Zurück in die Spezialperiode

„Eier, gibt es Eier?“, ist derzeit eine Frage, die imOsten genauso wie im Westen Kubas gestellt wird. Eier gehören zu den wichtigsten Lebensmitteln auf der Insel. Doch viele der Hühnerfarmen und Legebatterien wurden durch die beiden Hurrikane „Gustav“ und „Ike“, die zwischen Ende August und Anfang September die Insel verwüsteten, zerstört. Gleiches gilt für viele der Bananen- und Tabakplantagen. Auch Gemüse, Kartoffeln und andere Knollenfrüchte sind zusehend knapp in Havanna. Genau dieses Szenarium hatten viele Kubaner sowie interne und externe Agrar- und EntwicklungsexpertInnen prognostiziert. Nun scheint es eingetreten, denn Anfang Oktober standen viele Menschen auf den Bauernmärkten der kubanischen Hauptstadt vor leeren Verkaufstischen. „No hay“ hieß es bei Süßkartoffel, Knoblauch, Malanga und Orangen. Gähnende Leere auch in vielen bodegas, Verkaufsstellen, in denen KubanerInnen Produkte mit der libreta, der Rationierungskarte, erwerben.
Keine Überraschung, denn nachdem in vielen Landesteilen die Reste geerntet wurden, die „Gustav“ und „Ike“ unbeschädigt gelassen hatte, macht sich nun langsam die Tatsache bemerkbar , dass etliche Tausend Hektar Anbauflächen verwüstet wurden. Nicht nur in Pinar del Río und auf der Isla de la Juventud, wo ab dem 30. August „Gustav“ zwei Tage wütete. Neben dem kompletten Stromnetz wurde auch das Gros der Tabakernte vernichtet, Zitrusplantagen und etliche Zehntausend Häuser. Doch nicht nur im Westen der Insel sind die Schäden groß, denn nachdem „Gustav“ mit Böen von bis zu 390 Stundenkilometer aufwartete, brachte „Ike“ mit etwas weniger Wind dafür deutlich mehr Regen mit. Nahezu über die gesamte Insel, von Ost nach West, zog der Hurrikan und hinterließ überschwemmte Anbauflächen und abgedeckte Häuser.
80.000 Menschen sind auch ein Monat später noch immer ohne Strom, weil die Techniker der Stromunternehmen etliche Tausend niederbaumelnde Stromkabel ersetzen mussten und nicht ausreichend Material wie Transformatoren und neue Kabel hatten. Bei internationalen Hilfsorganisationen – darunter die Deutsche Welthungerhilfe – wurde nach Ersatzteilen für die Reparatur des Leitungssystems nachgefragt. Wiederaufbau lautet die Devise mit der der nationale Katastrophenschutz, Armee und Milizen derzeit in Kuba beschäftigt sind. Besonders schlimm hat es Holguín und Granma im Osten, Camagüey und Las Tunas im Zentrum und Pinar del Río im Westen erwischt, so Richard Haep, Büroleiter der Welthungerhilfe in Havanna. Er hat die verschiedenen Regionen der Insel besucht, um Nothilfeprojekte zu initiieren und die Auswirkungen der beiden Hurrikane mit dem Tsunami in Südostasien 2004 verglichen. „Auf fünf bis zehn Milliarden US-Dollar belaufen sich – je nach Schätzung – die Schäden. Das sind zwischen zehn und zwanzig Prozent des Bruttosozialprodukts Kubas. Übertragen auf Deutschland entspricht das einem Schaden von 200 bis 400 Milliarden US-Dollar“, so Haep.
Ein gigantisches Volumen, welches die Wirtschaft der Insel um Jahre zurückwerfen kann. Rund 200.000 Kubaner leben derzeit offiziellen Berichten zufolge noch in Notunterkünften und das wird auch noch lange so bleiben, weil es an Baumaterialien, aber auch an Maurern fehlt. 444.000 Häuser wurden beschädigt, 63.249 stürzten ein und sind verloren. Entwicklungsexperten wie Haep oder der Schweizer Oxfam-Experte Beat Schmid gehen zudem davon aus, dass bis zu 50 Prozent der Ernten durch „Gustav“ und „Ike“ zerstört wurden. So gilt die Tabakernte in der Provinz von Pinar del Río als weit gehend verloren. Für Zigarren-LiebhaberInnen eine schlechte Nachricht, für Kuba ein potentieller Einnahmeausfall von etwa 300 Millionen US-Dollar. Weitaus schlimmer für die kubanische Bevölkerung sind jedoch die verheerenden Schäden auf den Bananenplantagen, auf Kartoffel-, Reis- und Zuckerrohrfeldern. Grundnahrungsmittel sind knapp und jede Tonne, die weniger geerntet wird, muss importiert werden.
Doch womit diese Mehrausgaben beim ohnehin schon astronomisch hohen Lebensmittelimport bezahlt werde sollen, dass weiß derzeit wohl niemand in Havanna. Durch die Wirbelstürme sollen zudem auch etliche Tausend Tonnen Lebensmittel in Depots vernichtet worden sein, wodurch die Reserven zusätzlich geschmälert wurden. Das Konzept der Regierung, um möglichst schnell die Versorgungslage aus eigener Kraft zu verbessern, ist das Anpflanzen von Kulturpflanzen mit kurzen Wachstumszyklen. „Der Anbau von Gemüse, Yucca und Süßkartoffeln für die nationale Versorgung hat derzeit Priorität“ erklärt Haep. Die Wiederbelebung des Agrarsektors ist eine zentrale Komponente, denn die Lebensmittelversorgung ist angesichts von hohen Weltmarktpreisen, der chronischen Importabhängigkeit Kubas und der immensen Hurrikanschäden die zentrale Herausforderung der kommenden Monate. Nach langem Zögern hat die USA immerhin zusätzliche Exportlizenzen für Lebensmittel und Baumaterialien in Höhe von 250 Millionen US-Dollar gewährt. Deutlich weniger als die von Barack Obama angeregte und von der Exilgemeinde in Miami unterstützte Aussetzung des Embargos für neunzig Tage, um den Kubanern effektiv helfen zu können. Aus Havanna wurde daraufhin erneut ein Ende des Embargos gefordert, doch dazu fehlt den Verantwortlichen in Washington nicht nur der Wille sondern auch die Handhabe, wie Condoleezza Rice Anfang September klarstellte. Dafür sind Mehrheiten in beiden Kammern nötig. Hinter den Kulissen wird jedoch kräftig agiert, um den Handel mit dem kleinen ungeliebten Klassenfeind zu intensivieren. Die USA ist längst zum fünftwichtigsten Handelspartner Kubas geworden und nachdem 2007 bereits für 582 Millionen US-Dollar Lebensmittel exportiert wurden, waren es im ersten Halbjahr 2008 schon 425 Millionen US-Dollar. Kubas oberster Compañero Fidel Castro prognostizierte Mitte September in einer seiner Kolumnen in der Parteizeitung Granma, dass die Warenströme aus den USA in diesem Jahr alle Rekorde brechen könnte. „Kuba müsse nach dem kolossalen Schlag gegen die eigene Landwirtschaft importieren“, so der Ex-Comandante en Jefe.
Viele US-Unternehmen würden auch gerne liefern, aber Kuba muss, so hat es das US-Schatzamt verfügt, vorab und cash bezahlen. Dazu ist Havanna aber derzeit kaum in der Lage, denn in den Regierungskassen herrscht Ebbe. Schon im Juni platzten einige Handelskredite mit japanischen Unternehmen und so wird die Devise in Havanna vorerst wieder „Sparen und Gürtel enger schnallen“ heißen. Für viele KubanerInnen eine vertraute Parole, die sie zum Beginn der Spezialperiode Anfang der 1990er Jahre schon zu hören bekamen.

