Was jeder wissen sollte?

Die geografische Nähe Kubas zu den USA hat für den Inselstaat bislang wenig Gutes bedeutet. Vor allem hat sie nicht dazu geführt, dass die kubanische Gesellschaft beim „Koloss im Norden“ verstanden und akzeptiert wurde. Stattdessen waren und sind handfeste imperiale Interessen, Antikommunismus und die reaktionären ExilkubanerInnen in Miami maßgeblich für das Image des sozialistischen Inselstaates. Zwar gab es vereinzelt Versuche, mit Filmen oder Büchern etwas Licht in das Dunkel zu bringen, doch der ignorante Mainstream der Kommerzmedien war mit den banalen Feindbildern zufrieden. Nun ist aber ein Buch erschienen, das das Potenzial besitzt, mehr Einblicke nach Kuba zu verbreiten.
In den USA wurde dieses Buch von den Qualitäts- und Fachmedien hoch gelobt und empfohlen. Immerhin ist die Autorin Julia E. Sweig eine ausgezeichnete Lateinamerikaforscherin und Direktorin am renommierten Council on Foreign Relations.
Das Buch ist in 127 kurze Kapitel von nur je ein bis drei Seiten unterteilt, die jeweils eine Frage beantworten sollen, wie „War Castro wirklich ein Kommunist?“ oder „Was kann von der Obama-Regierung gegenüber Kuba erwartet werden?“ Das Buch ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit der Zeit vor der Revolution von 1959. Dann werden die Kubanische Revolution und der kalte Krieg von 1959 bis 1991 dargestellt. Besonders interessant wird die Ära bis 2006 beschrieben. Schließlich geht es um den Zeitraum der Ämterübergabe von Fidel Castro an andere Führungspersönlichkeiten und vor allem seinen Bruder Raúl.
Das Buch ist sehr informativ, fundiert und differenziert. Für die USA heikle Themen werden zwar angesprochen, wie zum Beispiel die andauernde völkerrechtswidrige Nutzung der Hafenregion Guantánamo durch die US-Marine. Doch eine wirkliche Kritik an der US-Politik gegen Kuba wird nicht artikuliert, obwohl sie einen Umsturz zum Ziel hat und mit Attentatsversuchen, permanenten Einflussnahmen und subversiven Aktivitäten betrieben wurde. Aber von einem Mitglied der außenpolitischen Eliten ist eine solch selbstkritische Haltung wohl auch nicht zu erwarten. Und doch kann das Buch wärmstens empfohlen werden, da es sehr knapp und leicht verständlich die meisten wesentlichen Aspekte der politisch relevanten Dimensionen Kubas und der Beziehungen zu den USA darstellt.
Eine deutlich kritischere Haltung wird hingegen von dem jungen Sozialwissenschafter Steffen Niese eingenommen. Er untersucht das Verhältnis Deutschlands, also einem Bündnispartner der USA, zu Kuba. Damit klärt er über ein bislang sehr unterbelichtetes Thema auf und schließt dadurch eine Wissenslücke.
In den Hauptkapiteln werden zwei Themen behandelt. Zum einen erläutert Niese die Ausgangssituation und die prägenden Faktoren der deutschen Kuba-Politik seit dem Jahr 1990. Zweitens beschreibt und analysiert er die Inhalte und konkrete Gestaltung der deutschen Kuba-Politik. Die Abwicklung des Kuba-Erbes der DDR wird als überaus rigide gekennzeichnet: Sämtliche Verträge wurden aufgehoben – ein Vorgang, der mit keinem anderen Land geschah. Ergänzt wird dies durch die Darstellung der Kuba-Politik sowohl der USA als auch der EU, denn sie sind wichtige Bezugspunkte der deutschen Außenpolitik. Die Position Deutschlands zur Kuba-Politik wird den USA und der EU erläutert und vier wesentliche Politikfelder näher untersucht: Menschenrechte und Demokratie, Wirtschaftspolitik, Entwicklungspolitik und Kulturpolitik.
Basis des Buches sind zahlreiche offizielle Dokumente, Studien und Interviews. Sie beweisen unter anderem die starke Abhängigkeit und Rücksichtnahme der Bundesregierung auf die Präferenzen der US-Administration, der antikommunistischen Grundhaltung und der EU-Außenpolitik. Das meist unausgesprochene strategische Ziel ist der Systemwechsel („regime change“) in Kuba. Zudem arbeitet Niese heraus, dass persönliche und parteipolitische Präferenzen die Kuba-Politik beeinflussten. So hatte Außenminister Joschka Fischer eine deutlich negative Haltung gegenüber Kuba, während sein Amtsnachfolger Steinmeier einen sachlicheren Ansatz zu Kuba praktizierte.
Niese analysiert auch einen Eckpfeiler der negativen offiziellen Haltung gegen Kuba: „die selektive Behandlung der Menschenrechte“. Dabei werden nämlich drei Aspekte ignoriert. Erstens werde der historische Kontext ausgeblendet, also die permanenten und teilweise kriminellen Einflussversuche der USA. Zweitens würden nur die bürgerlich-politischen Menschenrechte, nicht aber die kollektiven sowie wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte berücksichtigt, die in Kuba gut entwickelt seien. Und drittens sei die Sichtweise der deutschen Regierung sehr einseitig und selektiv. Dies zeigt der Autor an einer Äußerung des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Günther Nooke, aus dem Jahr 2007. Dieser sagte über das US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba, dass dort verbliebene 395 (von ursprünglich 660 teilweise gefolterten) Gefangenen der USA angesichts Tausender von Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern nicht besonders schlimm seien. Demgegenüber werden jedoch die wenigen so genannten politischen Gefangenen in Kuba von westlichen Medien immer wieder thematisiert, und über Kuba häufig nur Negativklischees benutzt.
Abschließend formuliert der Autor Anforderungen und Perspektiven für eine neue deutsche Außenpolitik gegenüber dem Inselstaat. Diese bestünde darin, dass die „auf einen Systemwechsel abzielende Diplomatie beendet und durch eine Politik ersetzt wird, die sich der Achtung der kubanischen Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker verpflichtet fühlt“. Es solle ein ehrlicher und respektvoller Dialog gepflegt werden, so wie dies die Regierungen von Spanien und Belgien tun. Diese Arbeit ist die bislang wichtigste Arbeit zum Thema, gut lesbar und sehr zu empfehlen.

Julia E. Sweig // Cuba. What Everyone Needs to Know // Oxford University Press // New York/NY 2009 // 279 Seiten // 16,95 US-Dollar // ukcatalogue.oup.com

Steffen Niese // Die deutsche Kubapolitik seit 1990. Bilanz und Perspektiven // PapyRossa Verlag // Köln 2010 // 126 Seiten // 12 Euro // www.papyrossa.de

„Ich will mit deinem Leben tauschen!“

Die Quintessenz des kurzen Dialogs spricht Bände: „Woher kommst du?“, fragt Alexandre. „Aus Deutschland“, antworte ich. „Ich will mit deinem Leben tauschen!“, meint der Mittzwanziger, der in der Altstadt von Havanna das Gespräch sucht. „Du willst ins kalte Deutschland?“ „Nein, ich will nicht das Land tauschen, sondern nur das Leben, einen vernünftigen Lohn erhalten, damit ich nicht mehr ausländische Touristen um Geld für Milchpulver anhauen muss.“
Milchpulver gibt es wie viele Güter des täglichen Bedarfs nur gegen den Peso Convertible (CUC) und nicht für den Peso Cubano, in dem die KubanerInnen überwiegend ihr Gehalt beziehen. Der CUC löste 2004 den 1993 aus der Not legalisierten US-Dollar als Zweitwährung ab. Der Lebensstandard einer kubanischen Familie hängt heute weitgehend vom Zugang zum CUC ab. 60 Prozent der Bevölkerung erhält Überweisungen von im Ausland lebenden Verwandten. Alle anderen müssen sich ihre CUC anderweitig besorgen, denn das Warenangebot, das es für den kubanischen Peso gibt, ist arg eingeschränkt. Für viele KubanerInnen in den touristischen Gebieten ist die Jagd nach dem CUC Alltag. Ein schneller Dank nach Erhalt des Milchpulvers im Laden und Alexandre ist mitsamt seiner Freundin flugs entschwunden. Ob sie das Milchpulver wirklich selbst brauchen (laut Alexandre als Säuglingsnahrung) oder aber mit informellen Handel ihr Einkommen aufbessern, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dass Milchpulver knapp und teuer ist.
Zu den touristischen Hauptattraktionen Kubas gehört fraglos die Altstadt Havannas, die 1982 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Um ihren Erhalt und die Sanierung kümmert sich die staatliche Habaguanex, benannt nach einem Taino-Ureinwohner, der vor der Eroberung durch Spanien das Gebiet um Havanna kontrollierte. Ihre Einkünfte erzielt die 1994 gegründete Gesellschaft aus dem Betrieb von Hotels. 45 Prozent des Gewinns fließen in die Altstadtsanierung, 35 Prozent in soziale Projekte und 20 Prozent in die eiserne Reserve.
So sind inzwischen 35 Prozent der Altstadt restauriert worden. Wie lange die Komplettsanierung noch dauern wird, wagt niemand zu prognostizieren. Der Restaurationsbedarf beschränkt sich ohnehin nicht auf die Altstadt, wo sich neben stilvoll hergerichteten Häuserblocks jede Menge Gebäude im Zerfallsprozess befinden: vernagelte Fensterläden, großflächig bröckelnder Putz, mit Holzpfählen notdürftig abgestützte Balkone bis hin zu kompletten Ruinen. Sehenswert ist die Altstadt wie ganz Havanna indes allemal, schließlich ist die Metropole – 1519 gegründet – eine der ältesten Städte der so genannten Neuen Welt und atmet Geschichte. Aus Havanna brach einst der Konquistador Hernán Cortés auf, um das Reich der Azteken zu erobern. Alexander von Humboldt schaute auf seiner Amerikareise gleich zwei Mal vorbei.
Amaryllis wohnt mit ihrer Großfamilie einschließlich einer 103-jährigen Urgroßmutter schon seit vielen Jahrzehnten in der Altstadt und führt aus freien Stücken durch Haus, Hinterhaus und -hof: alles bescheiden, aber auf extreme Armut deutet nichts hin. Viele KubanerInnen hatten die Hoffnung, dass sich mit dem als pragmatisch geltenden Raúl Castro wirtschaftliche Öffnung und vor allem eine Verbesserung der materiellen Versorgungssituation vollziehen würde. Bisher sei davon wenig zu spüren, meint Amaryllis, und bringt die Entwicklung in Kuba auf eine lakonische Formel: „Immer wenn wir denken, dass es aufwärts geht, geht es abwärts.“
Dass Raúl Castro noch im Jahr seiner offiziellen Amtsübernahme 2008 mit drei schweren Hurrikans konfrontiert wurde, die Schäden von 10 Milliarden US-Dollar (15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes) verursachten, hat den Reformbemühungen sicher keine Flügel verliehen. Zumal die Stürme die potenzielle Wirkung der im Frühjahr 2008 gestarteten Landreform torpedierten. Sie ist der Kern von Raúls bisherigen Reformen und zielt auf eine Reanimierung des Agrarsektors und eine Produktivitätssteigerung mittels Landverteilung. Allen KubanerInnen ist es möglich, brach liegendes Land zu pachten, von Privatbauern- und bäuerinnen über Kooperativen bis hin zu staatlichen Betrieben. Mit der Produktionsausweitung soll die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten von derzeit annähernd 80 Prozent sukzessive gesenkt werden. Die Hurrikans drückten auch das Wirtschaftswachstum, das 2009 statt den anvisierten sechs Prozent nur deren zwei erreichte.
Im Aufschwung ist derweil nach wie vor der Tourismus. Selbst 2009, als Weltwirtschaft wie Reisebranche in die Rezession trudelten, verzeichnete Kuba gegen diesen Trend ein Wachstum der Besucherzahlen von 3,5 Prozent, wie Tourismusminister Manuel Marrero bei der Tourismusmesse FIT Cuba ausführte. Die 30. Auflage dieser Messe fand vom 3. bis 8. Mai in Havanna statt, genauer gesagt in El Morro, der alten, zum Schutz gegen Piraten erbauten Festung.
Doch ein wenig Wasser musste Marrero in den Wein gießen: Die 2,4 Millionen Menschen, die 2009 auf die Karibikinsel strömten, spülten elf Prozent weniger in die Kassen als im Vorjahr: rund zwei Milliarden US-Dollar. Nichtsdestotrotz hat sich der Tourismus längst zum wichtigsten Devisenbringer der Insel gemausert und in dieser Rolle Nickel und Kobalt abgelöst. Längst hat der Tourismus die Zuckerrohrproduktion als strategischen Sektor abgelöst. Zucker ist selbst unter den agrarischen Exportprodukten auf Platz zwei (hinter den Tabak) gerutscht. Beliefen sich die Exporterlöse 1996 noch auf knapp eine Milliarde US-Dollar, so sind es inzwischen nur noch zwischen 100 und 200 Millionen US-Dollar.
Die FIT Cuba ließ keinen Zweifel daran, dass Kuba die Erfolgsgeschichte Tourismus fortschreiben will. 1900 akkreditierte Teilnehmer zeigen den hohen Stellenwert, den das Reiseziel Kuba inzwischen genießt. Kamen in den 1980er Jahren keine 200.000 BesucherInnen pro Jahr auf die Insel, so wird mittlerweile die Zwei-Millionen-Schwelle regelmäßig locker überschritten. Dafür gibt es viele Gründe: Kuba gilt als sicheres Reiseland, die Einheimischen sind freundlich, die Sonne scheint nahezu unentwegt und ist so omnipräsent wie Cocktails auf Rum-Basis und die kubanische Musik rund um den Son. Zudem haben die allermeisten Hotels längst gehobenen Standard, der vor allem im Preis-Leistungs-Verhältnis keinen Vergleich scheuen muss. Mangel gibt es für TouristInnen nicht.
Bei Kubas Bevölkerung hingegen ist oft Schmalhans Küchenmeister: Mit den extrem billigen Lebensmitteln, die der Staat in den Bodegas gegen Vorlage der libreta (Heftchen) verteilt, kommt man nicht weit. In den Heftchen wird notiert, was jede Familie im Monat an subventionierter Nahrung kaufen darf: ein paar Pfund Reis, ein paar Pfund weißen und braunen Zucker, Getreide, Öl, Kaffee, Eier und hin und wieder Fleisch oder Fisch. Mehr als zwei Wochen, so die Faustregel, kommt man damit nicht hin. Den Rest muss man sich auf den Bauernmärkten hinzukaufen, gegen CUC und zu relativ hohen Preisen. Ein Kilo des bei KubanerInnen äußerst beliebten Schweinefleischs kostet umgerechnet 1,40 Euro – bei Monatslöhnen von 15 bis 20 Euro kein Pappenstiel.
KubanerInnen, die im Tourismus arbeiten, werden direkt mit dem Gegensatz zwischen dem touristischen Leben im Überfluss und ihren Alltagserfahrungen zuhause konfrontiert. Yolania äußert sich zurückhaltend auf die Frage, ob dieser krasse Gegensatz für eine Gesellschaft, die seit der Revolution 1959 Egalität als einen wesentlichen Grundpfeiler des sozialen Zusammenhalts verankert hat, nicht ein Problem sei. „Es ist nicht einfach, aber so ist eben das Leben.“ Und sicher würde man gerne auch selbst mal reisen, allein um die Fremdsprachenkenntnisse vor Ort überprüfen zu können, fügt sie verlegen hinzu. Für die meisten KubanerInnen ist das freilich Wunschdenken.
So auch für einen Straßenkünstler, der auf der FIT Cuba auftritt. Dem deutschen Besucher stellt er sich mit den Worten vor: „Ich heiße Eric, nicht Erich wie Honecker.“ Honecker ist nach wie vor einer der bekanntesten deutschen Politiker auf der Karibikinsel. Die meisten deutschsprachigen KubanerInnen verdanken ihre Kenntnisse meist Aufenthalten in der DDR während seiner Amtszeit. Eric selbst war dafür viel zu jung, er spricht nur spanisch und in Raúl Castros Kurs sieht er keine nennenswerte Änderung. „In Kuba läuft alles weiter wie gehabt, das System der zwei Währungen ist das größte Problem.“
Und was Eric besonders stört: „Seit 50 Jahren marschiert Kuba in die eine Richtung und die Welt in eine andere. Vielleicht würden wir ja unseren Kurs aus freien Stücken beibehalten, aber wir haben nicht einmal die Möglichkeit, in andere Länder zu reisen, um uns die Gesellschaftssysteme dort anzuschauen.“ Im Gegensatz zu den TouristInnen, für die Kuba immer eine Reise wert ist.

