenpolizei “ (DEA) Thomas Constantine, FBI-Direktor Louis Freeh, der Anti-Drogen-Zar Barry McCaffrey, sowie der Kommandant des „Kommandos Süd der US-Armee Charles E. Wilhelm. Der Hintergrund dafür war die Anfang 1998 veröffentlichte US-Studie, wonach die Guerilla den Krieg in den kommenden fünf Jahren gewinnen könne, wenn die USA nicht entschlossener in den Konflikt eingriffen.
Offensichtlich ist die von der US-Administration verkündete Kehrtwende in der Außenpolitik sowohl in ihrem Vokabular als auch in ihrer Praxis sehr viel weniger grundlegend, als gemeinhin angenommen wird. Zwar redet die Clinton-Regierung nicht mehr vom „Kampf gegen den Kommunismus“, sondern von „internationalem Drogenhandel und Terrorismus“, aber für die betroffene Bevölkerung der ländlichen Regionen macht dies keinen Unterschied.

Menschen teilen Rechte und Visionen

Menschenrechte sind nicht teilbar – so heißt die Botschaft der „Allgemeinen Erklärung“ von 1948. Reichtum und Land sind gerechter zu verteilen – so lautet die Maxime der Solidaritätsbewegung seit vielen Jahren. Was aber bedeutet das für jede(n) einzelne(n) von uns? Einige laufen politische Institutionen an, fordern mit höflicher Beharrlichkeit vertraglich zustehende Rechte ein. Andere stürmen schwungvoll los, propagieren ihr originäres Recht, Villen und Paläste selbst einnehmen zu dürfen. Und manchmal schießt einer, weil wohl frustriert, auf seiner Jagd nach der Gerechtigkeit über’s Ziel hinaus. So wie vor einem Monat an dieser Stelle geschehen.Eigentlich gäbe es genügend gemeinsame Erfahrungen in der Solidaritätsbewegung. Zum Beispiel die, daß die Hoffnung der Mehrheit in Lateinamerika auf eine menschenwürdige Existenz bisher unerfüllt blieb; daß sich trotz jahrelangem Krieg um Land kaum was am Leben in Hunger und Armut geändert hat. Wir müssen uns eingestehen: Die Revolution, die wir von hier aus gerne hätten mittragen wollen, ist nicht realisiert worden. Dafür suchen einige ihre Ziele nun in der Verwirklichung der sozialen Menschenrechte zu erreichen. Könnten diese nicht vielleicht den bewaffneten, revolutionären Kampf für Agrarreformen ersetzen?
Zunächst einmal: Sich mit Menschenrechten zu befassen, setzt eine vorherige Sensibilisierung für sie voraus, ein Bewußtsein über die verschiedenen Rechte, die jedem Menschen zu eigen sind. Wer über dieses Thema schreibt, offenbar aber nicht fähig oder bereit ist, Menschenrechtsverletzungen als solche zu erkennen oder gar anzuerkennen, wird betroffenen Personen bei der Durchsetzung ihrer Rechte schwerlich zur Seite stehen können. Zudem gerät, wer für sich selbst keine menschenrechtliche Sichtweise beansprucht (was selbstverständlich legitim ist), leicht in Verwirrung über die gebräuchlichen Kategorien. Deutlich wird das, als sich der Autor, Ulf Baumgärtner, um eine Abhandlung über das mehrfach zitierte Wort „Vorstellungen“ bemüht. Tatsächlich jedoch bezeichnet es nur zwei Handlungsoptionen: sozialrevolutionäre Motivation versus argumentatives Eintreten für Menschenrechte. Und es zeigt ein Gegensatzpaar auf, nämlich einerseits die schon etablierten, individuellen bürgerlich-politischen Abwehrrechte und andererseits die in der öffentlichen Akzeptanz noch nachgeordneten sozialen Gewährleistungsrechte, die sich meist auf Bevölkerungsgruppen beziehen.

Menschenrechte als Argumente

Bei beiden Arten von Menschenrechten wird der Staat als völkerrechtlicher Garant betrachtet, der im Falle der Nichtverwirklichung bzw. Verletzung seinen Verpflichtungen nachzukommen hat und eventuell anzuklagen ist. Gerade im lateinamerikanischen Kontext wird sichtbar, wie unmittelbar bürgerlich-politische und soziale Menschenrechte in Zusammenhang stehen, einander in ihrer Verwirklichung bedingen: In El Salvador und Brasilien, wenn wegen Verschleppung von Agrarreformen für die Bevölkerung keine ausreichende Ernährungsgrundlage geschaffen ist und dann bei Landbesetzungen Menschen verhaftet und ermordet werden; in Kolumbien und Zentralamerika, wenn die Regierungen auf (Blumen-) Plantagen beziehungsweise in Maquilas die ständige Verletzung von Arbeits- und Freiheitsrechten durch in- und ausländische Unternehmen tolerieren; in Brasilien und Chile, wenn im Rahmen von Projekten der Energieerschließung (etwa Staudammbau) Zwangsumsiedlungen ohne Entschädigung durchgeführt und so angestammte Rechte indigener Gruppen vom Staat selbst mißachtet werden.
Das Engagement von FIAN (Food First Informations- und AktionsNetzwerk) in allen diesen Ländern basiert auf der Überzeugung, daß Kinder, Frauen und Männer wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen – die sich zunehmend aus einem neoliberalen Denkschema speisen – Hunger leiden müssen. FIAN spricht deshalb vom „Menschenrecht, sich selbst zu ernähren“, welches häufig aus dem Partikularinteresse einiger weniger heraus ganzen Bevölkerungsgruppen vorenthalten wird. Ein bloßes „Recht auf Nahrung“ könnte hingegen bereits dann als verwirklicht definiert werden, wenn bei den Betroffenen Lebensmittelspenden eingetroffen sind.

Menschenrechte für die Revolution

Zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage: Wozu braucht die Agrarreform im Zeitalter der Menschenrechte noch eine soziale Revolution? Über die „Effektivität“ letzterer ist hier vor einem Monat wortgewaltig philosophiert worden. Konkret ausgesagt wurde dabei nichts, stattdessen undifferenziert über die Wirksamkeit von sozialen Menschenrechten im heutigen Lateinamerika spekuliert. Tatsache ist, daß LandarbeiterInnenorganisationen, bäuerliche Gewerkschaften und Landlosenbewegungen vielerorts ihr Recht auf Land einfordern und auf die Umsetzung bereits verabschiedeter Agrarreformgesetze pochen. FIAN ist zur Begleitung ihrer Aktivitäten bereit, auf verschiedenen Ebenen, je nachdem, was den PartnerInnen vor Ort aktuell sinnvoll und effektiv erscheint. Das Ziel ist, eine Gegenmacht aufzubauen, das heißt den Druck auf politische EntscheidungsträgerInnen im Land soweit zu erhöhen, daß der unrechtmäßige, nicht legitimierte Einfluß von wirtschaftlichen Akteuren und GroßgrundbesitzerInnen zurückgedrängt werden kann. Im übrigen hat internationale Anteilnahme (Stichwort: Eilbriefaktionen) für diejenigen, die in Lateinamerika selbst um ihre Rechte und um Landbesitz kämpfen, eine häufig lebenswichtige Schutzfunktion.

Gleiches Land für alle?

FIAN beruft sich bei seinem Handeln primär auf die UNO-Konvention zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten. Entsprechend muß es im Kampf für Agrarreformen darum gehen, für die Betroffenen soviel Land (und Produktionskredite, etc.) zu erreichen, daß eine menschenwürdige, ausreichende, eigenständige Ernährung gewährleistet ist. Mögliche Forderungen wie „Gleiches Land für alle!“ kann FIAN vom Selbstverständnis und Mandat her als Organisation nicht mittragen, einzelne Mitglieder gleichwohl schon. Das bedeutet: Soziale Menschenrechte lassen sich im Dienst eines Kampfes für Land und Freiheit durchaus einsetzen. Sie können innerhalb ihres argumentativen Hintergrundes an einer solidarisch begründeten Revolution teilhaben. Und zwar weltweit, indem wir hier und unsere PartnerInnen dort eine gemeinsame Vision verfolgen und gerechtere Alternativen zum neoliberalen Dogma entwerfen.

Diskreditierung von Menschenrechten

Daher mutet es zynisch an, wenn – wieder ein Verweis auf den Autor vor einem Monat – Menschen in anderen Teilen der Welt die Kompetenz zu eigenständigen, verantwortlichen Entscheidungen bei ihrem Kampf für Land abgesprochen wird. Wird ihnen keine eigene Rechtspersönlichkeit eingeräumt, können folglich ihnen zugefügte Menschenrechtsverletzungen gar nicht ernstgenommen werden. Müssen aber nicht die, die sich hier engagieren, denjenigen gewissen Respekt zollen, deren Einsatz für Recht und Gerechtigkeit mit Repression und Mord quittiert wird? Ebenfalls unverständlich ist die Schlußfolgerung, soziale Menschenrechte deswegen zu diskreditieren, weil auch US-Präsidenten sie für sich vereinnahmen möchten. Gerade wenn Menschenrechte als exklusive Rhetorik von Staatsmännern mißbraucht zu werden drohen, bietet sich die Chance, deren phrasenhafte Bekenntnisse mit verbindlichen Inhalten zu füllen, die es dann konsequent einzuklagen gilt. Mehr als fragwürdig erscheint schließlich der Versuch, der möglichen Schlagkraft menschenrechtlicher Argumente jegliche Relevanz abzusprechen, nur weil sich ihre Trägerorganisation nicht in das gewünschte ideologische Muster integrieren lassen will. Soll hier die Herrschaft eines gesinnungsethischen Dogmas etabliert werden, wonach nicht mehr allen das Recht zukommen darf, sich zu Solidarität und Verantwortungsbewußtsein zu bekennen?