Zwölf Wochen Entscheidungsfreiheit

Mit unterschiedlichen Nuancen, aber im Kern übereinstimmend, erklärten acht RichterInnen des Obersten Gerichtshofes, darunter zwei Frauen, dass weder in der mexikanischen Verfassung, noch in den von Mexiko unterzeichneten internationalen Abkommen ein „Recht auf Leben vom Moment der Empfängnis an“ bestehe. Genauso wenig sehe die Verfassung die strafrechtliche Verfolgung von Abtreibung vor, hieß es in der Ende August veröffentlichten Erklärung.
Nur der Vorsitzende Richter Guillermo I. Ortiz Mayagoitia und einer seiner KollegInnen unterstützten den wenige Tage vor der abschließenden Abstimmung eingebrachten Antrag, der vorsah, Abtreibungen mit drei bis sechs Monaten Gefängnis zu bestrafen. Die AbtreibungsgegnerInnen stellten zudem die legislative Zuständigkeit des Parlaments von Mexiko-Stadt (ALDF) für die Themen Abtreibung und Gesundheit im Allgemeinen in Frage. Das ALDF hatte am 24. April letzten Jahres mit großer Mehrheit der Gesetzesinitiative der Hauptstadtfraktion der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) zur Änderung des Strafrechtsartikels 144 zugestimmt. Seitdem können in Mexiko-Stadt als einzigem mexikanischen Bundesstaat Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche straffrei durchgeführt werden. Dagegen hatten die Generalstaatsanwaltschaft (PGR) und die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) geklagt.
In ihrer Urteilsbegründung stellte eine der RichterInnen klar: „Abtreibung zu legalisieren, ist eine wirksame Art, sie aus der Verborgenheit zu holen, ihr entgegenzutreten und sie zu bekämpfen, um den Tod von Frauen zu verhindern, die nicht aus Schlechtigkeit oder Verbrecherinnentum abtreiben, sondern aus Notwendigkeit.“ Ein anderer Richter nahm den mexikanischen Staat ins Visier. Dieser sei nicht in der Lage gewesen, die herrschende soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zu mildern, die sich in der Armut, Marginalisierung und Unwissenheit einer immer noch sehr großen Anzahl von Frauen ausdrückt. Auch habe er nicht seine verfassungsgemäße Aufgabe erfüllt, für eine umfassende sexuelle Aufklärung zu sorgen und breiten Zugang zu Verhütungsmitteln zu ermöglichen.
Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetze. Der Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard Casaubon (PRD), zeigte sich zufrieden ob der höchstrichterlichen Entscheidung: „Eine Entscheidung gegen ein Gesetz, das seit mehr als einem Jahr sehr gut funktioniert, wäre ohne Beispiel und aus juristischer und jeder anderen Sicht sehr bedauerlich, sie wäre ein großer Rückschritt für das Land, mit sehr fragwürdigen Auswirkungen.“
Doch auch die Front derer, die gegen die Regelung in der Hauptstadt mobilisiert hatten, ist breit: Ihr gehören die gesamte politische Rechte vom konservativen Präsidenten Felipe Calderón über die Wirtschaftseliten bis hin zu den Medien und vor allem die Katholische Kirche an. Insbesondere diese äußerte sich dementsprechend enttäuscht von dem Urteil. Verbrechen werde legal, so Kardinal Norberto Rivera Carrera in einer ersten Stellungnahme. Diejenigen, die Abtreibungen durchführten, seien „Mörder“. In einem auch von seinen acht beistehenden Bischöfen unterzeichneten Aufruf an ÄrztInnen sowie Krankenschwestern und -pfleger forderte er die im Gesundheitswesen des Distrito Federal Beschäftigten auf, ihrem Gewissen zu folgen und „Akte der Unmenschlichkeit“ zu verweigern. Gleichzeitig appellierte er an die Behörden, solche „Gewissensentscheidungen“ zugunsten ungeborenen Lebens zu respektieren. In dem Papier verstieg sich der höchste kirchliche Würdenträger Mexikos gar zu der Aussage, Mexiko erlebe eine „Tragödie des Kindermordes“. Zu der Gewalt und Zerstörung, mit der das Organisierte Verbrechen das Land überziehe, komme nun „institutionelle Gewalt, die dem Verlust des Lebens von Millionen unschuldigen Kindern nicht Einhalt gebiete, und die der Grund sein werde für die physischen, moralischen und spirituellen Schäden der Frauen.“
Indem die Kirche offen zum Gesetzesbruch aufruft, missachtet sie die laizistische Ordnung des Staates und verkennt die gesellschaftlichen Realitäten. Zumal sie sich einer zeitgemäßen Sexualerziehung und Familienplanung immer noch verschließt, indem sie die Benutzung von Verhütungsmitteln geißelt und eine mittelalterlich anmutende Sexualmoral aufrechterhält.
Während der Zeit der sechs öffentlichen Anhörungen, die der Entscheidung des Obersten Gerichts voran gegangen waren, bestimmte daher von Anfang an viel Polemik die Auseinandersetzung. So kam es zu Entgleisungen wie die des Bischofs von San Cristóbal de las Casas in Chiapas, der Abtreibungen mit der Vernichtungspolitik Hitlers verglich. Vor allem aber der Vorschlag des Richters Aguirre Anguiano, Abtreibungen mit Haftstrafen zu kriminalisieren, sorgte für einige Kontroversen. Aguirre brachte auch den Einwand vor, dass das Leben mit der befruchteten Eizelle beginne, eine Meinung, die auch von Gruppen wie der Mexikanischen Menschenrechtskommission (CMDH) oder der Vereinigung Red Familia vertreten wird.