// Feigenblatt statt Schutzschild

MenschenrechtsbeobachterInnen sollen Schutzschilde sein. Regierungen schrecken vor internationaler Kritik zurück und sehen daher von Angriffen auf die eigene Bevölkerung ab, wenn diese von AusländerInnen begleitet wird. So die Grundannahme, auf deren Basis AktivistInnen aus Europa und den USA zum Beispiel nach Mexiko kommen.

Am 27. April starb einer von ihnen im Kugelhagel von Paramilitärs. Der Finne Jyri Jaakkola und seine mexikanische Kollegin Alberta Beatriz Cariño überlebten den Versuch nicht, Lebensmittel in eine Gemeinde im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca zu bringen, die von einer paramilitärischen Organisation belagert wird (siehe Artikel ab Seite 34). Der Gouverneur von Oaxaca verkündete, statt wenigstens Besorgnis auszudrücken, Ausländer hätten in diesem Gebiet nichts zu suchen und er werde den rechtlichen Status derer überprüfen lassen, die den Angriff überlebt hatten. Und was war die internationale Reaktion? Die Vorsitzende der Kommission für Menschenrechte des Europäischen Parlaments, die Finnin Heidi Hautala, forderte eine Wahrheitskommission. Diplomatische VertreterInnen mehrerer europäischer Länder, darunter Deutschland, und der USA reisten nach Oaxaca, um mehr über den Vorfall zu erfahren.

Hat sich irgendeine einE deutscheR RegierungspolitikerIn dazu geäußert? Nein. Das ist nicht verwunderlich. 2006 wurden im zentralmexikanischen Atenco über 200 Menschen festgenommen, misshandelt und verschleppt. Es gab zwei Tote durch Schussverletzungen. Fünf AusländerInnen wurden misshandelt und illegal abgeschoben, darunter die deutsche Studentin Samantha Dietmar. Auch damals war von Seiten der deutschen Regierung keine Kritik am Vorgehen der mexikanischen Polizei zu hören. Mexiko ist ein geschätzter Handelspartner der Bundesrepublik. Knapp zehn Milliarden Euro betrug das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern im vergangenen Jahr. Als Präsident Felipe Calderón Anfang Mai anlässlich des Petersberger Klimadialogs Deutschland besuchte, zeigten er und Angela Merkel sich optimistisch und einig im Kampf gegen den Klimawandel – das Thema Menschenrechte kam nicht vor. Dabei bezeichnet das im Jahr 2000 geschlossene Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mexiko die Wahrung der Menschenrechte als einen „wesentlichen Bestandteil dieses Abkommens.“ Doch es gibt keine Kontrollmechanismen für die Menschenrechtssituation in Mexiko. Die Klausel ist ein Feigenblatt, mehr nicht.

Aber nicht nur die Handelsinteressen, auch ideologische Verbohrtheit hält die deutsche Politik von Kritik an Calderóns Menschenrechtspolitik ab. Man stelle sich vor, in Venezuela oder auf Kuba werde einE europäischer MenschenrechtsaktivistIn erschossen. Die Bundesregierung würde nicht zögern, die Menschenrechte gegen die unliebsamen Regierungen in Anschlag zu bringen.

Calderón aber ist keiner der linken lateinamerikanischen PräsidentInnen, die in den letzten Jahren mit mehr oder weniger Erfolg versucht haben, den Interessen des Südens Vorrang einzuräumen. Er ist einer dieser verlässlichen Partner, der hilft den industrie- und elitefreundlichen Status quo zu erhalten. Im Süden von Mexiko werden die Profitinteressen mit nackter Gewalt gegen die Bevölkerung durchgesetzt. Internationale Menschenrechtsbeobachtung verkommt zumindest in Mexiko zum porösen Schutzschild. Die AktivistInnen sind zunehmend selbst schutzlos und ihre Arbeit in Regionen, die es am nötigsten haben, wird erschwert. Die MexikanerInnen, die dort Tag für Tag mit Repression und staatlicher Willkür leben müssen, bleiben noch verwundbarer zurück.

„In Chile gibt es keine Zivilgesellschaft mehr“

Chile ist ein Land, das in seiner Geschichte immer wieder von starken Erdbeben erschüttert wurde. Welche Besonderheiten zeichnen sich beim Wiederaufbau nach dem Beben am 27. Februar 2010 ab?
Heute stehen wir einer Katastrophe gegenüber, bei der die chilenische Zivilgesellschaft im Vergleich zum Erdbeben 1985 wenig zu sagen hat, da die Hilfe größtenteils durch die Zusammenarbeit staatlicher und privatwirtschaftlicher Gruppen organisiert wird. 1985 wurde ein großer Teil des Wiederaufbaus nicht von staatlicher Seite getragen, sondern von Organisationen, die mit der Kirche und Nichtregierungsorganisationen in Verbindung standen. Im Moment scheint es jedoch von zentraler Bedeutung zu sein, Konditionen für die Reaktivierung der Privatwirtschaft zu schaffen.

Was heißt das für die konkrete Umsetzung?
Der herrschende Diskurs hat dazu geführt, dass die Mehrzahl der Chilenen heute davon überzeugt ist, dass Probleme, wie zum Beispiel der jetzige Wiederaufbau, nur von Privatunternehmen gelöst werden können. Der ökonomische und materielle Wiederaufbau sind nicht das Problem, da in Chile genügend Ressourcen dafür vorhanden und die technischen Kapazitäten ausreichend sind. Es ist aber essenziell die Kontrolle genau über die Frage des Wie zu gewinnen.

Spielt die Zivilgesellschaft dabei überhaupt noch eine Rolle?
Zuerst einmal möchte ich anmerken, dass es nach meiner Meinung in Chile keine Zivilgesellschaft mehr gibt. Und wenn jemand behauptet, es gäbe eine, dann ist diese mit karitativen Aktionen beschäftigt. Diese völlig chaotische Hilfskampagne offenbart die Absenz der sozialen Netze. Wenn wir zum Beispiel Kuba betrachten, dann sehen wir dort eine Zivilgesellschaft, die auf Naturkatastrophen bestens vorbereitet ist. Bei den immer wiederkehrenden Tornados kommuniziert die Nachbarschaft und reagiert gemeinsam. Ich denke, der Wiederaufbau sollte ausgehend von der lokalen Basis geschehen. Es ist äußerst wichtig, die einheimische Bevölkerung mit ihrem lokalen Wissen bei dem Prozess mit einzubeziehen, um die Ortschaften und Stadtteile wieder in ihrem ursprünglichen Kontext aufzubauen. Es muss vermieden werden, dass Tabula rasa gemacht und etwas komplett Neues konstruiert wird. Das, was zerstört wurde, hat einen speziellen Wert für die Menschen und der darf nicht verloren gehen.

Beim missglückten Tsunami-Alarm wie auch später bei der Evakuierung und den Hilfsmaßnahmen kam es zu Unstimmigkeiten zwischen den zuständigen Behörden. Wie erklärt es sich, dass die chilenische Regierung so unvorbereitet von dem Erdbeben getroffen wurde?
Ich denke, dass der Großteil des Unvermögens, auf solch eine Katastrophe angemessen zu reagieren, mit dem Staat zu tun hat, den wir aufgebaut haben. Dies zeigt sich zum einen in der technokratischen Antwort der Regierung. So fand beispielsweise die Einschätzung der Lage vom Helikopter aus statt, um dann von dort oben zu berichten: „Schau mal, uns geht´s nicht gut”. Das chilenische Modell wird auch dadurch in Frage gestellt, dass wir in absoluter Abhängigkeit der privaten Dienstleister agieren, sogar in strategischen Bereichen. Mit dem Militär haben wir ein Hilfsmittel zur Hand, welches anscheinend nicht auf Notfallsituationen vorbereitet ist. So hängt in einer Notlage die Wiederherstellung der essenziellen Infrastruktur, wie etwa die Wasserversorgung und die Telekommunikation, von der Kapazität der Privatunternehmen ab. Man sollte sich fragen, welche Kapazität ein Staat im Angesicht einer solchen Katastrophe besitzen sollte, um autonom zu reagieren?

In den Tagen nach dem Beben kam es in den stark betroffen Städten Concepción und Chillan vermehrt zu Plünderungen. Wie ist das zu erklären?
In Chile leben viele Menschen von der Hand in den Mund. Es gibt zum einen viel Arbeit im informellen Sektor, andererseits gibt es viele saisonale Anstellungen. Damit ist offensichtlich, dass es sich hierbei nicht um eine Bevölkerung handelt, die Geld auf der Bank gespart hat, auf welches sie bei einer solchen Katastrophe zurückgreifen könnte. Wenn sie fünf Tage nicht arbeiten, bedeutet das für sie fünf Tage ohne Essen. Deshalb müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass im Kontext einer Naturkatastrophe Plünderung etwas total Normales ist.

In den letzten Wochen fanden in Chile vielerei Freiwilligenaktionen, Wohltätigkeitskampagnen und eine große Spendengala statt. Kann man da von einer Welle der Solidarität sprechen?
Mir fällt es schwer, das Solidarität zu nennen. Solidarität ist meiner Meinung nach etwas Beständigeres. Im Fall der Spendengala handelt es sich um eine karitative Aktion, die die emotionale Ebene anspricht. Außerdem haben sich aufgrund der sozialen Ungerechtigkeit in Chile seit einigen Jahren katholisch geprägte Inititativen entwickelt, die sich bemühen, Jugendliche in Freiwilligenaktionen zu integrieren.

Sie sprechen die Jugendlichen aus der Mittel- und Oberschicht an, die den Rucksack packen und sich auf den Weg ins Erdbebengebiet machen.
Hierbei handelt es sich um eine gönnerhafte und karitative Aktion der Oligarchie für diejenigen, die nichts haben. Das ganze könnte man auch „solidarischen Tourismus“ nennen. Dieses Phänomen tritt in dem Maße in Erscheinung, in dem wir als Gesellschaft nicht fähig sind, auf solch eine Situation rational zu reagieren. Es existierten zum Beispiel im Katastrophengebiet auf lokaler Ebene keine sozialen Netze, die zusammenarbeiten hätten können, um Hilfe zu empfangen und zu organisieren. So kann man von vielen Leuten, die vor Ort arbeiten, hören, dass es große Probleme gibt, mit der Hilfe umzugehen, dass zum Beispiel zuviel Kleidung und Essen geliefert wird und keine angemessenen Verteilungsmechanismen vorhanden sind.

KASTEN:

Jorge Salas Larenas

Der Soziologe ist Direktor des Instituts für Wohnungsbau (INVI) an der Fakultät für Architektur und Städtebau an der Universidad de Chile. Das INVI ist eine von drei universitären Einrichtungen, die von der gerade abgelösten Regierung beauftragt worden sind, Projektvorschläge für die Wiederaufbaumaßnahmen im Erdbebengebiet des Landes auszuarbeiten.