Verwirklichung von Solidarität

Das kürzliche Vernetzungstreffen der El Salvador-Gruppen hierzulande hat einmal mehr gezeigt: Die Ausprägungen von Solidaritätsarbeit sind zahlreich, ihre Handlungsansätze höchst verschieden, viele Zielvorstellungen einander ähnlich. Öffentliche Auseinandersetzungen über die Differenzen untereinander können fruchtbar sein, Anlaß zur Reflexion des eigenen Handelns bieten, impulsgebende Dialoge auslösen. Solange die gegenseitige Kritik konstruktiven Charakter und das gemeinsame Ziel im Auge behält. Mitunter kann der von anderen gewählte Stil sehr verwundern.
Inhaltlich gesehen trifft der Begriff „Marketing“ auf die Arbeit von FIAN zu. Denn wer sich im juristischen Kontext bewegt, beruft sich in der Regel auf ein Mandat; dieses ist meist exakt definiert, hebt sich gleichsam von anderen Waren positiv ab. Für die ständige Qualifizierung der sozialen Menschenrechte sorgt ein Kontrollausschuß der UNO in Genf, vor dem die Staaten regelmäßige Berichtspflicht haben. Und die Menschenrechte werden offensiv „auf den Markt geworfen“, weil nur so ihre Verwirklichung erreicht werden kann. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit, die politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen versucht, ist ein wichtiges Instrument, das aber sorgfältig von einer festen „programmatischen Einbindung“ in politische Weltanschauungen zu unterscheiden ist. An einer Stelle setzt die Metapher des Marktes freilich aus: FIAN verfolgt keine gewinnmaximierenden Absichten. Die Organisation wird, wie viele andere auch, von Idealismus und Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement getragen. Und sollte es sich noch nicht herumgesprochen haben: Wer sich zu Solidarität bekennt und sie praktiziert, hat es nicht auf finanziellen Profit abgesehen, lehnt ihn im Gegenteil wohl sogar entschieden ab.
Wird Solidarität nun wirklich zu den erhofften Agrarreformen führen? Wie erfolgreich der Kampf dafür ist, liegt in der Hand der Beteiligten selbst. Es hängt von ihrem Willen ab, verschieden eingeschlagene Wege zu tolerieren, wenn doch das Ziel identisch ist. Oder anders ausgedrückt: Die einen setzen auf direkte Ansprache der politisch Verantwortlichen, wollen die Stimme der Hungernden für die Durchsetzung ihrer Rechte verstärken. Auch die anderen erheben die Stimme für Gerechtigkeit, verweigern den Dialog mit denen oben, hören auf die unten, wollen die Strukturen neu erschaffen. Recht haben sie alle, Visionen noch dazu. Warum nicht gemeinsam nach Land und Freiheit schreien?

Kirche im Untergrund

Der 1929 geborene, aus einer Oberschichtsfamilie stammende Torres wurde 1954 zum Priester geweiht. Zu diesem Zeitpunkt war Torres politisch nicht weiter interessiert, er hatte allerdings Verbindungen zu französisch-belgischen Arbeiterpriestern gehabt, die von der Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Kirche und Unterklassen sprachen. Camilo Torres’ Kontakte mit diesen und anderen oppositionellen Gruppen intensivierten sich während eines Europa-Aufenthalts. Doch auch nach seiner Rückkehr nach Kolumbien 1958 trat er zunächst nicht als Linker in Erscheinung. 1959 wurde Torres zum Hilfskaplan der Nationaluniversität ernannt, begann, Soziologie zu unterrichten, und beteiligte sich an der staatlichen Kommission zur Förderung der Landreform.
Erst die StudentInnenunruhen im Juni 1962 lösten bei ihm eine grundlegende Radikalisierung aus. Auf Druck des Kardinals mußte er sich wegen seiner Unterstützung der protestierenden StudentInnen von der Universität zurückziehen. Wenig später ließ die Regierung die Bauernselbstverwaltung im Südwesten des Landes angreifen. Torres war von der zunehmenden Repression seitens der politischen Eliten derart angewidert, daß er das Entstehen einer oppositionellen Massenbewegung vorantrieb. In der Frente Unido del Pueblo versammelte sich 1964 die gesamte Opposition gegen das liberal-konservative Zweiparteiensystem.
Camilo stieg innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten revolutionären Wortführer auf. Die Geschwindigkeit seiner Entwicklung ist aus heutiger Sicht fast ebenso schwer zu begreifen wie seine charismatische Wirkung auf die kolumbianische Bevölkerung. 1964/65 wurden Hunderttausende durch seinen Einfluß mobilisiert.

Revolutionäre Gewalt als moralische Pflicht

Umso bedeutender war schließlich Ende 1965 Torres’ Entscheidung für den bewaffneten Kampf. Der ehemalige Universitätspfarrer und Soziologielehrer kommt zu dem Ergebnis, daß revolutionäre Gewalt in Kolumbien zur moralischen Pflicht geworden sei, weil sich die Situation auf legalem Weg nicht mehr verändern ließe. Im Oktober 1965 schloß sich Torres der guevaristischen ELN an, in deren Reihen er bei seinem ersten Gefecht im Februar 1966 starb.
Wenige Biographien in Lateinamerika haben eine derartige Wirkung besessen wie die von Torres. Seine Konsequenz im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit wurde für eine ganze Generation linker ChristInnen zum Vorbild. Torres verwandelte sich trotz der durchaus vorhandenen Kritik an der Anwendung politischer Gewalt in die Ikone einer den Armen verpflichteten Kirche, die soziales Unrecht nicht nur lindern, sondern beseitigen wollte.
Während allerdings die meisten ChristInnen auf dem Kontinent Camilos Entscheidung für den bewaffneten Kampf zumindest persönlich ablehnten, entstand in Kolumbien eine Strömung, die die Verbindung mit den Guerilla-Organisationen, vor allem mit der ELN, suchte. So entwickelte sich mit der Bewegung Golconda eine Art Untergrundkirche, die soziale Basisarbeit organisierte und logistische Unterstützung für die Guerilla leistete. Die Größe dieser Gruppe ist schwer zu schätzen. Wahrscheinlich waren letztendlich nur ein paar Dutzend Pfarrer und Nonnen aktiv an ihr beteiligt, aber ihre Wirkung ging weit über den unmittelbaren Kreis hinaus. Immer wieder schlossen sich Golconda-ChristInnen der ELN an, die von nun an das Bündnis von ChristInnen und MarxistInnen zu repräsentieren schien.
1969 tauchten in Kolumbien auch drei spanische Pfarrer unter, deren Namen ebenfalls weltweit bekannt wurden: Manuel Pérez Martínez, José Antonio Jiménez und Domingo Laín. Die drei stammten aus der nordspanischen Provinz Aragón und hatten zunächst in Haiti, der Dominikanischen Republik und an der kolumbianischen Karibikküste versucht, die Massen in den Elendsquartieren zu organisieren. Nach mehrfacher Ausweisung durch die jeweiligen Regierungen gelangten sie schließlich zur Guerilla, in der Jiménez und Laín nach kurzer Zeit starben.
Auch Manuel Pérez, als Dritter im Bund, entkam nur knapp dem Tod. 1973 wurde die ELN, damals nur eine Gruppe von 200 Guerilleros, in Añorí-Antioquia von der Armee eingekesselt. Pérez gehörte zu den wenigen Überlebenden dieser Operation und irrte danach wochenlang allein durch den Dschungel, ohne allerdings auf den Gedanken zu kommen, seine Waffen zu verstecken und zu fliehen.
Dieses Verhalten ist in vielerlei Hinsicht charakteristisch für Pérez und die christliche Strömung innerhalb der kolumbianischen Guerilla. Sie besitzt eine kompromißlose, manchmal mystisch anmutende Konsequenz, ohne dabei allerdings wie wirkliche Fanatiker den Blick für das menschliche Individuum zu verlieren.
Es ist diese persönlich-moralische Integrität, die der ELN einen großen Respekt eingebracht hat und die ChristInnen in der Organisation ungeachtet interner Debatten stärkte. Manuel Pérez wurde 1981 politischer Verantwortlicher der Organisation und prägte ihren Wiederaufbau zu einer Guerilla, die eine Art Selbstverwaltungssozialismus befürwortet. Pérez blieb bis zu seinem Hepathitis-Tod im Frühjahr 1998 ein schlichter Guerillaführer, der keine Privilegien in Anspruch nahm und als ausgesprochen unautoritär galt.
Die Tatsache, daß sich in Kolumbien eine Strömung wie die Golconda-Gruppe herausbilden konnte, hatte nicht nur mit dem persönlichen Gewicht von Camilo Torres, oder später Manuel Pérez zu tun. Die Kräftekonstellation in der katholischen Kirche war anders als in den meisten Nachbarländern. In vielen Ländern des Subkontinents bildete sich nach der Konferenz von Medellín auch in der Amtskirche eine befreiungstheologische Strömung heraus. So galten in Brasilien zeitweise drei Viertel der Bischofskonferenz als fortschrittlich oder sogar links. Und fast in jedem Land gab es Bischöfe, die wie Samuel Ruiz oder Oscar Romero die Kirche der Armen innerhalb der offiziellen Hierarchie repräsentierten. In Kolumbien hingegen wurde – in den eigenen Worten der Golconda-ChristInnen – der Klassenkampf auch in der Kirche ausgetragen. Während die Hierarchie stramm rechts blieb und zum Teil sogar beste Verbindungen zum Paramilitarismus unterhielt, konzentrierten sich die fortschrittlichen ChristInnen auf den Aufbau von Basisgemeinden. Versöhnliche Mittelpositionen gab es kaum.