PGR-Generalstaatsanwalt Eduardo Medina Mora stellte zudem die Verfassungsmäßigkeit der Abtreibungserlaubnis in Frage, da die Gesetzesänderung in Mexiko-Stadt „den Menschen“ erst ab der 13. Schwangerschaftswoche schütze. Dem widersprachen die BefürworterInnen der Regelung. Bis zur zwölften Schwangerschaftswoche handele es sich bei dem Embryo noch keineswegs um eine eigenständige Person. Vielmehr sei die Liberalisierung der Abtreibungsregelung in Mexiko-Stadt eine „historische Errungenschaft“, die es der Frau erlaube selbst über ihren Körper zu verfügen, so die juristische Beraterin der Regierung von Mexiko-Stadt.
Indes hat es sich gezeigt, dass – trotz der liberalen Handhabe – keineswegs alle Welt nach Mexiko-Stadt kommt, um abzutreiben, wie von der Kirche behauptet. Vor allem aber hat die Gesetzesänderung in Mexiko-Stadt dazu geführt, dass in den ersten 16 Monaten mehr als 11.500 Frauen Schwangerschaftsabbrüche unter hygienisch sauberen und sicheren Bedingungen vornehmen lassen konnten.
Die Praxis illegaler Schwangerschaftsabbrüche führt im Gegensatz dazu vor allem zu einer hohen Sterblichkeitsrate der Betroffenen (heute fünfthäufigste Todesursache von Frauen in Mexiko) und bringt denjenigen, die klandestine Abtreibungen vornehmen, nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu 100 Millionen US-Dollar jährlich.
Die Liberalisierung der Abtreibungsgesetze in Mexiko-Stadt korrigiert damit zumindest eine der vielen legislativen Ungerechtigkeiten: Viele Frauen mit ungewünschten Schwangerschaften sind nun nicht mehr dazu gezwungen, Abtreibungen illegal vorzunehmen, was vor allem negative Folgen für sozial benachteiligte Frauen ausschließt. Denn neben der öffentlichen Gesundheit berühren illegale Schwangerschaftsabbrüche auch das Feld sozialer Gerechtigkeit. Während die sozial besser gestellten Frauen Abtreibungen im Ausland oder zumindest in einem sicheren und hygienisch sauberen Umfeld vornehmen lassen, sind die meisten Frauen gezwungen, dies unter unhygienischen, entwürdigenden und oft gefährlichen Bedingungen zu tun. Daten des Gesundheitsministeriums zeigen, dass jede Woche zwei Frauen wegen schlecht durchgeführter Abtreibungen sterben. Einige NRO schätzen allerdings, dass die Zahl fünfmal so hoch sein könnte.
Auch in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas werden Schwangerschaftsabbrüche weiterhin in der Regel illegalisiert. Oft ist es aufgrund der Heimlichkeit der Eingriffe schwierig, eine genaue Anzahl der Fälle zu beziffern. In Peru gibt es nach Schätzungen des Gesundheitsministeriums 410.000 Abbrüche pro Jahr, in Kolumbien gab es nach den letzten Zahlen von Ende der 1990er-Jahre 350.000 Abtreibungen, in Argentinien im Jahr 2005 80.000. In Chile, wo Abtreibung komplett illegal ist, schätzen ExpertInnen 150.000 Abbrüche pro Jahr.
Ebenfalls komplett verboten ist Abtreibung in Nicaragua. Das überrascht zunächst, da das Land einen „linken“ Präsidenten und eine sandinistische Vergangenheit hat. Doch hier zeigt sich die Korrumpierung der Macht. Wie kein anderer hatte sich der Präsidentschaftskandidat der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), Daniel Ortega, im Vorfeld für eine „Versöhnung” mit der Kirche stark gemacht und deren Forderung nach einem Abtreibungsverbot übernommen – wohl nicht zuletzt, um seine Wahlchancen zu erhöhen. Mitten im Wahlkampf, wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen 2006, beschloss daher das Parlament, das seit über 100 Jahren bestehende Recht auf therapeutische Abtreibung abzuschaffen. Auch alle anwesenden Abgeordneten der FSLN stimmten für die Gesetzesinitiative. „Gewöhnliche“ Schwangerschaftsabbrüche waren in Nicaragua ohnehin verboten. Doch bis dahin war der Eingriff erlaubt, wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter bedrohte oder schwere psychische Schäden als Folge einer Vergewaltigung zu befürchten waren. Mit der Änderung des Strafrechtsartikels wird jede Frau, der nachgewiesen werden kann abgetrieben zu haben, mit einer Gefängnisstrafe von vier bis acht Jahren bestraft. Den ausführenden ÄrztInnen droht bis zu sechs Jahren Haft sowie der Entzug ihrer Lizenz.
In vielen Ländern der Region gibt es dagegen gewisse Ausnahmeregelungen bei Vergewaltigungen, bei Gefahr für das Leben der Mutter oder einer Missbildung des Fötus. Einzig in Kuba und Guayana sind Abtreibungen vollständig legalisiert.
Die Entscheidung des Obersten Gerichts in Mexiko, die Straffreiheit für Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche als verfassungskonform anzuerkennen, ist vor diesem Hintergrund hoch anzuerkennen. Nach dem Willen der mexikanischen AbtreibungsbefürworterInnen müssen nun weitere Schritte folgen. Dazu gehören eine umfassend Sexualerziehung und -aufklärung, die Verteilung von Verhütungsmitteln für Frauen, eine Debatte über die Verantwortung von Männern und Vätern sowie die Ausweitung der Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen auf alle Bundesstaaten. Vor allem aber ist die Liberalisierung der Abtreibungsregelung in MexikowStadt die erste wirkliche Niederlage für die AbtreibungsgegnerInnen in Mexiko seit Jahrzehnten – und dies trotz des Drucks und der Diffamierungskampagnen von Seiten der mexikanischen Rechten, allen voran der Katholischen Kirche.