Ein Gespenst geht um

Ganz Asunción schien in Weiß gehüllt zu sein. Es war jedoch kein Schnee, sondern eine Vielzahl von Schleifen, Plakaten und Aufklebern, die das Hauptstadtpanorama derart prägten. Geziert mit Schriftzügen wie „Wir alle sind Fidel“, „Kraft für Fidel“ oder „Für ein friedliches Paraguay“ sollten diese Solidarität mit dem Großgrundbeseitzer und Viehzüchter Fidel Zavala demonstrieren. Dieser erlangte dann Mitte Januar seine Freiheit wieder, nachdem er 94 Tage zuvor von einer Guerilla, die sich Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) nennt, entführt worden war. Lösegeld in Höhe von einer halben Million US-Dollar sowie die Übergabe 30 geschlachteter Rinder an arme Gemeinden ließen seine EntführerInnen schließlich einlenken.
Es war nicht das erste Mal, dass die EPP in Erscheinung trat. Doch das meiste, was über sie bekannt ist, bleibt Spekulation, die meisten ihrer aktiven Mitglieder in Freiheit ohne Gesicht. Ihre Zahl wird auf 15 bis 60 geschätzt. Der Kreis der SympathisantInnen und UnterstützerInnen sei um einiges größer. Ziel ist die Umgestaltung der Gesellschaft, da diese laut EPP auf der extremen Armut der Massen aufbaue.
Die Wurzeln der Gruppe liegen in der linksradikalen Partei Patria Libre. In den 1990er Jahren beteiligte sich die Partei auf legale Weise am politischen Geschehen und wurde geleitet von den Führungsfiguren Juan Arrom und Anuncio Martí. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, wechselten sie 2001 die Strategie: Teile der Partei waren in die Entführung von María Bordón de Debernardi verwickelt, der Schwiegertochter des ehemaligen Direktors des Wasserkraftwerks Itaipú, Enzo Debernardi. Die Entführte wurde nach Zahlung von zwei Millionen US-Dollar Lösegeld freigelassen.
Die Staatsgewalt wusste sich damals nicht anders zu helfen, als ihrerseits Arrom und Martí zu entführen und in einer leerstehenden Wohnung in den Außenbezirken von Asunción zu foltern. Dunkle Erinnerungen an die Militärdiktaturen werden hier wach. Beide kamen schließlich auf Druck von Angehörigen und der Presse frei, und flüchteten kurz darauf nach Brasilien.
Doch die Entführungen gingen weiter. Im September 2004 traf es Cecilia Cubas, die Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Verhandlungen blieben erfolglos, und fünf Monate später wurde die tote Cubas nackt und gefesselt in einem Erdloch aufgefunden. Angehörige von Patria Libre bestreiten bis heute ihre Beteiligung an der Tat. Osmar Martínez wurde als Drahtzieher zu 35 Jahren Haft verurteilt, doch er bezeichnet die gegen ihn vorliegenden Beweise als fingiert. Ein angeblich aufgefundenes Instruktionsvideo sowie diverse Emails sollen außerdem die Verwicklung der kolumbianischen FARC beweisen. Doch die ehemalige Guerillera Carmen Villalba widerspricht dem. Nach der Debernardi-Entführung wurde sie verhaftet und zu 18 Jahren hinter Gittern verurteilt und stellt seitdem aus dem Gefängnis heraus eine Art Stimme der bewaffneten Gruppe dar. Sie behauptet, die Verbindung zur FARC sei erfunden worden, um Gelder aus Kolumbien und den USA zur Terrorismusbekämpfung einzuwerben.
In den folgenden Jahren wurde es ruhiger um die Gruppe. Im März 2008 trat sie dann unter ihrem heutigen Namen EPP erneut in Erscheinung. Damals zerstörten die gueriller@s mehrere Produktions‑
anlagen einer Sojaplantage, gegen deren Besitzer zuvor Vorwürfe wegen Pestizideinsatzes erhoben worden waren. Einen Monat später folgte ein Überfall auf eine Polizeistation in Hugua Ñandu, bei dem Waffen erbeutet wurden. Im Juli wurde der Großgrundbesitzer Luis Lindstroem entführt, der nach einer Zahlung von 350.000 US-Dollar freigelassen wurde. Ende 2008 attackierte die Gruppe einen Militärposten in Tacuatí und ließ diesen in Flammen aufgehen. Auf massiven Druck der Medien hin wurde von staatlicher Seite der „Plan Jerovia“ (Guaraní für „Glaube“) ins Leben gerufen. Eine Hundertschaft von Polizisten und Spezial‑
einheiten durchpflügte den Norden des Landes. Während es dabei zu Misshandlungen von campesin@s kam, konnten die Sicherheitskräfte keine Spuren der Guerilla finden. Zuletzt war im März 2009 von der EPP zu hören, als ihr ein glimpflich abgelaufener Bombenanschlag auf den Justizpalast von Asunción zugeschrieben wurde.
Das operative Zentrum der Gruppe soll sich im Norden des Landes befinden. In dieser Region im Dreieck der Departamentos San Pedro, Concepción und Amambay ist die ungleiche Landverteilung besonders ausgeprägt, es gibt viele GroßgrundbesitzerInnen, die Wälder abholzen, sich der extensiven Viehzucht und dem Anbau von gentechnisch manipulierten Soja widmen. Präsident Fernando Lugo machte sich vor seinem Wahlsieg in diesem Gebiet als Armenbischof einen Namen. Die Armut der Masse der Kleinbäuerinnen und -bauern stellt einen reichen Nährboden für politische Gruppierungen dar, die Besserung versprechen. Ihre sozialrevolutionäre Rhetorik verschafft der EPP natürlich auch Sympathie von Seiten der Kleinbäuerinnen und -bauern. Manche sprechen gar von einer Symbiose à la Robin Hood. Nach dieser Interpretation steckt die EPP das von ihr erbeutete Geld in Hilfsprojekte und finanziert soziale Proteste. Zu dieser Darstellung der Guerilla passt die Forderung der EPP, die Familie Zavalas solle 30 geschlachtete Rinder an indigene Gemeinden und Armensiedlungen abgeben. Dass es aber erst einer Guerilla für solch ein soziales Engagement bedürfe, spricht Bände über die schwache Zivilgesellschaft des Landes.
Die staatliche Seite spricht der Gruppe dennoch jegliche politische Intention ab. Keine Guerilla, sondern eine verbrecherische Bande treibe ihr Unwesen in einem Land, in dem Entführungen gut betuchter Personen so unüblich ja auch nicht sind. So wird behauptet, die EPP sei in Wirklichkeit eine Drogenmafia, die für ihre kriminellen Machenschaften nur ein politisches Käppchen aufgesetzt habe. Eigentlich legitime soziale Forderungen lassen sich so natürlich leicht kriminalisieren.
Präsident Fernando Lugo bleibt bei all dieser Spekulation auch nicht verschont. Rechte Kreise in Paraguay werfen ihm wegen seiner vermeintlich klassenkämpferischen Rhetorik die Anstachelung sozialer Verwerfungen und eine Mitschuld an der Gewalt vor. Andere sehen seine angebliche Tatenlosigkeit als Beweis für eine Sympathie mit der Guerilla oder meinen gar persönliche Kontakte zwischen ihm und der Gruppe ausmachen zu können, da einige der Beteiligten ehemalige Schüler seines Priesterseminars sein sollen. Arrom, der charismatische, ehemalige Chef von Patria Libre, den viele trotz seines Exils in Brasilien in Verbindung mit den Entführungen sehen, wird ebenfalls eine sehr enge Beziehung zum Präsident nachgesagt. Angeblich soll er auf einer Feier einer der Frauen gesehen worden sein, die den ehemaligen Bischof Lugo als Vater ihres Kindes proklamieren. Der Sinn einer solchen Verbindung dürfte sich allerdings ausschließlich MitarbeiterInnen der Regenbogenpresse erschließen.
Die einzigen Zusammenhänge, die sich zwischen Lugo und der Guerilla ausmachen lassen, liegen in den Stellungnahmen der EPP. Dort wird die sehr unbefriedigend verlaufende Agrarreform als einer der Gründe für die Aktionen genannt. Der Präsident seinerseits distanziert sich von jeglichem gewaltsamen Extremismus.
Die Linke nimmt Lugo dagegen die von dem ihm treuen Innenminister Rafael Fillizola eingeleitete „Operativo Triangulo“ übel, die ähnlich dem „Plan Jerovia“ erneut mehrere hundert Spezialkräfte in den Norden verlagert. Bei vielen weckt dies schlimme Erinnerungen an vergangene Tage. Erst nach der Zahlung des Lösegeldes im Fall Zavalas kam es zur Verhaftung einer Reihe vermeintlicher gueriller@s, welche die EPP logistisch unterstützt haben sollen. Es traf unter anderem die Tochter eines bekannten Funktionärs der Bauernorganisation OCN, die in Kuba studiert hatte.
Mag die Erfolglosigkeit bei der Suche nach den zentralen Aktiven der EPP vielleicht daran liegen, dass die EPP letztlich gar nicht existiert? Ist sie gar eine Fantasiegeburt der Presse und konservativer Kräfte, um Lugo in Verlegenheit zu bringen? Allzu dünn seien die Beweise, die auf die Existenz der Guerilla hinweisen, glauben die VertreterInnen dieser Theorie. Auch wenn diese Version sich einigen Zuspruchs erfreut, scheint sie angesichts des betriebenen Aufwands doch sehr abwegig.
Auf jeden Fall nutzt die Rechte dieses Durcheinander nur allzu gerne aus, um das schon seit einiger Zeit in der Luft schwebende Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo voranzutreiben. Neben dem Wirken der Guerilla – die jedoch schon lange vor Lugo aktiv war – werfen sie Lugo den Bruch zentraler Wahlversprechen vor. Dabei wird unterschlagen, dass Reformen nun einmal Zeit brauchen und Lugo mit der Neuaushandlung des Vertrages mit Brasilien über den Itaipú-Staudamm, sowie den Maßnahmen im Gesundheitsbereich wichtige Schritte gelungen sind. Sein „Programa Abrazo“ brachte außerdem bis heute über tausend Straßenkinder in sozialen Heimen unter.
Trotz der gezielt verzerrten Berichterstattung der mit den UnternehmerInnen des Landes verflochtenen Massenmedien fehlen für das Amtsenthebungsverfahren bisher noch die notwendigen Stimmen. Teile der Liberalen Partei PRLA, die Lugo ursprünglich unterstützte, fahren daher weiterhin schwere Angriffe gegen ihn. Vizepräsident Federico Franco, der als Teil der Exekutive den Präsidenten zwar kontrollieren, aber eigentlich unterstützen sollte, spinnt fleißig Intrigen und sieht sich wohl bereits als Lugos Erbe. Damit will die Colorado-Partei, die wegen Lugo ihre 68 Jahre dauernde Alleinherrschaft beenden musste, nicht leben. Doch mit der Ankündigung ihres Angeordneten Luis Alberto Castiglioni, mit seiner Gefolgschaft künftig das Amtsenthebungsverfahren zu unterstützen, könnte Francos Wunsch bald in Erfüllung gehen.
Offen ist, wie sich das Militär verhalten wird. Die Streitkräfte halten sich zwar seit den verheerenden Ereignissen um ihren damaligen Oberbefehlshaber Lino Oviedo, der 1996 und 1999 beinahe putschte, mit ihrer Einflussnahme auf die Politik zurück. Aber Spannungen zwischen Lugo und den Streitkräften sind offensichtlich. Und seit seinem Amtsantritt besetzte Lugo bereits mehrfach führende Generalsposten in den Streikräften neu.
Gerade die jüngsten Ereignisse in Honduras haben auch gezeigt, wie verfassungswidrige militärische Einflussnahme innerhalb kurzer Zeit per Wahlen nachträglich legitimiert werden kann. Diese Erfahrung könnte die Militärs zusätzlich anstacheln. Mit oder ohne Guerilla, dem Präsidenten stehen schwere Zeiten bevor.

Ein Staat wie jeder andere?

Begonnen hatte alles mit vielversprechenden Ankündigungen. Noch vor dem Amtsantritt ihres Chefs im Weißen Haus am 19. Januar 2009 versprach die designierte Außenministerin Hillary Clinton gegenüber Lateinamerika „direkte Diplomatie“, basierend auf „intelligenter Macht“. Aber bereits hier zeigte sich auch die andere Hauptlinie: „Wir müssen eine positive Agenda für die Hemisphäre haben – als Antwort auf die Angst machende Propaganda von Chávez und Evo Morales.“ Ein halbes Jahr später, Ende Juli, präzisierte Clinton die US-Außenpolitik als smart power vor dem gleichen Ausschuss: Darunter sei zu verstehen, dass die USA ihre Instrumente intelligent einsetzen und dabei weiterhin auf ihre Führungsstärke setzen wolle. Dabei war die Wortwahl von Vizepräsident Biden auf dem Amerika-Gipfel von Viña del Mar Ende März 2009 noch eine andere: „Die Epoche, in der wir Befehle gaben, ist vorbei“.
Welchen Stellenwert die oberste US-Außenpolitikerin dann vier Monate später Lateinamerika zumaß, erschloss sich aus der Agenda: Nach Europa und vielen anderen Regionen tauchte Lateinamerika unter den Stichworten Guantánamo und Drogenkrieg erst am Ende auf. Abraham F. Lowenthal, Professor für Internationale Beziehungen der University of Southern California, sieht das anders. In einem umfangreichen Beitrag in der August Ausgabe der Zeitschrift „Nueva Sociedad“ nennt er vier Gründe, warum die Lateinamerika-Politik für die USA besonders wichtig ist: Mit der zunehmenden Migration sind die amerikanischen Staaten näher zueinander gerückt; die Hälfte der Energie-Importe der USA kommen aus Lateinamerika; internationale Probleme wie die globale Erwärmung oder die Verbrechensbekämpfung sind nur überregional zu lösen, und es gibt gemeinsame Werte wie die grundlegenden Menschenrechte. Insofern sei die westliche Hemisphäre der natürliche Rahmen der USA in einer Welt, die immer unübersichtlicher werde und immer weniger attraktiv sei. Lowenthal macht zudem drei Prinzipien der Obama-Politik gegenüber Lateinamerika aus: Den Versuch, verloren gegangenes Vertrauen wieder zurück zu gewinnen; die Fokussierung auf einige wenige Probleme wie Energie, Umwelt und öffentliche Sicherheit sowie die Anerkennung von Unterschieden in Lateinamerika. Insofern sei die US-Politik auch eher bilateral ausgerichtet. Brasilien, Mexiko, aber auch Kuba stünden hier im Vordergrund. Dass die US-Politik in den kommenden Monaten oder Jahren in Missklang oder Schweigen enden könne, will Lowenthal nicht ausschließen. Auch Widersprüche sieht er. Etwa, wenn Hillary Clinton das propagierte Recht der Völker Amerikas auf Selbstbestimmung mit der Aussage konterkariert, dass die zunehmende Präsenz Chinas auf dem Kontinent für die US-Regierung Grund zur Besorgnis sei. Was Lowenthal allerdings zuversichtlich stimmt, ist die relative Schwächung von Lobby-Gruppen, die gegen den eingeschlagenen Kurs sind: die Exilkubaner in Florida etwa oder die US-Waffenlobby. Das könnte der Regierung mehr Handlungsspielräume eröffnen. Eine strategische Vision für Lateinamerika habe die US-Regierung jedenfalls.
Die Reaktion in Lateinamerika war von Beginn an mehrheitlich von kritischer Distanz geprägt. Emir Sader, brasilianischer Linksintellektueller, sprach bereits im Januar vom „schlechten Anfang Hillary Clintons“ und konstatierte, sie spreche, als ob sie sich im leeren, a-historischen Raum bewege. Er verlangte zuerst eine Selbstkritik der Politik unter Bill Clinton und Bush. Frau Clinton solle sich zunächst darüber bewusst werden, dass Amerika nicht mehr der gleiche Kontinent sei wie zur Regierungszeit ihres Mannes, als noch der Neoliberalismus und der amerikanische Freihandelsvertrag „regierten“. Im Februar präzisierte er: Wenn Obama den minimalen Respekt der lateinamerikanischen Länder erreichen wolle, müsse er nur dafür sorgen, dass Nordamerika sich einfach so verhalte wie all die anderen Staaten, die es auf der Welt gibt. In Saders Forderungskatalog finden sich: Einfrieren der Liste der Länder, die nicht mit den USA oder der Antidrogenbehörde DEA kooperieren sowie der Liste der als „terroristisch“ eingestuften Länder oder politischen Kräfte, sofortiger Rückzug der US-Truppen aus Guantánamo und Rückgabe des Territoriums an die kubanische Regierung. Atilio Borón, Soziologe an der Universität in Buenos Aires, sah in Obama einen „tío (Onkel) Tom: Ein deklassierter Schwarzer, der die Seinen verrät und sich in den Dienst der Herren stellt.“ Statt mit den Wall Street-Machern zu kungeln, hätte Obama sich mit den Führungspersonen der sozialen Bewegungen treffen sollen, die ihn überhaupt erst ins Weiße Haus katapultiert hätten.
Gleich nach dem Amtsantritt verkündete Obama sein Ziel, Guantánamo zu schließen, Reiseerleichterungen für ExilkubanerInnen und eine Lockerung der Bestimmungen zum privaten Geldtransfer (remesas) einzuführen. Borón war dies einen Applaus wert. Doch auf dem OAS-Gipfel in Trinidad und Tobago vom April machten lateinamerikanische Betrachter die Beobachtung, dass sich die großen Orientierungspunkte der Außenpolitik der Ära Bush „bester Gesundheit erfreuten“: Krieg und Ökonomie. Die Weichen hinter dem change scheinen auf Kontinuität gestellt, so Borón, der jenseits der Gesten wie dem Händedruck mit Chávez oder dem Gesprächsangebot an Kuba als ersten konkreten Schritt die Aufhebung des Embargos gegenüber der Karibikinsel verlangte. Das Verhalten der USA gegenüber Kuba könnte zu einer Nagelprobe seiner Lateinamerika-Politik werden. Obama dürfte es daran gespürt haben, dass ausgerechnet der erklärte USA-Bewunderer Álvaro Uribe, Kolumbiens konservativer Staatspräsident, formulierte: „Kolumbien spürt, dass die kubanische Regierung für den Frieden in der Region arbeitet.“
Ende Juni kam dann die nächste Nagelprobe für die US-Lateinamerika-Politik: der Putsch in Honduras. Von Beginn an kursierten Gerüchte, wonach die CIA daran beteiligt gewesen sei und die Vermutung, die honduranischen Militärs hätten niemals ohne „Rückfrage“ in Washington gehandelt. Die konkreten Schritte der US-Administration geben jedenfalls ein uneindeutiges Bild ab. Einerseits wurde der Putsch verurteilt, Zelaya als rechtmäßiger Präsident anerkannt, einigen Putschisten die Einreise in die USA verweigert, die aktuelle Militärhilfe in Höhe von 16,5 Millionen Dollar eingefroren und mit Costa Ricas Präsident Arias eine diplomatische Vermittlungsoffensive gestartet. Andererseits wird letzterer in Lateinamerika auch als „Sprecher des Imperiums“ (Borón) wahrgenommen und den USA Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Die mehr als zehnmal höhere Wirtschaftshilfe für Honduras laufe weiter, zur andauernden Repression gegen Demonstranten, zu Ausgangssperren und Pressezensur schwiegen die USA. Obama habe noch ganz andere Waffen in der Hand, etwa die bürokratische Behinderung von remesas der Exil-Honduraner oder die Bitte an die europäischen Freunde, die Beziehungen mit der Putschisten-Regierung in Tegucigalpa einzufrieren. Unbestritten war Honduras die erste Krise in den US-lateinamerikanischen Beziehungen in der Obama-Ära. Emir Sader sah im Verhalten der USA die Handschrift Hillary Clintons, die durch die Vermittlung Arias einen einzigartigen Weg gefunden habe: Ohne Wahlmanipulation und ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, in die inneren Angelegenheiten eines Landes einzugreifen. Noam Chomsky hatte bereits im März – also noch vor dem Putsch – an die Domino-Theorie der US-Lateinamerikapolitik ab den 50er Jahren erinnert. „Die Bedrohung durch das gute Beispiel“ zwingt dazu, jedes Abfallen eines lateinamerikanischen Staates vom US-dominierten Weg zu verhindern, da sonst weitere wie Domino-Steine fallen würden. Viele Staaten hatten geglaubt, dass so etwas im 21. Jahrhundert in Lateinamerika nicht mehr passieren könne – und wenn, dann eben nur unter tatkräftiger Mithilfe der USA. Obama verteidigte sich gegen die Kritiker, die ein Eingreifen Washingtons zugunsten Zelayas forderten, mit dem Argument: „Das sind dieselben, die sonst immer sagen, wir intervenieren immer, und dass die Yankees Lateinamerika verlassen sollen.“
Als Uribe im Juli ankündigte, er werde in seinem Land sieben US-Militärbasen zur Verfügung stellen, waren die Flitterwochen zwischen der neuen US-Regierung und Lateinamerika endgültig vorbei. Selbst gemäßigte Linke wie Brasiliens Lula da Silva reagierten arg reserviert. Auf dem Treffen der UNASUR (südamerikanisches Staatenbündnis) artikulierten denn auch nahezu alle Staatschefs – Uribe hatte kurzfristig abgesagt – ihre Kritik an der kolumbianisch-amerikanischen Kooperation. Zu sehen ist sie im Kontext des bereits unter Bill Clinton im Jahr 2000 initiierten „Plan Colombia“, der Drogenproduktion und Drogenhandel unterbinden sollte. Viele Regierungen in Lateinamerika sahen darin von Anfang an einen Deckmantel zur Sicherung der US-Präsenz in der Region. Daher kam bald der Gedanke auf, die USA verfolgten andere Ziele: geostrategische Sicherung des Zugangs zum Erdöl der Andenregion, Ausbau Kolumbiens als Brückenkopf in Südamerika, Ersatz für die bisherige Militärbasis im ecuadorianischen Manta, die die neue linke Regierung nicht verlängert hatte. Befürchtet wird nun eine Rüstungsspirale. Immerhin ist Kolumbien nach Israel bzw. Ägypten der größte Empfänger US-amerikanischer Militärhilfe. Andererseits zeigte sich Hillary Clinton im September besorgt über die Waffenkäufe Venezuelas in Russland: immerhin 92 russische Panzer im Wert von 1,5 Milliarden Euro – als Reaktion auf die Bedrohung durch Kolumbien, hieß es aus Caracas. Brasilien hatte bereits zuvor durch eine „strategische Rüstungs- und Atompartnerschaft mit Frankreich“ für Aufsehen gesorgt: 36 Kampfflugzeuge für 5 Milliarden Euro. Man muss dies allerdings auch als Ausdruck des Anspruchs einer Regionalmacht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sehen. Die BBC wiegelte daher auch ab: „Washington weiß, sobald es Brasiliens Anspruch auf die regionale Führungsrolle akzeptiert, wird viel von Chávez´ Donnern verschwinden.“ Allerdings rücken sich zwei Hauptkontrahenten in der westlichen Hemisphäre durch die geplante US-Stationierung bedrohlich nahe. So sieht es auch Fidel Castro, der sich am 6. November 2009 dazu unter dem Titel „Die Annexion Kolumbiens durch die USA“ publizistisch äußerte. Er habe den kolumbianisch-amerikanischen Vertrag gelesen und darin keine glaubhafte Begründung für diesen Kontrakt gefunden. Erinnert fühle er sich an die von den USA mit vorbereitete und unterstützte Invasion in der kubanischen Playa de Girón. Die B-26 Bomber operierten von Nicaragua aus. Heute stehe das US-Kriegsgerät in Kolumbien und bedrohe nicht nur Venezuela, sondern alle Mittel- und Süd­amerikanischen Staaten. Es hat den Anschein, dass in Amerika aktuell wieder alles beim Alten ist: dieselben Kontrahenten, dieselben Argumentationsmuster. Interessanterweise hatten schon Condoleezza Rice und Noam Chomsky – aus zwei politisch total gegensätzlichen Positionen – das Gleiche prophezeit: Obamas Außenpolitik werde sich kaum von der zweiten Amtsperiode George Walker Bushs unterscheiden.
Das militärische Auftreten der USA nach dem Erdbeben in Haiti untermauert die Richtigkeit dieser Einschätzung. Von vielen in Lateinamerika wird die US-Militärpräsenz nach dem Beben bereits als „kalte Intervention“ gesehen, die gegen eine stärkere Rolle Kubas in der Karibik und gegen Brasilien – als Führungsmacht der UN-Friedensmission auf der Insel – gerichtet sei.

