Tauwetter in der Karibik

Spätestens seit dem amerikanischen Gipfeltreffen Mitte April stellt sich die Frage: Nähern sich die USA und Kuba einander wieder an? Tatsächlich gibt es Indizien, die darauf hindeuten. US-Präsident Obama versprach einen Wandel in der Kubapolitik und kündigte am 13. April an, die Beschränkungen für Reisen und Auslandsüberweisungen der ExilkubanerInnen aufzuheben. Raúl Castro äußerte mehrmals die Bereitschaft zu einem Gespräch, ohne Vorbedingungen und Tabus. Vor allem haben sich die Rahmenbedingungen verändert: Regierungswechsel fanden sowohl in Havanna (Februar 2008) als auch in Washington (Januar 2009) statt. Die Karibikinsel hat zudem ihre Isolation auf dem Kontinent längst hinter sich gelassen. Im Dezember 2008, als alle bedeutenden amerikanischen Regionalzusammenschlüsse nacheinander in Salvador de Bahia, Brasilien, zusammenkamen, wurde Kuba zum „Star“. Gastgeber Lula sprach von einem „ideologischen Hurrikan“, sogar Mexikos Präsident Calderón begrüßte das „Brudervolk“, die Riogruppe nahm Kuba einstimmig als Mitglied auf und fast alle TeilnehmerInnen forderten ein Ende der Isolation und des Embargos. Diese Forderungen wurden Mitte April beim Amerika-Gipfel in Port of Spain dem US-Präsidenten gegenüber wiederholt. Venezuelas Präsident Chávez sagte zu Obama, als er diesem Galeanos Die offenen Adern Lateinamerikas überreichte: „Dieses Buch ist dafür da, um aus unserer Geschichte zu lernen. Es ist Zeit für einen wirklichen Neuanfang.“ Die USA spüren den stärkeren Gegenwind aus dem Süden. Der „Linksruck“ Lateinamerikas des vergangenen Jahrzehnts hat eine neue Konstellation auf dem amerikanischen Kontinent hervorgebracht, die auch die Position Kubas neu definiert.
Die Regierung in Havanna vermochte es in den vergangenen Jahren, eine Reihe bedeutender Handelsbeziehungen auszubauen und Investitionen nach Kuba zu ziehen. US-amerikanischen Firmen ist dies aufgrund des seit 1962 bestehenden Embargos untersagt. Ein besonderer Dorn im Auge dürften ihnen die in diesem Jahr intensivierten Ölbohrungen vor der Küste Kubas sein. Nach kubanischen Schätzungen liegen dort Reserven von 20 Milliarden Barrel Öl. Wenn dies zutrifft, hätte Kuba Ölvorkommen in einer ähnlichen Größenordnung wie die USA und könnte sich aus der neu entstandenen Abhängigkeit von venezolanischen Subventionen befreien. Seit dem Ausbau der Beziehungen durch das 2004 ins Leben gerufene Bündnis Bolivarianische Alternative für Amerika ALBA ist kubanisches Humankapital (vor allem Ärzte und Lehrer) zur Haupteinnahmequelle der Regierung in Havanna geworden, noch vor dem Tourismus (etwa 6 Milliarden US-Dollar versus 2,3 Milliarden US-Dollar nach Schätzungen des Ökonomen Mesa Lago).

Durch eigene Ölvorkommen könnte Kuba sich aus der Abhängigkeit von venezolanischen Subventionen befreien.

Der Druck auf die Regierung in Washington, eine neue Kuba-Politik einzuläuten wächst unterdessen täglich. Im Februar veröffentlichte Fox-News eine Umfrage, wonach 59 Prozent der Befragten US-AmerikanerInnen für eine Normalisierung der Beziehungen und ein Ende des Embargos seien. Ende März wurde in beiden Parlamentskammern eine Gesetzesinitiative eingebracht, Reisebeschränkungen für alle US-StaatsbürgerInnen aufzuheben und die gesamte Kubapolitik zu erneuern. Ihr Autor, Senator Richard Lugar, sah den Gipfel in Trinidad als Gelegenheit, die verfehlte Embargo-Politik zu korrigieren: „Diese Politik untergräbt unser Ansehen und politischen Interessen weltweit.“ In seiner Rede vor der exilkubanischen Organisation CANF am 20. Mai 2008 hatte der damalige Präsidentschaftskandidat Obama allerdings klargestellt, dass er nicht vorhabe, das Embargo aufzuheben, da es erlaube, Kuba zu „bedeutenden Schritten in Richtung Demokratie“ zu zwingen.

Unter dem ideologischen Überbau der US-Gesetzgebung verbirgt sich eine
andere wirtschaftliche Realität.

Tatsächlich sind im Helms-Burton-Gesetz von 1996 Passagen zu finden, die eine Aufhebung des Embargos an eine im Gesetz definierte Vorstellung von Demokratie binden, dazu gehört unter anderem, dass keiner der Castro-Brüder das Land regieren dürfe. Das von John F. Kennedy am 3. Februar 1962 erlassene Handelsembargo hingegen beruft sich auf den aus dem ersten Weltkrieg stammenden Trading with the Enemy Act, das es den USA verbietet, mit Unternehmen aus Staaten, die zu den politischen Feinden gehören, Handel zu treiben. Unter diesem ideologischen Überbau verbirgt sich allerdings eine andere wirtschaftliche Realität. Die USA sind bereits heute Kubas sechstgrößter Handelspartner, die Nummer eins in Lebensmittelimporten. Der zu erwartende Gewinn durch US-amerikanische TouristInnen wäre ein weiterer Faktor. Reiseunternehmen in Florida bereiten sich bereits jetzt auf die potenzielle Konkurrenz und Geschäftslücke vor. Die lokalen Tourismusbehörden rechnen mit etwa zwei Millionen zusätzlichen UrlauberInnen. Die kubanische Tourismusministerin Pérez versicherte Anfang April jedoch, dass man sich auf alle Eventualitäten vorbereite. Allerdings: „Bisher hat Obama ja noch nicht die Blockade aufgehoben.“ Der kubanische US-Analytiker Casals sieht ein mögliches Problem in der Zunahme von Drogenhandel, Prostitution und Kriminalität. Der demokratische US-Abgeordnete Dorgan ist hingegen überzeugt davon, dass Handel und Reisen die sicherste Art „Demokratie zu fördern“ seien. Der ehemalige kubanische Kultur- und Bildungsminister Armando Hart sieht deshalb Kubas große Herausforderung darin, „einen neuen Weg zu finden in der kulturellen Auseinandersetzung mit unseren Gegnern“.

Dunkle Andeutungen

Kubas jüngere Geschichte kennt an Legenden wahrlich keinen Mangel. So schmerzt es vielleicht weniger, dass eine der schönsten dieser Legenden künftig nicht mehr so häufig zu hören sein wird. Sie handelte – anders als in der Sagenwelt eigentlich üblich – nicht von drei, sondern nur von zwei Brüdern. Sie hießen Fidel und Raúl Castro, und natürlich war der Ältere der böse Sturkopf, während dem Jüngeren alle Sympathien galten: Raúl sei ein Pragmatiker und Erneuerer, was sich schon daran gezeigt habe, dass er den BürgerInnen den Kauf von Computern erlaubt habe, hieß es. Und wenn er sich erst einmal der Entourage seines ideologisch verbohrten Bruders entledigt haben werde, dann, ja dann …
Seit dem vergangenen Monat muss sich niemand mehr die Mühe machen, den hypothetischen Satz zu vervollständigen. Raúl Castro selbst hat der Legende den Boden entzogen. Am 2. März, gut ein Jahr nach der offiziellen Übernahme der Amtsgeschäfte, vollzog er ohne vorherige Ankündigung das bisher größte Revirement in seiner Regierung. Elf Ministerien besetzte er neu oder legte sie mit anderen Ressorts zusammen. Und wie auch immer jeder einzelne Wechsel zu bewerten sein mag, eines steht fest: Die als Erklärungsmuster so bequeme Aufteilung der kubanischen Führungskader in „gute“, weil reformwillige Raulistas und „böse“, weil reformunwillige Fidelistas ist nicht länger zu halten. Die wirklichen Fronten innerhalb der Führungsriege, so steht zu befürchten, verlaufen ganz woanders.
Noch verhältnismäßig leicht zu interpretieren sind die von Raúl Castro vorgenommenen Neubesetzungen. Zum Exekutivsekretär des Ministerrates – ein Amt, das unter dem bisherigen Amtsinhaber Carlos Lage dem eines Ministerpräsidenten in einer Präsidialrepublik sehr nahe kam – ernannte er José Amado Ricardo Guerra, einen General. Dass ein so hoher ziviler Posten einem Militär anvertraut wird, wäre anderswo auf der Welt zumindest ungewöhnlich. In Kuba aber gehört es zur Normalität: Die Generalität gilt als verwaltungserfahren, effizient und verhältnismäßig wenig anfällig für Korruption. Castros Entscheidung für einen Vertrauten aus seiner Zeit als Verteidigungsminister muss – aus diesem Blickwinkel betrachtet – also niemanden überraschen.
Einen guten Leumund hat auch der neue Außenminister Bruno Rodríguez, der bis 2003 Kuba vor der Vereinten Nationen (UNO) vertrat und anschließend als Vizeminister diente. Er ist nicht so „verbrannt“ wie der bisherige Amtsinhaber Felipe Pérez Roque, der keineswegs zu Unrecht als ideologischer Hardliner galt. Sollte es demnächst zu Annäherungsversuchen zwischen Havanna und der neuen Regierung in Washington kommen, ist Rodríguez sicherlich der geeignetere Unterhändler als der „Taliban“ Pérez Roque. So weit, so gut.
Überhaupt nicht gut dagegen ist erstens der Stil, in dem die bisherigen Amtsinhaber abgefertigt wurden. In einer Sitzung des Politbüros der KP Kubas hätten Lage und Pérez Roque Selbstkritik geübt und Fehler eingestanden, stand in dürren Worten in der Parteizeitung „Granma“. Welche Fehler, darüber erfuhren die BürgerInnen kein Wort. Bei früheren plötzlichen Rauswürfen – etwa von von Carlos Aldana, Ideologie-Sekretär der Partei und bis dahin „Nummer drei“ in der internen Hierarchie, 1992 und von Außenminister „Robertico“ Robaina 1999 – sickerten wenig später Einzelheiten durch. Diesmal blieb es bei der Andeutung, die Gefeuerten hätten sich „unwürdig“ verhalten. Ein solcher Rückgriff der kubanischen Führung auf altstalinistische Praktiken ist erschreckend, und zwar völlig unabhängig davon, ob die Beiden tatsächlich Verfehlungen begangen haben oder nicht.
Zweitens aber stellt sich zumindest im Fall von Carlos Lage die Frage, was denn das wirkliche Motiv für seinen Sturz war. Der gelernte Kinderarzt galt anderthalb Jahrzehnte lang als der „Wirtschaftszar“ Kubas und als der wichtigste Spross jener neuen Politikergeneration, die eines nicht mehr fernen Tages die Insel regieren würde, wenn die Castros nicht mehr da wären. Mit vorsichtigen Reformen navigierte er Kuba durch die dramatische Krise der 1990er Jahre hindurch zu neuer Stabilität; eine Leistung, die an dieser Stelle keiner weiteren Würdigung bedarf. Bei alledem bewahrte er sich bei seinen MitbürgerInnen den Ruf, ein ausgesprochen bescheidener Mensch zu sein und dazu unbestechlich – beileibe keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem Beziehungen alles sind. Es ist verbürgt, dass er mit seinem klapprigen Lada auf dem Weg zur Arbeit Anhalter mitzunehmen pflegte. Dass ausgerechnet diesen Mann nun „der Honig der Macht“ verführt haben soll, wie Fidel Castro in einer seiner berühmt-berüchtigten Reflexionen in der Granma schrieb, klingt bis zum Beweis des Gegenteils nicht eben wahrscheinlich.
Der soeben zitierte Castro-Satz geht indes noch weiter. Die Macht, „für die sie kein Opfer kannten“, habe in Lage und Pérez Roque „Ambitionen geweckt“, heißt es dort, und „el enemigo se llenó de ilusiones con ellos“, was sinnentsprechend wohl übersetzt werden muss mit: Der Feind setzte Hoffnungen in sie. Dieser Satz verdient es, seziert zu werden.
Die Beschuldigten haben „für die Macht“ also „keine Opfer“ gebracht. Zählt es nicht, dass Carlos Lage als Arzt mehrere Jahre lang im Bürgerkrieg in Äthiopien im Einsatz war? Ist nur der vertrauenswürdig genug für eine Führungsaufgabe, der schon gegen Diktator Batista gekämpft hat? Haben die Jüngeren zu warten, bis der letzte Kämpfer aus der Sierra Maestra unter der Erde liegt? Und wenn nicht: Was sonst, bitte, sollen die Worte „keine Opfer gebracht“ denn bedeuten?
Die Beschuldigten haben also „Ambitionen“ gehegt. Was dieser Begriff insinuiert, weiß man aus der Grabrede des Marcus Antonius für den erdolchten Cäsar. Was man nicht erfährt: Hat Lage sich beschwert, dass vor gut einem Jahr nicht er, sondern der greise Revolutionsveteran José Ramón Machado Ventura von Raúl Castro zu seinem Stellvertreter gemacht wurde? Und wenn es so gewesen sein sollte: Wäre er nicht vielleicht wirklich der bessere Kandidat gewesen?
Die Beschuldigten haben also „den Feind zu Hoffnungen veranlasst“. Das lässt zwei Interpretationen zu. Variante eins: Alles Unfug – der Feind hegt wieder einmal Illusionen und wird seinen Irrtum früher oder später einsehen müssen. Dann hätten die betreffenden Personen für ihr erfolgreiches Täuschungsmanöver freilich eine Beförderung verdient und nicht die Absetzung. Bleibt Variante zwei: Die Hoffnungen des Feindes waren berechtigt. Dafür gibt es einen Strafrechtsparagraphen. Er lautet auf Hochverrat. Absurder geht es nimmer.
Fragen stehen im Raum, Antworten der unmittelbar Beteiligten aber gibt es bisher nicht und wird es möglicherweise auf absehbare Zeit nicht geben. Auf einem solchen Nährboden gedeihen Spekulationen und vielleicht auch bald neue Legenden. Aus Santiago de Cuba wird berichtet, am Tage nach dem Großreinemachen im Politbüro seien Graffitti aufgetaucht: „Lage Presidente.“ An der Verifizierung dieses Gerüchts wird gearbeitet.