Guerillaführer Manuel Pérez

Zwar war die radikale Basiskirche in Kolumbien weniger groß als in anderen Ländern Lateinamerikas und auch das Gewicht der Kirche in der Gesellschaft allgemein geringer als etwa in Brasilien oder Guatemala, aber die Wirkung der Golconda-ChristInnen in Kolumbien erklärte sich vor allem mit ihrer Vorreiterrolle. Sie brachen nämlich gleich mehrere Tabus: Sie verbanden christliche Moral mit revolutionärer Gewalt, suchten eine Synthese zwischen marxistischer Analyse und christlicher Solidarität, und versöhnten zentralistische Organisationsprinzipien mit einem bedingungslosen Humanismus. Leute wie Camilo Torres und Manuel Pérez stießen damit weit über die Landesgrenzen hinaus Türen auf.
Die Präsenz von BasischristInnen in der salvadorianischen und guatemaltekischen Guerilla, die offene Parteinahme der brasilianischen Bischöfe für die Sem-Terras (Landlosen) oder der Brückenschlag der chiapanekischen Amtskirche zur EZLN wäre ohne die Radikalität von Camilo Torres und den Golcondas in dieser Form wohl kaum möglich gewesen.

Die Linke in Lateinamerika

Albert Sterr gebührt das Verdienst, als Herausgeber und Mitautor den Versuch unternommen zu haben, einen Überblick über die Vielfalt linker Kräfte in dem trotz aller Gemeinsamkeiten höchst differenzierten Lateinamerika zu geben. Das Buch kann dem Anspruch nur begrenzt gerecht werden, die Linke von innen und außen, aus theoretischer Perspektive und mit praxisbezogenen Stellungnahmen zu analysieren. Dazu zwingen Umfang, Preis, Lesbarkeit und der bisweilen von Zufällen abhängende Zugang zu Artikeln.
Die Gliederung in eine einführende Übersicht, neun Länderbeiträge und fünf themenorientierte Artikel gestattet eine Art multifunktionaler Nutzung sowohl für SpezialistInnen wie für allgemein interessierte LeserInnen. Bedauerlich ist allerdings, daß mögliche Querverbindungen zwischen den beiden großen Teilen des Buches, ein Bezug der themenorientierten Beiträge auf die spezifischeren Länderbeschreibungen ausbleibt.

Die schlechteren Rechten

In seinem einführenden Beitrag beschreibt Albert Sterr die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Rahmenbedingungen für die linken Strömungen seit den achtziger Jahren und die subjektive Verfaßtheit der Linken, wobei hier zunächst die dem linken Parteienspektrum zuzuordnenden Kräfte betrachtet werden. Wichtig erscheint der Verweis auf außerparlamentarische, zum Beispiel Bauernbewegungen oder die ZapatistInnen am Ende des Kapitels. Wer sind die auf Demokratisierung und alternative Entwicklungsstrategien gerichteten Kräfte? Wer wirkt jenseits der traditionellen Arten der Machtergreifung, sei es durch Wahlen oder durch bewaffneten Kampf? Die Offenheit, beide großen Strömungen zu betrachten, ist einer der Vorzüge der Konzeption des gesamten Bandes. Edgar Gutiérrez benennt die Herausforderung für die Linke treffend: „Sie muß eine andere Zukunft entwerfen. Dies heißt, die Linke neu zu begründen und ihr Modell der Macht noch einmal zu diskutieren. Schließlich hat Macht nicht nur eine Dimension, und es gibt viele Hinweise dafür, daß die Linken, wenn sie die Macht im Staate innehaben, die schlechteren Rechten sind.“
Die nachfolgenden Länderartikel stellen die Entwicklung und die gegenwärtige Verfaßtheit der Linken exemplarisch dar. Die Aussagekraft der einzelnen Beiträge ist dabei quantitativ und vor allem qualitativ recht unterschiedlich. Neben umfassenden, wenngleich nicht sonderlich neuen Überblicksdarstellungen wie zu Mexiko oder Venezuela stehen Beiträge, in denen prozeßorientiert die Wechselwirkung zwischen den jeweils sehr unterschiedlichen nationalen Entwicklungen und den existierenden linken Kräften reflektiert wird. Zu nennen sind hier besonders die Artikel zu Guatemala, Kolumbien und Peru, die auch die subjektiven Faktoren einschließen, die gemeinhin eher vernachlässigt werden.
Edgar Gutiérrez analysiert den Werdegang der guatemaltekischen Linken, also vor allem der Guerillabewegung, unter den Bedingungen von jahrzehntelangem Terror und brutaler Repression und stellt fest: „Konspiration als Prinzip des politischen Handelns, geheime Bräuche, Verzicht auf private und berufliche Normalität, die Einhaltung einer quasi-militärischen Arbeitsdisziplin, von der die physische Unversehrtheit und die Sicherheit der Organisation abhingen, die unvermeidliche Anpassung an die Kunst der Kriegsführung, das Loslösen von materiellen Gütern und die Führung eines Doppellebens waren die Folgen. Heldentum und Aufopferung, aber auch Verrat und Untreue. Grausame Intrigen, persönliche Streitigkeiten und Machtkämpfe unter feindlicher Belagerung… Die Linke durchquerte diese Etappe wie jemand, der in einer lange andauernden Grenzsituation lebt.“ Für die Führer (und viele namenlose Mitglieder) der guatemaltekischen Linken dauerte diese Grenzsituation zum Teil mehr als 40 Jahre – ein Menschenleben lang. Auch in anderen Ländern wie El Salvador und Kolumbien, unter modifizierten Bedingungen auch in Argentinien und Uruguay, sind diese Faktoren zumindest für Teile der Linken kennzeichnend.

Zwischen eigener Entscheidung und Notwendigkeit

Wie kann diese Linke, wie können Menschen mit dieser persönlichen Geschichte, mit einer Tradition, die notwendigerweise antidemokratisch und intolerant ist, nunmehr Toleranz und Demokratie voranbringen, eine „Zivilgesellschaft“ mitgestalten? Wie kann unter solchen Voraussetzungen ein Neuanfang aussehen, nach einem letztlich verlorenen Kampf, der das eigene Leben prägte? Welche Chancen bestehen für die nachfolgenden Generationen der Guerilla, für diejenigen, die oftmals weniger aus politischer Überzeugung denn als einzigem Ausweg aus einer unabwendbaren Gewaltsituation und traumatischen persönlichen Erlebnissen zu den Waffen griffen und „Normalität“ nie kennengelernt haben? Die Beiträge von Gutiérrez und Rütsche können keine endgültige Antwort auf diese Fragen geben, aber die Einbeziehung dieser sozialpsychologischen Faktoren erscheint für das Verständnis der Linken in den genannten Ländern unabdingbar.
Eher enttäuschend hingegen sind die fragmentarischen Darstellungen zu El Salvador, Haiti oder Nicaragua, in denen erklärende Hintergründe zu der teilweise übergroßen Vielzahl von Namen und Fakten nur ansatzweise beschrieben werden. Am Beispiel von Haiti wird dies besonders deutlich. Einen deutlich tiefergehenden Einblick ermöglicht der Beitrag von Löwy zum „Befreienden Christentum“ und dessen Abschnitt zu Aristide.
Sowohl für Nicaragua als auch für El Salvador gilt, daß der Blickwinkel einseitig auf das jeweilige parteipolitische Spektrum gerichtet ist; hier wäre die Einbeziehung anderer sozialer Kräfte wünschenswert gewesen. Eine Aussage wie „Innerhalb der FSLN gab es schon immer eine ausgeprägte Faulheit, sich mit theoretischen Problemen zu befassen“, ist nicht nur von erstaunlicher Arroganz, sondern auch als Erklärung wenig hilfreich.
Der letzte der Länderbeiträge, der Brasilien gewidmet ist, richtet seinen Fokus auf die ganz speziellen Erfahrungen in der kommunalen Arbeit einer Partei, der PT in Porto Alegre. Der Ansatz unterscheidet sich mit diesem Praxisbezug deutlich von den anderen Beiträgen und illustriert die auf lokaler Ebene bestehenden Veränderungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen linker Kräfte jenseits einer neuen Vision der Systemveränderung. Die kurze Beschreibung macht neugierig auf eine umfangreichere und vielleicht auch kritischere Analyse dieser Erfahrungen.