Rückkehr zur Scheindemokratie

Eine Lösung der politischen Krise in Honduras ist noch lange nicht in Sicht. Am 2. Dezember lehnte das honduranische Parlament eine vorübergehende Wiedereinsetzung Zelayas mit klarer Mehrheit ab. 111 der Abgeordneten stimmten gegen Zelaya, 14 sprachen sich für seine Wiedereinsetzung aus und drei Abgeordnete enthielten sich. Zuvor hatte Zelaya kategorisch ausgeschlossen, wieder in sein Amt zurückzukehren, sollte dies nicht bis vor den Wahlen geschehen. Damit wollte er vermeiden, persönlich den Putsch im Nachhinein zu legitimieren. Das ist bisher aber auch alles was Zelaya in dieser komplizierten Situation erreicht hat. Er sitzt nach wie vor isoliert in der brasilianischen Botschaft.
Vorerst wurde damit die Chance vertan, einen Wandel in Honduras einzuleiten. Die Widerstandsbewegung hält jedoch an einer Verfassunggebenden Versammlung fest und gibt sich weiterhin kämpferisch. Die Wahlfarce vom 29. November lehnt die Widerstandsbewegung als illegitim ab, da Zelaya zuvor nicht ins Präsidentenamt zurückgekehrt war. Juan Barahona, Sprecher der Bewegung, sagte, die honduranische Bevölkerung sei motiviert weiterzukämpfen. Sie werde nun aber nicht mehr für die Wiedereinsetzung Zelayas, sondern in erster Linie für die Verfassunggebende Versammlung mobilisieren. Die Wahlen, an denen die Putschregierung gegen alle Widerstände krampfhaft festgehalten hatte und die sie als einen ihnen genehmen Ausweg aus der Krise betrachtet, endeten wie erwartet: Porfirio Lobo, Kandidat der konservativen Nationalen Partei, setzte sich mit 56 Prozent der Stimmen gegen Elvin Santos durch. Der Kandidat der Liberalen Partei, welcher sowohl Zelaya als auch Putschpräident Roberto Micheletti angehören, kam laut offiziellen Angaben auf 38 Prozent. Der unabhängige linke Kandidat Carlos Reyes hatte zuvor seine Kandidatur zurückgezogen. Die kleine linke Partei Unificación Democrática (UD), die prinzipiell die Widerstandsbewegung unterstützt und sich für die Rückkehr Zelayas einsetzte, nahm hingegen an der Wahl teil, blieb aber völlig chancenlos. Im Falle einer Nichtteilnahme, hätte sich die Partei nach honduranischem Recht auflösen müssen.
Wie viele HonduranerInnen an den Wahlen teilgenommen haben, ist schwer zu sagen. Das Oberste Wahlgericht sprach zunächst von über 60 Prozent Wahlbeteiligung, was für Honduras ein ungewöhnlich hoher Wert wäre. Später korrigierte es den Wert auf nur noch 49 Prozent. Die Widerstandsbewegung kommt nach ihren Beobachtungen und Berechnungen auf ganz andere Werte. Der Jesuitenpriester und Direktor von Radio Progreso, Ismael Moreno, Bertha Oliva von der Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Familien von Verhafteten und Verschwundenen in Honduras) sowie Berichte von unabhängigen Medien schätzen die Wahlbeteiligung auf 25 bis 35 Prozent. Da keine vertrauenswürdigen WahlbeobachterInnen vor Ort waren, sondern fast ausschließlich VertreterInnen rechtsgerichteter Parteien und Organisationen, die zuvor meist explizit den Putsch gutgeheißen hatten, besitzen zumindest die offiziellen Zahlen keinerlei Glaubwürdigkeit.
Es bleibt abzuwarten, ob und wie Porfirio Lobo mit seinem Legitimationsdefizit umgehen wird. Er selbst will eine große nationale Übereinkunft erreichen. Wie dies im Hinblick auf die, nicht nur politisch sondern seit langem auch ökonomisch und sozial entzweite honduranische Gesellschaft funktionieren soll, bleibt unklar. Ebenso fraglich ist, ob Lobo der richtige Kandidat dafür sein kann.
Porfirio Lobo ist einer der größten Agrarproduzenten Mittelamerikas und besitzt im Departsment o Olancho im Osten des Landes große Ländereien. Er studierte Betriebswirtschaft in Tegucigalpa sowie Miami und wurde 1990 Abgeordneter im Parlament. Die Mitglieder seiner Partei nennt Lobo „christliche Humanisten“. Weder human noch christlich setzte er sich bei den Wahlen 2005 hingegen für die Wiedereinführung der Todesstrafe zur Verbrechensbekämpfung ein. Vielleicht auch deshalb verlor er damals knapp gegen Manuel Zelaya.
Zu seinem Sieg haben Lobo bisher nur rechtsgerichtete Regierungen Lateinamerikas wie Panama, Kolumbien und Peru gratuliert und damit die Wahlen anerkannt. Aber auch Costa Rica und die USA sehen die Wahlen als legitimen und wichtigen Schritt in Richtung verfassungsmäßige Demokratie. Obwohl Präsident Obama anfangs den Putsch verurteilte, Diplomatenvisa einziehen ließ und partiell Finanzhilfen einfror, ruderte die US-Regierung im November wieder zurück. Die Druckmittel wurden nach dem nur halbherzig ausgeführten Vereinbarungen des Tegucigalpa – San José Abkommens, welches unter anderem die Wiedereinsetzung Zelayas vorsah, von Seiten der US Regierung wieder aufgehoben (siehe LN 426). Der Putsch wird somit seitens der USA legitimiert, ohne dass die Verfassungsmäßigkeit wiederhergestellt ist. Zelaya und seine UnterhändlerInnen wurden an der Nase herumgeführt und diplomatisch ausgebremst.
Hier zeigt sich die Spaltung, die nicht nur durch die honduranische Gesellschaft, sondern den gesamten amerikanischen Kontinent geht. Doch auch internationale Akteure wie die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind weiterhin geteilter Meinung. Der spanische Außenminister Miguel Ángel Moratinos erwähnte als bisher klarer Unterstützer Zelayas eine Strategie, die Wahlen weder anzuerkennen noch zu ignorieren. Sollte dies ein Schritt in Richtung, wenn auch nur partieller, Anerkennung der illegitimen Regierung sein? Die lateinamerikanische konservative Rechte scheint mit der Legitimierung des Putsches durch die USA und Teile der EU wieder an Stärke zu gewinnen. Zumindest aus ihrer Sicht war der Putsch ein Erfolg.
Vorerst bleibt offen, wie die EU mit der neuen Regierung umgehen wird und ob lateinamerikanische Staatenbündnisse wie der von Brasilien und Argentinien dominierte Markt des Südens (Mercosur) oder die von Venezuela und Kuba initiierte Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) bei ihren Standpunkt bleiben, die neue Regierung unter keinen Umständen anzuerkennen. Porfirio Lobo selbst sagt, er werde hart daran arbeiten, um die internationale Anerkennung Honduras wiederherzustellen, die nach dem Putsch stark gelitten hat.
Aber vor allem innenpolitisch wird er viel zu tun haben. Die Widerstandsbewegung ist dabei, sich neu zu organisieren, um in allen Teilen des Landes Stärke zeigen und Druck ausüben zu können. Dies wird auch außerhalb des Landes wahrgenommen. „Der neue Präsident muss sich der großen Herausforderung stellen, die Forderungen der Bevölkerung nach einem neuen System zu erfüllen, das alle Teile der Gesellschaft an politischen Prozessen teilhaben lässt“, sagt selbst Jennifer McCoy. Die Direktorin des Americas Program des Carter Centers in Atlanta fügt hinzu: „Die Forderung eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, ist stärker als die der Wiedereinsetzung Zelayas in das Präsidentenamt.“
Der Wahltag selber verlief relativ ruhig. Trotzdem wurde eine Protestaktion von etwa 500 Mitgliedern der Widerstandsbewegung in der Stadt San Pedro Sula von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Dabei gab es laut Zentrum für Gerechtigkeit und Internationales Recht (CEJIL), 48 Festnahmen von Personen aus dem Kreise der Widerstandsbewegung. Etwa 30.000 Soldaten, Polizisten und Reservisten waren für die Sicherheit während der Wahlen zuständig, bei denen der Präsident, drei Vizepräsidenten 128 Abgeordnete und 298 LokalpolitikerInnen gewählt wurden.
Die Widerstandsbewegung war in den letzten Monaten und speziell vor den Wahlen verstärkt Ziel von Menschenrechtsverletzungen. Vor allem auf dem Lande wurden Menschen schikaniert, verhaftet und durch Polizeigewalt physisch verletzt. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden durch das De-facto-Regime auch Menschen gezielt umgebracht und massiv die Pressefreiheit eingeschränkt. Letzteres bezieht sich hauptsächlich auf die Schließung und/oder der Störung von putschkritischen Radiostationen, TV Sendern und Zeitungen. Laut Amnesty International stellt die Straflosigkeit ein entscheidendes Merkmal des De-facto-Regimes dar. Die Wahlen als fair und sauber zu bezeichnen, wie es weiterhin von der Friedrich-Naumann-Stiftung und einigen FDP-PolitikerInnen getan wird, ist schlichtweg falsch. In der honduranischen Mittel- und Oberschicht hält sich nach wie vor die Meinung, Zelaya sei es bei der am 28. Juni geplanten Meinungsumfrage hauptsächlich um seine Wiederwahl gegangen. Doch auch mit einer Verfassunggebenden Versammlung wäre seine direkte Wiederwahl ausgeschlossen gewesen. Die Befragung hatte das Ziel, die Bevölkerung in den Prozess einer Verfassunggebenden Versammlung zu integrieren. Dieser progressive Akt Zelayas hatte aber das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Oligarchie, die alteingesessene herrschende Klasse, UnternehmerInnen und GroßgrundbesitzerInnen waren schon im Januar 2009 gegen die Erhöhung des Mindestlohns um 40 Prozent Sturm gelaufen und sich dabei der Unterstützung der von ihnen selbst dominierten Medien sicher gewesen. Der Kampf der rechten Oligarchie hat mit dem Putsch in Honduras eine neue Qualität angenommen.
Die Etablierung einer dritten politischen Kraft scheint notwendig, um das faktische Zweiparteiensystem in Honduras und die damit einhergehenden verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Der Putsch hat in dieser Hinsicht einiges bewirkt. Die HonduranerInnen fordern ihre Rechte ein und organisieren sich dafür. Die Widerstandsbewegung ist indes noch uneinig darüber, ob eine eigene Partei gegründet werden sollte, die Bewegung am besten weiter als starke Opposition der Straße fungieren sollte oder eine breite Front aus beidem die wirkungsvollste politische Strategie für eine Änderung der Verhältnisse darstellen würde.

Zwischen Modern Dance und Revolution

Die Mexikanerin Alma Guillermoprieto, aufgewachsen in den Vereinigten Staaten, ist in Amerika bekannt als profilierte Journalistin und gilt als eine Autorität auf dem Gebiet der politischen Reportage. Ihre Analysen der Ereignisse in Lateinamerika erschienen unter anderem in der New York Review of Books, der New York Times und der Washington Post.
Ihr beruflicher Werdegang begann jedoch als junge ehrgeizige Tänzerin in Havanna. 1970 nahm Alma Guillermoprieto, die in New York bei Martha Graham und Merce Cunningham studiert hatte, das Angebot an, an der Nationalen Kunstschule Modern Dance zu unterrichten.
Diese Monate in Havanna waren entscheidend für ihr weiteres Leben: Eine schwere innere Krise voller Selbstzweifel kollidierte mit dem ersten Tiefpunkt der kubanischen Revolution. 1970 war das Jahr, in dem Kuba die abgehackten Hände des Che zurückbekam und das Jahr, in dem die große Zuckerrohrernte, die Kubas wirtschaftliche Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion hätte bringen sollen, scheiterte – das Land geriet damit an den Rand des Zusammenbruchs. Überall in Lateinamerika versuchten studentische Guerillagruppen gegen die bitteren alten Zustände anzurennen. Gut 30 Jahre später betrachtet und reflektiert die gestandene Journalistin Guillermoprieto in diesem Buch nun ihr unsicheres junges Selbst von damals, die historischen Ereignisse, die Menschen und die Gefühle im Spiegel der Erinnerung.
Die Tänzerin Alma sieht sich hier zum ersten Mal mit den politischen Realitäten Kubas konfrontiert. Sie fühlt mit den Armen und Unterdrückten während gleichzeitig ihre Ambivalenz gegenüber der Revolution wächst. Angesichts der harten Lebensumstände der Kubaner unter der Mangelwirtschaft, der Borniertheit der FunktionärInnen und der Arroganz der Kämpfer und angesichts des allgegenwärtigen antikulturellen Ressentiments der kubanischen Führung stellt sich für Alma immer mehr die Frage, ob sie angesichts des Elends in der Welt überhaupt Tänzerin sein will. Und ob diese Revolution der Ausweg aus dem Elend sein soll.
In Guillermoprietos sehr authentischem Spiegelbild trifft spät gewonnene Erkenntnis auf jugendliche Emotionalität und entwirft damit das Bild einer fragenden und zornigen Generation, die in den politischen Kampf zog und darin unterging. In Havanna arbeitete Alma Guillermoprieto fast ein Jahr lang mit ihren SchülerInnen in Studios ohne Spiegel. Diese waren als Symbol bürgerlicher Eitelkeit und Dekadenz kurzerhand von den Funktionären entfernt worden.
Während Guillermoprietos Zeit in Havanna spitzt sich der Widerspruch zwischen den Prämissen der Revolution und denen des Modern Dance immer mehr zu und entlädt sich in einem offenen Konflikt zwischen der Schulleitung und den Studenten. Das Misstrauen der Funktionäre gegenüber jeder Art von Kunst und ihre latente Furcht vor Homosexualität lässt die Stimmung immer mehr in Aggressivität umschlagen.
Havanna im Spiegel ist ein bemerkenswertes Buch. Alma Guillermoprieto verliert sich nicht in nostalgischen Schilderungen. Stattdessen schildert sie eines der schwierigsten Jahre der Kubanischen Revolution mit der Empathie einer jungen Frau, die damals an dieses Projekt glauben wollte und es mit verhaltener Melancholie der Journalistin von heute für gescheitert hält.