Letzter Ausweg Agrarreform

Auch Kuba sei nicht immun gegen die internationale wirtschaftliche Krise, hatte Raúl Castro in seiner Rede am Jahrestag des Sturms auf die Moncada Kaserne, dem offiziellen Beginn der kubanischen Revolution, gesagt. Das war am 26. Juli. Nur vier Wochen später scheint die Konjunkturdelle Kuba nicht nur eingeholt, sondern gleich regelrecht umarmt zu haben, denn Havanna scheint außerstande, seine finanziellen Verpflichtungen zu bedienen. Erst verweigerte die japanische Export- und Investitionsversicherung (NEXI) die Absicherung weiterer Geschäfte zwischen Japan und Kuba, dann räumte das in Kuba fördernde kanadische Erdölunternehmen Pebercan ein, dass Cupet, das staatliche kubanische Erdölunternehmen, seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen sei. Ein Indiz für die alles andere als einfache ökonomische Situation der Insel. Die ist auch dafür verantwortlich, dass Staatschef Raúl Castro nicht so kann, wie er will.
Ende Juli musste der 77-jährige Comandante der Revolutionsarmee seinen Landsleuten eingestehen, dass seine Pläne zur Anhebung der Löhne, auf die viele gewartet hatten, aufgeschoben werden müssten, und dass auch die wirtschaftliche Erholung länger auf sich warten lassen würde. Ein wesentlicher Grund dafür ist die verheerende Situation der Landwirtschaft, die durch den Hurrikan Gustav, der Ende August für erhebliche Schäden im Westen der Insel sorgte, noch weiter zurückgeworfen wurde. Einbußen bei der Ernte von Tabak, Bananen und Zitrusfrüchten wurden registriert, wodurch zusätzliche Importe auf die Insel zukommen dürften. Zudem muss in die Infrastruktur investiert werden, so zum Beispiel in den Wiederaufbau von Starkstrommasten und Telefonleitungen.
Echte Herausforderungen angesichts leerer Kassen. Die Perspektiven sind nicht allzu rosig hinsichtlich der bitteren Medizin, die Comandante Raúl dem Land verordnet hat. Sparen heißt die erste Maßgabe, und die zweite lautet „Zurück aufs Land“. Dort liege Kubas Zukunft, und es heißt: „Wir müssen das Land wieder produktiv machen“. Derzeit ist das Gegenteil der Fall, denn laut einer Studie vom Statistischen Amt (ONE) werden von 6,6 Millionen Hektar derzeit gerade noch 2,9 Millionen Hektar bestellt. Ein Desaster für die Nahrungsmittelproduktion auf der Insel, denn seit Jahren steigen nicht nur die Mengen der Nahrungsmittel, die importiert werden müssen, sondern auch deren Preise. Allein im letzten Jahr wurden laut dem Parteiorgan „Granma“ Lebensmittel für 1,7 Milliarden US-Dollar importiert. Rund ein Drittel davon kam vom Klassenfeind, den USA, die sich im laufenden Jahr über ordentliche Zuwächse freuen dürfen. Laut Staatschef Raúl Castro drohen Mehrausgaben durch die hohen Weltmarktpreise für Milchpulver, Reis, Bohnen und Co. von rund einer Milliarde US-Dollar. Angesichts der verheerenden Schäden durch „Gustav“, der Tausende Hektar von Anbauflächen zerstörte und auch Lagerhäuser nicht verschonte, könnte diese Rechnung allerdings auch deutlich zu knapp kalkuliert sein.
Die galoppierenden Nahrungsmittelausgaben kann sich die Regierung in Havanna aber immer weniger leisten. Unter Experten sorgt die Tatsache, dass rund 82 Prozent der Kalorien, die von den 11,2 Millionen KubanerInnen verzehrt werden, importiert werden, nur für Kopfschütteln. Einen Grund für die niedrige Produktivität sieht der kubanische Agrarexperte Armando Nova im geringen Bezug der Bäuerinnen und Bauern zum Boden. Er plädiert für grundlegende Reformen im Agrarsektor. „Aus unserer Sicht hat die Essenz des Problems viel mit der Eigentumsstruktur zu tun. Warum soll ich in das Land investieren, wenn es mir nicht gehört und wenig später vielleicht einem anderen überantwortet wird?“, fragt Nova. Andere Faktoren sind die fehlenden Einkaufsmöglichkeiten für Bauern, die sich in Kuba kaum eine Schaufel kaufen können, oder das staatliche Ankaufssystem, Acopio. Das offeriert den Bauern teilweise Preise für ihre Ware, die unterhalb der Produktionskosten liegen. „Das drückt auf die Motivation der Bauern“, so Nova. Doch die Regierung in Havanna ist angesichts der galoppierenden Preise auf dem Weltmarkt darauf angewiesen, dass die Produktivität in der Landwirtschaft steigt und die Landflucht eingedämmt wird. Das sieht auch Miguel A. Salcines so. Der Leiter einer Genossenschaft vor den Toren Havannas befürwortet die so genannte „dritte Landreform“. Die hat die Regierung in Havanna im Juli auf den Weg gebracht. Landlose Bauern können seit Mitte Juli bis zu 13,43 Hektar vom Staat zur landwirtschaftlichen Nutzung erhalten. Private Kleinbauern, die ihre Felder nachweislich bestellen, können ihre Anbaufläche auf maximal 40,26 Hektar erweitern und erhalten ebenfalls das Landnutzungsrecht für einen Zeitraum von zehn bis 25 Jahren. Mit diesen Maßnahmen, Kreditprogrammen und der Einrichtung von Geschäften für Agrarinputs, also Pflanzenschutz- und Düngemittel, Saatgut, landwirtschaftliche Maschinen und Technologie, hoffen die Regierungsexperten, den Agrarsektor nach Jahren des latenten Verfalls endlich wieder flott zu machen.
Doch ob die Maßnahmen greifen werden, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen. Für einen strukturellen Umbau der Agrarstruktur und nachhaltigen Landbau wären 15-20 Jahre nötig, schätzt Experte Salcines. Doch in Havanna denkt man gar nicht so langfristig. Dort geht es vor allem darum, schnell mehr Essen auf den Tisch zu bekommen. Doch von mehr als nur wieder besser gedeckten Tischen träumen Leute wie Yoani Sánchez. Für Kubas bekannte Bloggerin, die kürzlich einen spanischen Journalistenpreis erhielt, sind die Reformen des jüngeren der beiden Castro-Brüder alles andere als ein Meilenstein: „Der Verkauf von Haushaltsgeräten, Mobiltelefonen und selbst Computern ist nicht der Rede wert, denn die kubanische Regierung hat sich bei den Menschen- und bürgerlichen Freiheitsrechten nicht einen Millimeter bewegt“. Daran wird die Regierung in Havanna auch gemessen und in kubanischen Internetforen wird minutiös analysiert und geschildert, woran es fehlt. Der latente Wohnungsmangel, der nicht nur in Havanna allgegenwärtig ist, kommt da genauso zur Sprache wie die fehlenden Perspektiven. So ist beispielsweise Yoani Sánchez ausgebildete Sprachwissenschaftlerin. Sie verdient sich ihr Geld jedoch mit Übersetzungen und als Fremdenführerin in Havanna. Typisch, denn für die oftmals gut ausgebildeten KubanerInnen fehlt es an Jobs, die ihrer Qualifikation entsprechen. Der Staat hat es verpasst, der Revolution im Ausbildungsbereich auch eine Revolution in den Arbeitsstrukturen folgen zu lassen, gibt der Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny von der Universität Havanna schulterzuckend zu. „Kuba ist ein Land mit den Problemen der ersten Welt, aber den Strukturen der Dritten Welt“. Dazu gehört die niedrige Geburtenquote, die zu einer ungünstigen demographischen Perspektive führt. Überalterung droht der Gesellschaft, denn es sind die jungen, gut ausgebildeten KubanerInnen, die gehen. Gut 35.000 waren es im letzten Jahr, mehr als 200.000 seit Beginn des Jahrtausends. Ein Aderlass, den sich die Insel nicht leisten kann, der aber kaum zu stoppen ist, denn es fehlt an Perspektiven auf der Insel. Enrique ist ein besonders zielstrebiges Beispiel. Der Jurastudent arbeitet neben dem Studium in einem paladar, einem der privaten Restaurants in Kuba, und kommt mit den 150 US-Dollar, die er dort verdient, gut über die Runden. Doch anders als viele Altersgenossen, die sich über den lukrativen Job freuen würden, ist der Kellnerjob für ihn nur Mittel zum Zweck. „Mit dem Geld kann ich mein Studium absolvieren und den Englischlehrer bezahlen. Gutes Englisch und eine gute Ausbildung sind für mich die Eintrittskarten in Miami“, sagt der schlanke 26-jährige Mulatte. Da will Enrique hin und dafür schuftet er vierzehn Stunden und mehr am Tag. In Kuba hat er keine Perspektiven, denn sein Lohn übersteigt heute schon den offiziellen Durchschnittslohn um ein Vielfaches. Und die junge Generation will nicht nur zeigen, dass sie etwas kann, sondern auch vom eigenen Können profitieren. Das spiegelt sich in den Auswanderungszahlen: „Der Altersdurchschnitt der Emigranten liegt unter 29 Jahren. Anders als bei früheren Auswanderungswellen sind es hoch qualifizierte Leute, die gehen“, zitiert Omar Everleny aus der Statistik. Darunter natürlich auch viele junge Frauen.
Allerdings wird nicht nur mit den Füßen abgestimmt, wie es in Havanna spöttisch heißt, sondern auch der Mund aufgemacht. Der Student, der mit dem Handy einen mit kritischen Fragen bombardierten und um Antworten ringenden Parlamentspräsidenten Ricardo Alarcón an der Universität filmte und die Sequenz ins Netz stellte, ist dafür genauso ein Beispiel wie Gorki Águila oder Yoani Sánchez. Gorki ist der derzeit bekannteste Punk der Insel. Er hat bei einer verordneten Visite auf einer Polizeiwache im Juni, wo er Nachbarn und Polizisten Rede und Antwort stehen sollte, Sequenzen des Gesprächs aufgenommen und anschließend seine Opposition zur Regierung erklärt. Sätze wie „Keine Lügen mehr alter Mann“ und „mit Raúl an der Spitze bleibt die Scheiße genau die Gleiche“ haben ihn im Ausland, aber auch in Kuba bekannt gemacht. Dort hat der 39-jährige und seine Band Porno para Ricardo zwar Auftrittsverbot, aber die Songs der Band machen trotzdem die Runde. Die von den USA bestückte Homepage der Band macht es möglich. Ohnehin ist die Zahl der kubanischen Websites, die im Ausland angemeldet, aber von Kuba aus bestückt werden, am Steigen. Insgesamt ist die kubanische Blogger-Community überaus aktiv.
Ende August war es in erster Linie ihr zu verdanken, dass die Festnahme von Gorki Águila in Kuba und die anstehende Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe international wie national auf eine breite Protestwelle stieß. Die hat Kubas unbequemen Punker die Freiheit beschert – ein Triumph der Blogger-Community, der in Havanna sicherlich nicht überall für Begeisterung sorgte. An der Plaza de la Revolución hat Comandante Raúl derzeit allerdings ganz andere Sorgen.