// Hinnerk Berlekamp

Bücher aus großer Höhe

Nach La Paz ist El Alto die größte Stadt Boliviens. Ihre Bevölkerung besteht zum größten Teil aus LandarbeiterInnen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die große Stadt kamen, was zu einer kuriosen Mischung aus alten Traditionen und modernem Leben geführt hat. Genau diese Mischung versuchen die drei Geschichten, die dem Dokumentarfilm Yerba Mala als Einleitung dienen, wiederzuspiegeln: Línea 257 (Linie 257) von Roberto Cáceres erzählt von dem Leben eines jungen vocedor, eines Ausrufers, der im Minibus zwischen El Alto und La Paz unterwegs ist. Alhma, la vengadora (Alhma, die Rächerin) von Crispín Portugal erzählt die Geschichte einer Frau aus El Alto, die sich ihren Lebensunterhalt mit Freistilringen verdient. Und Khari, Khari von Darío Luna beschäftigt sich mit der gleichnamigen mythologischen Gestalt aus den Anden.
2006 bereits hatten die drei jungen Autoren den Verlag Yerba Mala Cartonera gegründet, mit dem sie versuchen wollten, die Facetten von SchriftstellerIn, VerlegerIn und KulturvermittlerIn miteinander zu vereinen. Wenn es eine Pflanze gibt, die überall wächst und die für jeden frei zugänglich ist, so ist es das Gras, spanisch yerba. Diese Idee sollte die Richtung ihres Projekts andeuten: Die Demokratisierung der Literatur, damit sich das Buch nicht in das Privileg einiger Weniger verwandelte. Durch eine Mischung aus Erfindungsgabe, andiner Handwerkstradition und dem Recycling von gebrauchter Pappe entstehen schlichte Ausgaben von literarischen Werken, die unter Copyleft stehen oder deren Autoren die Urheberrechte abgegeben haben. Das Projekt umfasst auch die Jugendlichen der Gegend, die die Buchdeckel verzieren. Auf diese Weise wurde es möglich, das Ziel des Projektes zu erreichen, nämlich Bücher herzustellen, die so günstig sind, dass sie für alle erschwinglich sind.
Die Dokumentation, die vom argentinisch-spanischen Colectivo 7 gedreht wurde, versucht nicht nur, uns über ein mutiges Projekt vom täglichen Kampf gegen die Mittellosigkeit zu erzählen, sondern erschließt auch eine Übersicht über das komplizierte Panorama des Verlags-, Kultur- und Sozialwesens in Bolivien. Warum werden dort keine Bücher gelesen? Oder genauer: Warum werden dort keine Bücher verkauft? Die Antworten von SchriftstellerInnen, VerlegerInnen und kulturellen Autoritäten beleuchten diese Fragen und zeigen auch die Schatten einer Klassengesellschaft. In einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen etwa 550 Bolivianos (etwa 60 Euro) beträgt, ist es schwierig, 100 Bolivianos für ein neues Buch auszugeben. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Inkakultur traditionell keine Schrift im westlichen Verständnis des Wortes verwendete. Stattdessen wurde ein komplexes System von geknoteten Schnüren, die quipus, Jahrhunderte lang für das Rechnungswesen des Inka-Reichs benutzt. Auch stellten die Textilien, mit ihren wunderschönen bunten tocapu, geometrischen Zeichnungen, einen richtigen Informations-Code dar.
Nach Kuba (1961) und Venezuela (2005) wurde Bolivien im Dezember 2008 zum dritten Land Lateinamerikas, das den Analphabetismus besiegte. Die Unesco erkannte auf diese Weise die Arbeit an, die die Regierung von Evo Morales unter Rückgriff auf das kubanische Alphabetisierungsprojekt „Yo sí puedo“ („Ja, ich kann“) hatte. Beinahe 900.000 BolivianerInnen, die Mehrheit von ihnen indigene Quechua-, Aymara- und Guaraní-Frauen, haben in diesen drei Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Dabei handelt es sich um den ersten notwendigen Schritt, damit die Literatur in alle versteckten Winkel des Andenlandes gelangen kann. Der zweite besteht aus der Initiative, welche die drei jungen Männer angestoßen haben, nämlich den Zugang zum Buch zu vereinfachen.
Mit derart originellen Projekten wie diesem Verlag, der überall in Lateinamerika NachahmerInnen findet, werden wir bald aufhören Graffities zu sehen wie das, welches in der Dokumentation über dem Eingang der Bolivianischen Kammer des Buchwesens gezeigt wird: „Lesen Sie nicht, tanzen Sie!“

// Luis Montilla
// Übersetzung: Anette Lang

Colectivo7 // Yerba Mala // Argentinien/Spanien 2008 // 66 Minuten

Die „kontrollierte Evolution“

Die Amtsübernahme von Raúl Castro in Kuba hat unterschiedlichste Erwartungen geweckt, vom radikalen Systemwandel bis hin zur Weiterführung und Erneuerung des sozialistischen Systems. Bernd Wulffen, von 2001 bis 2005 deutscher Botschafter in Kuba, versucht in seinem neuen Buch Kuba im Umbruch. Von Fidel zu Raúl Castro für die derzeitige Lage und mögliche Entwicklungen Kubas „Erklärungsansätze zu liefern.“
Eingangs widmet sich der Autor ausführlich dem neuen Staatsoberhaupt Raúl Castro und dessen Beziehung zu seinem Bruder Fidel Castro, was insofern wertvoll ist, da über Raúl bisher keine umfassende Biografie vorliegt. Der Autor skizziert Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den ungleichen Brüdern und geht vor allem auf die größere Reformoffenheit und Pragmatik Raúls ein.
Es folgt ein Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Kubas. Hier spricht Wulffen von einer Dauerkrise, analysiert verschiedene Wirtschaftssektoren, vor allem die Landwirtschaft und ihre Defizite, sowie die große Rolle des Militärs in der Wirtschaft.
Ein Abschnitt zur Innenpolitik wird eingeführt mit Kurzbeschreibungen oberster, in westlichen Medien kaum wahrgenommener Führungspersönlichkeiten wie Ramón Machado Ventura und Carlos Lage Dávila. Ein Schwerpunkt ist dann der Darstellung oppositioneller Strömungen gewidmet. Wulffen verweist auf Entwicklungen in der Zivilgesellschaft, die Rolle von Bloggs, das einflussreiche kubanische Exil in den USA sowie auf oppositionelle Kräfte innerhalb der Kommunistischen Partei. Abschließend thematisiert er die „Wiederkehr der Religion“ und die Rolle der katholischen Kirche, die sich seit dem viel beachteten Besuch von Papst Johannes Paul II im Jahr 1998 positiv gewandelt habe.
Im letzten Teil zur Außenpolitik Kubas werden nach einem historischen Rückblick die vielschichtigen Beziehungen Kubas zu den USA, zu Lateinamerika, zur „Dritten Welt“ (Vietnam, Afrika) und zu Europa erläutert. Zu China gibt es hingegen kein Kapitel. Drei Landkarten und 46 Schwarz-Weiß-Fotos runden das Buch ab.
Resümierend verzeichnet Wulffen eine „Aufbruchstimmung“ in der Bevölkerung und ein Erstarken der „unsichtbare[n] Opposition in Partei und Streitkräften, die radikale Veränderungen anstrebt“. Allerdings erwartet er keinen Systembruch. Er beschreibt Raúl als „Realist und Pragmatiker“ und den von ihm „eingeleiteten Umbruch als ‚kontrollierte Evolution‘“.
Das Buch zeichnet sich durch Fundiertheit, Differenziertheit und einen nüchternen Stil aus. Besonders die Abschnitte über Raúl Castro, die Passagen über Strömungen in Partei- und Staatsapparat, führende Persönlichkeiten, die katholische Kirche und das Strafrecht sind Aspekte, die über bisherige Kubabeschreibungen hinausgehen und diese ergänzen.
Gleichwohl artikuliert Wulffen das unreflektierte Credo west-nordatlantischer Politik: Das kubanische Gesellschaftssystem sei obsolet, geradezu eine Fehlkonstruktion, das sich radikal ändern müsse. Eine fragwürdige Haltung angesichts eines westlichen Modells, das selbst Systemfehler und Probleme aufweist. Und so dürfte der Schlussabsatz keineswegs nur für Kuba gelten: „Die Jugend wird kein Geisterhaus dulden, in dem sie sich um ihre Perspektiven betrogen fühlt. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem sie ihre Forderungen immer lauter stellen wird. Sie wird, wenn die Alten ihr nicht zuhören, auf die Straße gehen und Unterstützung erhalten von den Angehörigen der politischen Häftlinge, von der Opposition und von allen Menschen, die endlich mehr Freiheit wollen.“

//Edgar Göll

Bernd Wulffen // Kuba im Umbruch. Von Fidel zu Raúl Castro // Ch. Links Verlag // Berlin 2008 // 271 Seiten // 16,90 Euro

Keynesianismus verzweifelt gesucht

Die Linke Lateinamerikas hat im 20. Jahrhundert viele heroische Geschichten geschrieben. Meist jedoch wurden die Versuche, dem Kapitalismus eine Alternative entgegen zu setzen, durch die USA niedergeschlagen. Die Geschichte der Linken, der sich nun Romeo Rey angenommen hat, verlief alles andere als homogen, es gibt aber dennoch einige Gemeinsamkeiten. Wie eben den ständigen Einfluss der Hegemonialmacht im Norden. Und hier ist schon eines der größten Versäumnisse des Autors zu nennen. Er arbeitet zwar die einzelnen historischen Etappen heraus, bei einer der der wichtigsten Gemeinsamkeiten vieler hoffnungsvoller Aufbrüche, dem Scheitern nach Intervention der USA, bleibt er phänomenologisch.
Sicher, die Supermacht kommt fast in jedem Kapitel vor. Ihr konterrevolutionäres Wesen arbeitet Rey nicht heraus, die Politik erscheint so ohne Zusammenhang. Und so kommt er dazu, den USA gegenüber Kuba ein „kurzsichtiges, ausschließlich repressiv orientiertes Verhalten“ vorzuwerfen. Hat das denn keine Methode? Die Frage wäre zu stellen. Dass Rey sich ihr nicht widmet, ist aber wohl auch damit zu erklären, dass der Internationalismus fast gänzlich unter den Tisch fällt. Fast immer stellt der Autor die revolutionären Entwicklungen in den einzelnen Ländern als singuläre Phänomene dar. War das so, agierten die RevolutionärInnen wirklich für sich alleine? Falls ja, böte dies einen Ansatzpunkt für die Analyse ihres Scheiterns. So weit geht der Autor aber auch nicht.
Dass Rey den Internationalismus nicht übersieht, sondern vermutlich bewusst ignoriert, zeigt sich bei seiner Darstellung Che Guevaras. Denn in Reys Augen ist „der Che“ komplett gescheitert. Allein. Dabei lässt er weg, dass Guevara sich immer international verortete, dass das Scheitern der RevolutionärInnen in den Metropolen mit dem Guevaras eng verknüpft ist. Es scheint Rey hier vielmehr darum zu gehen, jeglichen Versuch der fundamentalen Veränderung der Gesellschaft als unmöglich zu geißeln. Guevaras Forderung eines neuen Menschen, nach Selbstveränderung, ist für Rey in letzter Instanz „Gleichmacherei“, die der menschlichen Natur zuwiderlaufe. Verschiedene soziale Schichtungen seien in einer freien Gesellschaft notwendig. Sein politischer Vorschlag, der sich aus seiner Zusammenfassung und dem ständigen Verweis auf nebulöse „ökonomische Grundgesetze“ herauslesen lässt, ist nicht mehr als ein Aufwärmen des in Europa gescheiterten keynesianischen Staatsinterventionismus.
Keine Frage, es ist ein Verdienst, dass der ehemalige Lateinamerika-Korrespondent von Frankfurter Rundschau und Schweizer Tages-Anzeiger sich der Geschichte der Linken einmal als Ganzes (seit der Mexikanischen Revolution) angenommen hat. Man sollte das Buch aber gegen den Strich lesen. Dann kommt man zur Erkenntnis, dass Hugo Chávez und die anderen VertreterInnen der „Neuen Linken“ Lateinamerikas aus der Geschichte einiges gelernt haben. Der praktische Internationalismus der Bolivarischen Alternative für Lateinamerika ALBA wäre ebenso zu nennen wie die strikte Einhaltung des Realitätsprinzips. Ideologische, ultralinke Politik hat noch jeder Revolution geschadet, das zeigen die Beispiele Chiles und Nicaraguas auf ihre Weise.
Für den Erfolg der Linken war und ist die Verwurzelung in der Bevölkerung ebenso unerlässlich wie der Fokus auf die Basisbewegungen, die anders als im Staatssozialismus nicht zentral gesteuert werden. Darin ist Rey zuzustimmen. Warum er die aktuellen Entwicklungen, bei denen selbstverständlich nicht alles perfekt läuft, nicht positiver darstellt, ist wohl nur mit seinem Keynesianismus zu erklären. Denn die Politik von Chávez, Morales und Co. geht darüber hinaus.
// Helge Buttkereit

„Eine Versorgungsgarantie für alle besteht nicht“

Herr Nascimento, Brasilien gilt neben Kuba hinsichtlich seiner Aids-Politik in Lateinamerika als vorbildlich. Ist das tatsächlich so?
Richtig ist, dass Brasilien allen Betroffenen eine Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten (ARV) garantiert. Die ARV werden zur Behandlung von Aids eingesetzt. Sie unterdrücken die Virusmengen und können das Auftreten von opportunistischen Krankheiten, wie etwa Lungenentzündung, verhindern. Aids ist durch ARV nicht heilbar, die Lebenserwartung der Infizierten steigt aber dadurch. Brasiliens Ruf, eine vorbildliche Aids-Politik zu betreiben, muss jedoch korrigiert werden.

Inwiefern? Immerhin initiierte die Regierung bereits 1985 ein nationales HIV-Präventionsprogramm.
Tatsächlich wurde seit der Erstentdeckung von HIV relativ schnell versucht, eine wirksame Antwort auf die Epidemie zu finden. Falsch ist aber, dass die Initiative zur Bekämpfung von HIV/Aids vom brasilianischen Staat ausging. Vielmehr war es das Engagement der Zivilgesellschaft, das die Regierung zum Handeln zwang – so lautet die These richtig. Bis heute gibt es in Brasilien viele aktive NGO zum Thema Aids. Die Präventionsgruppe GAPA ist die größte davon.

Können Sie das Engagement der Bevölkerung genauer erläutern?
Als HIV Anfang der 1980er Jahre das erste Mal auftrat, wurde diese Tatsache von offizieller Seite zunächst verleugnet. Die tödliche Gefahr, die von dem Virus ausging und die fehlenden Möglichkeiten, HIV zu diagnostizieren und zu behandeln, erzeugten ein Klima der Angst innerhalb der Bevölkerung. Schnell formierten sich Interessenvertretungen. Diese übten Druck auf staatliche Institutionen aus und forderten eine angemessene Lösung – ohne sie hätte die Regierung das Problem vermutlich weiter verdrängt.

Etwa zeitgleich zum Beginn der HIV-Epidemie, nämlich 1985, endete in Brasilien eine 20-jährige Militärdiktatur …
… wenn man so will, trat HIV zum „richtigen“ Zeitpunkt auf, nämlich exakt in der Phase der Redemokratisierung und damit der Erstarkung des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die medizinische Versorgung war damals sehr defizitär und hauptsächlich privat organisiert. 1988 wurde die Verfassung reformiert und – auch auf Druck der Zivilbevölkerung – die staatliche Gesundheitsversorgung, das Sistema Único de Sáude, eingeführt. Theoretisch sollen damit alle BrasilianerInnen adäquat medizinisch versorgt werden.