Alma Guillermoprieto // Havanna im Spiegel – Eine Erinnerung an die Revolution // Berenberg Verlag // Berlin 2009 // 19,90 Euro

Land in der Transition

Mauricio Funes, der neue Präsident, spricht höchstpersönlich von einer Unsitte: „Das ist doch niemals genügend Zeit, um eine Regierung zu katalogisieren, um einen kompletten Regierungsplan in Marsch zu setzen.“
Große Sorgen braucht er sich allerdings nicht zu machen, denn die Regierung bekommt großen Zuspruch aus der Bevölkerung: Laut einer Studie der Technischen Universität El Salvadors sind 83,8 Prozent zufrieden mit Funes´ Amtsführung. Und seine Noten sind überdurchschnittlich. Auf einer Skala von 1 bis 10, die die Zentralamerikanische Universität UCA den Menschen vorlegte, erhält er den Durchschnittswert 7,16. Keiner seiner extrem rechten Vorgänger konnte dies erreichen. Die SalvadorianerInnen wollten und wollen den cambio, den Wandel. Und die Regierung hat erste Wahlversprechen umgesetzt.
Sie startete ein Programm zur Armutsbekämpfung, schaffte die Krankenhausgebühr ab und richtete ein „Komitee der sozialen Ökonomie“ ein, in dem neben UnternehmerInnen auch VertreterInnen der sozialen Bewegungen sitzen und die Regierung bei der Umsetzung ihrer Politik beraten. „Noch nie wurde das Volk so sehr in Entscheidungen einbezogen wie heute“, ist Maria Silvia Guillen, Vorsitzende der linken Sozialrechtsorganisation FESPAD, begeistert. Auch die Mehrheit der UCA-Befragten bezeichnet sich als links. Die Priorität auf Armutsbekämpfung war keine Eintagsfliege, sondern wird fortgesetzt. So verkündete Funes Ende September im Departamento San Martín den Bau von 1.500 Häusern im Rahmen des Programms „Häuser für Alle“. Ebenfalls im September vergab er Landtitel an landlose Bauern und Bäuerinnen. Für die im Land noch verbliebenen Gewerkschaften sind dies allerdings nur Tropfen auf den heißen Stein. Das Komitee der sozialen Demokratie war am 3. September offiziell konstituiert worden. Sein Wirken wird, gerade auch von den sozialen Bewegungen, die der Befreiungsfront Farabundi Martí (FMLN) mit zum Wahlsieg verholfen haben, genau beobachtet werden, bietet es doch einen Ansatzpunkt, der Kultur des „Vertikalismus“ in Gesellschaft, Staat und Parteien – inklusive der FMLN – entgegenzuwirken und eine Rückkopplung von Politik an die Basis zu erreichen. Ob allerdings etwas herauskommt bei den Beratungen des Komitees, ist keineswegs sicher. Das Gremium ist nämlich der Neuaufguss eines alten Hutes, der während der Friedensverträge 1992 in den Ring geworfen wurde. Der damalige Wirtschafts- und Sozialrat entschlief jedoch bald friedlich, unter anderem weil die UnternehmervertreterInnen nicht für die ILO-Konventionen zur Gewerkschaftsfreiheit zu gewinnen waren.
Gerade für die radikalere Linke inner- und außerhalb der FMLN hatte der cambio gar nicht so viel versprechend begonnen. Das Land war durch jahrzehntelangen schärfsten Neoliberalismus quasi „gewerkschaftsfrei“. Funes hatte im Wahlkampf ein eindeutiges Bekenntnis zum Privateigentum abgegeben und sich ohne Umschweife als Sozialdemokrat geoutet. Doch waren viele dann wieder positiv überrascht, dass er in seiner Antrittsrede sehr konkret wurde und Säulen eines „Umfassenden Krisenplans“ mit dem Bau von 25 Tausend Häusern, dem Aufbau eines Systems des sozialen Schutzes und einem Anspruch auf Basisgesundheitsversorgung nannte. Als dann aber klar wurde, dass die vorangegangene konservative ARENA‑Regierung ein riesiges Haushaltsloch hinterließ und dass sie etwa in den Ministerien für Soziales und Gesundheit 29 Phantom-MitarbeiterInnen beschäftigt hatte, die den SteuerzahlerInnen im Jahr 700.000 US-Dollar gekostet hatten, sank die Stimmung merklich. Die Regierung zog aus dem Korruptionsskandal ihrer politischen Gegner dennoch politischen Nutzen und startete eine Anti-Korruptionskampagne, die ebenfalls gut ankam. Verteidigungsargumente der Rechten, die neue Regierung wolle nur von den wahren Problemen des Landes ablenken, fanden wenig Gehör.
Ganze andere Kritik kam aus dem radikalen Flügel von Funes‘ Regierungspartei FMLN und aus der Lesben- und Schwulenbewegung. Auch die hiesige Solidaritätsbewegung konnte nur mit dem Kopf schütteln. Noch in der letzten Sitzung des alten Parlaments hatte die FMLN einem Gesetz zugestimmt, nach dem Schwule weder heiraten noch Kinder adoptieren dürfen. Frauen- und Homosexuellen-Organisationen liefen Sturm gegen dieses als Umfallen wahrgenommene taktische Abstimmungsverhalten „ihrer“ Partei. Dem bewegungsnahen FMLN-Flügel schwante Böses für die neue Legislaturperiode. Schließlich traten die ParlamentarierInnen aber dann doch einen halbwegs geordneten Rückzug an, die zweite Lesung wurde verschoben, weil die FMLN noch Diskussionsbedarf habe. Spätestens nach dem ersten Monat des neuen Präsidenten schärfte sich dessen politisches Profil. „Romero im Herzen, Lula im Blick“ titelte ein deutscher Kommentator aus dem progressiven kirchlichen Spektrum treffend. In der Tat ist der ehemalige Journalist Funes aus katholischem Elternhaus den sozialen Ideen des von der Rechten ermordeten Erzbischofs von El Salvador ebenso verbunden wie der Politik eines nationalen Ausgleichs zwischen aufgeschlossenem Unternehmertum und fortschrittlichen Bewegungen und Kräften, wie sie Lula in Brasilien praktiziert. „Wir werden nicht den Sozialismus ausrufen“, hatte Funes schon vor Amtsantritt prophezeit.
Die anstehenden Aufgaben sind in der Tat gewaltig: Drängende soziale und ökonomische Probleme wie Kriminalität von Jugendbanden und Wirtschaftskrise machen die Arbeit der Regierung nicht einfach. Noch ist die Mordrate die höchste in Lateinamerika und die Überweisungen der oft illegal in die USA lebenden SalvadorianerInnen an ihre Familien sind mit dem Niedergang der US-Ökonomie rapide zurück gegangen. In deren Schlepptau ist der Däumling Mittelamerikas auch gehörig in die Finanzkrise gerutscht. Stolz ist Funes daher darauf, mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Ende September ein Finanz-Stabilisierungsprogramm von 800 Millionen US-Dollar abgeschlossen zu haben und dass diese Stand-by-Vereinbarung es ermögliche, die Armutsbekämpfung ebenso fortzusetzen wie die Liquidität für Banken und InvestorInnen zu erhöhen. Die nicht nur jugendliche Delinquenz wird innenpolitisch einer der Prüfsteine für Funes werden. Natürlich bemüht er sich hier, die auf bloße Repression setzende Politik der harten Hand seiner rechten Vorgänger hinter sich zu lassen und sozial zu intervenieren. So verkündete er ebenfalls Ende September das Programm „Solidarische Stadtviertel“, das die Sicherheit der Bürger und die Wohnsituation in prekären Stadtvierteln verbessern soll. Dies vor dem Hintergrund, dass von 2006 bis 2008 laut UNO die städtische Armut um 8 Prozent gewachsen ist, was 200.000 zusätzliche Verarmte bedeutet. In der Gewaltproblematik geht Funes ebenfalls den Weg der Kommunikation und der Integration gesellschaftlicher Sektoren. Bei einem Treffen mit Kirchen-, Universitäts-, Bewegungs- und UnternehmervertreterInnen Ende August betonte der Regierungschef erste Erfolge: Die Mordrate sei von Mai bis August von monatlich 384 auf 278 gesunken.
Und noch ein anderes regionales Großereignis lässt Funes vorsichtig agieren: der Putsch in Honduras. Bereits am Tag nach Zelayas Entführung drohte der Chef der ehemaligen Regierungspartei ARENA (Nationalistisch republikanische Allianz) Funes am Telefon: Sollte er sich weiter vorwagen, drohe ihm das Gleiche. Man werde sich keinesfalls einschüchtern lassen, sagt Maria Silvia Guillen, und die besonnene Politik des Präsidenten unterstützen. Der lässt vorerst die Finger von heißen Eisen wie dem Beitritt zum progressiven Staatenbündnis ALBA (Bolivarianische Allianz für die Amerikas) oder der Revidierung des Amnestiegesetzes, das die Militärs, die im Bürgerkrieg Massaker begangen haben, vorerst unangreifbar macht. Andererseits hat er die diplomatischen Beziehungen zu Kuba wieder aufgenommen. Der außenpolitische Schwerpunkt liegt aber eindeutig auf der Orientierung an Brasilien, auch Chile spielt eine Rolle. Nach einem Antrittsbesuch von Funes im August hat die größte südamerikanische Volkswirtschaft Hilfe in diversen Bereichen wie Gesundheit, Erziehung, aber auch Wirtschafts- und Finanzpolitik zugesagt und Funes hat seiner Bewunderung für Brasiliens Weg Ausdruck gegeben. Daraus kann man eine pragmatische Ausrichtung an ökonomischen Großgewichten in Lateinamerika und einen links-liberalen Kurs ablesen.
Kritik – nicht nur daran – aus den eigenen Reihen gibt es genug. So sagt der ehemalige Direktor von El Salvadors alternativen Radionetzwerk Hector Vides: „Ich bin enttäuscht, Funes ist ein unsichtbarer Präsident. Er könnte punkten mit Initiativen zur Förderung alternativer Medien. Aber er vertut diese Chance einfach.“ UmweltschützerInnen sind enttäuscht, dass der Staatschef das umstrittene Staudammprojekt Chaparral (siehe LN 385/386) nicht stoppt. Böse Zungen behaupten, das liege daran, dass der Präsident der Elektrizitätsgesellschaft ihm im Wahlkampf eine Großspende habe zukommen lassen. Ursache dürfte aber eher sein, dass El Salvador bei Stopp des Vorhabens ein Verfahren vor dem Weltbank-Schiedsgericht ICSID droht, vor dem Unternehmen Länder auf entgangene Investitionen verklagen können. Die mindestens 60 Millionen US-Dollar, die der kanadische Minenkonzern Pacific Rim dafür veranschlagt hat, sind dem salvadorianischen Finanzminister angesichts der ohnehin prekären Haushaltslage ein Graus – zumal gegen El Salvador noch drei von diesen Verfahren anhängig sind. Dass sich Funes den DemonstrantInnen, die gegen das Mammutvorhaben vor dem Präsidentenpalast demonstrierten, nicht persönlich zeigte, nahmen diese ihm übel – hatten sie doch während des Wahlkampfes oft stundenlang auf „ihren Kandidaten“ gewartet. Wieder andere bemängeln, dass Funes die revolutionäre Demokratie in Form von Sozialisierung der Produktionsmittel und Klassenkampf nicht konsequent umsetzt. „Die Regierung sollte endlich klar sagen, auf wessen Seite sie steht und für wen sie regiert“, sagt der Ex-Comandante und Ex-FMLN-Aktivist Dagoberto Gutiérrez. VertreterInnen sozialer Bewegungen äußern unverhohlen, man könne keinen Unterschied zu früher feststellen und dass sie sich überlegen würden, noch einmal FMLN zu wählen. Dem entgegen moderatere Frente-Mitglieder, man dürfe die Regierung nicht so harsch von links kritisieren. Das arbeite der Rechten in die Hände. Erinnert wird an die bitteren Erfahrungen in Chile während der Allende-Regierung.
Der Präsident muss auf der Hut sein: In 100 Tagen ist die Macht der GroßgrundbesitzerInnen und Großindustriellen nicht zu brechen – wenn das überhaupt gelingt und so Funes es überhaupt will. Und im Parlament ist die FMLN zwar die stärkste Fraktion, aber die rechten Parteien haben die Mehrheit der Sitze. Auch der oberste Gerichtshof ist noch in ihren Händen. Und so bereitet man sich in El Salvador vor auf die kommenden Kämpfe. Der Präsident aber sucht weiter den Ausgleich. Oder wie es der FMLN-nahe Ökonom Augusto Villalona ausdrückt: „Es hat sich eine fortgeschritten reformistische Regierung etabliert.“

Nicaragua von der Revolution bis heute

1979 // Unter Führung der 1961 gegründeten FSLN (Sandinistische Front der Nationalen Befreiung) wird im Juli die jahrzehntelange Diktatur der Somozas in einem Volksaufstand gestürzt. Am 17. Juli flieht Anastasio Somoza Debayle ins Ausland. Ein breites Bündnis von konservativen Kräften bis zur FSLN übernimmt die Regierung, wobei die FSLN bald tonangebend ist und sich die wichtigsten Machtpositionen sichert. // Zu den ersten Maßnahmen der neuen Regierung gehören die Enteignung des Besitzes der Familie Somoza, die Verstaatlichung der Banken und Minen, die Abschaffung der Todesstrafe, die Etablierung der Meinungsfreiheit, umfangreiche Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen sowie eine Agrarreform zu Gunsten landloser Bauern.

1980 // Der „Nationale Kreuzzug der Alphabetisierung” (CNA) startet. Durch diese und weitere Kampagnen wird die Analphabetenrate bis 1985 von 50 auf 13 Prozent gesenkt. // Anastasio Somoza wird im September in Paraguay von einem Kommando der argentinischen Guerilla ERP getötet.

1981 // US-Präsident Ronald Reagan sperrt Darlehen Nicaraguas. Die CIA beginnt mit dem Aufbau der sogenannten Contra.

1982 // Mit logistischer und finanzieller Unterstützung durch die USA beginnt die Contra von Honduras und Costa Rica aus den bewaffneten Kampf gegen die sandinistische Regierung. Der Contra-Krieg kostet rund 30.000 Menschenleben und richtet die nicaraguanische Wirtschaft bis zum Jahr 1988 fast vollständig zu Grunde. // Wegen der wachsenden Zahl der Contra-Anschläge verhängt die Revolutionsregierung den Ausnahmezustand und führt die allgemeine Wehrpflicht ein. // Zwangsumsiedlung von 8.500 Miskito-Indianern durch die sandinistische Regierung. Sie müssen die atlantische Küstenregion verlassen und werden im Landesinneren neu angesiedelt.
1983 // Die erste westdeutsche Solidaritätsbrigade fliegt im Dezember nach Nicaragua, um bei der Kaffeeernte zu helfen. In den folgenden Jahren kommen zehntausende BrigadistInnen nach Nicaragua.

1984 // Erste Wahlen nach der Revolution. Mit 67 Prozent der Stimmen gewinnt der sandinistische Präsidentschaftskandidat Daniel Ortega die Wahlen. // Die CIA vermint die wichtigsten Häfen Nicaraguas. // Die Bundesrepublik Deutschland friert ihre Entwicklungshilfe für Nicaragua ein.

1985 // Die USA verhängen ein vollständiges Handelsembargo. // Die DDR baut in Managua das Krankenhaus „Carlos Marx” und kommt in der Folge für den Betrieb auf.

1986 // Die USA werden vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu Schadensersatz in Milliardenhöhe verurteilt, den sie allerdings niemals zahlen.

1988 // Die Wirtschaft gerät immer stärker in die Krise. Die Inflationsrate steigt auf bis zu 36.000 Prozent. // Die sandinistische Regierung nimmt Verhandlungen mit der Contra auf. Das Abkommen von Sapoa bringt schließlich einen Waffenstillstand zwischen Regierung und Contra.

1990 // Die FSLN verliert überraschend die Wahlen im Februar. Die Kandidatin der „Unión Nacional Opositora“ (UNO), Violeta Barrios de Chamorro, wird mit 55 Prozent der Stimmen zur Präsidentin gewählt. Sie steht einem äußerst heterogenen Bündnis von 14 konservativen und antisandinistischen Parteien vor. // In der sogenannten Piñata sichern sandinistische Kader ihre eigenen sowie die Pfründe der FSLN. // Der Sandinist Humberto Ortega, bis zu den Wahlen Verteidigungsminister, wird Oberster Befehlshaber der Armee, womit sich Präsidentin Chamorro deren Loyalität sichert. // Die neue Regierung beschließt ein umfassendes Stabilisierungs- und Sparprogramm: Die Währung wird abgewertet, der Staatsapparat verkleinert, soziale Einrichtungen werden geschlossen, das Gesundheitssystem privatisiert, Schulgeld erhoben, die Agrarreform teilweise rückgängig gemacht und in den 1980er Jahren verstaatlichte Betriebe größtenteils wieder privatisiert.

1991 // Die Entwaffnung der Contra ist offiziell beendet. // Es gibt zahlreiche Streiks gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. Sandinisten und Regierung lähmen sich gegenseitig.