„Kuba ist in der Übergangsphase zu einem neuen Modell“

Bereits im November 2005 forderte Fidel Castro in einer dramatischen Rede, dass der Sozialismus in Kuba auf neue Grundlagen gestellt werden muss. Die Resonanz auf seine Rede war anfangs relativ gering. Hat sich daran etwas geändert?

Es gibt eine öffentliche Diskussion über die Entwicklungsmaßnahmen der sozialen Marktwirtschaft in Kuba, ausgelöst durch Vorgaben von Raúl, wie seine Rede vom 26. Juli 2007 anlässlich des 54. Jahrestages des Sturmes auf die Moncada-Kaserne. Daneben finden Debatten in institutionell bestimmten Räumen statt, innerhalb der Gewerkschaft, innerhalb der Partei, jedoch relativ wenig in den öffentlichen Medien. Jene Rede von Raúl war ein Diskurs der Konsolidierung, nicht der Öffnung neuer Perspektiven. Es ging ihm um die Vertiefung der Veränderungen, die er ein Jahr vorher am gleichen Ort eingeleitet hatte. Effizientisierung der Produktion; verstärkte Teilnahme der Bevölkerung, vor allem der Arbeitenden und der Jugend, an allen nationalen Aufgaben; Verteidigung der historischen Errungenschaften der Revolution und Erhöhung der militärischen Verteidigungsfähigkeit des Landes, unabhängig vom Ausgang der Wahlen in den USA.

Wie wird sich dies zeitnah in der Praxis auswirken?

Die größeren Impulse für diese Diskussion erwarte ich durch die ökonomischen Maßnahmen von Raúl, zum Beispiel die Liberalisierung des Kaufs von Handys, die Erhöhung der Agrarpreise für die Produzenten, die Möglichkeit, Land anzumieten sowohl für staatliche Stellen als auch für Privatleute und die Heraufsetzung des Rentenalters. Das sind die wesentlichen Impulse zur Diskussion, die nicht aus der Theoriegeschichte kommen, sondern vielmehr aus den praktischen Maßnahmen, die Raúl ergreift. Die Implikationen von Fidels Rede werden nicht öffentlich diskutiert, weil sie praktisch die Strukturreform aller entscheidenden Elemente des historischen kubanischen Modells zur Debatte stellen würden.

Lassen sich schon erste Wirkungen von Raúl Castros Politik feststellen?

Vor Kurzem hat mir ein Freund aus Kuba geschrieben, dass die Trägheit und der Status quo durch Raúls Maßnahmen durchbrochen worden wären. Wenn das der Fall ist, dann sind wir in einer Übergangsphase zu einem neuen kubanischen Modell. Die ersten Veränderungen lassen sich auf ökonomischem Gebiet verzeichnen und in der Herausbildung einer neuen politischen Kultur in Kuba.

Wie ist der Reformkurs von Raúl einzuschätzen? Ihm wird ja eine Vorliebe für das chinesische Modell nachgesagt. Zu Recht?