Gesundheitsversorgung wurde also zunehmend als Recht der BürgerInnen und Pflicht des Staates verstanden?
Genau. Und das Recht auf eine angemessene Behandlung HIV-Infizierter und Aids-Erkrankter schloss dieser Paradigmenwechsel mit ein. Anscheinend mit Erfolg. Immerhin konnte in Brasilien die Epidemie eingedämmt werden. Seit Mitte der 1990er Jahre sind die HIV-Neuinfektionen konstant geblieben und die Zahl der Aids-Toten zurückgegangen. Trotzdem sind große Teile der brasilianischen Gesellschaft von einer adäquaten Behandlungsmöglichkeit weiterhin ausgeschlossen.
Warum? Immerhin garantiert Brasilien seit 1997 allen HIV-Infizierten den freien Zugang zu ARV-Medikamenten.
Die Garantie besteht und begründet Brasiliens Ruf, eine vorzeigbare Aids-Politik zu betreiben. Von einer „Garantie für alle“ zu sprechen, ist jedoch nicht haltbar. Denn nicht alle BrasilianerInnen sind gesundheitlich optimal versorgt. Brasilien ist ja riesig, allein Bahia, einer von 27 Bundesstaaten, ist schon größer als Frankreich. Das Land besteht aus äußerst heterogenen Großregionen. So gilt der wirtschaftlich schwache Norden und Nordosten als „Armenhaus“ Brasiliens, hier ist die Gesundheitsversorgung mitunter miserabel. Im hochindustrialisierten Südosten und Süden hat das Gesundheitssystem hingegen eine höhere Qualität.

Welche Konsequenzen hat das?
Die Konsequenz ist, dass sich die HIV/Aids-Epidemie vom Süden nach Norden ausbreitet. HIV war anfangs ein Problem der großen Metropolen wie Rio und São Paulo. Inzwischen tritt das Virus nun verstärkt im ländlichen Norden und Nordosten Brasiliens auf. Besonders erschreckend ist die rapide Zunahme des Virus unter Frauen, die meist unwissentlich durch ihre Ehemänner angesteckt werden. Von einem Rückgang der Bedrohung kann also nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Epidemie wird zum Armutsproblem. Obwohl die Verteilung der ARV-Medikamente auf Bundesebene geregelt ist, kommen diese in schwer zugänglichen Regionen nicht immer an. Zudem fehlt es in den wirtschaftlich schwachen Staaten häufig an medizinischem Know-how und Infrastruktur, um alle Nebenerkrankungen angemessen zu behandeln. Letztlich führt dieses defizitäre Therapieprogramm zu mehr Aids-Toten in den ländlichen Gebieten. Im ersten Jahr nach Ausbruch der Krankheit sterben im Norden über 20 Prozent der PatientInnen, im Süden sind es nur rund 13 Prozent.

Während sich die Aids-Epidemie im Norden ausbreitet, stagniert sie im Süden. Nun ist das Verhältnis der vornehmlich hellhäutigen SüdbrasilianerInnen zu den dunkelhäutigen NordostbrasilianerInnen mitunter von rassistischen Vorurteilen geprägt. Wird die Ausbreitung des HI-Virus diese Vorurteile noch verstärken?
Nein, das wäre zu einfach gedacht. Rassistische Vorurteile existieren zwar. Dass durch die Aids-Epidemie diese Vorurteile unterfüttert oder gar verstärkt werden, glaube ich jedoch nicht.

Und die katholische Kirche? Trägt sie in den ländlichen Gebieten zur Ausbreitung der Epidemie bei? Etwa, indem sie die Verwendung von Kondomen verbietet?
Auch das trifft nicht zu. Es wäre falsch, die Kirche als „Moralapostel“ zu sehen, die ihre AnhängerInnen bewusst dem HI-Virus ausliefert. Die Kirche nimmt keinen maßgeblichen Einfluss auf die Aids-Politik. Im Falle von GAPA wirkt sie sogar unterstützend, wir bekommen Gelder von der katholischen Organisation Misereor. In absoluten Zahlen ist Brasilien zwar nach wie vor das Land mit den weltweit meisten KatholikInnen. Der Katholizismus als Glaubens- und Hörigkeitsnorm hat jedoch an Relevanz verloren.

GAPA existiert seit über 20 Jahren – was sind die wichtigsten Errungenschaften aus zwei Jahrzehnten Engagement gegen Aids?
Die Arbeit von GAPA gliedert sich in drei Segmente: Aufklärungskampagnen, politische Arbeit und juristische und psychologische Beratung für Infizierte. Wir betreuen jährlich etwa 50.000 Personen. Eine medizinische Versorgung bieten wir bewusst nicht an – das ist die Verantwortung des Staates. Unsere wichtigste politische Errungenschaft ist die erfolgreiche Lobbyarbeit zur Patentbrechung. Brasilien war das erste der so genannten „Schwellenländer“, das von seinem Recht auf Zwangslizenzen Gebrauch machte.

Zwangslizenzen?
Sie wurden 2001 auf Druck der afrikanischen Staaten in das Welthandelsrecht integriert und ergänzen das TRIPS-Abkommen über Handelsrechte und geistiges Eigentum. Die WTO-Staaten verabschiedeten eine Erklärung, nach der eine Aufhebung des Patentschutzes aufgrund dringlicher Gesundheitsprobleme erlaubt ist. Konkret heißt das: Generika dürfen im eigenen Land produziert werden, auch wenn die Herstellerfirmen das Patent nicht freigegeben haben.

Generika sind …
Wirkstoffgleiche Kopien von Originalmedikamenten zur Behandlung von Aids. Generika sind wesentlich preisgünstiger als patentierte Medikamente mit Markennamen, die teuer von internationalen Pharmaunternehmen importiert werden müssen. Die Generika senken die Therapiekosten drastisch.

Und diese Generika werden in Brasilien hergestellt?
Bereits 1996 gab es einen Ministerbeschluss zur Produktion, heute werden sieben von 17 weltweit verfügbaren ARV in Brasilien produziert – und damit zu verträglichen Preisen verkauft. Die restlichen Medikamente müssen nach wie vor importiert werden. Auch weil Brasilien, anders als etwa Indien, bisher nicht intensiv in die medizinische Forschung investiert hat. GAPA ist nicht nur im eigenen Land aktiv, sondern berät andere NGO in elf Ländern Lateinamerikas und Afrikas zum Themas Aids. Auf der Welt-Aids-Konferenz 2002 in Barcelona bot Brasilien anderen Entwicklungsländern an, sie im Rahmen einer Süd-Süd-Kooperation zu unterstützen. GAPA bemüht sich konkret, dass NGO mit anderen Inhalten die Aidsaufklärung in ihre bisherige Arbeit wie selbstverständlich integrieren. In Haiti arbeiten wir mit Vereinigungen von LandarbeiterInnen zusammen und in Afrika pflegen wir Beratungs-Kooperationen mit NGO aus Angola und Mozambique. Die Länder gehören wie Brasilien zur Gemeinschaft portugiesischsprachiger Staaten CPLP.

Man könnte also von einer internationalen Entwicklungshilfe Brasiliens sprechen?
Falsch. Man könnte von einer Beratungshilfe der Zivilgesellschaft gemeinsam mit dem brasilianischen Staat sprechen – das ist ein Unterschied.

KASTEN

Nascimento, harley
Die HIV/Aids-Rate in Brasilien liegt laut den Vereinten Nationen bei 0.61 Prozent. Das sind 730.000 infizierte BrasilianerInnen zwischen 15 und 49 Jahren. Laut dem brasilianischen Gesundheitsministerium starben seit 1980 über 192.000 Brasilianer an Aids.

Harley Henriques do Nascimento (40) ist Chefkoordinator von GAPA-Bahia (Grupo de Apoio à Prevenção à Aids da Bahia). Der studierte Betriebswirt gründete die NGO 1988 im Alter von 20 Jahren. GAPA ist heute die größte NGO Brasiliens zum Thema Aids und hat ihren Sitz in Salvador da Bahia. Die NGO tritt für die Umsetzung einer effizienten Aids-Politik im Land ein. Dabei versucht sie, vor allem die Schichten der Bevölkerung mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung einzubeziehen.

Die Macht der Erinnerung

Noch ist ein Jahr Zeit, aber schon jetzt ist absehbar: Das Jahr 2010 wird für Lateinamerika ein Super-Gedenkjahr. Von Chile bis Mexiko stehen die Zweihundertjahrfeiern der ersten Unabhängigkeitserhebungen an, und da der endgültige Erfolg in manchen Ländern bis 1824 auf sich warten ließ, müssen wir uns auf einen wahren Gedenkmarathon gefasst machen. Damit nicht genug: Im November 2010 jährt sich der Ausbruch der Mexikanischen Revolution zum hundertsten Mal, und auch die hat einige Jahre gedauert.
Es wäre nun ein Wunder, wenn nicht viele politische Akteure versuchen würden, diese historischen Referenzpunkte für sich auszuschlachten, den einen oder anderen Aspekt dieses oder jenes Freiheitskämpfers herauszuklauben und zu behaupten, das sei ein Vorläufer des eigenen Projekts und wenn die politischen Gegner ihn auch für sich beanspruchten, sei das übler Missbrauch.
Dass das Jahrbuch Lateinamerika sich in seinem 32. Jahrgang dem Thema „Erinnerung“ widmet, ist (nicht nur) von daher eine gute Entscheidung. Auch wenn der Schwerpunkt auf anderen inhaltlichen Themen liegt – es geht vorrangig um das Erinnern an Militärdiktaturen und andere Gewalterfahrungen – ist das Problem doch dasselbe: der Umgang mit Geschichte ist „ein offener Prozess (…) in dem permanent um Deutungshoheit und gesellschaftliche Macht gerungen wird“. Insofern trifft der Titel erinnerung macht geschichte, auch wenn das zweideutige „macht“ etwas abgegriffen sein mag, ins Schwarze.
Wenn Geschichtsdeutung auch eine Machtfrage ist, bedeutet das noch lange nicht, dass die von der Macht Ausgeschlossenen automatisch mit ihren Vereinnahmungen Recht haben. Dass aber die Mächtigen tendenziell eher Missbrauch betreiben, liegt auf der Hand: Sie sitzen, was das Bereitstellen von Artikulationsmöglichkeiten anbelangt, am längeren (oder am einzigen) Hebel.
Vorreiter einer intensiven und vor allem auch in der Öffentlichkeit breit akzeptierten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist Argentinien. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass stattliche fünf Beiträge in diesem Jahrbuch ganz oder überwiegend vom Umgang mit der argentinischen Militärdiktatur (1976-83) handeln.
An der Frage der Gedenkstätten wird deutlich, wie bedeutsam es ist, ob Regierung und staatliche Institutionen das öffentliche Erinnern fördern oder nicht. Denn die Aufhebung der Amnestiegesetze unter Präsident Néstor Kirchner (2003-07), aufgrund derer die meisten Diktaturverbrechen unbestraft geblieben waren, fand zwar in den europäischen Medien ein großes Echo. Weitgehend unbeachtet blieb hingegen, dass in seiner Regierungszeit eines der größten Folterzentren, eine „der wichtigsten Koordinaten im durchgeplanten System des ‚anti-subversiven Kampfes‘“, zur Gedenkstätte umfunktioniert worden ist: die ESMA (Escuela Superior de Mecánica de la Armada). Aus deutscher Perspektive fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass dies sensationell war. Ist es doch hierzulande normal, dass Orte von Diktaturverbrechen umgewidmet werden. Hier aber musste die argentinische Marine das Gelände räumen.
Annette Nana Heidhues berichtet in ihrem Beitrag von der Umwandlung der ESMA und vergleicht diesen Vorgang mit anderen, ebenfalls neu als Gedenkstätten genutzten Orten des Diktaturverbrechens. Auf dem Höhepunkt ihres äußerst lesenswerten Beitrags zeichnet sie die Diskussion nach, die sich nun über die Nutzung der ESMA-Gedenkstätte entsponnen hat. Partiell rekonstruieren? Mit Informationstafeln ausstatten und ansonsten sich selbst überlassen? Oder das Gelände zu einem Veranstaltungs- und Bildungszentrum umgestalten? Die offene Debatte selbst wird zum „Denkmal“ für die Opfer der Diktatur, eine Debatte, die in einem 2005 von Marcelo Brodsky herausgegebenen Band (Memoria en construcción. El debate sobre la ESMA, Verlag la marca) dokumentiert worden ist.
Wie sehr die gesellschaftliche und politische Nichtanerkennung das Erinnern an Gewaltverbrechen behindern kann, zeigt ein Beitrag von Anne Becker und Olga Burkert. Unter dem Titel Hijos argenmex stellen sie die Versuche von Opferkindern aus Argentinien und Mexiko einander gegenüber, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden: In Mexiko stoßen die hijos (Söhne und Töchter) auf taube Ohren. Warum gerade in Mexiko, dem einzigen großen lateinamerikanischen Land, dem im 20. Jahrhundert eine Militärdiktatur erspart geblieben ist? Eben deshalb, wegen des vergleichsweise positiven Images. Die Aufnahmebereitschaft für chilenische Flüchtlinge unter Präsident Echeverría (1970-1976), die stabilen Beziehungen zu Kuba, als das restliche Lateinamerika die Kontakte abgebrochen hatte, das lässt die 3000 Opfer im Anti-Guerilla-Kampf gern übersehen. Das Thema war und wird verdrängt, und wo eigentlich an die Vorgänge erinnert und der Opfer gedacht werden sollte, muss zunächst einmal informiert werden.
Wiederum aus Argentinien kommen erste Überlegungen von ehemaligen Guerilleros und Guerilleras der Montoneros, das eigene Handeln kritisch in den Blick zu nehmen. Vielleicht hat die öffentliche Anerkennung der Diktaturopfer den Weg dafür geebnet. Pilar Calveiro, eine ehemalige Montonera, spricht mit Anne Huffschmid über dieses heikle Thema, das reichlich Treibstoff für die Selbstrechtfertigungsstrategien der Rechten zu bieten droht. So bleibt Calveiro sehr vorsichtig und spricht zunächst einmal die Morde an, die die Guerillagruppen an tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern verübt haben: Man müsse „die Möglichkeit haben, das als mögliche Praxis des Politischen zu verwerfen“. Wer so formuliert, fühlt sich wohl von vielen Seiten angegriffen.
Ein Jahrbuch muss nicht auf Vollständigkeit bedacht sein, dennoch schmerzen die vielen Lücken. Nur knapp wird über Peru (Wahrheitskommission) berichtet, und man liest nichts über (zum Beispiel) Kolumbien, Kuba, Brasilien, El Salvador oder Nicaragua. Die vielen Argentinienbeiträge zeigen zugleich, dass systematische Länderbeiträge nicht unbedingt besser gewesen wären, denn die Komplexität, in der Argentinien durch die verschiedenen Artikel erscheint, ist äußerst interessant. Aber auch die Texte über den chilenischen „11. September“ (Stefan Rinke), über Hugo Chávez und Simón Bolívar (Karin Gabbert) oder über die überraschend positiven Auswirkungen des Interamerikanischen Menschenrechtssystems (Ruth Stanley) helfen weiter. Bleibt anzumerken, dass man vom Korrektorat wenigstens erwartet hätte, die betonungsrelevanten Akzente im Spanischen richtig zu setzen, und auch der eine oder andere Auswuchs soziologischen Jargons, insbesondere bei dem bedrückenden Text zu den Opferkindern in Argentinien und Mexiko, hätte noch in verständliches Deutsch gebracht werden können.
Das einleitende Editorial endet mit dem umgekehrten Titel: „gegenwart macht erinnerung“. Wird dies als der Anspruch gedacht: Es hängt auch von uns ab, woran und wie man sich erinnert!, dann darf man sich diesen instruktiven Band nicht entgehen lassen.