1993 // Kredite der OPEC und des IWF helfen, eine drohende wirtschaftliche Krise abzuwenden.

1994 // Beim Kongress der FSLN zeigt sich deutlich die interne Zerstrittenheit der Partei. Die „demokratische Linke” um Daniel Ortega und Tomás Borge setzt sich klar gegen die sogenannten „Erneuerer” um Sergio Ramírez durch.

1995 // Die „Sandinistische Erneuerungsbewegung“ (MRS) unter Führung des ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramírez und der Comandante Dora María Tellez entsteht.

1996 // Der Liberale Arnoldo Alemán wird Präsident. // Auf Kosten der innerparteilichen Demokratie baut Daniel Ortega seine Vormachtstellung in der FSLN immer weiter aus.

1998 // Zoilamérica Narváez, die Stieftochter von Daniel Ortega, beschuldigt diesen öffentlich, sie jahrelang sexuell missbraucht zu haben. Ortega genießt Immunität, es werden keine Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. // Der Hurrikan Mitch richtet in Nicaragua schwere Zerstörungen an. Präsident Alemán bereichert sich an internationalen Hilfsgeldern.

1999 // Daniel Ortega schließt mit dem Parteichef der Liberalen Partei PLC, Arnoldo Alemán, einen Pakt, der FSLN und PLC langfristig die Macht in Nicaragua sichern soll. Alle wichtigen staatlichen Institutionen werden zwischen den beiden Parteien aufgeteilt.

2001 // Der Liberale Enrique Bolaños wird zum Präsidenten gewählt.

2003 // Die Immunität des ehemaligen Präsidenten Alemán wird aufgehoben. Er wird wegen massiver Korruption inhaftiert und zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, die allerdings nach 20 Tagen Haft in einen Hausarrest umgewandelt wird.
2006 // Im April tritt das Zentralamerikanische Freihandelsabkommen mit den USA (CAFTA) für Nicaragua in Kraft. Vorher hat im Parlament auch die FSLN dem Abkommen zugestimmt. // Mit Unterstützung der FSLN wird das Abtreibungsrecht verschärft. Nun ist Abtreibung unter allen Umständen, also auch im Falle der Bedrohung des Lebens der Mutter, verboten. // Daniel Ortega von der FSLN wird im November zum Präsidenten gewählt.

2007 // Unter der Regierung Ortega werden die politischen Kontakte zu Venezuela und Kuba wichtiger. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez gewährt umfangreiche Wirtschaftshilfe in Höhe von 520 Millionen US-Dollar jährlich. Damit werden unter anderem ambitionierte Sozialprogramme wie „Cero hambre“ (Null Hunger) bezahlt. Das Geld wird jedoch intransparent und am Parlament vorbei ausgegeben, obwohl es sich bei diesen Hilfen zur Hälfte um einen Kredit handelt, der in 25 Jahren aus dem Staatshaushalt zurückgezahlt werden muss.

2008 // Der von FSLN und Liberalen dominierte Oberste Wahlrat schließt die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) und die Konservative Partei von den Kommunalwahlen aus. // Der Streit zwischen Frauenbewegung sowie weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen und der FSLN-Regierung nimmt an Schärfe zu. // Bei den Kommunalwahlen im November kommt es zu massiven Manipulationen. Unabhängige WahlbeobachterInnen sind nicht zugelassen. Zahlreiche BeobachterInnen sprechen von Wahlfälschung seitens der FSLN, die offiziell in etwa 70 Prozent der Gemeinden gewinnt. Nach den Wahlen kommt es zu teils gewaltätigen Auseinandersetzungen zwischen AnhängerInnen der FSLN und der Opposition.

2009 // Das Oberste Verfassungsgericht, dessen RichterInnen allesamt von PLC und FSLN nominiert wurden, hebt im Januar die Verurteilung Arnoldo Alemáns wegen Korruption “aus Mangel an Beweisen” auf.

„Im Namen der Demokratie“

Am Morgen des 28. Juni standen die Militärs vor der Tür. Sie verschleppten Honduras‘ demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya und flogen ihn nach Costa Rica aus. Die Ereignisse wecken Erinnerungen an längst überwunden geglaubte Zeiten. Anders als bei früheren Putschen waren die internationalen Reaktionen jedoch eindeutig: Die Europäische Union (EU) hat ihre Botschafter abberufen, die Vereinten Nationen (UNO), Lateinamerikas Regierungschefs und sogar US-Präsident Barack Obama fordern die Wiedereinsetzung des vom Militär gestürzten Zelaya. Damit ist dies der erste rechte Putsch in Lateinamerikas Geschichte, der offiziell nicht von den USA unterstützt wird. Im Untergrund bereite das legitime Kabinett Aktionen für Zelayas Rückkehr vor, während Militärs und Putschregierung weiter die Muskeln spielen lassen. Micheletti will den gewählten Präsidenten festnehmen lassen, sobald er die Grenze überschreitet. Dieser vom Kongress eingesetzte „De-Facto-Präsident“ hat unterdessen die demokratischen Rechte seiner Landsleute per Gesetz praktisch abgeschafft. Während der Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr gelten die verfassungsmäßigen Grundrechte nicht mehr.
Nach innen und außen versuchen die Putschisten indes das Bild zu vermitteln, dass sie die Lage unter Kontrolle haben und Ruhe auf den Straßen herrsche. So sind viele Telefonleitungen gekappt und die Medien vom Militär entweder gleich- oder abgeschaltet. Lediglich ein nationaler Radiosender und eine TV-Station berichten von den Massenprotesten gegen die Putschregierung. Auch einige lokale Radios, wie der Jesuitensender „Radio Progreso“, berichten kritisch und haben unter massiver Behinderung ihrer Arbeit und Repression durch das Militär zu leiden. In ihrer Berichterstattung konzentrierten sich die linientreuen Medien in Honduras und im zentralamerikanischen Ausland auf putschfreundliche Kundgebungen und die angebliche Verfassungsmäßigkeit des Machtwechels.
Keinen Weg in diese Medien finden die Massenproteste von Zehntausenden im ganzen Land gegen den Militärputsch und die systematische Verfolgung von GewerkschafterInnen und Linken. Bereits am ersten Putschtag wurde Gewerkschaftsführer Carlos H. Reyes von Soldaten zusammengeschlagen und zeitweilig verschleppt. Der Veteran der Arbeiterbewegung gehört der landesweiten Koordination des Volkswiderstandes an und soll bei den Präsidentenwahlen am 28. November als unabhängiger Kandidat antreten. Die dafür nötigen 45.000 Unterschriften hatten seine Unterstützer in nur drei Wochen gesammelt. Um ihrer Verhaftung zu entgehen, haben sich zahlreiche FührerInnen der Gewerkschaften und sozialen Bewegung in den Untergrund gerettet. Dennoch gibt es Berichte von Verhaftungen und Misshandlungen im ganzen Land. Soldaten töteten zum Beispiel einen jungen Demonstranten, der mit einigen Hundert PutschgegnerInnen das Eingangstor zum Telekomkonzern Hondutel besetzt hielt. Mit einem Fahrzeug fuhren die Mörder mehrmals über den Kadaver hinweg, um die Massen einzuschüchtern, berichten AugenzeugInnen. Wenig später verhafteten sie auch den Vorstandsvorsitzenden von Hondutel.
Die BefürworterInnen des Putsches nennen diesen indes ein „Manöver zur Rettung der Demokratie“, weil Präsident Zelaya mit seinem Vorstoß für eine rechtlich nicht bindende Volksbefragung gegen die geltende Verfassung verstoßen habe. Die WählerInnen sollten die Frage beantworten, ob sie damit einverstanden wären, wenn zeitgleich mit den Wahlen im November, per Referendum über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung abgestimmt würde. „Der Vorwand der Demokratierettung ist nichts Neues. Auch die rechten Militärputsche in den 1960er und 1970er Jahren in Lateinamerika wurden immer im Namen der Demokratie durchgeführt“, sagte der salvadorianische Sozialwissenschaftler Rafael Cartagena. Mit Besorgnis betrachtet er, wie die reaktionäre Wirtschaftselite auch in Zentralamerika wieder zum Mittel des Putsches greift. Die linke salvadorianische Tageszeitung CoLatino berichtete am Mittwoch, dass der Fraktionschef der ultrarechten salvadorianischen ARENA-Partei dem Präsident Mauricio Funes am Telefon mit einem Staatsstreich gedroht habe. Erstmals hatte mit Funes im März ein Kandidat der linken FMLN die Wahlen in El Salvador gewonnen.
Manuel Zelaya geht seit dem Putsch mit der Bourgeoisie seines Landes hart ins Gericht. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass er selbst Sohn einer gut situierten Großgrundbesitzerfamilie aus dem ländlichen Olancho in Zentralhonduras ist. Als Bilderbuchminister wurde er in der Vergangenheit für seine effiziente Amtsführung ausgezeichnet und von der UNO gelobt. Mit linken Äußerungen hatte er sich bis zu seinem Amtsantritt 2006 nicht verdächtigt gemacht. Mit Erstaunen mag die Ultrarechte zur Kenntnis genommen haben, dass sich der eher moderate Zelaya auch mit Beratern umgab, die einen linken politischen Hintergrund haben.
Angesichts der tiefen Krise seines Landes, nicht zuletzt wegen der Weltwirtschaftskrise, begann er sich Kreisen zuzuwenden, die die honduranische Politik stets ignorierte: Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Die meisten ließen sich auf diesen neuen Dialog ein, andere trauten dieser Politik indes nicht, denn Zelaya blieb ihnen Klassenfeind.
Auf der einen Seite begründete er eine politische Freundschaft mit Fidel Castro und Hugo Chávez und führte Honduras zur Mitgliedschaft in der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA). Den Mindestlohn erhöhte Zelaya um 60 Prozent und er legte eine Reihe neuer Sozialprogramme auf. Aber echte Mitspracherechte der ArbeiterInnen und ihrer Organisationen gab es nicht, ganz zu Schweigen von Ansätzen der Selbstverwaltung. Die Arbeitsbedingungen in den Maquiladoras (Billiglohnfabriken, Anm. d. Red.) blieb haarsträubend, gewerkschaftliche Rechte wurden ignoriert und Aktivisten ermordet. Frauenrechte und emanzipatorische Forderungen wurden ignoriert. Ein Linker ist Manuel Zelaya nicht.
Aber die Ultrarechte musste erkennen, dass sie diesen Präsidenten nicht unter Kontrolle hatte. Besonders die wachsende Nähe zu Kuba und Venezuela machte sie rasend. Anders als in den anderen Staaten Zentralamerikas sind die führenden Militärs in Honduras eng mit dem nationalen Kapital verflochten. Die Diktatur der stets von den USA ausgebildeten Führungsoffiziere endete offiziell mit der Verfassung von 1982. Damals änderten sie jedoch ihre Strategie und bauten ihre Macht im Wirtschaftssektor aus. Heute beherrschen sie nicht nur Zentralamerikas stärkste Militärmaschine, sondern sie bewegen Milliarden US-Dollar durch Verträge mit Unternehmen, deren stillen Teilhaber sie sind. Sie sind Mehrheitsaktionäre von TV-Stationen, Zeitungen, Zeitschriften und in der Agrarindustrie sowie Nutznießer der Privatisierung öffentlicher Betriebe. Ihre Verbündeten haben die Militärs in den ultrarechten Kreisen in Washington und im US-Auslandsgeheimdienst CIA. Den bekannten CIA-Mitarbeiter und Gründer der Todesschwadronen Billy Joya ernannte Micheletti zum „beratenden Minister“. Joya ist bekannt dafür, in den 1980er Jahren Folterungen und Mordaktionen im Land koordiniert und geleitet zu haben. Er war damals Mitglied des Geheimdienstbataillons 3-16 und erster Kommandant des reaktionären „Elitegeschwaders Luchs“, der berüchtigten Kobra-Aufstandsbekämpfungseinheiten.
Zur offenen Konfrontation zwischen Zelaya und dem Militär kam es in der Woche vor dem Putschsonntag. Der Präsident hatte den Oberkommandanten der Streitkfäfte, General Romeo Vásquez, abgesetzt, nachdem dieser sich geweigert hatte, die für die Volksbefragung notwendigen Wahlunterlagen auszuteilen. In diesem Konflikt kommt die wirkliche Macht des Militärs zum Ausdruck: Zum einen ist schon der Fakt bedenkenswert, dass das Wahlgericht Urnen und Register in Kasernen lagert. Zweitens hob der Oberste Gerichtshof die Absetzung von Vásquez umgehend wieder auf. Diese Entscheidung entsprach der Verfassung, denn in Honduras gilt nicht der Staatschef als höchste Autorität der Streitkräfte. Im Text von 1982 ließen sich diese verbriefen, dass der Oberkommandant nicht von zivilen Institutionen berufen oder abgesetzt werden darf.
Damit haben sie verfassungsmäßig ein System gefestigt, das seit dem Putsch von 1957 etabliert ist. Damals verärgerte der gewählte Präsident Ramón Villeda Morales von der Liberalen Partei (PLH) vor allem die US-Fruchtkonzerne mit seinem sachten Versuch einer begrenzten Agrarreform und sozialer Verbesserungen für die ArbeiterInnen. Mit Hilfe der USA putschte damals Oberst Oswaldo López Arellano. Die folgenden Jahre prägten aufgrund der Rolle der Fruchtkonzerne, genau wie im Nachbarland Guatemala, den Begriff der „Bananenrepublik“. Die honduranische Historikerin Ethel Garcias, Leiterin des Zentrums für lateinamerikanische Identität und Kultur, beschreibt dieses System: „Die Machtsituation von 1957 war die Basis für eine neue Struktur, die sich von selbst erneuert. Junge Soldaten wurden aufgebaut, in das System integriert. Nachdem sie die Militärakademie Francisco Morazan absolvierten, wurden sie auf die US-Militärkaderschmiede Escuela de las Américas in Panama geschickt. Die Erfolgreichsten beendeten ihre Ausbildung dann in Westpoint, USA, als Nachwuchs für die Militärdiktatur“.
Die Peitsche der Reaktion treibt in Honduras aber auch den Widerstand voran. Die zerstrittenen Organisationen der gewerkschaftlichen und außerparlamentarischen Linken arbeiten erstmals zusammen und rufen gemeinsam zu einem Generalstreik auf. Trotz aller Repressionen kommt es in den größeren Städten immer wieder zu Massenprotesten. Am eindrucksvollsten war aber der Aufmarsch hunderter bewaffneter Campesinos aus Olancho am Mittwoch. In Jeeps und Lastwagen hatten sie sich nach Tegucigalpa aufgemacht. Das Militär stoppte sie mit Straßensperren und beschoss die Reifen der Fahrzeuge. Dem Bericht eines Aktivisten zu Folge, waren die ungefähr 800 Olancho-Campesinos, die einen Ruf als wilde Kämpfer haben, mit Gewehren bewaffnet. Bei der Konfrontation ließen sie diese jedoch schweigen und zogen sich zurück. Fürs Erste. Aber die Situation ist explosiv. Der gleiche Aktivist berichtet zudem, dass sich im Karibikhafen La Ceiba die vierte Brigade der Infanterie gegen Michelleti gestellt hat und die Rückkehr von Präsident „Mel“ erwartet.
Vom internationalen Druck lässt sich die Putsch-Regierung bisher nicht beeindrucken. Das von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängte 72-Stunden-Ultimatum zur Wiedereinsetzung Zelayas hatte keinen Erfolg. OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza traf am 3. Juli in Tegucigalpa ein, um den Rückzug der PutschistInnen zu fordern. Am Abend des selben Tages verkündete Micheletti jedoch den Ausstieg Honduras‘ aus der Organisation, um einem zu erwartenden Ausschluss zuvorzukommen. Insulza konterte postwendend: Der Austritt sei rechtlich irrelevant, da „die Regierung für die anderen 34 Mitglieder der OAS und die internationale Gemeinschaft rechtlich gar nicht existiere“.