… lokal handeln

Auf die Länderbeiträge folgen thematisch orientierte Artikel, die einen umfassenden Überblick über wichtige Wurzeln, Bezugspunkte und gegenwärtige Wirkungsmöglichkeiten und -formen der lateinamerikanischen Linken geben, angefangen mit Ernesto Che Guevara über die Entwicklung der Guerillabewegungen in verschiedenen Ländern des Kontinents, den Einfluß der Theologie der Befreiung, bis hin zu den sozialen Bewegungen und der Zusammenarbeit der linken Parteien. Einen auch quantitativ zentralen Platz nimmt Sterrs Analyse des Guerillakampfes und der Befreiungsbewegungen ein.
Es ist möglicherweise der für die breite Themenstellung notwendigen Verknappung und Verallgemeinerung geschuldet, daß einige wichtige Fragen offen beziehungsweise einige Thesen zweifelhaft bleiben. So ist die Militärdiktatur in Chile nicht ohne die Regierungszeit der Unidad Popular denkbar, auf die jeder Hinweis fehlt.

Offene Fragen

Dies deutet auf ein Manko des gesamten Buches hin: Es fehlt eine genaue Betrachtung der Entwicklung im Cono Sur. So wird ein wichtiger Teil der lateinamerikanischen Linken ausgeklammert, der für eine Gesamtdarstellung eigentlich unverzichtbar ist.
Auch im zweiten Abschnitt des Artikels, in dem es um die Integration geschlagener Guerillagruppen in die legale Opposition geht, wird zu stark verallgemeinert – zeigen doch spätere Ausführungen, daß sich diese Integration durchaus in verschiedenen Zeiträumen und sehr unterschiedlichen Ausprägungen vollzog.
Ein merkwürdiger Widerspruch wird in den beiden letzten Abschnitten deutlich, die im wesentlichen am Beispiel Mexikos einen Ausblick auf die Gegenwart und die mögliche Zukunft der Guerillabewegung geben. Neben der Analyse der neuen Ansätze und Konzeptionen besonders der EZLN erfolgt abschließend die Kritik, „daß die Zapatisten zu gesellschaftlichen Schlüsselfragen keinen eigenen klaren Standpunkt haben“. Zunächst erscheint dies durchaus zutreffend, nur: Welche linke Kraft kann für sich in Anspruch nehmen, eine realistische Antwort auf diese Fragen zu haben, die über die zugegebenerweise bestenfalls mittelfristig konkretisierten Vorstellungen der ZapatistInnen hinausgehen? Wie die den Linken gemeinsame Vision einer gerechten Gesellschaft konkret umgesetzt und ausgestaltet werden könnte, welche Strategien und Konzepte notwendig sind, bleibt nicht nur bei der EZLN offen: mir ist zumindest kein klares Konzept anderer Kräfte bekannt, das diesem Anspruch gerecht würde. Handelt es sich also um eine der (deutschen?) Linken durchaus nicht unbekannte Projektion, wenn die EZLN an Maßstäben gemessen wird, denen sie selbst nicht gerecht wird? In diesem Zusammenhang wäre eine genauere Untersuchung interessant, warum „Sympathiebezeugungen politischer Parteien und der Solidarität“ für die EZLN als unverbindlich und offensichtlich wenig hilfreich („bündnispolitische Schwäche“) bewertet werden.
Michael Löwy gibt einen knappen, aber aussagekräftigen Überblick über die Entwicklung des „Befreienden Christentums“, vertrauter unter dem Stichwort „Theologie der Befreiung“. Hervorzuheben sind die an den Beispielen von Haiti und Mexiko beschriebenen Wirkungen und Einflüsse dieser Strömung der lateinamerikanischen Linken in den gegenwärtigen Prozessen.
Trotz aller kritischen Anmerkungen sind die von Sterr herausgegebenen Analysen und Berichte nicht nur lesenswert, sondern aufgrund ihrer erstaunlichen Vielfalt nahezu als obligatorisches Standardwerk für Lateinamerikainteressierte zu betrachten. Viele der notwendigerweise offengebliebenen Fragen verdienten eine ausführlichere Analyse, zu der der Band vielleicht Anregungen gibt. Ein Wermutstropfen sei allerdings noch benannt, der auch durch die verschiedenen objektiven Umstände nicht zu erklären ist: Die Rolle der Frauen in den linken Bewegungen und die Frauenbewegungen selbst werden im gesamten Buch bestenfalls marginal erwähnt. Ist es wirklich nur ein Zufall, daß unter den insgesamt 14 AutorInnen nur zwei Frauen vertreten sind?

Albert Sterr (Hg.): Die Linke in Lateinamerika. Analysen und Berichte. 318 S., Neuer ISP-Verlag, Köln und Rotpunktverlag, Zürich 1997.

Eine Frau wie ich

Soweit sich Albita Rodriguez zurückerinnern kann, sei das erste, das sie in ihrem Leben gesehen hat, guiro, clave und bongo gewesen. Mit diesen kubanischen Perkussionsinstrumenten habe sie in ihrer Kindheit auch lieber gespielt als mit Puppen. Mit fünfzehn steht sie das erste Mal auf der Bühne und spielt punto guajiro, kubanische Musik vom Land (guajiro, kubanisch Bauer). Mit 19 tritt sie in der Musikshow Palmas y Cañas im kubanischen Fernsehen auf. Später sagt sie darüber: „Es war ein moralischer Kompromiß. Ich liebte es Volksmusik zu machen, aber wie alles im kubanischen Fernsehen war es Propaganda. Und außerdem war es ein seltsam schreckliches Programm.“ Ihre Biographie wird nicht ohne Brüche verlaufen.
Sie hat Erfolg in Kuba. Sie tritt in den besten Touristenhotels und Nachtklubs auf. Ihrer Musik bleibt sie treu. 1988 erscheint ihr erstes Album: Habrá Musica Guajira (Es wird Guajiramusik geben).
1991 erhält sie aus Kolumbien das Angebot eines Plattenvertrages. Mit Erlaubnis der kubanischen Regierung geht sie nach Kolumbien. Sie nimmt zwei weitere Platten auf, die sich in Lateinamerika gut verkaufen und ihren Bekanntheitsgrad steigert.
Zweieinhalb Jahre bleibt sie in Kolumbien. Inzwischen hat sie ihre eigene Band, Albita y Su Grupo. Sie plant einen Aufnahmetermin in Mexiko, überquert im April 1993 den Rio Grande und setzt sich in die USA, nach El Paso ab. „Wir machten das wie einen Touristenbummel. Und niemand hielt uns an. Es war eine schwere Entscheidung. Ich hätte in Kuba bleiben können. Ich hatte ein bequemes Leben dort. Aber es ist nicht das Leben, das ich gewollt habe. In Kuba gibt es kein Denken, kein Reden, kein Träumen.“
Sie geht nach Miami. „Als ich das erste Mal nach Miami kam, war ich auf das Schlimmste vorbereitet. Aber so wie die Dinge sich entwickelten, dachte ich, ich bin in einem Film. Es war surreal, im wahrsten Sinne des Wortes.“ Albita tritt zweimal die Woche auf und spielt punto guajiro. Und es ist, als hätte die kubanische Gemeinde in Florida nur auf sie gewartet. Für die Älteren bringt sie die Erinnerung zurück und für die Jüngeren macht sie die Musik der Alten attraktiv.
1995 erscheint ihr US-Debutalbum: No Se Parece A Nada (Anders als alles andere) ist guter alter punto guajiro, leicht verbunden mit sanften Rock- und Jazzelementen. Die Platte verkauft sich über 100.000 Mal. Zum Erfolg dürfte auch beigetragen haben, daß die Platte beim Label Crescent Moon erschien, eine Firma der Familie von Gloria Estefan. 1996 erscheint ebenfalls bei Crescent Moon das Album Dicen Que… (Man sagt….). Auf ihm sind verschiedene kubanische Musikstile vertreten.
Längst ist Albita in vielen Ländern Lateinamerikas bekannt und ihre Konzerte sind ausverkauft. Vielleicht schlägt sich diese Tatsache in ihrer jüngsten CD nieder. Una Mujer Como Yo (Eine Frau wie ich) enthält neben kubanischen Rhythmen kolumbianischen vallenato, bomba aus Puerto Rico und merengue aus Santo Domingo.
Wer sie sieht, würde kaum auf ihre musikalischen Vorlieben kommen. Und wer sie hört, würde wohl auch nicht ihre optische Erscheinung richtig beschreiben. Die heute 37-jährige Albita über sich selbst: „Ich bin absolut keine typische Latina. Ich bin blond, und ich bin schmal. Das ist nicht der typische Latin Look.“ Aber woher sie kommt, zeigt sie deutlich. Auf Una Mujer Como Yo zeigt sie sich mit einer auf ihrem Rücken skizzierten Landkarte: Der Mittelpunkt ist Kuba.