Aus den Tiefen herauskommen

Tief war das Wasser vor der Küste bereits, als Christoph Kolumbus vor über 500 Jahren Anker werfen ließ. „Agúas hondas“ nannte er das mittelamerikanische Land – Honduras. „Der Name hat unser Land seither geprägt, aus den Tiefen sind wir nie herausgekommen“, beklagt Alfredo Bográn, Gewerkschafter und Aktivist des linken Bloque Popular (Populärer Block). Zumindest einen Hoffnungsschimmer sieht Bográn, denn Anfang Oktober ratifizierte der Nationalkongress einmütig den Beitritt des Landes zur Bolivarischen Alternative für die Völker Unseres Amerikas (ALBA). Die damit verbundene Unterstützung aus Venezuela kommt wie gerufen, denn die Armutssituation in Honduras ist fatal: Bis zu 80 Prozent der Menschen – vor allem in den ländlichen Gebieten – leben in Armut und können ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Das Land ist nach Haiti und Nicaragua eines der ärmsten der Region. Die mit ALBA verbundene Hilfe ist dann wohl auch der wahre Grund für den Beitritt in das Wirtschaftsbündnis. Denn Präsident Manuel Zelaya Rosales von der regierenden liberalen Partei PLH ist alles andere als ein Linker. Er gewann die Präsidentschaftswahl vor allem mit einer Kampagne gegen kriminelle Jugendbanden – die sogenannten maras sind ein großes Problem in Honduras, genau wie in den Nachbarländern Guatemala und El Salvador – in der er den „starken Staat“ beschwor.
Außer Textil-Maquiladoras gibt es im Land kaum Industrie und diese ist aufgrund der Konkurrenz aus China unter starken Druck geraten. Viele Anbauflächen für Bananen und Kaffee sind verwaist,seitdem der Weltmarktpreis für diese Produkte in den Keller gesunken ist. „Es gibt kaum reguläre Arbeitsplätze in Honduras außer im schlecht bezahlten öffentlichen Dienst oder den Maquilas mit Arbeitsbedingungen, die an Sklaverei erinnern. „Wer kann, verkauft irgendwie irgendwas auf der Straße. Aber Exportprodukt Nummer Eins sind Arbeitskräfte, die es vor allem in die USA zieht“, erklärt Edith Zavala vom Netzwerk der honduranischen Migrantenorganisationen. Mehr als eine Million der gut 7,5 Millionen HonduranerInnen wanderte aus, in die USA, nach El Salvador oder nach Spanien. Die Überweisungen der MigrantInnen an ihre Familien machen fast ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes aus. Kein anderes Land der Region hängt wirtschaftlich so sehr am Tropf dieser remesas, den Geldüberweisungen aus dem Ausland. Jedoch sind diese Zahlungen aufgrund der Wirtschaftskrise in den USA derzeit rückläufig, insbesondere weil viele HonduranerInnen im dortigen Baugewerbe arbeiten und dieses von der Immobilienkrise besonders stark betroffen ist. Venezuela wird im Rahmen der ALBA-Mitgliedschaft nun Kredite für Kleinbäuerinnen und -bauern in Höhe von 30 Millionen US-Dollar gewähren, 100 Traktoren liefern sowie Programme im Bildungs- und Gesundheitssektor fördern. Zudem profitiert das Land bereits durch die Petrocaribe-Mitgliedschaft davon, dass es die Hälfte seiner Rohölrechnung bei Venezuela nicht sofort, sondern erst in 25 Jahren zahlen muss. Dabei gilt ein Zinssatz von nicht mehr als einem Prozent. Das Land kann zudem in in Form von Nahrungsmitteln oder anderer Exportprodukte zahlen.
Zu Zeiten der bewaffneten Konflikte in Zentral­amerika unterhielten die USA in Honduras einen ihrer wichtigsten militärischen Stützpunkte von wo aus sie ihre Operationen gegen die regierenden sozialistisch orientierten SandinistInnen der FSLN in Nicaragua und die linken FMLN-RebellInnen in El Salvador durchführten. Mit dem Ende dieser Konflikte in den 90er Jahren sank das US-Interesse an Honduras erheblich. Die gringos sind den HonduranerInnen aber nicht erst seit dieser Zeit verhasst. Jedoch gründet sich diese Ablehnung in der Regel nicht auf eine politische Basis. In den Nachbarländern Nicaragua, Salvador und auch Guatemala gibt es eine lange Tradition linker Widerstandsbewegungen, deren Denkschulen beispielsweise Intellektuelle hervor gebracht haben, deren Ideen auch heute in den jeweiligen Universitäten eine wichtige Rolle spielen. In Honduras gab es keine vergleichbare Bewegung. Das Land war sicheres Terrain für die reaktionären CONTRAs, welche die sandinistische Regierung in Nicaragua stürzen wollten.
„Die honduranische Linke träumte nie von einer Partei, wir wollten stets nur soziale Bewegung sein“, sagt Alfredo Bográn vom Bloque Popular (BP). Dieser Zusammenschluss aus radikalen GewerkschafterInnen und AktivistInnen aus Basiskomitees ist eine der wichtigsten Formationen der politischen Linken. In ihrer Monatszeitung Vida Laboral berichten sie von politischen Auseinandersetzungen, rufen zu Solidarität bei politischer Repression auf und wollen das historische Gedächtnis der populären Bewegung sein, indem sie an deren historische Persönlichkeiten erinnern. Öffentlichen Widerhall fand die vom BP unterstützte Kampagne gegen die von den Stadtregierungen in San Pedro Sula und anderenorts vollzogene Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung. „Die Privatisierungen waren von der Zentralregierung gewollt. Den Kampf dagegen haben wir vorerst verloren, aber wir konnten unsere Bewegung aufbauen und neue Aktivisten um uns scharen“, berichtet Bográn. Im April dieses Jahres traten einige StaatsanwältInnen in den Hungerstreik. Sie demonstrierten auf diese Weise gegen die in Honduras systematische Korruption. Daraus entwickelte sich eine bis heute anhaltende Massenbewegung, die den Kampf gegen Korruption zu einem Hauptanliegen der sozialen Bewegung macht. Die zwei im Parlament vertretenen sozialdemokratischen Splitterparteien haben nach Meinung Bográns keine organische Beziehung zur außerparlamentarischen Bewegung und fristen im Parlament ein Schattendasein.
Zumindest den Zungenschlag hat Präsident Manuel („Mel“) Zelaya hinsichtlich der Privatisierungen geändert. Als der Staatschef im August erklärte, warum er für den ALBA-Beitritt seines Landes eintrete, fragte er rhetorisch: „Wer hat behauptet, dass Honduras vorankommt, wenn das Wasser, die Luft und der öffentliche Dienst privatisiert werden?“. Statt dessen sei der Aufbau eines alternativen Modells zur Bekämpfung der Ausgrenzung und der Armut wichtig. „Wenn das System, welches in Honduras 40 Jahre lang den Ton angegeben hat, diese Probleme gelöst hätte, dann würden wir uns nicht für den Sozialismus Südamerikas interessieren“, fügte er hinzu. Zelaya sieht die Alternative für sein Land in einem „sozialistischen Liberalismus“, der Privatwirtschaft und ArbeitnehmerInneninteressen gleichermaßen respektiere. Für den Vertreter einer Partei, die wie die deutsche FDP der Liberalen Internationale angehört, sind das ungewöhnliche Worte. Und es gibt in Honduras auch starke politische Kräfte, die ihm das übel nehmen. Dies tut zum Beispiel der Unternehmerverband COHEP, dessen Vorsitzender erklärte, Honduras trete mit der Ratifizierung einer „ideologischen, politischen und militärischen Allianz bei, die der Geschichte, den Werten und Verpflichtungen von Honduras widerspricht“.
Symbolisch nach links gerückt war Zelaya bereits seit einiger Zeit. So nahm er als einziger liberaler Staatschef an den Feierlichkeiten zu den Jahrestagen der Sandinistischen Revolution in Nicaragua teil. Seitdem er an der ALBA-Mitgliedschaft interessiert war, forderte er ein Ende der US-Blockade gegen Kuba. Der sozialistische Karibikstaat habe Honduras und seinem Volk immer die Hand gereicht, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen, sagte Zelaya in Hinblick auf die geleistete medizinische Hilfe. „Zelaya ist ein Mann der politischen Rechten, aber ist der erste Präsident seit Jahrzehnten, der etwas für die Armen tut und Kleinbauern konkrete Hilfe wie Saatgut und Maschinen zur Verfügung gestellt hat“, sagt Alfredo Bográn. Linke Oppositionelle werden aber weiterhin verfolgt. Erst in diesem Jahr kursierte eine „schwarze Liste“ mit Namen von Gewerkschaftsfunktionären, unter anderem der von Rosa Altagracia Fuentes. Die Vorsitzende der ältesten und größten ArbeiterInnengewerkschaft von Honduras CTH wurde Ende April dieses Jahres in einem Hinterhalt erschossen.
Welche Gegenleistung Venezuela für die durch den ALBA-Beitritt gewährten Vorteile indes bekommt, bleibt offen. Bislang gibt es keine Grundlagen einer gemeinsamen Außenpolitik, nicht einmal einer Zollpolitik. Es gibt Vereinbarungen zu militärischer Zusammenarbeit, vor allem aber verteilt die sozialistische Regierung von Hugo Chávez großzügig den Ölreichtum unter den Bedürftigen.
„Mel Zelaya ist ein ehrlicher Mann, der sein Herz für die Armen entdeckt hat, aber in seiner Partei hat er für seine Politik keinen Rückhalt“, berichtet auch Omar Rodriguez vom Vorstand der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes in San Pedro Sula. So sehen es viele und für Überraschung sorgte die Meldung, dass am Ende doch alle 62 Abgeordnete der Liberalen im Nationalparlament der ALBA-Ratifizierung zustimmten. Die Konservativen boykottierten die Abstimmung hingegen.
Doch kommt das Aus für ALBA bevor die Mitarbeit im progressiven Staatenbund überhaupt begonnen hat? Präsident Zelaya darf bei den Wahlen im kommenden Jahr kein weiteres Mal antreten. Und mit Mauricio Villeda setzte sich Anfang Dezember in der Liberalen Partei (PLH) des regierenden Präsidenten ein rechter Kandidat für das höchste Staatsamt durch, der den Kurs der jetzigen Regierung nicht fortführen will. Darin ist er sich einig mit dem am gleichen Tag gekürten Spitzenmann der konservativen Nationalistischen Partei, Porfirio Lobo. Einer der beiden wird die Wahlen im April gewinnen. Daran gibt es kaum einen Zweifel, denn eine linke Wahlalternative fehlt in Honduras.
„ALBA hat bei der honduranischen Regierung keine Zukunft“, titelte deshalb auch jüngst die alternative honduranische Nachrichtenagentur Común Noticias in einer Erklärung. „In der aktuellen Regierung gibt es nur sehr wenige FunkionsträgerInnen, welche ALBA positiv gegenüber stehen. Sogar die Mehrheit dieser sieht nur die Millionensummen, die in das Land fließen, aber sie teilen nicht die Idee eines Projektes für die gegenseitige Unterstützung zwischen Völkern, die eine seit Jahrhunderten bestehende Abhängigkeit überwinden wollen“. ALBA werde mehr als eine komplementäre Finanzquelle zu USAID, der Europäischen Union, dem IWF und der Weltbank gesehen. Die KritikerInnen zeigen sich zudem besorgt bezüglich der Verteilung der ALBA-Gelder: „Die Millionen sollen von den korrupten Institutionen des Staates verteilt werden. Leider werden sie sich nur selbst bereichern, denn es gibt keine Kontrolle“. Einziger Ausweg sei der organisierte Kampf der populären Sektoren für ALBA und gegen die Korruption.
// Torge Löding

Die Revolution ist…

Am 1. Januar 1959 floh der Diktator Batista vor der von Sieg zu Sieg eilenden Guerilla um die Castrobrüder, Che Guevara und Camilo Cienfuegos nach Miami. Am Tag darauf besetzte die Armee der RebelInnen Havanna und Santiago: der Triumph der kubanischen Revolution war perfekt. 50 Jahre sind seitdem vergangen, ein schöner Grund für die LN wieder einen genaueren Blick auf Insel zu werfen. Welche großen Entwicklungen lassen sich mit historischer Distanz erkennen? Wie gestaltet sich der Weg unter dem neuen offiziellen Staatschef Raúl Castro? Welche Erinnerungen verbindet die kubanische Bevölkerung heutzutage mit den fünf Jahrzehnten des revolutionären Kubas?

Eine Fotostrecke von Barbara Buxbaum begleitet die Artikel und dokumentiert die Allgegenwart der revolutionären Geschichte des Landes im öffentlichen Raum der Insel. „Revolución es…“ deklarieren knallig-bunte, große Schilder neben den Landstraßen, „Socialismo o Muerte“ steht verblassend auf den Häuserwänden. Wo in anderen Ländern kommerzielle Produkte beworben werden, oder Graffiti-Sprüche Standpunkte deutlich machen, wird auf Kuba die Revolution thematisiert und propagiert. Unzählige Abbilder und Zitate von Che Guevara, Fidel Castro, Camilo Cienfuegos oder José Martí prägen das Bild sowohl städtischer und ländlicher Gegenden auf der gesamten Insel. Werbung im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Die Reklame‑
tafeln rotieren um eine einzige universelle Botschaft: Die Revolution ist das höchste Gut.