Liberale Komplizenschaft

So viel Geschlossenheit gab es selten. Der Putsch gegen die Regierung von Manuel Zelaya in Honduras, den die traditionelle Elite am 28. Juni mit Hilfe des Militärs durchführte, wurde weltweit einhellig verurteilt. Währenddessen versuchen wirtschaftsliberale GegnerInnen der fortschrittlicheren Regierungen in Lateinamerika einen Diskurs zu etablieren, der den Putsch nicht beim Namen nennt: Sie stützen die Position der De-Facto-Regierung unter Roberto Micheletti, wonach Zelaya verfassungsgemäß seines Amtes erhoben wurde. Die Fälschung von dessen Rücktrittsschreiben, die Militarisierung von Straßen und ausgewählten Medien oder die Suspendierung von Grundrechten scheinen da nicht zu stören.
Als wichtige Stichwortgeberin fungiert dabei die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung. In neoliberalen Kreisen des Subkontinents spielt sie als Kooperationspartnerin des Liberalen Netzwerkes in Lateinamerika (Relial) eine bedeutende Rolle. Der Mitarbeiter der deutschen Stiftung in Tegucigalpa, Christian Lüth, schrieb in seinem politischen Bericht am 28. Juni, dass Zelaya „mehr Täter als Opfer“ sei: „Seit Monaten provozierte der Präsident die Legislative und die staatlichen Institutionen mit einer nicht verfassungsgemäßen ‚Volksbefragung‘“. Nachdem Zelaya die Meinung der Bevölkerung zu einem Referendum über eine Verfassunggebende Versammlung einholen wollte, blieb „dem Kongress letztendlich keine andere Wahl, sollte eine Rückkehr zu Rechtsstaat und Verfassungsmäßigkeit in Honduras garantiert werden“. In einem späteren Bericht behauptete Lüth, es sei „mehr als fraglich, ob der Machtwechsel in Honduras überhaupt etwas mit einem Militärputsch zu tun hat“. Dieser Eindruck sei im Ausland durch die „ungeschickte“ militärische Aktion gegen Zelaya entstanden. Bestens dokumentierte Informationen über die Einschränkung der Pressefreiheit nach dem Putsch, hatte Lüth in einem Interview mit dem liberalen Blog Antibürokratieteam am 30. Juni als „frei erfunden“ bezeichnet. Gegenüber Springers Welt Online sagte er über die AnhängerInnen Zelayas: „Diese schießen auf die Polizisten, nicht umgekehrt, das hat es so noch nie gegeben; schon längst spekulieren hiesige Medien, dass Agitatoren aus Venezuela und Kuba dahinter stehen“.
Álvaro Vargas Llosa, liberaler Publizist und Sohn des Schriftstellers Mario Vargas Llosa, folgt einer ähnlichen Lesart: „Hinter dem Ganzen steckt offensichtlich Venezuela“, sagte er am 2. Juni dem spanischsprachigen Ableger von CNN. Zelaya habe sich dem „Club des Chavismo“ anschließen wollen und es darauf angelegt „eine militärische Reaktion zu provozieren, die ihn in ein Opfer der Demokratie verwandeln würde“. Der eigentliche Gewinner sei nun Hugo Chávez persönlich, weil er es geschafft habe, international seine Version der Ereignisse durchzusetzen.
Wenngleich derartige Interpretationen momentan Außenseiterpositionen darstellen, ist ihre Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen. Denn mit dieser Argumentation ließe sich aus liberaler Sicht in allen „links-regierten“ Ländern ein Putsch legitimieren, sofern die De-Facto-Kräfteverhältnisse in den politischen Institutionen dafür günstig wären. Schließlich lassen die beteiligten liberalen Akteure seit Jahren keine Möglichkeit aus, um linken Regierungschefs die vermeintliche Missachtung von Gesetzen und Konventionen anzukreiden. Gegenüber dem, was Chávez, Evo Morales oder Rafael Correa an „Autoritarismus und Totalitarismus“ vorgeworfen wird, muten die Beschuldigungen gegen Zelaya geradezu harmlos an. Sie beziehen sich präventiv vor allem auf das, was Zelaya in der Zukunft womöglich vorgehabt haben könnte.
Was die Friedrich-Naumann-Stiftung angeht, so lässt sich dort eine gewisse Enttäuschung über Zelayas Annäherung an linke Regierungen und soziale Bewegungen nicht verbergen. In einem Hintergrundpapier vom April dieses Jahres schrieb Christian Lüth über Zelaya rückblickend: „Sein Wahlprogramm glänzte voller guter Vorsätze und versprach einen genuin liberalen Regierungsstil.“

Klare Fronten vor der Präsidentschaftswahl

Seit 1998 sind in Lateinamerika in mindestens zehn verschiedenen Ländern linksgerichtete Regierungen gewählt worden (Venezuela, Brasilien, Chile, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay, Paraguay, Nicaragua, El Salvador). Mal mehr, mal weniger links, immer aber wurden explizit rechte Regierungen abgewählt. Ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, ein Aymara-Indígena in Bolivien, ein ehemaliger Militär in Venezuela, eine im Exil politisierte Kinderärztin in Chile, ein Befreiungstheologe und laizierter Bischof in Paraguay, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador, ein Onkologe in Uruguay, ein Fernsehjournalist in El Salvador: Nachdem über Jahrzehnte in vielen Ländern die sprichwörtlichen Caudillos und Vertreter urbaner konservativer Eliten mit ihren rechten beziehungsweise Mitte-Rechts-Parteien die Politik dominierten, ist das politische, soziale und professionelle Profil der Personen ebenso neu und ausdifferenziert, wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika heute.
Aber ist der Linksrutsch vorbei, bevor sich in einigen Ländern tatsächlich strukturelle Veränderungen durchgesetzt haben? Kommt jetzt wieder die rechte Welle? Oder polarisiert sich der Subkontinent in zwei klare Blöcke mit einem mächtigen Brasilien als Regionalmacht irgendwo dazwischen? In Argentinien sieht es so aus, als ob die Uhr für die Kirchners abläuft, in Panama wurde im Mai 2009 ein rechter Millionär zum Präsidenten gewählt, in Chile, wo im Dezember 2009 Wahlen anstehen, stehen die Chancen für das Mitte-Rechts-Bündnis gut und eine Prognose für die Zeit in Brasilien nach Dezember 2010, die Post-Lula-Ära, traut sich heute kaum jemand zu.
In Uruguay ist diese Polarisierung seit den Vorwahlen vom dem 28. Juni offiziell. Mit dem 75-jährigen José „Pepe“ Mujica und „Cuqui“, dem 67-jährigen Luis Alberto Lacalle, stehen sich zwei Personen mit völlig unterschiedlichen politischen Konzepten und Biografien gegenüber. Der ehemalige Tupamaro Mujica, der insgesamt 14 Jahre seines Lebens im Kerker verbrachte, ist Senator und Anführer der Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP). Der ungelernte Blumenzüchter, der eine direkte und mitunter auch „blumige“ Sprache spricht und der besonders bei den einfachen Leuten sehr beliebt ist, sitzt seit 1995 im Parlament. Auf der anderen Seite tritt mit dem konservativen Lacalle ein Vertreter jener Klasse an, die seit der Staatsgründung im Jahr 1828 die Politik in Uruguay bestimmt hat. Während seiner Präsidentschaft von 1990 bis 1995 stand er für eine neoliberale Privatisierungspolitik. Die wurde allerdings in seinem „eigenartigen Land“, wie der am 17. Mai diesen Jahres verstorbene uruguayische Dichter Mario Benedetti es in einem Artikel vom 30. November 1994 für die spanische El Pais nannte, vom Volk gestoppt: „ … 1992, als die ganze westliche Welt von einer Privatisierungswelle erfasst wurde und Präsident Lacalle bereit war, den internationalen Entscheidungen mit Freude nachzugeben, vernichtete eine weitere Volksabstimmung überlegen diese Privatisierungsgebärden.“ Trotzdem steht die Regierungszeit von Lacalle für unzählige Korruptionsfälle (vor allem bei der Privatisierung von staatlichen Banken), mehrere Mitglieder seiner Regierung sowie verschiedene seiner Geschäftspartner wurden angeklagt. Der Jurist Lacalle selbst vergrößerte sein privates Geldvermögen und seinen Landbesitz während seiner Regierungszeit um ein Vielfaches. Mit Bankenskandalen kennt sich Lacalle also aus, vielleicht ist gerade das in Zeiten der Krise, die mit einigen Monaten Verspätung auch in Uruguay angekommen ist, mit ein Grund dafür, dass er den Vorwahlkampf seiner Partei für sich entschied. Eigentlich ist es schwer vorstellbar, dass nach all diesen Erfahrungen eine Mehrheit der UruguayerInnen Lacalle wieder wählt. Aber in Italien regiert auch wieder Berlusconi und in Buenos Aires wurde Ende 2007 der rechte Unternehmer Mauricio Macri zum Bürgermeister gewählt, insofern ist auch in Uruguay gar nichts auszuschließen. So konkurrieren mit Mujica und Lacalle zwei sehr unterschiedliche Kandidaten darum, nach einem Wahlsieg im Oktober am 1. März 2010 die Nachfolge des amtierenden Mitte-Links-Präsidenten Tabaré Vázquez anzutreten, der laut Verfassung nicht wiedergewählt werden kann.
Einen ersten Fingerzeig, wohin die Reise geht, lieferten die Vorwahlen am 28. Juni. Diese dienen in erster Linie dazu, die parteiinternen PräsidentschaftskandidtInnen zu ermitteln, geben aber auch gleichzeitig einen Hinweis auf die Kräftekonstellationen zwischen den Parteien. Allerdings nur einen verzerrten, denn im Gegensatz zu den „richtigen“ Wahlen gibt es keinen Wahlzwang und somit auch eine wesentlich niedrigere Wahlbeteiligung. Bei diesen stimmten 41 Prozent der WählerInnen für die Kandidaten des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio (Breite Front). Innerhalb des Bündnisses konnte sich Mujica mit 59 Prozent deutlich gegen den wirtschaftsliberalen Danilo Astori, bis August 2008 Wirtschafts- und Finanzminister, durchsetzen. Überraschend konnte Mujica schon zwei Tage nach der Wahl den Unterlegenen zur Kandidatur für die Vizepräsidentschaft überreden. Welche Kompromisse er eingehen, welche „Kröten“ er schlucken muss, wie er das selbst nennt, um die Mittelschicht in Land, die nicht für ihn stimmte, zu gewinnen, wird noch verhandelt. Ohne personelle und programmatische Zugeständnisse wird es nicht gehen. Denn obwohl Mujica fast gebetsmühlenartig immer und immer wieder die Einheit der Frente Amplio beschwört, tun sich doch zwischen den Positionen des Astori-Blocks und Mujicas MPP, den Kommunisten und anderen linken kleineren Parteien innerhalb der Frente Amplio tiefe Gräben auf. Die radikalen linken Parteien und Bewegungen Uruguays sind ohnehin fast alle bereits während der Regierungszeit von Vázquez aus der Frente Amplio ausgetreten, der sie teilweise seit deren Gründung im Jahr 1971 angehörten. Die gemäßigten Linken, die in der Frente Amplio die Mehrheit stellen, sympathisieren mit Chávez, Morales und natürlich der Kubanischen Revolution, wollen die ausländischen Direktinvestitionen im Land an Bedingungen knüpfen und die Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen verringern. Zudem soll wieder eine staatliche Fleischindustrie aufgebaut werden, nachdem in den letzten Jahren die wichtigen Industriezweige komplett in die Hände ausländischer, vor allem brasilianischer und argentinischer Unternehmen fielen. Astori will das alles nicht, sieht vielmehr im weiteren Öffnen der Märkte und in ausländischen Investitionen die Zukunft für Uruguay, ist US-freundlich und kritisch gegenüber dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt Mercosur orientiert.
Das Schachern um politische Schlüsselpositionen, vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich, den der Astori-Sektor als eine Art Erbhof betrachtet, ist jetzt voll im Gange. Nach einem Jahr gegenseitiger Blockade, in dem es in einem personalisierten Vorwahlkampf fast ausschließlich nur um Mujica oder Astori ging, haben nicht wenige Sektoren der Frente Amplio aber jetzt genug davon: „Wir wollen eine Politik der Frente Amplio, nicht eine von Mujica und Astori“, so ein Mitglied der MPP. Tatsächlich hat „Pepe“ nur mit der Unterstützung Astoris gute Chancen, Präsident zu werden. Allerdings darf er die linken Basiskomitees der Frente nicht weiter verprellen, von denen viele nach der Regierungszeit des populären, aber wegen seiner autoritären Entscheidungen auch in der Frente selbst umstrittenen Präsidenten Vázquez enttäuscht sind. Die blieben nämlich in unerwartet großer Zahl bei den Vorwahlen zu Hause und sorgten so dafür, dass Lacalles Nationalpartei mit 46 Prozent besser als die Frente abschnitt, die eigentlich mit ihren hunderten von Basiskomitees viel besser organisiert ist. Obwohl einige KommentatorInnen die für den Rio de la Plata ungewöhnliche Winterkälte mit Temperaturen um den Gefrierpunkt als Grund für das Fernbleiben von mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten von den Wahlurnen ausmachten, gehen ernsthafte politische Analysen etwas tiefer. So spricht Juan Castillo, Mitglied im Führungsgremium des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT sowie der Kommunistischen Partei innerhalb des Mitte-Linksbündnisses, von „strukturellen und organisatorischen Fehlern, die wir gemacht haben“. Im Klartext heißt das: Die traditionell starke Basis ist frustriert, fühlt sich von „ihrer“ Regierung missachtet und ist heute viel schwerer zu motivieren als zu der Zeit, als die „Breite Front“ in der Opposition war.
Allerdings könnte die Kandidatenkür des politischen Gegners für eine künftig größere Motivation der Linken sorgen: Bei der Nationalpartei, den Blancos, erhielt Luis Alberto Lacalle 55 Prozent und schlug somit seinen Konkurrenten Jorge Larrañaga deutlich. Das Dream Team für die Präsidentschaftswahl stand hier schon am Wahlabend fest: Lacalle, der für den Neoliberalismus der 1990er Jahre steht und diese Rezepte auch heute noch für die geeigneten hält, bot dem als innerparteilichen Reformer gehandelten, IWF-kritischen Larrañaga die Vizepräsidentschaftskandidatur an, was dieser ohne Bedingungen akzeptierte. Wie das alles programmatisch zusammengeht, weiß zwar keiner, aber das ist zweitrangig. Zuerst geht es darum, die Linken zu schlagen und vor allem Mujica zu verhindern. Dazu will auch die dritte Kraft im Lande beitragen, die rechtsliberale Colorado-Partei. Die schnitt mit zwölf Prozent nicht so schlecht ab, wie prognostiziert. Und das trotz oder wegen Pedro Bordaberry. Der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976) gewann die Vorwahl seiner Partei mit 71 Prozent. Summiert man die zwölf Prozent Stimmen für die Colorados mit den 46 Prozent der Blancos ergibt das Ergebnis vom Sonntag eine klare Tendenz: Die Frente Amplio wäre abgewählt gewesen. Für die Wahl am 25. Oktober 2009 bedeutet das nichts Gutes. Falls dann weder Mujica noch Lacalle mehr als 50 Prozent erhalten, könnten die Colorados dem Duo Lacalle-Larrañaga bei der Stichwahl einen Monat später die entscheidenden Stimmen zum Sieg verschaffen. Und Lacalle würde mit Bordaberry eine Koalitionsregierung bilden, der nicht zum Parteiestablishment gehörende Larrañaga hätte seine Schuldigkeit getan. Beide „Traditionsparteien“, wie Blancos und Colorados bis zum Erstarken der Frente Amplio in den 1990er Jahren genannt wurden, werden alles und jeden mobilisieren, um das Linksbündnis zu schlagen. Schon die Niederlage im Oktober 2004 war für sie eine Katastrophe. Würde es die Frente Amplio ein zweites Mal schaffen, die Regierung zu stellen, wären alle die Pfründe und Erbhöfe vielleicht ja auf Dauer verloren.
In den vier Monaten bis Oktober ist ein harter polarisierter Wahlkampf zu erwarten, alles sieht nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Doch am Ende könnte sich mit José „Pepe“ Mujica eine weitere schillernde Persönlichkeit in die Riege der lateinamerikanischen Präsidenten einreihen. „Wir müssen daran denken, dass die Welt sich geändert hat, weil ein Schwarzer in den USA regiert, weil Lula in Brasilien dran ist und Evo in Bolivien. Ich will, dass alle wissen, dass ich die vertrete, die unten sind und ich empfinde Stolz und Verpflichtung dabei“, so Mujica nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse. Und für „El Pepe“, der sich als Freund von Chávez bezeichnet, ist das brasilianische Modell das Vorbild, mehr noch: „Mein Modell für Uruguay ist Lula. Lula hat eine Revolution erreicht. Er hat erreicht, dass eine große Anzahl von Menschen die Leiter emporklettern konnte“.
„Pepe“ hat in seiner Chacra, seinem kleinen Bauernhof, auf dem er heute noch Blumen züchtet, ein Foto von Che Guevara an der Wand und eine Fahne von Kuba an der Tür hängen. Hugo Chávez, die Castro Brüder und Evo Morales wird das sicher freuen. Der 25. Oktober 2009 könnte aber auch der Anfang eines „Rechtsrutsches“ sein, wenn in Uruguay mit Lacalle eine Figur aus dem Laboratorium des Neoliberalismus der 1990er Jahren im Jahre 2010 wieder den Dienst antritt.
Am 25. Oktober wird noch eine weitere Abstimmung in Uruguay stattfinden. Zeitgleich mit der Wahl wird ein Referendum darüber entscheiden, ob das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ von 1986, das allen Polizei- und Militärangehörigen Straffreiheit für vor dem 1. März 1985 begangene Menschenrechtsverletzungen zusichert, abgeschafft wird. Ein erstes Referendum dazu scheiterte 1989, begleitet von Drohungen der Militärs kurz nach dem Ende der Diktatur. Doch dieses Mal stehen die Chancen gut, dass, ganz gleich wer der nächste Präsident sein wird, auch in Uruguay die Straflosigkeit definitiv ein Ende findet, weil die Bevölkerung es mehrheitlich so entscheidet. Wie so oft in Benedettis „eigenartigem Land“.