Das Zeitfenster, eine signifikante Verbesserung des materiellen Lebensniveaus der Bevölkerung zu erreichen, ist relativ klein. Raúl ist sich darüber im Klaren, dass nur wenige Jahre zur Verfügung stehen. Das steht im gewissen Widerspruch zu einem Entscheidungssystem, das sich in der Vergangenheit immer recht viel Zeit genommen hat. Was derzeit abläuft, dass in relativ kurzer Zeit relativ viele Entscheidungen getroffen werden, ist ein Novum in der kubanischen Politik. Die Reform läuft auf das hinaus, was Lenin die Neue Ökonomische Politik genannt hat. Ihre theoretischen Wurzeln liegen in der Entwicklungskonzeption von Friedrich List. Die Notwendigkeit der schnellen Verbesserung der Lebensqualität lässt nur den Weg der strategischen Allianz mit China und Venezuela zu. China hilft mit Industriewaren, Hochtechnologie wie Satelliten, Venezuela mit Energie, und zunehmend kommt Brasilien mit ins Spiel, auf dem agrar-industriellen Sektor. Das ist die Grundstruktur des Modells. Es ruft sowohl Kritiken von orthodoxer als auch von sozialdemokratischer Seite hervor.

Was heißt Neue Ökonomische Politik im 21. Jahrhundert?

Das heißt kontrollierte Integration in den Weltmarkt und Entscheidungsräume für privates Kapital öffnen. Das geht einher mit der Bildung einer neuen sozialen Klasse, der technokratischen Managerschicht, die eigene Interessen verfolgt und konsumtiv und technokratisch orientiert sein wird. Die Politik hat die Aufgabe, die Folgen dieser Politik zu kontrollieren. Ob es ihr nach Fidel und Raúl gelingen wird, ist eine andere Frage.
In Kuba entwickelt sich diese Klasse in dem Maße, wie die wirtschaftliche Integration mit China-Venezuela-Brasilien eine lang anhaltende Konjunktur garantiert. Private Produktionsverhältnisse werden noch sehr kontrolliert, deswegen wird sich die Entwicklung in Kuba von der in China unterscheiden. Die allgemeine ökonomische Logik des List-Modells ist die gleiche in jedem Staat, aber die nationalen und historischen Besonderheiten jedes Landes sind verschieden und spielen eine gewichtige Rolle. Es gibt in China beispielsweise noch keine allgemeine Krankenversicherung für die Bauern. In Kuba hingegen hat jeder Zugang zum Gesundheitswesen. Kuba mechanisch mit dem chinesischen Modell zu vergleichen, würde zu verfälschenden Vereinfachungen führen. Es ist besser und präziser, von der Einführung des Listschen Modell auf der Insel zu sprechen, also einer staatsdirigierten marktwirtschaftlichen Modernisierung, als von einer Kopierung des »chinesischen Modells«.

Beim Listschen Modell handelt es sich um nachholende Entwicklung, den Aufbau einer Industriestruktur durch Zollschutz vor ausländischer Konkurrenz, Investition in Infrastruktur, sprich kapitalistische Modernisierung …

Dazu gibt es derzeit keine Alternative. Kuba hat eine relativ wenig entwickelte Ökonomie, die modernisiert werden muss. Es gibt drei strukturelle Engpässe, die Raúl überwinden muss: mangelnde Produktivität, absurde administrative Preise und unsinnige Zentralisierung. Abstrahieren wir von der Äquivalenzökonomie des Sozialismus des 21. Jahrhunderts – die Kuba im Moment nicht einführen will –, bleibt nur das Modell von List, das seinerseits auf Oliver Cromwell zurückgeht. Raúl greift darauf zurück. Es ist das Modell, was Preußen-Deutschland nach den napoleonischen Kriegen angewandt hat: die Modernisierung des Staatsapparates und die staatsdirigierte marktwirtschaftliche Modernisierung der Ökonomie.

Welche strategischen Sektoren bieten sich in Kuba dafür an?

Es gibt einige gewachsene Strukturen: vor allem die Biotechnologie, die Medizin und das Erziehungswesen. Da wird bereits ein hoher internationaler Standard erreicht. Als viertes Standbein gibt es die Universität für Informatikwissenschaften (UCI) in Havanna. Dort studieren 10.000 Studenten, darunter die besten Talente der Insel. Sie entwickeln vor allem Software, zum Teil auch Hardware. Das wären die vier Hightech-Sektoren, die Kuba anzubieten hat. Diese Sektoren könnten innerhalb einer komplementären Arbeitsteilung eines lateinamerikanischen Machtblocks bedeutende Exportnischen besetzen, ebenso wie in Ländern wie Iran. Dazu kommt das Erdöl, das in der Karibik entdeckt wurde und Kuba in zehn Jahren möglicherweise zum Nettoexporteur machen könnte. Das wäre ein weiteres Entwicklungspotenzial, zusammen mit der Produktion von Nickel.

Welche Spielräume hat Kuba denn überhaupt? Die bisherigen Ausführungen laufen auf eine an vorgegebenen Zwängen orientierte ökonomische Anpassung hinaus. Es wird versucht, das materielle Niveau zu verbessern, weil die Bevölkerung mit der Transport, Wohnungssituation etc. unzufrieden ist.

In Kuba wird jetzt die dritte Anpassung an Veränderungen des weltwirtschaftlichen Umfeldes, innerhalb von 50 Jahren, vorgenommen. Die erste war die völlige Integration in den US-Technologiebereich vor 1959, danach folgte die völlige Integration in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Nun läuft die dritte Restrukturierung in 50 Jahren mit den beiden strategischen Standbeinen und Partnern China und Venezuela. Sollte die lateinamerikanische Integration indes fortschreiten, würde Brasilien als das Land mit der ausdifferenziertesten Industriestruktur in zunehmendem Maße die Rolle Chinas übernehmen können.

Wie steht es momentan um die Integration in Lateinamerika? Kommt sie weiter voran?

Die Integration steht auf der Kippe – zumindest eine autonome Integration, sprich eine nicht von den USA kontrollierte Integration Lateinamerikas. Ob sie gelingt, wird sich in diesem und im nächsten Jahr entscheiden. In Bolivien könnte der Spielraum für volksnahe Strukturreformen im Wesentlichen ausgeschöpft sein. Die Regierung von Evo Morales hat versäumt, die Konspiration zwischen Washington und der rechten Elite unter Kontrolle zu halten. In Venezuela hängt viel von den Gouverneurs- und Kommunalwahlen im November ab.
Mittelfristig könnte Chávez möglicherweise gezwungen sein, Konzessionen an das Bündnis Washington-Berlin-London-Paris-Rom-Tel Aviv zu machen, das sehr starken Druck auf ihn ausübt. Die relative Schwächung von Chávez durch das verlorene Referendum und von Evo Morales durch den andauernden Kampf mit der Oligarchie könnte die kubanische Führung zu der Einschätzung zurückbringen, wenn es hart auf hart kommt, sich wieder nur auf sich selbst verlassen zu können. Deshalb wird Kuba darauf bedacht sein, selbst die Abhängigkeit von befreundeten Staaten wie China, Venezuela zu begrenzen. Die relative Schwächung der progressiven Linken auf dem lateinamerikanischen Festland dürfte auch zu einer Stärkung der rechten Kräfte in Kuba führen.