Die stete Präsenz dieser historischen, propagandistischen Aussagen und Durchhalteparolen wirkt wie ein stilles Zeugnis einer bewegten, aber bereits vergangenen Zeit. Doch zeigt sich wiederum auch eine Dynamik, indem aktuelle Ereignisse aufgegriffen werden: Sei es die Solidarität mit Venezuela, die anti-imperialistische Agitation rund um die US-amerikanische Interessenvertretung in Havanna, oder wenn es um Guantanamo geht. So werden die staatlichen Slogans erneuert und festigen ihre Präsenz in den Köpfen der Bevölkerung. Der öffentliche Raum zeigt so eine Geschlossenheit Kubas im revolutionären Gedankengut an jeder Straßenecke, an unzähligen Mauern, Garagen, Aufstellern, Statuen und den zahllosen Werbetafeln, wie sie von der Regierung erwartet wird: „Revolución es unidad“ – Revolution ist Einheit.
// LN

Zwischen Revolution und Reform

Kuba ist die Insel der Revolution par excellence in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte Lateinamerikas und die Geschichte der Beziehungen zwischen Lateinamerika und den USA wäre ohne die kubanische Revolution anders verlaufen. Auch in den Zeiten der so genannten beschleunigten Globalisierung seit 1990, für das Land eine Zeit der tiefsten Krise, hat Kuba zumindest diskursiv im Innern des Landes die Rhetorik von der Revolution, beibehalten.
Das heutige Kuba ist das Ergebnis dieser Revolution und der tiefer reichenden Geschichte der Insel, nicht etwa das Ergebnis der Herrschaft einer Diktatur oder zweier Brüder, wie in vielen Talkshows, Feuilletons und Fernseh-Formaten gerne dargestellt. Aus dem Blick spätkapitalistischer Gesellschaften stellte die kubanische Gesellschaft seit spätestens 1962 eine Anomalität dar; aus Sicht der Masse der KubanerInnen und vieler Menschen der damaligen „3. Welt“ war es das Modell einer gerechten und egalitären Gesellschaft, die allen Menschen Kubas gleiche Rechte und Chancen bot sowie der entstehenden „3. Welt“ die Solidarität Kubas. Etwa 80 Prozent aller KubanerInnen, die nicht zur Oberschicht oder zu oberen Mittelklassen gehörten, haben die Chancen dieser neuen Gesellschaft genutzt. In der realen Geschichte hat Kuba, spätestens 1957-1959 und 1959-1967, zwei Seiten einer wirklichen Revolution erlebt. In der ersten Phase 1957 bis 1959 war es ein Guerilla-Krieg, der mit dem Sturz der korrupten und brutalen Regierung von Fulgencio Batista endete. Die zweite Phase von 1959 bis 1967 war die Zeit als sich neue Machtinstitutionen – etwa die revolutionäre Regierung unter Fidel Castro mit mando único (einer Befehlsgewalt), die Milizen, die Partei – sowie der sozialen Revolution im Innern. Gleichzeitig gab es Versuche, das Umfeld, vor allem Lateinamerika, aber auch den Kongo in Afrika, zu revolutionieren. Die Versuche des Revolutionsexportes durch Unterstützung anderer antikolonialer und/oder revolutionärer Bewegungen zogen sich noch bis zur Intervention 1989/90 in Angola hin. Diese Interventionen wurden bald komplettiert durch den Einsatz ziviler Kräfte, vor allem LehrerInnen und ÄrztInnen, im befreundeten Ausland. Im Innern aber waren die Potenzen eines Aktionsprogrammes, das wirklich den Namen Revolution verdient hätte, mit dem Tod Che Guevaras 1967, spätestens aber mit dem Versuch des „großen Sprungs auf kubanisch“, der gran zafra (großen Zuckerernte) von 1970, ausgeschöpft und aufgebraucht.
Was ist dann mit dem begrifflichen und realhistorischen Kontrapart der „Revolution“, der Reform? Zunächst wurde mit den Begriff der „reforma“ die großen, eigentlich sozialrevolutionären Umwälzungen nach dem Sieg der politisch-militärischen Revolution benannt: reforma agraria, die Agrarreform seit 1959/1960, war die größte Agrar­umwälzung Lateinamerikas seit der haitianischen Revolution 1804, oder reforma urbana, die Stadtreform, seit 1959.
Die kubanische Revolution in ihrer Langversion, war auch deswegen eine tiefe politische und soziale Umgestaltung, weil sie sich auf Klassen stützte – auf Bauern und Bäuerinnen, ZuckerarbeiterInnen und urbane Mittelklassen der kubanischen Bevölkerung. Hauptziele waren Gleichheit, nationale Souveränität und Internationalismus.
Egalitäre Gesellschaften haben zwei Grundprobleme – zum einen müssen sie sich nach außen in einer Welt mächtiger, nichtegalitärer und hierarchischer Staaten verteidigen. Andererseits beraubt die fehlende interne Hierarchisierung die Wirtschaft ihrer wichtigsten Antriebe – der Konkurrenz und der Angst. Das fördert monolithische, auf charismatische Anführer zugeschnittene Herrschaftssysteme, die allerdings für längere Zeit auf hohe Zustimmungen setzen können. Das ist das „Geheimnis“ der langen Herrschaft der Castro-Brüder. Dazu kommt natürlich noch die fast ideale Ergänzung der beiden Brüder schon lange vor dem offizielle „Machtwechsel“ 2008: Fidel der charismatische Intellektuelle, ein politisches Tier, ein Magier politischer Konstellationen, und Raúl, der loyale Bruder und interne Kaderchef der Revolution, abgesichert durch Armee, Geheimdienste und alle bewaffneten Kräfte. Noch heute, da die sozialen Errungenschaften – wie das Schulwesen, das gute Gesundheitssystem, die gute Sicherheitssituation, das Fehlen von Hunger – schon ziemlich ramponiert sind, können in den meisten Länder Lateinamerikas die jeweiligen 80 Prozent-Mehrheiten von „kubanischen Verhältnissen“ nur träumen.
Notwendige Anpassungen und Änderungen heißen auf Kuba nicht Reformen, sondern weiterhin „revolución“. Die kubanische Führung will auf keinen Fall unter Verdacht kommen, sie bestehe aus Reformisten. Eine erste Phase von Reformen als diskursive „revolución“ hat Kuba zwischen 1970 und 1986 erlebt, als es Versuche zu Effektivierung der Wirtschaft nach „sozialistischer Rechnungsführung“ und die erste Einführung von privaten Bauernmärkten gab. Das führte vor allem in der zweiten Hälfte der Siebziger, zusammen mit den großen Errungenschaften der sozialen Umwälzung zu einer deutlichen Verbesserung aller grundlegenden Daten wie geringer Säuglingssterblichkeit, hoher Lebenserwartung, Bildung, besserer Ernährungsstand und Gesundheit der Bevölkerung. Gleichzeitig kam es auch zu einem höheren Grad an Uniformierungsdruck und Repression, weshalb diese Epoche auch als „graue Siebziger“ bekannt wurde. In gewisser Weise setzten sich diese Reformen, trotz Zucker- und Finanzkrise seit 1982, fort. Der Versuch, einer stärkeren Öffnung hin zum Markt und zur wirtschaftlichen Rechnungsführung wurde seit spätestens 1986 durch Fidel Castro selbst abgebrochen und durch eine neue Runde diskursiver Revolutionierung, mit deutlichem Bezug zum Mythos des Che Guevara, abgelöst.
Trotz aller Schwierigkeiten gaben die Elemente eines Sozialstaates Kuba seine Strahlkraft bis 1990. Mit der Krise 1990 – die weltweit eben nicht nur aus der deutschen „Wiedervereinigung“ bestand – traten drei miteinander verwobene historische Elemente in der Vordergrund, die die Insel nachhaltig veränderten. Ersten wurde die „revolutionäre Außen-, Symbol- und Modellpolitik“, die die kubanischen kommunistischen Eliten mit einiger Berechtigung und in der Annahme betrieben, Havanna sei immer noch, wie schon seit ca. 1830, Schnittpunkt der atlantischen Welt, zu teuer. Zweitens brach der „Realsozialismus“ zusammen und entzog Kuba die Unterstützung eines Imperiums. Alle Eliten der Insel bis dahin hatten sich auf ein Imperium bezogen, in der historischen Abfolge waren dies das Spanische Imperium bis 1898, die USA bis 1959, die UdSSR und der Realsozialismus bis 1990 und schließlich auch ab 1996, für circa fünf Jahre, die EU. Drittens hatte die egalitäre Gesellschaft angesichts einer ganzen Generation im sozialistischen Kuba geborener „neuer Menschen“ schon in den achtziger Jahren ihre Grenzen erreicht. Eigentlich wären Leistung und Aufstieg auf neuer, sozialistischer Grundlage und wirkliche wirtschaftliche Reformen das Gebot der Stunde gewesen. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus kam es zwischen 1992 und 1993 zur bis dahin tiefsten Krise des Landes. Jetzt wurde wirklich das Herrschaftssystem der Castros wichtig – in erster Linie verhinderte es den Zusammenbruch, zusammen mit der Tatsache, dass es in ehemaligen kolonialen Sklaverei-Gesellschaften des peripheren Kapitalismus viele egalitär fühlende Menschen gibt. Nun traten auch repressive Seiten stärker hervor. Zugleich scheiterte die Regierung bei der sozialen Verankerung der notwendigen Reformen, die zwischen 1990 und 1997 als erste Phase des so genannten periódo especial, der „Speziellen Periode“, einfach zugelassen werden mussten. Es wurden unter anderem internationaler Tourismus gefördert, der Dollar als Zahlungsmittel legalisiert, Bauernmärkte eingerichtet und private Restaurants zugelassen. Die realen Änderungen führten aber nicht dazu, dass Kuba als einzige westliche Gesellschaft bewies, dass „Reformen im Sozialismus“ erfolgreich sein können. Vielmehr wurden parallel der Außensektor und die inzwischen „normale“ Gesellschaft betont, obwohl der Schwarzmarkt boomte und lokale Klientelschaften blühten. Für die Armee, ÄrztInnen, SportlerInnen und KünstlerInnen gab es partikulare Privilegien. Die Errungenschaften der Revolution, etwa im Gesundheits- und Bildungsbereich, waren noch da – aber sie verfielen und viele Ärzte befanden sich auf internationalen Missionen. Die KubanerInnen mussten sich im Alltag an die Verhältnisse einer Krise und an eine informelle hierarchisierte Gesellschaft mit Schwarzmärkten gewöhnen, während die Regierung den egalitären Diskurses beibehielt. Die Castros getrauten sich nicht, die wirklich großen internen Probleme anzugehen – konsequente Verjüngung der Politik, mehr Markt im Sozialismus, konsequentes Steuersystem, Verrechtlichung, Umweltpolitik und vor allem: Agrarreformen und urbane Reformen, die wirklich sozialen Wohnungsbau, Nahrungsmittelsicherheit und gerechte Verteilung des Wohnraums ermöglichen würden.
Es kam aber auch nicht zu einer Revolution der KubanerInnen gegen die Castros und den Castroismus. Ganz im Gegenteil, bereits seit Mitte der 1990er Jahre wurde deutlich, dass Fidel Castro weltweit und vor allem in Lateinamerika immer mehr zum Mythos und sozusagen zum Großvater von Revolution und linken Bewegungen verklärt wurde. Im Innern Kubas wurde schon zu Beginn der neunziger Jahre die „Spezielle Periode“ ausgerufen, die quasi mit Mitteln des Kriegskommunismus und eines verstärkten Nationalismus die sozialen Errungenschaften notdürftig erhalten sollte. Die Regierung wollte die Krise auf viele Schultern verteilen und verteilte Medikamente, Essen und Geräten wie zum Beispiel Fahrräder, es wurden Küchengärten in den Städten zugelassen und private Schweine- und Hühnerhaltung in städtischen Wohnungen gefördert. Nach außen wurden halbherzige Reformen in Richtung Marktöffnung gemacht, zum Teil auch von außen – etwa in der Form von joint ventures mit Unternehmen – zugelassen. Der Staat drückte auch die Augen bei Schwarzmärkten zu. Seit 1993 wurde der Gebrauch des Dollars als erstes Zahlungsmittel in den Sektoren, in denen der Staat Marktbeziehungen zulassen wollte, nicht mehr bestraft und diente im Innern als zweites Zahlungsmittel. Damit wurde der rapide Verfall der kubanischen Währung gestoppt, deren Austauschverhältnis zum Dollar 1993 zeitweilig 1:130 betragen hatte. 1994 pegelte sich die Relation zwischen Dollar und kubanischem Peso auf eine Ratio zwischen 1:20-1:25 ein. Private Bauernmärkte und „Arbeit auf eigene Rechnung“ – etwa im Handwerk oder bei Restaurants – belebten die Wirtschaft. Größere Teile des Bodens wurden Genossenschaften überlassen, allerdings nicht als Eigentum.
Seit 1997 wurde aus Angst vor zunehmender Differenzierung begonnen, selbst diese bescheidenen Anfänge von Reformen im Sozialismus abzuwürgen. Kuba ging über zur letzten Phase der direkt von Fidel Castro verantworteten Wirtschaftspolitik. Der Abbruch der Reformen war relativ leicht. Einerseits gab es das rechte Bush-Amerika, andererseits den Linksruck in Lateinamerika; vor allem die Hilfe Venezuelas war wichtig. Auf Kuba selbst gab es massive Kritik an den Verletzungen der „Gleichheit“. Während der Reformen 1993-1997 entstanden informelle Hierarchisierungen – Bauern und Handwerker, Kellner und Taxifahrer sowie jineteros/as (Prostitutierte) standen schnell besser da als die Stützen des Systems. Eines wurde allerdings nicht gesagt – alle „neuen Reichen“ bedienten sich des Schwarzmarktes, den die Regierung stillschweigend akzeptierte, um nicht das heiße Eisen „Reformen im Sozialismus“ angehen zu müssen.
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre versuchte die kubanische Führung, paralell zum wieder einsetzenden Wirtschaftswachstum, die Zuckerökonomie zu modernisieren. Das misslang und endete 2001/2002 in einem Quasi-Zusammenbruch der großen Zuckerwirtschaft. Seitdem läuft eine stille, aber gigantische Umwälzung auf dem kubanischen Land ab, die eine Reform ersten Ranges darstellt. Insgesamt aber wurden Reformen in Richtung mehr Markt auf den anderen Gebieten in Ansätzen seit 1997, und verstärkt seit 2004, abgewürgt. Dabei wurde auf die negativen Folgen des Schwarzmarktes und des Tourismus mit der Prostitution verwiesen. Das war durch die immer engere Bindung an das chavistische Venezuela und wegen der Kompensationsgeschäfte Ärzte und Bildung gegen Öl zwischen Kuba und Venezuela möglich. Seit der so genannten „Machtübernahme“ durch Raúl Castro gab es im Innern wieder einige kleinere Reformen – es wurde zum Beispiel Land vergeben, allerdings ohne an der Eigentumsfrage zu rühren. Alles in allem aber wird weiterhin ein diskursiver Kurs der „revolución permanente“ in der Tradition der politischen Revolution von 1959 gefahren und der „neue“ Raúl Castro, ist ebenso Vertreter des Castroismus wie der „alte“ Fidel Castro.
Vor diesem Hintergrund – die LeserInnen mögen dem Historiker verzeihen, dass er lange Linien betont und sich nicht am politologischen Kaffeesatzlesen beteiligt – ist es ganz klar, was die „Macht­übernahme“ durch den jüngeren Castro im Februar 2008 bedeutet: Kontinuität des Castroismus „ohne Fidel“, aber mit Armeechef Raúl Castro und einem Kommentator Fidel. Die vorsichtigen Änderungen 2007-2008 – die wichtigsten sind die über Landnutzung und differenzierten Lohn – schieben die notwendigen Reformen im Sozialismus nur hinaus. Raúl Castro ist ein Übergangskandidat.
Kuba bedarf weiterhin der Solidarität. Mit der globalen Finanzkrise und dem Ansteigen der Nahrungsmittelpreise gerät die an sich schon prekäre Versorgung in immer tiefere Schwierigkeiten. Von Arbeits-„Produktivität“ ist auf Kuba – von ausgesuchten Sektoren, die meist unter Kontrolle der Armee stehen – eigentlich nicht zu sprechen. Die Reformeuphorie der Jahre 1993-1995 ist dahin. Und das in einem fruchtbaren Land, in dem man nur einen Stock in die Erde steckt und nach drei Wochen treibt der aus! Und das auf einer Insel, deren diskursiver Mythos darin besteht, die Revolution „für die Bauern“ gemacht zu haben! Rund die Hälfte des Bodens auf Kuba ist ungenutzt und wird immer stärker vom Marabú überwuchert, einer Pflanze, die undurchdringliche, circa zwei Meter hohe Dornenhecken bildet, aber zugleich den Boden vor Austrocknung schützt.
Sicherlich wird man das nächste Jahr abwarten müssen, um zu sehen, was die von Raúl Castro dekretierten Veränderungen für konkrete Ergebnisse in Gestalt von Nahrungsmitteln bringen, die im Land erzeugt worden sind. Und sicher muss man beobachten, welcher Politiker welchen Einfluss erhält – aber tiefgreifende Reformen oder „Umbruch“ auf der Ebene von Regierung und Herrschaft sind das nicht. Die kubanische Gesellschaft ist da schon viel weiter. Sie befindet sich wirklich seit 1990 in Umbruch und Wandel. Für sie existiert eine klare Trennlinie zu den Zeiten vor 1990. Viele Kubanerinnen und Kubaner haben sich – auf der Insel oder im Exil – individuell oder familiär globalisiert. Das ist alte kubanische Tradition.
// Michael Zeuske

Die Umsetzung von Ches Gedankengut

Ihr Vater hatte die Vision eines „neuen Menschen“. Aber es bleibt noch ein langer Weg, bis der erreicht wird, oder?
Mein Vater hat vor vielen Jahren erklärt, dass der neue Mensch nie etwas Abgeschlossenes sein kann. Die Gesellschaft muss sich stets perfektionieren. Damit ist nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung gemeint, sondern auch die intellektuelle und die soziale Entwicklung. Und das bringt mit sich, dass auch dieser neue Mensch reifen muss. Das heißt, der neue Mensch wird nie fertig sein. Mein Vater sprach davon, dass sich die Gesellschaft in eine gigantische Schule verwandeln muss, in die wir alle gehen, um in ihr zu lernen, die aber gleichzeitig modifiziert werden muss. Das heißt, der Mensch wird zum Getriebe, das diese Gesellschaft vorwärts bringt. Aber mit der Vereinbarung, sich selbst ebenfalls zu verbessern, damit wiederum die Gesellschaft perfektioniert wird. Das eine bringt das andere mit sich. Der neue Mensch ist der Mensch, der in der Lage ist, das Wenige, das er hat, für das Wohl anderer zu opfern, und sich dafür gut zu fühlen. Das heißt, sich nicht gezwungen zu fühlen, dies zu tun, sondern sich darin zu verwirklichen. Das ist der neue Mensch.