OAS streckt die Hand aus

Als die Welt von dem Putsch in Honduras noch nichts ahnte, fand dort Anfang Juni ein anderes historisches Ereignis statt: Auf der 39. Tagung der OAS vom 2. bis 4. Juni in San Pedro Sula stand Kubas Verhältnis zu den USA auf der Tagesordnung. Obama‘s „Change“ wurde mit Kubas Sozialismus konfrontiert. Die Erwartungen waren hoch, ein „Lackmustest für die Lateinamerika-Politik der neuen US-Regierung“, so Julia Sweig vom Council of Foreign Relations. Hugo Chávez prophezeite, es würde ein „spannender Kampf:“ Wenn die OAS sich nicht dem Willen ihrer Mitgliedsstaaten unterordne, sei es an der Zeit, diese Organisation zu verlassen, so der venezolanische Präsident. Er träumte bereits von einer Organisation Lateinamerikanischer Staaten (OLAS). Manuel Zelaya, der honduranische Gastgeber, der wenige Wochen später vom Militär abgesetzt wurde, sprach während seiner Eröffnungsrede von der Notwendigkeit, auf intelligente Weise alte Fehler zu korrigieren. Er erinnerte daran, dass die lateinamerikanischen Staaten sich bereits während ihres Gipfels der Rio-Gruppe im Dezember 2008, bei dem Kuba als Mitglied aufgenommen wurde, darauf geeinigt hatten, bei der nächsten OAS-Sitzung das Ende der Ära ohne Kuba zu bewirken. In Bezug auf die sich häufenden staatlichen Interventionen in die globale Wirtschaft, erinnerte Zelaya daran, dass Kuba 1962 von der Zusammenarbeit mit der OAS ausgeschlossen wurde, weil es damals „sozialistische Ideen und Prinzipien“ proklamierte, die heutzutage in aller Welt, inklusive den USA und Europa angewendet würden. Genau genommen besagte jene Resolution VI, dass „Marxismus-Leninismus inkompatibel mit dem interamerikanischen System“ sei und die „Einreihung in den kommunistischen Block die Einheit und Solidarität der Hemisphäre“ bräche.
Als einen „entscheidenden Sieg“ wertete dann auch der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón die Entscheidung der OAS, sein Land wieder mit in die Organisation aufzunehmen. Am 3. Juni dieses Jahres beschloss der 1948 gegründete Staatenbund, eben jene Resolution für wirkungslos zu erklären, die am 31. Januar 1962 Kuba von seinen aktiven Rechten darin entband und somit de facto ausschloss. Da zwar der „kommunistische Block“ nicht mehr besteht, Kuba formal sich jedoch nach wie vor als „marxistisch-leninistisch-martianischen Staat“ (Verfassung 1992) sieht, ist dieser Schritt in den Augen vieler Konservativer und Antikommunisten eine Niederlage und ein Dorn im Auge. Es sei der größte Kompromiss, den die USA jemals in der OAS eingegangen seien, zitierte die Washington Post anonyme Verhandlungsleiter der US-Delegation.
US-Außenministerin und Verhandlungsleiterin Hillary Clinton war bereits vorzeitig aus San Pedro Sula (Honduras) mit den Worten „Es gibt keinen Kompromiss“ abgereist. Die venezolanische und nicaraguanische Delegationen hatten ebenfalls gedroht abzureisen, allerdings für den Fall dass Kuba nicht wieder aufgenommen werde. Sie blockierten eine Resolutionsvorlage aus Washington, die die Wiederaufnahme an strenge Bedingungen knüpfte. Es folgten viele Telefonate, darunter auch eines zwischen US-Präsident Obama und Brasiliens Präsident Lula, auch an einen 215 US-Dollar Millionen schweren Entwicklungskredit der USA an Honduras soll erinnert worden sein, so die Washington Post in Berufung auf Verhandlungsteilnehmer. Daraufhin wurde die nun verabschiedete Erklärung ausgearbeitet, die schließlich ohne Gegenstimmen angenommen wurde. Somit wurde eine Konsens- und Dialogfähigkeit auch unter den veränderten hegemonialen Bedingungen des amerikanischen Kontinents gewahrt.
In dem nun gültigen Beschluss wird neben der Rücknahme der Resolution VI von 1962 der Weg geebnet für Kubas Wiederaufnahme in die Organisation. Diese erfolgt jedoch nicht automatisch, sondern als Ergebnis eines „von der kubanischen Regierung zu beginnenden Dialogs“, der „nach den Praktiken, Aufgaben und Prinzipien“ der OAS zu erfolgen habe. Diese beinhalten seit der 2001 verabschiedeten Demokratischen Charta „demokratische und menschenrechtliche Prinzipien“, die nach Meinung der USA in Kuba nicht verwirklicht seien. Obwohl die Regierung in Havanna immer wieder betont, dass auch dort freie und geheime Wahlen stattfinden, ist zumindest die Bedingung eines pluralistischen Mehrparteiensystem eindeutig nicht gegeben. Die Resolution sei deshalb ein geeignetes Instrument für die Obama-Regierung, Kuba auf diese Weise „kollektiv unter Druck zu setzen,“ so José Miguel Vivanco, Direktor von Human Rights Watch Amerika.
Allerdings beabsichtigt die Regierung in Havanna gar nicht, der Einladung der OAS zu folgen. In einer offiziellen Stellungnahme vom 8. Juni kündigte sie an, dass Kuba „nicht in die OAS zurückkehren wird.“ Diese Haltung ist nicht neu und dürfte auch den meisten Regierungschefs Lateinamerikas bewusst gewesen sein, die für diese Resolution bereits seit der Aufnahme Kubas in die Rio-Gruppe im vergangenen Dezember arbeiteten. In Havanna wertet man die Entscheidung in Honduras allerdings als symbolisch-strategisch sehr wichtig. Der „last-minute Konsens“ sei „gegen den Willen Washingtons“ entstanden, der Imperialismus sei mit „seinen eigenen Mitteln geschlagen“ worden, so die Stellungnahme weiter. In diversen Zeitungsartikeln der beiden offiziellen Tageszeitungen granma und juventud rebelde, sowie den staatlichen Fernsehkanälen wurde die OAS als „Kolonialministerium der USA“ (so erstmals Kubas damaliger Außenminister Raúl Roa 1962) gebrandmarkt. Angesichts ihres Versagens oder gar Komplizenschaft in Jahrzehnten von Diktaturen und genozidartigen Massakern, aber auch dem ökonomischen Krieg gegen Kuba, sei die OAS nicht das geeignete Instrument für ein neues Lateinamerika des 21. Jahrhunderts. Es scheint Kuba daher nicht nur um Wiederaufnahme, sondern eher um eine historische Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu gehen. Man möchte auch nicht seine Regierungsform zum Verhandlungsgegenstand der Aufnahme in eine Organisation werden lassen.
Neben dem damaligen Antrag von 1962, Kuba von seinen Mitgliedsrechten in der OAS zu entbinden, der mit 14 von 21 damaligen Mitgliedsstimmen äußerst knapp und unter viel diplomatischem Druck der USA angenommen wurde, wurde mit mehr Unterstützung beschlossen, den Waffenverkauf nach Kuba zu stoppen, ihre „subversive Aktivitäten zu überwachen“ und ein Handelsembargo zu errichten. Auch brachen daraufhin bis auf Mexiko alle Staaten des Kontinents ihre Beziehungen mit der kommunistisch regierten Karibikinsel ab.
Vor allem mit der Linkswende in Lateinamerika des letzten Jahrzehnts, die in Wechselbeziehung zu der unilateralen Politik der zwei Amtszeiten George W. Bushs stand, haben sich die Koordinaten auf dem Kontinent verschoben. Kuba war bereits vor dem OAS-Gipfel regional wieder integriert. Nach dem Wahlsieg von Mauricio Funes in El Salvador im März dieses Jahres unterhielt Kuba erneut Beziehungen zu allen amerikanischen Staaten mit Ausnahme der USA. Alleine in diesem Jahr haben mehr als zehn lateinamerikanische Staatschefs die Karibikinsel besucht. Allerdings leidet die kubanische Wirtschaft immer noch unter erheblichem Devisen- und Kreditmangel, so dass eine Aufhebung des US-Embargos und eine Mitgliedschaft in der OAS entscheidende Erleichterungen zur Folge haben könnte. Denn trotz eines allgemeinen Aufschwungs der kubanischen Wirtschaft in den letzten Jahren, haben sich die Kennzahlen in der jüngsten Vergangenheit wieder stark verschlechtert: Nickelpreise und -produktion sind infolge der Krise um fast 40 Prozent gesunken, die Landwirtschaftsproduktion um sieben Prozent, der Tourismus ging im März um fast drei Prozent zurück, die ausländischen Unternehmen haben 13 Prozent ihrer Verträge mit Kuba ausgesetzt, so der Ökonom Carmelo Mesa-Lago. Zusätzlich verursachten die Hurrikans des letzten Jahres Schäden in Höhe von über 5 Milliarden US-Dollar, 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), vernichteten 30 Prozent der Ernte und beschädigten oder zerstörten 600.000 Häuser, so dass die Wohnungsknappheit auf fast eine Millionen angewachsen sei. Zugleich zahlt die kubanische Regierung nach eigenen Angaben fast 20 bis 30 Prozent mehr für internationale Kredite als andere Staaten. Zuletzt musste Kuba die Schuldenbedienung an verschiedene Gläubiger aussetzen. So gesehen würde die Wiederaufnahme in die OAS zugleich die Möglichkeit eröffnen, an dringend benötigte Kredite der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IADB) zu gelangen. In seiner Zeitungskolumne „Reflexiones“ vom 3. Juni stellte Fidel Castro jedoch klar, dass Kuba nicht wieder zu jenen Ländern zu gehören gedenkt, die „von dem kleinen Finger der USA abhängen“ und ihrem Einfluss auf Weltbank, Internationalen Währungsfonds oder IADB, deren neoliberale Austeritätspolitik für eine Zunahme der Armut und Abhängigkei in den vergangenen Jahren geführt habe.
Obwohl die Politik der neuen US-Regierung eindeutig einen Paradigmenwechsel in der Wahl ihrer Methoden und Rhetorik darstellt, bleiben Interessen und strategische Ziele ähnlich. Die Isolations- und Blockadepolitik gegenüber Kuba war von Anbeginn umstritten. Schon in der Vorbereitung zu jener legendären OAS-Konferenz im Januar 1962 in Punta del Este, als Kubas Vertreter Ernesto Che Guevara ausgeschlossen wurde, warnte der damalige argentinische Präsident Arturo Frondizi davor, dass die USA von Kuba „besessen“ seien und diese Politik die Bedürfnisse der Kontinents vernachlässige sowie Fidel Castro stärken würde.
Vor einer ähnlichen Frage nach der Wahl der Mittel stehen die USA auch heute: Wandel durch Annäherung oder Isolation. Für beide Positionen lassen sich Argumente und Interessen identifizieren, das Pendel scheint sich jedoch von der Isolationshaltung entfernt zu haben. In diesem Kontext stellt auch die jetzige Initiative der OAS ein neues historisches Moment dar. Die jüngsten Verhandlungen in der OAS, der Druck und das vereinte Vorgehen von lateinamerikanischen Staaten auch gegen den Willen Washingtons bestimmte Positionen durchzusetzen, macht neue Handlungsfelder und Hegemoniekämpfe sichtbar. Ebenso wie die jüngsten Anordnungen der US-Regierung, Einschränkungen im Reise- und Kommunikationsbereich aufzuheben, beinhaltet auch der jüngste Beschluss stets die Möglichkeit, diese Maßnahmen als Mittel einzusetzen, um Veränderungen in einem von den USA angestrebten Sinne anzustreben. Dieser Konditionierung ist sich die Regierung in Kuba bewusst und agiert entsprechend vorsichtig auf Einladungen wie jüngst die der OAS. Bisher plant sie nicht, den Dialog mit der OAS zu intensivieren.

Ein „Extremist des Optimismus“

Einer der ganz Großen der lateinamerikanischen Literatur ist gegangen. „Mario war ein Extremist des Optimismus und der Hoffnung, ohne dabei seinen kritischen Sinn und seine tiefe Sorge um die Menschen zu vernachlässigen“, so sein Wegbegleiter, der Komponist und Sänger Daniel Viglietti, der seit 1978 die legendären Konzertlesungen „A Dos Voces“ (Mit Zwei Stimmen) mit Mario Benedetti bestritt. Und er war ein Mensch von beispielloser Bescheidenheit, wie ein anderer berühmter Freund, der Schriftsteller Eduardo Galeano, ihn charakterisierte: „Er war sich gar nicht bewusst, dass er Mario Benedetti war.” Am 17. Mai 2009 verstarb der im uruguayischen Paso de los Toros als Sohn italienischer Immigranten geborene Mario Benedetti in Montevideo. Er wurde 88 Jahre alt. Obwohl er schon seit längerem an Herzproblemen litt, war die Nachricht ein Schock für die meisten UruguayerInnen und für seine zahlreichen FreundInnen und LeserInnen in ganz Lateinamerika. Der uruguayische Präsident ordnete Nationaltrauer an und zehntausende seiner Landsleute aus allen sozialen Schichten nahmen im Parlamentsgebäude von ihrem geliebten Dichter, dem meist gelesenen Autor Uruguays, Abschied.
Benedetti, der selbst einmal bezeugte, „Mein erstes Gedicht schrieb ich auf Deutsch“, besuchte von 1928 bis 1933 die Deutsche Schule in Montevideo. Danach verdingte er sich als Autoersatzteilverkäufer, Buchhalter in einer Immobilienfirma und Angestellter im Wirtschaftsministerium. Von 1938 bis 1941 lebte er in Buenos Aires. Zurück in Montevideo, wurde er 1945 Redaktionsmitglied der linken Wochenzeitschrift Marcha, bei der er ab 1954 als literarischer Direktor arbeitete, bis das renommierte Magazin 1974 von der Militärregierung verboten wurde. Politisiert wurde Benedetti von der kubanischen Revolution, die er bis zu seinem Tode unterstützte – wofür er von einigen SchriftstellerkollegInnen kritisiert wurde. 1971 war er Gründungsmitglied der Bewegung der Unabhängigen 26. März, des politischen Arms der Stadtguerilla Tupamaros. Diese vertrat er von 1971 bis 1973 auch in der Linkskoalition Frente Amplio. 1973 wurde er von der Militärdiktatur ins Exil getrieben. Er flüchtete für kurze Zeit nach Argentinien, weitere Stationen waren Peru, Kuba und Spanien. 1983, noch zur Zeit der Militärdiktatur, kehrte er nach Uruguay zurück.
Im Alter von 25 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört der 1960 publizierte Roman Die Gnadenfrist. Zugleich Liebesgeschichte und Drama, behandelt das in 19 Sprachen übersetzte Werk das Leben eines Buchhalters kurz vor der Pensionierung. Unter dem Titel La Tregua („Der Waffenstillstand“) wurde es 1974 in Argentinien verfilmt. Ein anderes berühmtes Werk ist Montevideanos, ein ebenfalls 1960 veröffentlichter Sammelband von Kurzgeschichten, in dem Charakter und Stimmungen der uruguayischen Hauptstadt gespiegelt werden. Auch heute noch sind diese so oder so ähnlich in Montevideo zu beobachten und zu spüren. Mit seiner Rückkehr nach Uruguay begann die literarische Verarbeitung des Exils und vor allem des „desexilio“, wie Benedetti den Neuanfang in seinem Heimatland bezeichnete. Zu den wichtigsten Werken dieser Zeit zählen El amor, las mujeres y la vida, eine Sammlung von Liebesgedichten, und der Roman Andamios. Benedetti hat ein umfassendes Gesamtwerk von mehr als 80 Titeln hinterlassen, darunter Romane, Gedichtbände, Essays und Kurzgeschichten.

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