Sehen Sie den Zusammenschluss der drei kubanischen Oppositionsgruppen aus der Dissidentenkoalition „Arco Progresista“ (Progressiver Bogen) zu einer sozialdemokratischen Partei in diesem Zusammenhang?

Die Koalition „Arco Progresista“ folgt dem Modell der Orangen-Revolution in der Ukraine, 2004, in der die US-Regierung und private Finanziers wie George Soros einen dem atlantischen Machtblock (USA und EU) nahen Präsidenten an die Regierung brachten. Er ist anti-Chávez, also anti-bolivarianisch und gegen den kubanischen Staat. Es handelt sich um ein Trojanisches Pferd auf das die kubanische Regierung angemessen reagieren sollte.

Schwieriges Coming-Out

Wer beim Thema Homosexualität in Kuba noch an die staatliche Repression der 60er-Jahre denkt, wird mehr als erstaunt sein. Der 17. Mai, internationaler Tag gegen Homophobie, wurde dieses Jahr offiziell von staatlichen Stellen gewürdigt. Noch letztes Jahr fristete der Tag, der an die Streichung der Homosexualität von der Krankheitsliste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erinnert, ein Schattendasein. Nun war er Höhepunkt einer Reihe von Aktivitäten, die von einer Aufklärungskampagne in den Medien begleitet wurde. Die von Hunderten besuchte Veranstaltung fand mitten im Zentrum Havannas, im Ausstellungszentrum Pabellón Cuba, statt. Anwesend waren nicht nur Mariela Castro, Tochter des aktuellen Staatsoberhauptes Raúl Castro und Direktorin des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung (CENESEX), sondern auch Parlamentspräsident Ricardo Alarcón. In Lesungen und Vorträgen wurde die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern erörtert. Am Abend fand im Teatro Astral eine Drag-Performance unter dem Motto „La diversidad es la norma“ („Vielfalt ist die Norm“) statt. Bereits einige Tage zuvor war im Kino „23 y 12“ eine queere Filmreihe mit monatlichen Vorführungen eröffnet worden. Der Titel „Diferente“ („Anders“) dürfte dabei allerdings eher geeignet sein, die Heteronorm zu stützen. Den Anfang der Reihe machte der Film „Bent“, in dem die Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich thematisiert wird.
Kubas Öffnung in Bezug auf Homosexualität hatte bereits Anfang der 90er-Jahre begonnen. 1993 wurde auf dem Havanna-Filmfestival der schwule Spielfilm „Erdbeer und Schokolade“ von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío vorgestellt, der in zahlreichen Kinos der Insel und auch international äußerst erfolgreich lief. Seitdem tauchen in den Medien gelegentlich Beiträge über Homosexualität auf. Mindestens ebensolange existieren lesbisch-schwule Partys, die, sofern sie keinen offiziellen Status beanspruchen, zumeist geduldet werden. Auch Telenovelas haben inzwischen schwule und lesbische Charaktere. Seit 2005 gibt es in Havanna zudem ein jährliches Filmfestival, das sexuelle Vielfalt zum Inhalt hat. Eine öffentliche Unterstützung und Präsenz wie in diesem Jahr hat es so jedoch noch nicht gegeben.
Das jahrelange Engagement Mariela Castros trägt, einige Zeit nach der Machtübergabe ihres Onkels Fidel, jedoch noch weitere Früchte. Die im Juni unterzeichnete Resolution 126 des Gesundheitsministeriums erlaubt es Transsexuellen, sich geschlechtsangleichenden Operationen zu unterziehen. Voraussetzung ist allerdings – wie hierzulande – die medizinische Diagnose. Besonders progressiv ist zumindest die in der Regelung enthaltene Möglichkeit, den Eintrag über das Geschlecht in Dokumenten auch ohne operative Anpassung ändern zu lassen. Damit wird wohl vor allem jenen Transgendern das Leben erleichtert, deren Äußeres bei Polizeikontrollen nicht so recht zu Namen und Fotos in den Ausweispapieren passen wollte. Bislang hatte es nur eine einzige geschlechtsangleichende Operation eines Mann-zu-Frau-Transsexuellen im Jahr 1988 gegeben. Bis heute sind weitere 27 Personen als transsexuell eingestuft worden und dürfen sich nun der langersehnten Operation unterziehen. Für die Eingriffe werden kubanische ÄrztInnen eigens von belgischen Spezialkräften qualifiziert.
Überdies gibt es zur Zeit Bestrebungen, die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare zu erreichen. In der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) scheint sich allmählich eine pragmatische Lösung in der Frage durchzusetzen. Während Kulturminister und Politbüromitglied Abel Prieto im Februar äußerte, die Ausdehnung der Ehe werde schon „nicht zu einem Erdbeben führen“, möchte Alarcón Rücksicht auf die Kirchen nehmen. Auch Mariela Castro, die sich der Unterstützung durch ihren Vater sicher sein kann, plädiert lediglich für ein äquivalentes Rechtsinstitut. Dieser Schritt bedürfe nicht einer komplizierten Verfassungsreform. Eine Ausweitung der formalen Ehe auf Lesben und Schwule, so lässt sich daraus schließen, ist auch in Kuba noch mit dem Risiko einer Ablehnung verbunden. Zumindest symbolisch durften sich schon Ende letzten Jahres zwei Frauen, Elizabeth Cabrera und Mónica Negro, unter dem Dach des CENESEX-Instituts das Ja-Wort geben.
Doch eines will Mariela Castro derzeit nicht: die Abhaltung einer CSD-Demonstration. In zahlreichen Ländern wird mit dem sogenannten Christopher Street Day des Stonewall-Aufstands von Lesben, Schwulen und Transgendern gedacht. Im Juni 1969 hatten sich diese in New York erfolgreich gegen eine Polizeirazzia gewehrt. Mariela Castro meint, in Kuba provoziere eine solche Veranstaltung nur und sei dem Zweck des Werbens um Toleranz nicht dienlich. Ohnehin sind auf der Insel selbstbestimmte Demonstrationen – unter Verweis auf die äußere Bedrohung des Landes – nach wie vor unerwünscht.