Revolutionäre Zeiten

Um die Bedeutung dieses Treffens einzuschätzen, ist zunächst wichtig, sich die damalige Zeit mit ihren Aufbrüchen und ihrem Fortschrittsglauben in Erinnerung zu rufen. Die 60er Jahre standen weltpolitisch im Zeichen des kalten Krieges, aber auch im Zeichen der Entkolonialisierung und der Befreiungskämpfe (z.B. Algerien, Vietnam). Die Länder des Südens suchten ihre Chancen innerhalb der globalen Machtkonstellationen zwischen Ost und West, sie wurden von den Mächtigen aber auch gnadenlos in diese Machtverhältnisse hineingepreßt: Für (wirtschaftliche) Freiheit und gegen Sozialismus oder für einen sozialistischen Weg und damit automatisch gegen westliche Interessen.
Es herrschte ein Glaube an einen machbaren, schnellen Fortschritt, eine schnelle Überwindung von Armut und Hunger. Dies zeigt sich zum Beispiel in den damals vorherrschenden Entwicklungstheorien, die auf den ersten Blick genau gegensätzlich sind, aber doch eine gemeinsame Basis haben. Die Theorie der „nachholenden Entwicklung“ (spanisch auch „desarrollismo“ genannt) ging vom Modell der „entwickelten Industrienationen“ aus und verfolgte das Ziel, durch massive Entwicklungshilfe, durch Förderung von Industrialisierung und gesellschaftlicher Mittelschichten „nicht entwickelte Länder“ dem westlichen Modell anzunähern. Die Dependenztheorie hingegen sprach davon, daß die sogenannte Unterentwicklung die Kehrseite der Entwicklung der westlichen Industrienationen sei und deshalb zunächst eine Befreiung aus der Abhängigkeit notwendig sei, um einen eigenen, unabhängigen Entwicklungsweg gehen zu können. Gemeinsam ist beiden Theorien, daß sie an die kurzfristige Machbarkeit glaubten.

Kirchliche Aufbrüche

Auch in den Kirchen herrschte – global betrachtet – Aufbruchsstimmung: Im II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) versuchte die katholische Kirche, Fenster und Türen zur Welt hin zu öffnen und produzierte – für die damalige Kirche – erstaunliche Aussagen über die Rolle der Laien, über soziales Engagement von Christen und das Aufbrechen verkrusteter kirchlicher Strukturen. Ähnliche Impulse gingen auf evangelischer Seite von der IV. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala (1968) aus.
Die Konferenz in Medellín 1968 hatte zunächst zum Ziel, die Ergebnisse und Aufbrüche des II. Vatikanischen Konzils für den lateinamerikanischen Kontext umzusetzen. Der wohl bekannteste Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez bemerkte dazu: „Das II. Vatikanische Konzil spricht von der Unterentwicklung der Völker unter dem Blickwinkel der entwickelten Länder, um diese an ihre Möglichkeiten und Verpflichtungen jenen gegenüber zu erinnern. Medellín dagegen versucht, das Problem von den armen Ländern aus anzugehen, und definiert sie deshalb als Völker, die einer neuen Spielart von Kolonialismus unterworfen sind. Das II. Vatikanum spricht von einer Kirche in der Welt und versucht bei der Beschreibung dieser Kirche, die bestehenden Konflikte zu mildern, Medellín indes bestätigt, daß die Welt, in der die lateinamerikanische Kirche präsent sein muß, sich in vollem revolutionären Prozeß befindet.“ (Gustavo Gutiérrez: Theologie der Befreiung. Mainz, 10. Aufl. 1992, 191f.)
Dieser „revolutionäre Prozeß“ ist in vielen Texten und Berichten aus Lateinamerika unübersehbar. So schreibt ein kirchlicher Beobachter 1968 aus Uruguay: „Daß sich die Situation in mehreren lateinamerikanischen Ländern allmählich einem gefährlichen revolutionären Zustand nähert, dafür häufen sich die Symptome. Das schroffe Nebeneinander von permanentem Hunger, Arbeitslosigkeit, hoher Sterblichkeit auf Seiten breiter Volksschichten, die unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen, und von unausgesuchtem Komfort, ja kaum vorstellbarem Pomp in der Lebensführung herrschender Kreise hat soviel Sprengstoff angehäuft, daß es, wenn einmal der Funke zündet, zur Explosion des ganzen Kontinents kommen könnte.“ (Galo Martínez Arona: Lateinamerikanisches Dilemma. Die Christen und die Revolution, in: Orientierung 32 (1968), 93).
Derselbe Autor sieht, daß eine Analyse der wirtschaftlichen Lage und ihre Erfahrungen der Ungerechtigkeit viele zu der Überzeugung führen, „es gebe nur mehr die Möglichkeit, das eiserne Gerüst des herrschenden Systems zu zerbrechen: den bewaffneten Aufstand.“ Er sieht die Christen und die Kirche in diesem Zusammenhang vor eine unausweichliche Entscheidung gestellt, entweder die bestehende Ungerechtigkeit weiter zu stützen oder aber sich für revolutionäre Veränderungen einzusetzen. In diesem Zusammenhang verweist er unter anderem auf den katholischen Priester Camilo Torres, der sich nach dem Scheitern seiner politischen Bemühungen im Jahr 1967 dem bewaffneten Kampf der Guerilla in Kolumbien angeschlossen hatte und getötet worden war, was Beweis seiner Nächstenliebe und seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit sei.

Zeitzeichen

Die Beschlüsse von Medellín stellen sich zwar nicht explizit dieser „unausweichlichen Entscheidung“, beschreiten aber einen neuen, kirchlich gesehen sehr wohl „revolutionären“ Weg: Sie gehen nicht – wie in offiziellen kirchlichen Dokumenten bis dahin üblich – von festen Glaubensaussagen und kirchlichen Regelungen aus, um diese den Menschen zu verkünden, sondern analysieren zunächst die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Nöte und Hoffnungen der Menschen und formulieren den eigenen Anspruch: „Der lateinamerikanische Episkopat darf angesichts der ungeheuren sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben; Ungerechtigkeiten, die die Mehrheit unserer Völker in einer schmerzhaften Armut halten, die in sehr vielen Fällen an unmenschliches Elend grenzt.“
Als wichtigste und folgenreichste theologische Konsequenz gilt vielen Beobachter die Formulierung: „Christus, unser Erlöser, liebt nicht nur die Armen, sondern er, der reich war, machte sich arm, lebte in Armut, konzentrierte seine Sendung darauf, daß er den Armen ihre Befreiung verkündete und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen.“ Dies begründete in Folge eine neue Praxis der Kirche, einen Positionswechsel, weg von der Seite der Reichen, Staatstragenden und politisch Mächtigen, hin zu einer „Option für die Armen“.

Positionswechsel

Die Beschlüsse von Medellín stellten eindeutig in den Vordergrund, daß der Glaube die Forderung und das Engagement nach Gerechtigkeit umfasse, daß ohne Gerechtigkeit christlicher Glaube nicht möglich sei. Dies löste zunächst eine Krise, dann massive Konflikte innerhalb der Kirche aus: Das Verständnis von pastoraler Praxis als die Versorgung der Bevölkerung mit Sakramenten geriet ins Wanken und mit ihm die Rolle und damit das Selbstverständnis von den Priestern und Bischöfen. Ihre Tätigkeit im Rahmen von Sakristei und Kirchenraum reichte nicht mehr aus. Im Bereich der neuen Aufgaben, der sozialen Gerechtigkeit kannten sie sich zu wenig aus, fühlten sie sich unsicher. Bald aber entstanden neue pastorale Strategien und Konzepte: Es wurden – zunächst vor allem in ländlichen Bereichen – kleine Pastoralteams gebildet, Laien in die Arbeit einbezogen, der Bewußtseinsbildung, Alphabetisierung und Gesundheitsversorgung eine vorrangige Bedeutung beigemessen und eine „Gute Nachricht“ als Hoffnung für die von materieller Not und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen verkündet. Zudem wurde die Selbstorganisation der Menschen gestärkt: in der Bildung von Basisgemeinden und in der Betonung der darin liegenden Möglichkeiten gegenseitiger Hilfe. Gleichzeitig wurden aber vielerorts auch Gründung und Arbeit von gewerkschaftlichen Initiativen zur Durchsetzung von Interessen wie Landverteilung und Kreditbewilligungen unterstützt. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten: Zivile und militärische Machthaber sowie die Oligarchie begannen zunächst mit Vorwürfen und Beschuldigungen („Kommunisten“, „Subversive“), gingen bald aber zur offenen Verfolgung ihrer Gegner über: Viele Priester, Laien, Engagierte, aber auch Bischöfe wurden vertrieben, verschleppt, gefoltert oder getötet, wie Bischof Oscar Arnulfo Romero aus El Salvador.
Heute sind zwar die „revolutionären Zeiten“ vorbei und der „Geist von Medellín“, der in den Texten deutlich wird, hat es schwer, sich durchzusetzten. Trotzdem bleibt die dort formulierte Herausforderung als Aufgabe bestehen: Die ungerechte Verteilung der Güter dieser Welt anzuklagen und die Sünde, die diese Ungerechtigkeit hervorbringt, aufzudecken.