Was ist Ches heutiges Vermächtnis auf Kuba?
Die kubanischen Pionierskinder, das sind unsere Jüngsten, benutzen einen Spruch, der lautet: „Pioniere für den Kommunismus, lasst uns werden wie Che.“ Als das sozialistische Europa verschwand wurde auf einem Kongress der Pioniere dieser Slogan analysiert. Ich war auch dabei und sah zu, wie ein 12-jähriger Pionier aufstand und sagte: „Was ist unser Streben für die Zukunft? Eines Tages zum Kommunismus zu kommen?“ Und alle anderen antworteten: „Jaaaa!” – „Seid ihr euch sicher?“ Und alle: „Jaaa“. – „Wer ist der Mensch der uns dahin führen kann?“ Und alle riefen: „El Che! Das Beispiel des Ches!“ – „Seid ihr sicher?“ – „Ja, wir sind sicher!“ Und das war‘s. Es gab nicht einmal eine Diskussion. Alle waren sich einig. So etwas findet man häufig auf Kuba. Glücklicherweise haben wir eine Unmenge von Kindern und Jugendlichen, die in der Lage sind zu begreifen, was in ihrer Reichweite liegt.

Und darüber hinaus?
Eine weitere wichtige Sache sind unsere internationalen Missionen, die Hilfe für andere Länder. Für das kubanische Volk bedeuten diese oft ein großes Opfer. Früher hatte alle Menschen einen Arzt in ihrer Nähe. Heute sind viele von diesen Ärzten in Venezuela. Also müssen die Leute zu einem anderen, weiter entfernten Arzt gehen. Aber in Situationen wie nach den Wirbelstürmen merkt man, wie unsere Solidarität zu uns zurück kommt. Länder, die gerade wesentlich weniger haben als wir, schickten Flugzeuge und Schiffe mit Lebensmitteln und Baumaterial. Da wir früher Solidarität gesät haben, können wir sie nun ernten. Wenn wir in der Lage sind, Sachen herzugeben, die wir eigentlich bräuchten, um sie anderen Ländern geben zu können, dann ist dies das beste Beispiel dafür, dass wir uns der Umsetzung des Gedankengutes von Che Guevara jedem Tag mehr nähern.

Seit der Revolution gab es große Fortschritte. Welche sind die bedeutendsten Fortschritte im Gesundheitssystem?
Wir entwickelten ein System der Prävention. Uns ist klar geworden, dass es viel einfacher ist, einer Krankheit vorzubeugen, als sie heilen zu müssen. Aber hierzu fehlte die Aufklärung in der Bevölkerung. Kuba hat während der gesamten Revolution Kampagnen für Hygiene, Ernährung und Sport gemacht. All diese Dinge werden sozusagen auf öffentlicher Ebene behandelt. Das Gesundheitssystem Kubas ist untrennbar mit der sozialistischen Gesellschaft, in der wir leben, verbunden. Wir haben gelernt, in größeren Netzwerken zusammen zu arbeiten. Das ist sehr angenehm, obwohl es manchmal große Probleme mit den Medikamenten gibt. Aber wir können zum Beispiel Arzneipflanzen anbauen. Die Menschen kennen diese und wissen sie anzuwenden. Das schafft eine sehr intime Interaktion zwischen dem Gesundheitswesen und der Bevölkerung und führt auch dazu, dass sich das Gesundheitssystem, trotz der schwerwiegenden wirtschaftlichen Probleme, weiterentwickeln kann. Wir führen interessante Experimente mit Pflanzen und Tieren durch, um ihren Nutzen für präventive Heilmethoden zu testen oder um die Symptome von schweren Erkrankungen zu lindern. In diesem Bereich arbeiten wir sehr hart.

Und die große Herausforderung Gesundheitserziehung …
Ja, die Gesundheitserziehung der Bevölkerung ist das Schlüsselwort. Denn die neuen Generationen müssen auch geschult werden. Deshalb veranstalten wir Kampagnen zu den Themen Ernährung, Bewegung, Wohlbefinden, Wechselwirkungen mit der Umwelt und Sport. Da liegt noch eine Menge Arbeit vor uns. Aber das ist die Zukunftsaussicht: Das Lebensniveau zu erhöhen und die Dauer des Lebens zu verlängern.

Stimmt mein Eindruck, dass ein Teil der Jugendlichen die Erfolge der Revolution als selbstverständlich hinnimmt? Sie scheinen die Probleme des Alltags, wie Transport, Wohnsituation, Internetzugang und das Konsumniveau, satt zu haben.
Das stimmt. Es ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Die neuen Generationen werden in unseren sozialen Prozess geboren und nehmen diese erworbenen Rechte als selbstverständlich wahr. Deshalb liegt der Schwerpunkt auf der Erziehung der Ideologie der neuen Generationen. Ihnen zu vermitteln, wie viel Arbeit es tatsächlich gekostet hat, das alles, was sie heute als natürlich ansehen, zu erkämpfen, ist fast eine physiologische Aufgabe. Es ist schwierig, den Zugang zu diesen Generationen zu finden und das zu erklären, ohne langweilig, nervig oder rückläufig zu erscheinen. Es ist schwierig, die richtige Kommunikation zu finden, um einer heranwachsenden Person die tatsächlichen Privilegien, die sie in dieser Gesellschaft genießt, deutlich zu machen.
Wir haben aber auch schon viel erreicht. Unsere Sozialarbeiter zum Beispiel sind größtenteils sehr jung, oder auch unsere Kunstlehrer. Die Revolution hat gemerkt, dass sie diese Jugendlichen fast verliert. Die Propaganda der kapitalistischen Welt, die um uns herum ist, hat großen Einfluss auf manche Menschen.

Zum Embargo: Gibt es die Hoffnung, dass sich mit dem nächsten US-Präsidenten Barack Obama etwas verändern könnte?
Nein, diese Hoffnung haben wir nicht. Leider unterliegt es nicht der Macht des Präsidenten, die Blockade aufzulösen. Die liegt beim Senat. Es müsste zu einer grundlegenden Veränderung im Senat kommen und das ist im Moment fast undenkbar. Die Mitglieder des Senats sind nämlich nicht die Vertreter des Volkes, sondern Menschen mit viel Geld, die sich diese Position erkaufen. Das Wahlsystem der USA ist so korrupt, das es uns nicht die Garantie gibt, dass mit einem Präsidentschaftswechsel auch ein Veränderung des Senats oder dessen Gesetze erfolgen.

„Es geht nicht mehr darum, die Welt zu verändern“

Leoncia Cartaya wiegt sich in ihrem Schaukelstuhl.Die 69-jährige Lehrerin ist in Matanzas, einer Stadt östlich von Havanna, geboren. Auf die Frage nach ihren Wurzeln antwortet sie mit eine Lächeln: „Meine Familie ist die Quintessenz aus drei Kontinenten: Chinesen, Spanier und Afrikaner. Ich bin einfach Kubanerin.“ Mehr könne sie nicht sagen, in der Familie werde nicht viel darüber gesprochen. In Havanna wohnt sie seit 1961. Der Triumph der Revolution zwei Jahre zuvor hat sie hierher geholt. Leoncia bezeichnet sich als apolitisch: „Die Politik ist sehr kompliziert und ich bin inzwischen zu alt dafür.“
Zwar habe sie 1959 auf die Appelle der neuen Regierung zum Kampf gegen den Analphabetismus reagiert. Aber nicht aus politischer Überzeugung, wie sie betont, sondern weil sie nicht mehr Zuhause wohnen wollte. „Der Kampf gegen den Analphabetismus war aber eine sehr gute Idee“, meint sie, „weil viele Leute damals nicht lesen und schreiben konnten und wir ihnen dies beigebracht haben. Was heute als normal erscheint, war früher nicht so.“ Leoncia hat in Baracoa, im äußersten Südosten der Insel, alphabetisiert. Seitdem ist sie nicht mehr dort gewesen. Eine sehr schöne Erfahrung sei es gewesen, sie war 19 Jahre alt und zum ersten Mal weg von Zuhause. „Die Stimmung in meiner Umgebung war gut. Manche Leute waren nicht mit der neuen Regierung einverstanden, doch die meisten von denen waren Reiche, die Angst vor den Kommunisten hatten, obwohl die Regierung sich erst später als kommunistisch bezeichnet hat“, erinnert sie sich. „Die Armen wie ich haben viel von der Revolution profitiert. Plötzlich hatten wir an anderes Bewusstsein. Man konnte viel mehr machen. Wir hatten den Eindruck, etwas Wertvolles zu machen. Aber seitdem ist viel Wasser den Fluss hinunter geflossen.“ Was dies bedeute, frage ich neugierig. „Na ja, alles ist jetzt anders“, antwortet sie, „einfach anders. Die Zeit verändert alles und Kuba steht nicht außerhalb der Zeit. Oder?“
Sieht man es als Hauptaufgabe für die Jahre unmittelbar nach dem Sieg einer Revolution, eine breite Basis für die anstehenden strukturellen Veränderungen zu schaffen, dann hat die Kubanische Revolution von 1959 diese erste Aufgabe erfüllt. Die politische Führung, die aus dem Guerillakrieg hervorging, erreichte die Mobilisierung der Mehrheit der Gesellschaft, um die politischen, ökonomischen und sozialen Transformationen durchzuführen. Sie zog die öffentliche Meinung auf ihre Seite und erklärte 1961 den sozialistischen Charakter der Revolution. Die Abschaffung des Privateigentums, die Einführung einer neuen Währung und zwei Bodenreformen waren die großen Ergebnisse dieser Epoche. Die Sowjetunion übernahm an Stelle der USA die Rolle als wichtigster ökonomischer Partner Kubas. Die 1960er waren die Jahre von „Patria o Muerte“ (Vaterland oder Tod). Doch die erste, emanzipatorisch geprägte Phase der Revolution lief Ende der 1960er Jahre aus. Es folgte die Institutionalisierung der Revolution.
Die 1970er Jahre waren von neuen sozialen, politischen und ökonomischen Problemen geprägt. Mit Hilfe der Sowjetunion und anderen Mitgliedsstaaten des Ostblocks sollte der Aufbaus des Sozialismus weiter vorangetrieben werden. Doch waren es vor allem Jahre der Machtsicherung und Machtzentrierung. Die Reden an die kubanische Bwvölkerung wenden sich seitdem an das „vereinigte Volk“. In der Rhetorik der Regierung gab es nur Revolutionäre oder Konterrevolutionäre. Diese Dichotomie wurde und wird von großen Teilen der Bevölkerung rezipiert und öffnete der Intoleranz innerhalb der Gesellschaft Tor und Tür. Unter dieser Politik litten besonders Intellektuelle, die als nicht „ausreichend engagiert“ galten. Die Schriftsteller José Lezama Lima und Virgilio Piñera sind zwei sehr wichtige Beispiele dafür. Und obwohl der Diskurs der Revolution sich auf die Maxime der Gleichheit richtete, blieben „Randgruppen“ wie beispielsweise Homosexuelle gesellschaftlich ausgeschlossen. Die Euphorie der ersten Jahre war verflogen und die Luft des Kalten Krieges durchwehte die Straßen Havannas.
Auch aus der Perspektive des 58-jährigen Zimmermanns Francisco Bravo waren die 1970er keine einfachen Jahre. Wie bei vielen Menschen damals machte sich bei ihm eine apathische Haltung breit. Seine Haupterinnerung an diese Zeit bezieht sich auf Arbeit und Privates. Er weiß noch, dass er damals jede Menge Zuckerrohr schnitt und jeden Sonntag Freiwilligenarbeit absolvierte. Seine Frau Manuela arbeitete als Krankenschwester. Sie hatten schon ein Kind und 1978 kam ein weiteres. „Wir hatten Geld, aber es gab nichts zu kaufen. Erst seit dem Eintritt in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe [RGW 1972, Anm. d. Red.] verbesserte sich langsam die Situation“, erinnert Francisco sich.
1980 kam es auf Kuba zur zweiten großen Emigrationswelle seit 1959, die der marielit@s. Die USA öffneten ihre Grenzen für alle KubanerInnen. Vom Hafen El Mariel aus schickte die kubanische Regierung viele ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen GegnerInnen in die USA. Zudem nutzte sie die Gelegenheit, um StraftäterInnen loszuwerden. Cuco ist einer von diesen ehemaligen Gefängnisinsassen. Ich treffe ihn, weil er zu Besuch auf Kuba ist. Er erzählt, wie er eines Morgens in die USA abgeschoben wurde, ohne dass zuvor seine Familie informiert worden sei.
Die Dagebliebenen haben gemischte Gefühle über die 1980er Jahre. Aida Bull beendete 1987 ihr Chemiestudium an der Universität Havanna, inzwischen arbeitet sie in einer Seifenfabrik. „Die 80er Jahre waren toll“, meint sie. Sie habe Arbeit gehabt und sei gut mit ihrem Gehalt ausgekommen. Mit einer Mikrobrigade habe sie sogar ein eigenes Haus gebaut. Ariel Mancebo hingegen, der Wirtschaftswissenschaft studiert hat, ist sich bei der Beurteilung der 1980er Jahre nicht so sicher. Er habe auch eine sichere Arbeitsstelle gehabt, andererseits habe es viel gegeben, das er nicht machen durfte, zum Beispiel reisen oder öffentlich die Regierung kritisieren. Zwar kenne er niemanden, dem wegen Kritik an der Regierung etwas zugestoßen sei, aber es sei ihm wohler, die Gefahr einer solchen Tat gar nicht erst zu provozieren. „Wahrscheinlich sehen wir die 80er so idyllisch, weil die 90er Jahre eine sehr schwierige Zeit waren“, sagt Ariel.
Der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Zerfall der UdSSR ab 1989 brachte die kubanische Regierung in der Tat in eine sehr schwierige Lage. Brutal zeigte sich die Abhängigkeit der kubanischen Wirtschaft von der UdSSR und dem RGW. Angesichts der Wirtschaftskrise, von der Regierung als „Sonderperiode in Friedenszeit“ bezeichnet, verliert auch das politische System an Legitimität. Das ganze System scheint zusammenzubrechen. Die Regierung unternahm zahlreiche Maßnahmen, um „den Sozialismus“ zu retten. Mit der Legalisierung des US-Dollars 1993 begann eine neue Epoche der kubanischen Revolution. Seitdem können die KubanerInnen ihre eigenen Geschäfte betreiben, aber nur im Dienstleistungssektor, wie Imbisse, Taxifahren oder die Vermietung ihrer Wohnungen an TouristInnen, was auch vom Staat als neue große Einkommensquelle entdeckt wurde. Die Idee des gestürzten Diktators Batista, Kuba in ein touristisches Paradies zu verwandeln, wurde neu aufgenommen.
In einer Szene des kubanischen Films Madagascar von Fernando Pérez sagt ein Hauptdarsteller, dass die KubanerInnen in den 1990er Jahren zu müde seien, um weiterhin Revolution zu machen und sich stattdessen ausruhen wollten. Viele KubanerInnen tun dies heute in den USA, denn 1994 kam es zu Unruhen und die Regierung genehmigte ein weiteres Mal, dass KubanerInnen auf eigene Gefahr in die USA ausreisen durften. Über die Anzahl der balseros, wie diese Schiffsflüchtlinge genannt werden, gibt es bis heute keine offiziellen Angaben.
Pepe Valdez hat 1996 seine eigene Pizzeria eröffnet. „Dass die Leute inzwischen selbstständig wirtschaften können, ist eine gute Sache. Am Anfang musste ich mich sehr bemühen, es war gar nicht einfach. Meine Frau, mein Sohn und ich haben zusammen ‚La Barriada‘ geschafft“, und er blickt stolz auf seinen Pizzastand. Die Politik interessiere ihn nicht, solange er seine Pizzeria führen könne.
Yusimi Buenavides arbeitet in einem Forschungszentrum, in den 1990er Jahren hat sie an der Universität Havanna Kunstgeschichte studiert. „Meine Eltern hatten damals eine schwere Zeit. Sie mussten jeden Tag aufs Neue etwas zu essen finden. Kleidung wurde immer wieder verwendet“, erinnert sie sich. Ihr Vater habe mit seinem Lada als Taxifahrer gearbeitet und so ein bisschen Geld in den Haushalt gepumpt. Jetzt lacht sie über diese Zeit: „Es war ein bisschen so, als ob die Kubaner ihre selbst verschuldeten Unmündigkeit hinter sich ließen. Wir haben die Welt nicht verändert und sind auch nicht gestorben, sondern wurden in alle Welt zerstreut,“ erzählt sie. „Fast alle Freunde, die ich während des Gymnasiums und der Universitätszeit hatte, halten sich außerhalb Kubas auf. Der Versuch mag schön oder schlecht sein, das hängt immer vom Betrachter ab, aber nun gilt es zu sehen, wohin wir künftig gehen. Ob wir schon was aus den letzten 50 Jahren gelernt haben, müssen wir jetzt beweisen.“
Einen Tag nach dieser Unterhaltung mit Yusimi ist in der offiziellen Parteizeitung Granma zu lesen, dass Fidel Castro schwer krank sei und Raul Castro seine Nachfolge antrete. In den darauf folgenden Tagen gibt es mehr PolizistInnen auf der Straße, aber es kommt nicht zu Unruhen. „Wir sind neugierig, was nun kommt“ sagt Frank, der gerade eine Ausstellung zum Thema „Polizei und Rassismus“ organisiert, die offiziell „¿Colores?“ (Farben?) heißt. Frank ist homosexuell und wohnt mit seinem Freund Jorge zusammen. Sie erzählen, dass es eine Woche zuvor im Kino Astral eine Feier für Toleranz und Zusammenleben gegeben habe. Es sei das erste Mal seit langer Zeit gewesen, dass in der Öffentlichkeit über das Thema Homosexualität gesprochen worden sei. Zwar hätten Filme wie Se Permuta oder Fresa y Chocolate Themen wie Homosexualität und Rassismus behandelt, aber beide seien alt und wären nicht richtig in allen Gruppen der Gesellschaft öffentlich diskutiert worden. Auch die öffentliche Diskussion über Zensur in der Vergangenheit – als Einstieg, um über die aktuelle Situation zu sprechen – , die vor einem Jahr begonnen hat, markiere eine neue Phase. „Das sind Veränderungen“, meint Jorge, „alles andere bleibt gleich. Fidel oder Raúl, sie betreiben die gleiche Politik: an der Macht festhalten. Es geht nicht mehr um das Volk, falls es je darum gegangen ist, sondern um Macht. Ich mache weiter meine Sachen und versuche, mich nicht stören zu lassen.“ Frank ist nicht ganz mit Jorge einverstanden. „Wenn wir alle so denken würden, dann würde nichts passieren“, setzt Frank an, doch Jorge unterbricht ihn: „Aber was soll passieren? Was kann ein unterentwickeltes Land wie das unsere machen?“ Frank umarmt Jorge und antwortet: „Es geht nicht mehr darum, die Welt zu verändern, sondern darum, das Beste für die Kubaner zu schaffen. Und das Beste bezieht sich darauf, die Fehler, die gemacht wurden, zu korrigieren. Dies ist die List der Vernunft.“
Nach einem so intensiven Gespräch habe ich keine Lust mehr, heute noch jemanden zu interviewen. Ich entschließe mich, nach Hause zu fahren. Ich nehme einen Bus, seit einiger Zeit funktionieren sie richtig gut. Die Regierung hat China einige abgekauft. Zum Glück finde ich einen freien Sitzplatz. Jetzt fehlen mir nur noch einige Gespräche mit Fachleuten, denke ich. Dann entsteht vielleicht ein Bild davon, wohin dieses Land steuert. Oder? Nun bin ich mir nicht ganz sicher, dass meine Nachforschungen über die kubanische Situation, nur auf Kuba fixiert, mir Antworten auf die kubanischen Probleme geben können. Vielleicht sind die Probleme Kubas gar keine rein kubanischen? Viele von den Problemen hier findet man auch in anderen Ländern. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Zukunft Kubas und dem internationalen Umfeld? Mein Kopf ist müde. Ich mache morgen weiter. Ich bin eingeschlafen und habe natürlich meine Haltestelle verpasst. Ich wache nur auf, weil eine freundliche Stimme mir sagt:
„Hey! Letzte Haltestelle.“
// P. Alexander