Tips zum Weiterlesen:
– Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellín und Puebla (Stimmen der Weltkirche 8), Bonn, o.J.
– Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung, Mainz 10.überarb. Aufl. 1992
– Ludger Weckel, Um des Lebens willen, Mainz 1998

Pastrana in der Zwickmühle

Die Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens), der größten Guerillaorganisation des Landes, sind in greifbare Nähe gerückt. Innerhalb der kommenden Wochen wird die wichtigste Vorbedingung der Rebellen erfüllt sein: Präsident Andrés Pastrana Arango wird die Armee anweisen, fünf Munizipien im Süden des Landes vollständig zu räumen. Damit wächst die Hoffnung auf einen Dialog ohne Waffen in dem von Gewalt gebeutelten Land – mit gutem Willen allein ist der aber nicht zu erreichen. Während paramilitärische Gruppen drohen, die Verhandlungen mit Gewalt zu stören, haben die FARC bislang nur Forderungen gestellt, ohne Zugeständnisse zu machen. Die Friedensbemühungen der ELN (Nationale Befreiungsarmee), erhalten hingegen von Pastrana bislang wenig Aufmerksamkeit. Krieg oder Frieden in Kolumbien hängen davon ab, ob der Präsident eine behutsame Gesamtstrategie entwickeln wird, um das Land zur Versöhnung zu führen.
Großspurig gab Ramón Isaza, Kommandant und zweiter Kopf der Vereinten Selbstverteidigungstruppen Kolumbiens AUC (Auto-defensas Unidas Columbianas) gegenüber der Tageszeitung El Espectador bekannt, die Regierung habe sich der Guerilla zu Füßen geworfen – gemeint sind die erheblichen Zugeständnisse des Präsidenten an die mächtigen FARC. Die Botschaft Isazas ist eindeutig: Entweder der paramilitärische Terror der AUC wird ebenfalls als politischer Kampf anerkannt und seine Organisation mit der Guerilla gleichgestellt, oder bewaffnete Gruppen werden ver-suchen, die Verhandlungen mit den Rebellen gewaltsam zu stören.
Pastranas Politik ist mit derartigen Ankündigungen kaum gefährdet. Er genießt breite Unterstützung für seinen Kurs und hat neben dem angekündigten Truppenabzug, durch den eine Verhand-lungszone für Gespräche mit den FARC geschaffen werden soll, sogar einen Gefangenenaustausch zwischen Guerilleros und von den Rebellen festgehaltenen Soldaten und Polizisten in Aussicht gestellt. Sein wichtigster Gegner, der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Führer der liberalen Partei Horacio Serpa Uribe, welcher sich im Wahlkampf selbst als Verfechter des Dialogs angepriesen hatte, erklärte, daß Kolumbiens wichtigstes Ziel der Frieden sei: „Darum hat die Regierung unsere vollständige Solidarität für ihre Anstrengungen, Versöhnung und Verständigung herzustellen.“
Ähnlich bedingungslose Unterstützung kommt von Seiten der Armee. Ihr Oberkommandierender, General Fernando Tapias Stahelin, bekräftigte erst kürzlich, daß der Frieden keinesfalls an den Streitkräften scheitern wird.

Bittere Erfahrungen der Vergangenheit

Trotz allem machte die Drohung Isazas erneut klar, wie schwierig der bevorstehende Friedenspro-zeß werden wird. Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien hat in den letzten Jahren unter anderem deswegen an Intensität gewonnen, weil zur Auseinandersetzung zwischen Staat und Guerilla die paramilitärischen Banden als dritter unübersehbarer Machtfaktor hinzugekommen sind. Mit ihnen kann die Regierung keine Verhandlungen aufnehmen, da dies das sofortige Ende der in Kürze beginnenden Gespräche mit den FARC zur Folge hätte. Diese fordern von der Regierung ein unerbittliches Vorgehen bei der Bekämpfung der Privatjustiz-Gruppen. Ohne deren Auflösung wird zudem keine Guerillaeinheit ihre Waffen abgeben: Zu bitter waren die Erfahrungen mit der Wiedereingliederung der Rebel-lengruppe M-19 Ende der acht-ziger Jahre unter dem damaligen Präsidenten Belisario Betancur. Unzählige AnhängerInnen und politische FührerInnen dieser demobilisierten Guerilla wurden nach und nach Opfer einer dramatischen „Säuberungswelle“, durchgeführt von rechten Todesschwadronen.
Eine politische Anerkennung der paramilitärischen Privatarmeen ist zudem kaum denkbar, da diese laut Menschenrechtsorgani-sationen für die überwiegende Anzahl der Menschenrechtsverletzungen – vor allem selektive Massaker in der Zivilbevölkerung gegen vermeintliche Guerilla-un-terstützerInnen – verantwortlich sind. Nach Informationen der Vereinten Nationen wurde ein Drittel des Binnenflüchtlingsstroms in Kolumbien durch ihre Greueltaten ausgelöst.

Fehlende Entschlossenheit

Angesichts des Ausmaßes des Problems hätte auch eine militärisch-juristische Offensive des Staates wenig Aussicht auf Erfolg, zumal die „Paras“ insbesondere im Militär mächtige Verbündete haben, für die der paramilitärische Terror gegen die Landbevölkerung eine unkonventionelle und „erfolgreiche“ Art der Guerillabe-kämpfung darstellt. Anführer und Teilnehmer der Massaker sind in Kolumbien durchaus keine Unbekannten: Die Staatsanwaltschaft hat insgesamt rund 600 Haftbefehle gegen mutmaßliche Para-militärs ausgestellt – tatsächlich verhaftet wurde bis jetzt aber nur der kleinste Teil der Beschuldigten. Die Verstrickungen zwischen Personen aus Militär- und Justizapparat mit den Privatarmeen gehen soweit, daß den „Selbst-justizgruppen“ offenbar die kompletten Suchlisten der Behörden zugespielt wurden.
Pablo Beltrán, einer der Sprecher der Guerillagruppe ELN, warf Pastrana vor, an der Politik seines Amtsvorgängers Ernesto Samper Pizano in Bezug auf die Paramilitärs nichts geändert zu haben: Der Wechsel in der Militärführung, den der frisch vereidigte Pastrana Anfang August vorgenommen hatte, brachte laut Bel-trán erneut Offiziere an die Spitze, die mit den Paramilitärs in Verbindung stehen. Konkret beschuldigte er unter anderem Ge-neral Jorge Enrique Mora Rangel, Kommandant des Heeres, und General Rafael Hernández López, Chef des Generalstabs der Streitkräfte.
Präsident Pastrana und sein Hochkommissar für den Frieden Victor G. Ricardo haben sich offenbar für ein schrittweises Taktieren entschlossen. Letzterer antwortete auf die Drohung Isazas, man sei wohl bereit, mit den AUC zu reden, aber nicht an einem Tisch mit der Guerilla. Man werde die Paramilitärs im Rahmen von „dem Staat eigenen Instrumenten“ zum Gespräch rufen – was das genau heißen soll, weiß derzeit wahrscheinlich nicht einmal Ricardo selbst. Pastrana hat den Vizepräsidenten Gustavo Bell, eine politische Gestalt, die im politischen Alltag kaum präsent ist, beauftragt, innerhalb von drei Monaten ein Programm für eine „dauerhafte staatliche Politik gegen paramilitärische Gruppen“ zu erarbeiten. Das Dilemma des Präsidenten ist, daß er – vor allem gegenüber der Guerilla – nicht tatenlos wirken darf, sich aber de facto keine direkte Konfrontation mit den „Paras“ leisten kann.

Spielen die FARC mit offenen Karten?

Die FARC hingegen werden aus einer Position der Stärke heraus in die Verhandlungen gehen. Sie haben bis jetzt – außer der Bereitschaft zu Gesprächen, sofern die fünf Munizipien tatsächlich geräumt werden – noch kein deutliches Zeichen des guten Willens gesetzt, wie etwa die ELN, welche in den letzten Wochen mehrere entführte Bürgermeister freigelassen haben. FARC-Chef Manuel Marulanda Vélez („Tirofijo“) will offenbar die Gunst der Stunde nutzen, um die in den vergangenen Monaten systematisch als „Kriegsgefangene“ entführten Soldaten und Polizisten gegen Guerilleros einzutauschen – allerdings nicht im Verhältnis eins zu eins: Die 245 Männer, die sich in der Gewalt der FARC befinden, sollen 450 FARC-Anhängern, darunter wichtige ideologische und militärische Anführer, die Freiheit zurückgeben.
Für großen Unmut hat außerdem in der Öffentlichkeit die Behauptung des zweiten Mannes der FARC, Jorge Briceño („Mono Joyjoy“) gesorgt, der bestritten hatte, daß die Guerillagruppe zivile Geiseln genommen habe. Diese Aussage wird von Analysten als unwahr betrachtet. Ferner fehlen nach Angaben der Regierung 30 Namen von verschwundenen Soldaten auf den Listen, welche „Tirofijo“ der Regierung hat zukommen lassen.

JournalistInnen unter Beschuß

Am 20. Mai 1998 beging Alfredo Yabrán, ein führender argentinischer Geschäftsmann und der Hauptverdächtige in einer die Regierung unter Präsident Carlos Menem erschütternden polizeilichen Ermittlung, auf einer seiner Fincas Selbstmord. Fünf Tage zuvor hatte der Richter José Luis Macchi gegen ihn Haftbefehl erlassen, nachdem die Ex-Frau eines ehemaligen Polizeibeamten ausgesagt hatte, daß Yabrán hinter dem Mord an dem Fotografen José Luis Cabezas stecke. Dessen Leiche wurde am 25. Januar 1997 in einem ausgebrannten Auto im Badeort Pinamar entdeckt. Cabezas hatte für Editorial Perfíl gearbeitet, einem nationalen Pressegiganten, dessen Hochglanz-Nachrichtenmagazin Noticias über die politischen Skandale im Land berichtet, wobei in vielen Fällen die Politiker und Wirtschaftsmagnaten schlecht davonkommen. Cabezas stellte Nachforschungen über eine Feier in Pinamar an, woraufhin er entführt, gefesselt, erschossen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt wurde. Dieser brutale Mord erinnerte an die schrecklichsten Tage während des schmutzigen Krieges in Argentinien.
Von Anfang an verdichteten sich die Verdachtsmomente um Yabrán, der sein Vermögen mit Unternehmungen im Frachtwesen machte und dabei direkten Nutzen aus seinen engen Beziehungen zu Präsident Carlos Menem zog. Vom damaligen Finanzminister Domingo Cavallo, wurde er 1995 als Mafiaboss bezeichnet. Im darauffolgenden Jahr erschien der durchtriebene Geschäftsmann auf einem unverfänglichen, von Cabezas aufgenommenen Strandfoto auf dem Titelblatt von Noticias. Yabrán war davon nicht begeistert und soll gesagt haben: „ein Foto von mir zu machen, ist, wie mir in den Kopf zu schießen.“ Nach dem Tod des Fotografen erschien Yabráns Konterfei auf den Titelblättern mehrerer Noticias-Ausgaben. Auf einem davon taucht hinter einer Maske Yabráns das Gesicht des Präsidenten auf, mit dem Untertitel „Ist Yabrán Menem?“
Die Aufklärung dieses Mordfalles gestaltet sich durch die Verwicklungen in der aktuellen argentinischen Politik und dem scharfen internen Machtkampf in der politischen Elite schwierig. Cabezas’ Leiche wurde unweit des Hauses von Eduardo Duhalde, dem amtierenden Gouverneur der Provinz Buenos Aires und einem aussichtsreichen Kandidaten für die anstehenden Präsidentschaftswahlen, gefunden. Der Mord an Cabezas und Yabráns Selbstmord haben sowohl Fragen über die Verflechtung politischer und ökonomischer Macht auf höchster Ebene in Argentinien aufgeworfen, aber auch zur Rolle der Medien und zu den nur allzu realistischen Gefahren, denen JournalistInnen unter der neoliberalen Demokratie in ganz Lateinamerika ausgesetzt sind.

Mord an JournalistInnen

Mit der Wiedereinführung von Zivilregierungen und dem Ende der Bürgerkriege in Zentralamerika schien die Anzahl von Übergriffen auf JournalistInnen anscheinend zurückzugehen. Jedoch tauchte in letzter Zeit ein beunruhigendes Phänomen auf. Trotz der gefeierten Wiederherstellung der Demokratie und dem angeblichen Schutz der Pressefreiheit nehmen Bedrohung und Gewalt gegenüber JournalistInnen in ganz Lateinamerika wieder zu. Obwohl die in Berichten von Presserechtsgruppen angegebenen Zahlen weit voneinander abweichen, läßt sich für 1997 ein alarmierender Anstieg von Angriffen auf MitarbeiterInnen der Medien erkennen.
Vom Committee to Protect Journalists (CPJ) und der Organisation Reporters sans Frontiers (Reporter ohne Grenzen) mit Sitz in Paris wurden für das letzte Jahr weltweit 26 Morde dokumentiert. Zehn davon wurden in Lateinamerika verübt: vier in Kolumbien, drei in Mexiko und jeweils einer in Brasilien, Guatemala und Argentinien. Presserechtsgruppen untersuchen gegenwärtig den Tod von zehn JournalistInnen, die bis Anfang Juni diesen Jahres in Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Peru ermordet wurden.
Die gewalttätigen Übergriffe und die steigende Zahl der gegen JournalistInnen angestrengten Prozesse sind keine Einzelphänome. Mit der Durchsetzung der neoliberalen Demokratie konzentriert sich politische und ökonomische Macht und gleichzeitig verlieren Kontrollinstanzen – Gesetzgebung, Gerichte und andere Institutionen wie z.B. Parteien – an Macht oder Glaubwürdigkeit. In dieses Vakuum sind JournalistInnen als wichtige Akteure getreten und decken Fälle von Korruption, Machtmißbrauch und die politische und finanzielle Macht der Drogenhändler auf. Im Jahresbericht 1997 des CPJ schreibt Joel Simon, der Direktor des Komitees für Amerika, über die Angriffe auf die Presse: „Regierungsbehörden, einflußreiche Wirtschaftsakteure und kriminelle Elemente reagieren auf die Versuche der Presse, ihre Aktivitäten aufzuklären, mit Prozessen oder Gewalt.“

Tödliche Kolumne

Kolumbien galt lange Zeit für JournalistInnen in Lateinamerika als das gefährlichste Land. Allein in diesem Jahr wurden in Kolumbien mindestens fünf Journalisten ermordet, im letzten Jahr waren es vier. Einer davon war Gerardo Bedoya, der Redakteur der Meinungsseite der in Cali erscheinenden Tageszeitung El País. Wenige Tage nachdem er eine Kolumne verfaßt hatte, in der er die Auslieferung der Drogenhändler an die USA befürwortete, wurde er durch einen Kopfschuß getötet.
Zusätzlich sind viele JournalistInnen einer ständigen Bedrohung und Schikanierung ausgesetzt. So auch Richard Vélez, ein Kameramann für ein täglich ausgestrahltes TV-Nachrichtenprogramm. Sieben Jahre lang hat Vélez im Nachrichtenprogramm „Colombia: 12:30“ über Polizisten, Sonder-Sicherheitskräfte und das Militär berichtet. Vélez galt schlechthin als Kriegsberichterstatter. Im August 1996 wurde er nach Südkolumbien geschickt, um dort über die Proteste der Campesinos gegen die Vernichtung ihrer Coca-Anpflanzungen zu berichten. Die Armee sollte angeblich nur mit einigen Tränengas-Granaten ausgerüstet sein, doch Vélez filmte Soldaten, die mit Macheten und Gewehren auf die Menschenmenge losgingen. Plötzlich wurde er von einer Gruppe Soldaten angegriffen und zur Herausgabe seiner Kamera aufgefordert. Vélez wurde brutal niedergeschlagen und mußte zwei Wochen im Krankenhaus behandelt werden. Seinen Kollegen gelang es, die Kassette aus der Kamera zu retten; die Bilder wurden landesweit ausgestrahlt und von Organisationen für Menschenrechte und Pressefreiheit auch weltweit verbreitet.
Die Probleme für Vélez fingen damit aber erst an. Bald nach Veröffentlichung der Berichte über diesen Vorfall, erhielt er Drohanrufe, mysteriöse Hausbesuche, und Briefe, in denen ihm „Ruhe in Frieden“ gewünscht wurde. Im Oktober 1997 verließ Vélez mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuz Kolumbien. Er lebt jetzt in New York City und erwartet die Entscheidung über seinen Asylantrag.

Mexiko auf Kolumbiens Spur

Auch in Mexiko haben die Übergriffe auf Journalisten zugenommen. Nach Aussage vom CPJ wurden 1997 drei mexikanische Journalisten als direkte Reaktion auf ihre Berichterstattung getötet.
Weit häufiger sind dagegen Fälle der Bedrohung und Einschüchterung. Maribel Gutiérrez erlangte 1995 internationale Anerkennung für ihre Berichterstattung über das Massaker an 17 Bauern in Aguas Blancas, im Bundestaat Guerrero, das den Rücktritt des Gouverneurs zur Folge hatte. Sie ist ständiger Bedrohung ausgesetzt und wurde von den Staatsbehörden angeklagt, dem Revolutionären Volksherr (EPR) anzugehören. Ihr Name fiel bei Folterverhören, bei denen die Opfer eine Verbindung Gutiérrez’ mit den Aufständischen eingestehen sollten.