Agonie auf dem Acker

„Riceland“ steht in dicken Ländern auf dem Nylonsack, der dekorativ an einer Glasvitrine am Messestand lehnt. Das Unternehmen aus Arkansas mit dem klangvollen Namen „Riceland Foods“ ist der weltgrößte Reislieferant und wie selbstverständlich auf der internationalen Messe von Havanna vertreten. Wie in den Jahren zuvor fahren die Amerikaner auch in diesem Jahr mit anständig gefüllten Auftragbüchern nach Hause. Die kubanische Importagentur „Alimport“ soll auf der Messe Lebensmittel für einige hundert Millionen US-Dollar geordert haben. Die USA erhalten dabei einen großen Anteil, denn seit einigen Jahren sind die Unternehmen aus Arkansas, Nebraska, Minnesota und Co. die wichtigen Lebensmittellieferanten Kubas.
Schon 2007 kamen Lebensmittel für 582 Millionen US-Dollar aus dem Land des Klassenfeindes. Somit entfiel rund ein Drittel der etwa 1,7 Milliarden US-Dollar, die Kuba offiziellen Zahlen zufolge für den Einkauf von Lebensmitteln im letzten Jahr aufwenden musste, auf die USA. Im noch laufenden Jahr wird es noch deutlich mehr sein, denn bereits im ersten Halbjahr 2008 orderte Pedro Alvárez, Direktor von „Alimport“, Nahrungsmittel für 425 Millionen US-Dollar. So hat es Kubas oberster Compañero Fidel Castro in einer seiner Kolumnen Anfang Oktober geschrieben und zugleich prognostiziert, dass Kuba noch weitaus mehr importieren müsse. Verantwortlich dafür machte er die „schlimmste Katastrophe in Kubas Geschichte“ – die von den beiden Hurrikanen „Gustav“ und „Ike“ verursachten Schäden von knapp zehn Milliarden US-Dollar.
Doch diese Schäden, von denen etwa 45 der insgesamt 169 Gemeinden Kubas betroffen sind, haben die Krise der Landwirtschaft nur vertieft, nicht verursacht. Auf den Feldern der Insel herrscht schon seit langer Zeit Agonie, was durch sinkende Produktionsquoten belegt wird. Bereits Mitte der achtziger Jahre stimmte das Verhältnis zwischen In- und Output in der Landwirtschaft nicht mehr. „Immer mehr Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel wurden eingesetzt, doch die Böden geben immer weniger her“, erklärt Nilda Pérez, Wissenschaftlerin an der Agraruniversität von Havanna. Sie warb deshalb schon früh für die Produktion von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf biologischer Basis. Pérez gehört zu den SpezialistInnen, welche die abnehmende Produktivität im landwirtschaftlichen Sektor auf ein ganzes Bündel von Defiziten zurückführen. Da ist die rückläufige Bodenqualität, hervorgerufen durch Überdüngung und Bodenverdichtung infolge des Einsatzes immer größerer Erntemaschinen. Es ist aber auch das zugrunde liegende Agrarkonzept, das sich auf große Betriebe mit großen Flächen und einem Heer von LandarbeiterInnen stützte.
Doch das grundsätzliche Problem sahen Kubas AgrarwissenschaftlerInnen schon damals in den riesigen Flächen und der fehlenden Bindung zum Boden, so Armando Nova. Als „Entfremdung vom Boden“ hat der Experte des Forschungsinstituts der kubanischen Wirtschaft (CEEC) das bezeichnet. Seit Jahren beschäftigt sich Nova mit dem notwendigen Umbau des ehemals wichtigsten kubanischen Wirtschaftssektors. „Rund zwanzig Prozent der vier Millionen erwerbstätigen Kubaner arbeiten offiziellen Statistiken zufolge heute noch in der Landwirtschaft. Bis Ende der 80er Jahre war der Agrarsektor mit der allgegenwärtigen Zuckerindustrie der Motor der kubanischen Wirtschaft. Heute sind wir manchmal gezwungen Zucker zu importieren“, erzählt Nova – ein symbolträchtiges Beispiel für den Niedergang des zuckerzentrierten Wirtschaftsmodells. Der Zuckerproduktion war noch bis Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts quasi alles untergeordnet. Schon damals hatte man jedoch mit rückläufigen Erträgen pro Hektar zu kämpfen und verlor peu à peu den Anschluss an die Konkurrenz aus Thailand, Mexiko, Brasilien oder Australien. „Nicht nur weil die Lieferung von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft ins Stocken kam, sondern auch weil die Anlagen veraltet und die Bauern schlicht kaum motiviert waren“. Ein Problem, an dem sich bis heute wenig geändert hat, denn alle Reformen der letzten 15 Jahre im Agrarsektor haben kaum Früchte getragen.
Die Nahrungsmittelproduktion auf Kuba ist in vielen Bereichen seit Jahren rückläufig. Auch die mageren Zuwächse von 2007 können kaum darüber hinwegtäuschen. Wer über die Insel fährt, dem fallen nicht nur die klapprigen, abgemagerten Kühe, sondern auch die weitläufigen Brachflächen und die wenigen Menschen auf den Feldern auf. Lethargie ist weit verbreitet und selbst in den fruchtbaren Bergen und Hügeln der Sierra de Escambray, in der Nähe Trinidads, herrscht vor allem eines: Langeweile. Das bestätigt auch Mariano Hernández von der Kaffee-Kooperative Luís Lara. Die liegt dreißig Kilometer von Trinidad entfernt und aus der Region kommt ein qualitativ hochwertiger Kaffee. Von der Kooperative jedoch immer weniger, wofür Mariano Hernández letztlich den Staat verantwortlich macht: „Bei uns fehlt es an allem. Wir erhalten kaum Material, kein Werkzeug und oftmals kommen selbst die Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel zu spät.“
Der 48-jährige Hernández gibt sich keinen Illusionen hin, dass es in absehbarer Zeit besser wird. „Wenn ich nicht zumindest die Lebensmittel für meine Familie auf dem Land meines Vaters anbauen würde, hätte ich keine Chance mit meinem Lohn über die Runden zu kommen“, schimpft er. 250 Peso Nacional erhält er und muss doch viele Produkte wie Shampoo, Seife oder Speiseöl, die es auf dem nationalen Markt nur selten gibt, in der Devisentienda einkaufen. Dort bekommt man alles für den CUC, den konvertiblen Peso, doch Mariano erhält wie alle KubanerInnen seinen Lohn im Peso Nacional. Eins zu 24 lautet der Wechselkurs, und wer nicht genug verdient, erschließt sich zusätzliche Einkommensquellen. Lebensmittel vom Feld seines Vaters und hin und wieder einige Liter Diesel, die er abzweigt, verkauft Mariano. In seiner Kooperative machen das alle so. Alltag in Kuba und nicht nur Hernández ist genervt von den Bedingungen unter denen er arbeiten soll. Da haben es die Privatbauern, die in Kuba einzeln und in Eigentümergenossenschaften rund zwanzig Prozent des Ackerlands bewirtschaften, schon besser. Die sind zwar auch gehalten an den Staat zu verkaufen und müssen sich mit vielen Vorschriften herumquälen, aber immerhin können sie einen Teil der Produktion zu freien und durchaus attraktiven Preisen auf den Bauernmärkten verkaufen. Das dürfen Hernández und seine Compañeros von der Kooperative Luís Lara nicht, denn Kaffee ist ein Produkt, das allein Vater Staat vertreiben und verkaufen darf. Zusatzeinkünfte sind also für viele Kooperativen, die seit 1993 große Teile der staatlichen Flächen als Produktionsgenossenschaften (UBPC) bewirtschaften, kaum zu machen – entsprechend schlapp ist die Motivation in Cordobanal. So heißt das Dorf von Traktorist Hernández und dort ist auch das Interesse gering, zusätzliches Land vom Staat zum Anbau von Lebensmitteln zu übernehmen.
„Wer garantiert uns denn die Belieferung mit den nötigen Produktionsmitteln, und wer garantiert uns, dass wir die Früchte unserer Arbeit auch ernten können?“ fragt der Hernández misstrauisch. Das Misstrauen hat durchaus seinen Grund, denn viele der Reformen in der Landwirtschaft hatten aus Sicht der Privatbäuerinnen und -bauern und der LandarbeiterInnen einen Haken. Während die einen darüber klagen, dass es keine freien Märkte für landwirtschaftliche Produktionsmittel, ob Maschinen, Saatgut, Düngemittel oder Machete und Spaten, gibt, monieren die anderen die niedrigen Löhne und die fehlende Ausstattung der Genossenschaften. Ein Teufelskreis, der dazu geführt hat, dass der Schwarzmarkt für Produktionsmittel blüht, aber viele der halbstaatlichen Genossenschaften längst ausgeblutet sind.
Überschuldung, unzureichende Bestellung der Böden und Abwanderung prägen viele Regionen der Insel. Nicht nur in den Provinzen, in denen 2002 große Zuckerrohranbauflächen für den Anbau von Nahrungsmitteln bereitgestellt wurden, ist der Anteil an brachliegenden Flächen groß – auch rund um Städte wie Matanzas oder Cardenas. Dort lebt man heute vom Tourismus und wer kann, tauscht den öden Job in der Landwirtschaft mit dem des Kellners in einem Café oder Restaurant in Varadero. Auch Agrarexperte Armando Nova weiß von Genossenschaften wie der Roberto Fernández Pérez bei Cardenas, die kaum mehr aktive Mitglieder haben, da diese im Service an den Hotelstränden besser verdienen. Die Diskrepanz zwischen Löhnen und Lebenshaltungskosten ist es, die die Jobs in der Landwirtschaft oft unattraktiv machen und daran scheinen auch die jüngsten Reformbemühungen nichts zu ändern, so der Wissenschaftler Nova.
Lange hatte man hinter den Kulissen im Agrarministerium verhandelt und gefeilscht. Mehrfach wurde die bevorstehende Reform, die an den Strukturen ansetzen sollte, in Aussicht gestellt und schließlich im Juli 2008 von Staatschef Raúl Castro höchstpersönlich präsentiert. Doch vom großen Wurf, der die Landwirtschaft endlich wieder auf gesunde Füße stellen sollte, so wie in der Wissenschaft gehofft, blieb die Reform meilenweit entfernt. Entsprechend mau ist auch die Resonanz von Bauern und Bäuerinnen, GenossInnen und LandarbeiterInnen. Bis Anfang Oktober waren im Agrarministerium gerade 52.879 Anträge auf Landzuteilung eingegangen – angesichts von zwei Millionen Hektar zu verteilendem Brachland eine bescheidene Ausbeute. Viel mehr erwartet Armando Nova auch nicht, denn für ihn ist das Gesetz No. 259 viel zu bürokratisch und von abschreckenden Regeln geprägt. Einzig positiv sei, dass man entschieden habe, endlich einen nationalen Markt für Agrarinputs aufzubauen. Die Reform selbst sei aber für die Bauern kaum attraktiv. „Die Bestimmungen sind sehr schwammig, und sie enthalten viele Pflichten, aber wenig Rechte für die Bauern“, so Nova. Ein Manko, das viele der Bauern und Bäuerinnen abschreckt, denn sämtliche Investitionen würden sie auf eigenes Risiko tätigen. „Sicherheiten, das auf zehn Jahre begrenzte Nutzungsrecht zu verlängern, gibt es nicht“, erklärt Nova. Das ist für die Bäuerinnen und Bauern alles andere als attraktiv, und deshalb sind es keine erfahrenen Landwirte sondern Leute aus Kleinstädten, Dörfern und Weilern, die sich auf die maximal 13,43 Hektar von Vater Staat freuen. Kleinbäuerinnen und -bauern, die schon Land bestellen und es produktiv nutzen, hätten sogar durch zusätzliche Flächen auf 40,26 Hektar erweitern können. Doch gerade 32 Prozent der AntragstellerInnen kommen aus der Landwirtschaft, die restlichen 68 Prozent haben hingegen keinen landwirtschaftlichen Hintergrund – eine katastrophale Zwischenbilanz. Für viele AgrarspezialistInnen auf der Insel ist die Reform ein enttäuschender Schlag ins Wasser.
// Bernd Bieberich