Im Zeichen des Geheimdienstes

Die peruanische Presserechtsgruppe Instituto Prensa y Sociedad (IPYS) hat in ihrem Jahresbericht über Presse und Demokratie (Annual Report on the Press and Democracy) 1997 festgestellt, daß nahezu alle in diesem Jahr auf JournalistInnen verübten Angriffe in diesem Land das „Zeichen des peruanischen Geheimdienstes tragen, der sich die Überwachung unabhängiger Journalisten zur Aufgabe gemacht hat.“ Vergangenen April wurde die Radiojournalistin Isabel Chumpitaz Panta und ihr Ehemann, der Moderator José Amaya Jacinto, in ihrem Haus in der nordperuanischen Stadt Piura brutal ermordet. Chumpitaz war die Vorsitzende einer lokalen Journalistenvereinigung, das Ehepaar arbeitete für ein Programm mit dem Namen La Voz del Pueblo. Die Motive für den Mord bleiben unklar. Der Bruder Chumpitaz’, ebenfalls Journalist, wurde bei diesem Überfall schwer verletzt.
Die Quote der Morde und Überfälle ist allerdings nur die eine Seite. Die JournalistInnen, die den Schleier des Schweigens und der Straflosigkeit aufdecken, in deren Schutz sich die politische wie wirtschaftliche Elite wiegt, sollen durch restriktive Immigrations-, Lizenz- und Verleumdungsgesetzgebung ausgeschaltet werden.

Gesetz gegen Kritik

So wurde in Kolumbien ein umstrittenes Gesetz zur Fernsehlizensierung verabschiedet, um Kritiker an Präsident Ernesto Samper unter Strafe stellen zu können. Samper hat diesen Eingriff in die Medien persönlich initiiert. Im August 1997 hielt Samper eine Rede auf der in ihrer Art erstmaligen Konferenz in Guatemala-Stadt, die von der “Interamerikanischen Pressevereinigung” (IAPA) mit Sitz in Miami organisiert wurde. Darin informierte Samper die Versammelten, daß die Medien in Kolumbien dafür verantwortlich seien, ein Klima der Gewalt gefördert zu haben. Im Rahmen der Guatemala-Konferenz kann dieser Kommentar nur als äußerst perverser Zynismus interpretiert werden.
Auch von anderen lateinamerikanischen Regierungen wurden mittels restriktiver Gesetze „problematische“ JournalistInnen verfolgt. Als der Enthüllungsjournalist Gustavo Gorriti mit dem Verfassen von Berichten begann, in denen er eine Beziehung zwischen Geldern aus dem Drogenhandel und der Wahlkampagne des Präsidenten Ernesto Pérez Balladares in Panama aufdeckte, versuchte die Regierung ihn auszuweisen. Gorriti war nach dem Staatsstreich von 1992 und Fujimoris hartem Vorgehen gegen die Presse bereits aus seinem Heimatland Peru geflohen. Durch internationalen Druck mußte die Regierung in Panama einlenken, doch nun wird Gorriti der Verleumdung angeklagt, worauf eine sechsjährige Haftstrafe droht.
Die vielleicht heimtückischste Bedrohung der Pressefreiheit in Lateinamerika besteht in der zunehmenden Konzentration der Medien in den Händen einiger weniger mächtiger Konglomerate. Dieser Trend konnte durch die unendliche Kette von physischen und rechtlichen Übergriffen nicht unbemerkt vonstatten gehen. Für den einzelnen Journalisten ergibt sich daher ein zweifaches Problem: Während er/sie aufgrund seiner/ihrer Arbeit bedroht wird, arbeitet er/sie in zunehmendem Maße für Zeitungen, Zeitschriften und TV-Stationen, die im Besitz mächtiger Wirtschaftsvereinigungen stehen, die die Tagesordnung des jeweiligen Mediums diktieren, und somit zu einem großen Anteil auch die politische Ausrichtung in der gesamten Region bestimmen können.
Eines der aufsehenerregendsten Beispiele ist der Fall der kolumbianischen Zeitung El Espectador, eine der angesehensten Tageszeitungen des Landes. Die Herausgeber und Reporter sind schon seit langem die Opfer von Gewalt. So auch Guillermo Cano, der 1986 im Auftrag von Pablo Escobar ermordet wurde. Im Dezember letzten Jahres verkaufte die Familie Cano ihren Mehrheitsanteil an die kolumbianische Wirtschaftsvereinigung Santo Domingo, die sich seitdem Grupo Bavaria nennt. Der neue im März diesen Jahres ernannte Herausgeber ist ein ehemaliger Regierungsbeamter, der während der umstrittenen Wahlkampagne Ernesto Sampers Chef für Kommunikation war. Die meisten Angestellten kündigten als Zeichen ihres Protests gegen diese Entwicklung. Der Kolumnist Fabio Castillo entschied sich, für die Zeitung weiterzuarbeiten und äußerte – gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen – in einem Schreiben an den neuen Herausgeber und Verleger seine Zweifel darüber, daß die neue Geschäftsleitung sich für Pressefreiheit einsetzen wird. Sie schrieben darin auch, daß sie ihre weitere Arbeit für die Zeitung von der Beibehaltung der Verlagsautonomie abhängig machen würden. Am nächsten Tag erschien dieser Brief, der als vertrauliches Schreiben intendiert war, unter der Rubrik „Briefe an den Herausgeber“ und war mit der unheilverkündenden Überschrift „Bedauernswerte Kündigungen“ versehen.
Das Thema der Pressefreiheit in Lateinamerika findet aber auch in US- und europäischen Organisationen, wie in der von der Europäischen Union finanzierten Reporters sans Frontiers größere Beachtung. Die Knight Foundation, die von der Muttergesellschaft des Miami Herald und anderen Knight-Ridder-Zeitungen finanziert wird, hat eine umfangreiche Untersuchung der ungestraften Morde an JournalistInnen in Lateinamerika in Auftrag gegeben, die von der „Interamerikanischen Pressevereinigung“ (IAPA) durchgeführt wird. Aufgrund dieser Untersuchung wurde die IAPA-Konferenz letztes Jahr in Guatemala-Stadt organisiert. Auf dieser Konferenz gab es eine öffentliche Verhandlung, in der Zeugen zu den Morden an den sechs JournalistInnen in Kolumbien, Guatemala und Mexiko vernommen wurden. Diese Fälle werden jetzt auch in der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und am Interamerikanischen Gerichtshof diskutiert, wo ein Amt für Sonder-Berichterstattung in Sachen Meinungsfreiheit eingerichtet werden soll.
Als Reaktion auf die jüngste Gewaltwelle sind auch in Lateinamerika neue Journalistenvereinigungen entstanden. Dazu gehören IPYS in Peru und Periodistas in Argentinien, deren Gründungsmitglieder so prominente Journalisten wie Jacobo Timerman, Horacio Verbitsky und der Schriftsteller Tomás Eloy Martínez sind. Die Möglichkeiten dieser Organisationen sind jedoch eher bescheiden. Bestenfalls haben sie denselben Stellenwert und unterliegen denselben Einschränkungen wie die Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) und Menschenrechtsgruppen. Sie können die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf bestimmte Fälle lenken, sie sind aber keinesfalls ein Ersatz für eine funktionierende Rechtssprechung. Da sie auf Fremdfinanzierung angewiesen sind, wird ihnen eine Untersuchung des Problems der wachsenden Medienkonzentration kaum möglich sein.

Der Mord an José Luis Cabezas

Der Vereinigung Periodistas und einzelnen JournalistInnen ist es zu verdanken, daß der Fall José Luis Cabezas’ ein derartiges Aufsehen erregt hat. Im Gegensatz zu jedem anderen Mord an einem Journalisten hat sich in diesem Fall ein ganzer Berufsstand zur Verteidigung der Pressefreiheit zusammengeschlossen. Der Tod Yabráns bringt dagegen nur noch mehr Verwirrung und Skepsis in eine bereits skeptische Gesellschaft. Nach dem Selbstmord des Geschäftsmanns war die argentinische Presse voller Berichte von einem „vermeintlichen Suizid“ und offenen Fragen wie: War Yabrán wirklich tot? Hat er sich wirklich selbst umgebracht, oder wurde er ermordet, weil er zu viel wußte? Tomás Eloy Martínez sagt dazu: „Der Fall Cabezas und der Suizid Yabráns zeigen den tiefen moralischen Verfall in Argentinien. Die Institutionen haben einen immensen Vertrauensverlust zu verzeichnen. Keiner kann auch nur irgend jemandem mehr glauben.“
Die Medien in Lateinamerika stellen natürlich kein einheitliches Ganzes dar. Jedes Land hat seine eigene Mediengeschichte, die einen Teil der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschichte ausmacht. Außerdem gibt es auch innerhalb der Medien eines Landes beträchtliche Differenzen. Umfassend kommentierte Fälle, wie der von José Luis Cabezas, sind noch die Ausnahme. Für den einzelnen Journalisten, der außerhalb der Großstädte und nicht im Rahmen der großen Medienorganisationen arbeitet, bleibt es unvergleichlich gefährlicher. Denn dort operieren die Lokalpatriarchen in einem größeren straffreien Raum, die JournalistInnen sind von ihren KollegInnen in den Großstädten isoliert, und nicht selten werden sie von ihnen sogar ignoriert. Übergriffe auf JournalistInnen sind zudem symptomatisch für ein chronisch schwaches Justizsystem, kafkaeske Gesetzesüberwachung und endemische Straflosigkeit. Sie erinnern schmerzhaft an das Versagen der neoliberalen Demokratie in Lateinamerika.

gekürzt aus: NACLA Juli/August 1998
Übersetzung: Susan Aderkas

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