Jede Menge fehlende Fragen

Es gibt wohl kaum jemanden auf der Welt, dessen Leben so interessant ist, wie das Fidel Castros. Und so ist es gut, dass Castro dem ehemaligen Chefredakteur der Le Monde diplomatique und attac-Mitbegründer Ignacio Ramonet Rede und Antwort gestanden hat. An die 100 Stunden haben beide zusammen gesessen und über Castros Leben gesprochen. Herausgekommen ist ein eindrucksvolles Werk von knapp 700 Textseiten, das seinesgleichen sucht, Pflichtlektüre für jeden Kuba-Interessierten ist und dennoch viele Kritikpunkte bietet.
Mein Leben ist ein Interview. Das ist sowohl der Charme dieses Buches – sicher hätte Castro viele Fragen, die Ramonet ihm stellt, sonst nicht behandelt – als auch seine Grenze. Denn zum einen bleibt vieles ungefragt und zum anderen fehlt es bisweilen an Redaktion dieses Mammutwerkes. Das ist schade, denn die erste Auflage ist bereits 2004 auf Kuba erschienen, dann von Castro selber bearbeitet und nun auf Grundlage dieser Fassung vom Rotbuch Verlag ins Deutsche übertragen worden. Dabei tauchen wiederholt Fragen auf, die eben erst beantwortet wurden. Zudem sind offenkundige Fehler – wie 1958 habe es 125 Millionen registrierte Kubaner in den USA gegeben – zumindest in der Erstauflage nicht korrigiert worden. Auch die Übersetzung liest sich zuweilen holprig.
Soweit zur formalen Kritik, die inhaltlichen Versäumnisse wiegen schwerer. Es scheint, als habe Ramonet unter Rechtfertigungsdruck gestanden, weswegen er sich durch kritische Fragen zu DissidentInnen (Castro: „Konterrevolutionäre“) und Konfrontation mit den ständigen Vorwürfen gegen Kuba aus dem Westen zu verteidigen scheint. Das sind natürlich wichtige Fragen und es ist auch ein Verdienst Ramonets, dass Castro sie ausführlich beantwortet. Doch führt die wiederholte Fokussierung auf diese Themen dazu, dass andere interessante Aspekte auf der Strecke bleiben.
Fragen und Antworten hangeln sich – mit einigen Vor- und Rückblicken – an der Chronologie von Castros Leben entlang. Besonders spannend sind dabei die Abschnitte zum Sturm auf die Moncada-Kaserne, dem Exil in Mexiko und den revolutionären Kämpfen in der Sierra Maestra. Schade nur, dass hier immer wieder Lücken im Erzählstrang deutlich werden. Das Buch ist für „NeueinsteigerInnen“ in die Thematik deswegen ungeeignet. Es bietet sich an, beispielsweise parallel die gute Biografie von Volker Skierka zur Hand zu nehmen und Castros eigene Anschauung jeweils kapitelweise danach zu studieren.
Denn hier liegt die Stärke des Buches. Castro antwortet mit entwaffnender Offenheit auf viele aktuelle Fragen von der Globalisierung über Chávez (spannend: Castros Rolle beim Putsch 2002) und Morales bis hin zum Verhältnis zu den USA. Dass nun aber Kuba selber – nicht so sehr am Ende, denn „Kuba heute“ ist eines der interessantesten Kapitel – zu kurz kommt, ist schwer verständlich und vielleicht damit zu erklären, dass Ramonet zwar sagt, „eine bessere Welt ist möglich“, sich scheinbar aber konkrete Schritte zu ihrer Verwirklichung über eine Tobin-Steuer hinaus gar nicht vorstellen kann. Oder mag.
Warum fehlt es fast völlig an Aussagen Castros zur Entwicklung in Kuba seit der Revolution? Können wir heute, wo es angeblich zum Kapitalismus keine Alternative gibt, denn nichts von der Entwicklung in Kuba lernen? Was lief richtig, was falsch? Auch die „Sonderperiode“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wird nur erwähnt. Dafür wird so gut wie jeder Name, der im Text vorkommt, in den Anmerkungen erklärt. Das ist gut. Aber es reicht nicht. Nehmen wir Ramonet beim Wort: Er selber ist für die fehlenden Fragen verantwortlich, Castro hätte sie beantwortet. So viel scheint nach der Lektüre sicher. Es ist zu wünschen, dass offenkundig fehlende Passagen durch weitere Gespräche ergänzt und die Lücken in der Erzählung gestopft werden. Noch ist es zum Glück nicht zu spät.
// Helge Buttkereit

Fidel Castro mit Ignacio Ramonet // Mein Leben // Rotbuch Verlag // Berlin // 2008 // 780 Seiten // 29,90 Euro

„Bolívars Traum wird umgesetzt werden“

Wie schätzen Sie die aktuellen Transformationsprozesse in Lateinamerika ein?
Ich denke, dass Bolívars Traum von den Vereinigten Staaten von Lateinamerika in zehn oder fünfzehn Jahren umgesetzt werden wird. Die Grenzen auf dem Subkontinent sind total künstlich. Wir haben dieselbe Sprache, dieselbe Religion, dieselbe Sichtweise. Ich glaube, wir müssen dem Beispiel der Europäer folgen und einen lateinamerikanischen Markt schaffen. Der Rest wird sich von allein ergeben. Wie Bolívar es wollte.
Wir sehen, dass in Lateinamerika eine ganz neue Bewegung entstanden ist. Früher war es nur ein Traum zu denken, dass die Bevölkerung sozialistische Regierungen wählen würde. Aber jetzt gibt es die Prozesse in Venezuela, Kuba, Ecuador, Bolivien, Paraguay, Brasilien und Uruguay. Das ist ein Prinzip: Früher waren alle lateinamerikanischen Regierungen so wie die aktuelle Regierung in Kolumbien. Militärdiktaturen oder Regierungen, die viel versprachen, aber nichts verändert haben.

Werden denn die jetzigen linken Regierungen ihren Ansprüchen gerecht?
Es sind einige positive Sachen umgesetzt worden. Aber die Angst ist, dass die Bevölkerung, die große Erwartungen gehabt hat, müde wird. Diese Angst existiert auch in Argentinien. Wenn die ökonomischen Probleme großer Teile der Bevölkerung nicht gelöst werden, wird die Bevölkerung müde. Und dann kommen vielleicht wieder die Militärs mit Hilfe der Vereinigten Staaten. Das war immer die Erfahrung, die Argentinien gemacht hat.

Wo verorten Sie Argentinien im lateinamerikanischen Zusammenhang?
Kirchner ist nicht so eine typische Repräsentantin des Kapitalismus. Der linke Peronismus, der manchmal auch ganz rechts sein kann, hat verschiedene Aspekte. Cristina hat in ihrer einjährigen Amtszeit bereits viele Fehler gemacht. Beispielsweise die gleiche Besteuerung der kleinen und der großen Landbesitzer. Zum ersten Mal in der argentinischen Geschichte haben sich die kleinen und die großen Landbesitzer vereinigt. Die Regierung ist jetzt in einer so genannten Minderheitenregierung, eine Art Patt-Situation. Im Inneren Argentiniens hat Cristina sehr viel an Sympathie verloren. Auf der anderen Seite hat sich die Linke zusammen geschlossen und sie gegen die Großgrundbesitzer unterstützt. Jetzt herrscht eine Periode der Sprachlosigkeit. Fernández hat einige Abgeordnete im Kabinett ausgetauscht. Wir erwarten jetzt von dieser Regierung eine soziale Politik.

Besitzt Cristina Fernández de Kirchner denn innerhalb ihrer Partei eine Basis, auf die sie sich verlassen kann?
Der Peronismus ist im Moment total geteilt. Nur die Bürokraten der Gewerkschaftsdachverbände CGT und der CTA unterstützen Kirchner. Aber die kleine Bourgeoisie, die kleinen Landbesitzer und verschiedene Gouverneure, die vorher für Kirchner waren, sind jetzt gegen die Regierung. Es ist eine Frage der Ethik, ob nach der Regierungszeit eines Präsidenten die Frau des Präsidenten an die Macht kommt. Das ist für eine Demokratie nicht richtig. Cristina hat als Senatorin viele gute Sachen gemacht, aber sie ist der Präsidentschaft nicht gewachsen.

Wie sieht die wirtschaftliche Situation unter der Regierung Fernández de Kirchner aus?
Die Inflation in der letzten Zeit ist nicht so groß, aber es ist wie immer: viele Arbeitslose, die Preise steigen jeden Monat und die Arbeiter müssen kämpfen, um mehr Gehalt zu bekommen. Und jetzt will Kirchner den Tren Bala, den Zug, der mit fast 300 Stundenkilometern fährt. Es ist ein staatliches Projekt, aber es gibt eine große Opposition gegen den Bau und scheinbar hat Argentinien gerade kein Geld, ihn umzusetzen. Dafür haben wir gekämpft – keine Luxuszüge, sondern keine hungernden Kinder.

Manche HistorikerInnen sind der Meinung, dass man angesichts der heutigen Probleme die Vergangenheit in Argentinien ruhen lassen sollte.
Wir haben beide Arten von Problemen, die der Geschichte und die heutigen. Warum gab es in Argentinien 14 Diktaturen? Warum hat nicht einmal jemand die Demokratie verteidigt? Wir hatten keinen Präsidenten wie Salvador Allende in Chile, der sich den Militärs entgegengestellt oder das Volk aufgerufen hat, die Demokratie zu verteidigen. Und in der Bevölkerung hat sich auch niemand bewegt.

Woran liegt es, dass sich in Argentinien niemand hinter die Demokratie gestellt hat?
Wir hatten nie wirklich ideologische Parteien. Chile hatte eine starke sozialistische Partei. In Argentinien war die sozialistische Partei sehr klein und hatte nur ein paar Repräsentanten in wenigen Städten. Die zwei großen Parteien, die immer gewählt wurden (die Peronistische und die Radikale Partei; Anm. D. Red.), waren nicht sehr klar umrissen. Der Peronismus hat sehr viel für die Arbeiter getan, aber es war kein Sozialismus, sondern Populismus. Die Zustände blieben wie immer, nur dass sich die Lebensbedingungen für die Arbeiter ein bisschen verbesserten. Mit der radikalen Partei war es ähnlich, eine Art liberale Partei.

Wie schätzen Sie die Vergangenheitspolitik der Kirchners ein?
Der erste, der etwas getan hat, war Néstor Kirchner, das muss man ganz laut sagen. Es geht ganz langsam voran, nicht so, wie wir wollten. Aber wenigstens müssen die ersten Verbrecher der Diktatur mittlerweile ins Gefängnis – nach 30 Jahren. Wir müssen weiter kämpfen, um die Sache zu beschleunigen, denn sonst werden alle wie Videla vor ihrer Haft sterben.
// Interview: Katja Fritsche

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Osvaldo Bayer
geboren 1927 in der argentinischen Provinz Santa Fe, ist unter anderem Anarchist, Publizist, Historiker, Menschenrechtsaktivist und Drehbuchautor. Berühmt wurde er unter anderem durch Werke wie Patagonia Rebelde über Arbeiteraufstände Anfang des 20. Jahrhunderts in Patagonien. Für die gleichnamige Verfilmung des Regisseurs Héctor Olivera schrieb Bayer das Drehbuch. Beide wurden wegen des Films politisch verfolgt. Bayer lebte von 1976 bis 83 im Exil in Deutschland. Von 1958 bis 1973 war er Redaktionssekretär der argentinischen Zeitung Clarín, später Herausgeber der Zeitschrift Imagen. Heute ist er Mitarbeiter der Tageszeitung Página 12 und war bis 2006 Professor für das Fach Menschenrecht an der Philosophischen Fakultät der Universität von Buenos Aires.

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