Nach Angaben des britischen Guardian wurde ein solcher unangemeldeter Marsch am 25. Juni verhindert. Homo-AktivistInnen wollten gemeinsam vom El-Quijote-Park im Zentrum der Hauptstadt zum Ministerium für Justiz laufen, um dort eine Petition zu übergeben. Die Zeitung zitiert Mario José Delgado, ein Mitglied der illegalen Gruppe „Reinaldo Arenas in Memoriam“, nach dessen Aussage zwei Organisatoren kurzfristig festgesetzt wurden. In unbestätigten Berichten ist auch die Rede davon, dass Einschüchterungsversuche im Vorfeld viele von der Teilnahme abgehalten hätten. Auf die Nachfrage eines Sexualwissenschaftlers aus Kanada hin dementierte Mariela Castro die Anschuldigungen: Verhaftungen habe es nicht gegeben, die Organisatoren seien lediglich von den USA bezahlte Strohmänner, die das Ansehen der Republik schädigen sollten. Und tatsächlich hatten die OrganisatorInnen mit der in Miami ansässigen Unity Coalition kooperiert, einem Zentrum für lesbische, schwule, bi- und transsexuelle Hispanics. Auf ihrer Internetseite hatte die Organisation eine Ankündigung der Demonstration veröffentlicht. Der Aufruf enthielt die Namen mehrere kubanischer Gruppen sowie ihre Forderungen. Die Oppositionellen setzen sich demzufolge für ein Ende noch bestehender polizeilicher Repressionen ein. Solche Schikanen gegen Schwule und Transsexuelle an bekannten Treffpunkten werden von Mariela Castro als Einzelfälle bezeichnet. Schon seit Jahren führt CENESEX Sensibilisierungstrainings für PolizeibeamtInnen durch, was durchaus als Indiz für die Ernsthaftigkeit des Staats im Kampf gegen Homo- und Transphobie gewertet werden kann.
Nach Angaben des Aufrufs fordern die OrganisatorInnen auch eine offizielle Entschuldigung für die Arbeitslager, die als Militäreinheiten zur Unterstützung der Produktion (UMAP) bekannt wurden. Zwischen 1965 und 1968 bestanden diese für die Umerziehung konzipierten Einrichtungen, in die neben Religionsangehörigen und Dissidenten auch zahlreiche homosexuelle Männer eingeliefert wurden. Zwar liegen die Vorkommnisse über vier Jahrzehnte zurück, den Opfern des rigiden Vorgehens jener Zeit sind sie dennoch in schmerzlicher Erinnerung geblieben. Ehrliche Kritik an der Repression muss allerdings die Praxis in anderen Ländern ebenfalls in den Blick nehmen. Auch in der damaligen BRD wurden bis 1969 unzählige Schwule zu Gefängnisstrafen verurteilt – ein Kapitel, das bislang genauso seiner Aufarbeitung harrt. Der Mief jener Zeit – eine Mischung aus tradierten patriarchalischen und prüden Einstellungen – verband sich in den sozialistischen Staaten mit der Vorstellung, Homosexualität sei ein Zeichen bürgerlicher Dekadenz und mit dem neuen Menschenbild nicht vereinbar. In einer Äußerung aus dem Jahr 1965 sprach Fidel Castro Schwulen die Fähigkeit ab, wahre Revolutionäre sein zu können. Im April 1971, auf dem 1. Nationalen Kongress für Erziehung und Kultur, wurde dann offiziell beschlossen, den „Einfluss von Schwulen auf die Jugend zu verhindern“. Infolgedessen verloren bis Mitte der 1970er-Jahre zahlreiche Lehrkräfte ihre Arbeit in Bildungseinrichtungen, während Künstler Publikations- und Reiseverbote erhielten; selbst Studenten wurden relegiert. Damit einher ging das zwangsweise Outing vor der Familie und den KollegInnen. Erst im Zuge der Reform des Strafgesetzbuchs im Jahr 1979 wurde der noch aus der Batista-Zeit übernommene Paragraph 490 abgeschafft, der homosexuelle Handlungen verbot. Weitere strafrechtliche Bestimmungen in Bezug auf Homosexualität verschwanden in den Jahren 1987 und 1997. Dennoch wurde auch danach noch von Razzien auf illegale Partys und Polizeikontrollen an bekannten Treffpunkten berichtet.
Während der Regierungszeit Fidel Castros kehrten viele Schwule ihrem Land ob der Schikanen verbittert den Rücken. Ihr Ärger über die homophoben Maßnahmen des postrevolutionären Kuba wurde von der konservativen Exilgemeinde dankbar aufgenommen, um das Land international an den Pranger zu stellen. Die Regierung selbst ließ Lesben und Schwulen keinen Raum, ihre Anliegen öffentlich zu machen. Während in westlichen Ländern in den 70er- und 80er-Jahren lesbische und schwule Emanzipationsbewegungen entstanden, wurden sie auf der Insel – wie auch sonst im sozialistischen Lager – lange Zeit unterdrückt. Dass sich staatliche Stellen nun umfassend den Bedürfnissen von Homo-, Bi- und Transsexuellen annehmen, kann nur begrüßt werden. Andere Regierungen der Region sehen trotz erschreckender Zahlen von Opfern homo- und transphober Morde in ihren Ländern keinen Handlungsbedarf. Die paternalistische Fürsorge des Staats, der die Liberalisierung als Geschenk präsentiert, kann jedoch nicht den Respekt vor emanzipatorischer Arbeit an der Basis ersetzen. Die polarisierte Berichterstattung über die Ereignisse des 25. Juni macht dabei nur das Dilemma deutlich, in dem die kubanische Gesellschaft derzeit generell steckt. Mehr Zugeständnisse an bürgerliche Freiheitsrechte bergen die Gefahr des Machtverlusts der PCC. Erst die Aufhebung des US-Embargos aber wird der Regierung letztlich den Spielraum dafür geben, dass ein „Vielfalt ist die Norm“ für ganz Kuba gelten kann. Ob die Außenpolitik eines noch zu wählenden US-Präsidenten Barack Obama dafür den Weg frei machen wird, und wenn ja, zu welchen Bedingungen, ist allerdings fraglich.

Ich habe Hunger und öffne ein Buch

Die Lyriker José Kozer und Alberto Szpunberg stimmen in erstaunlich vielem überein. Sie wurden 1940 geboren – Kozer in Havanna, Szpunberg in Buenos Aires. Sie sind Kinder jüdischer EinwandererInnen aus Ostmitteleuropa – Kozers Eltern kamen aus Polen und der Tschechoslowakei, Szpunbergs Vorfahren aus der Ukraine und Bessarabien. Beide haben später selbst ihr Land verlassen – Kozer ging 1960, nach der Kubanischen Revolution, in die USA, Szpunberg floh 1977, verfolgt von den Schergen der Militärdiktatur, nach Spanien. Der eine wie der andere hat als Hochschullehrer für Literatur gearbeitet. Und beide sind – der eine im kubanisch-exilkubanischen Umfeld, der andere in der argentinischen Bücherwelt – bekannte und sehr produktive Lyriker, die soeben erstmals in zweisprachigen Auswahlbänden dem hiesigen Publikum vorgestellt werden.

Bei Kozer ist Schreiben eine Daseinsweise, die sich nicht im Ergebnis erfüllt, sondern im Prozess

Wer José Kozer einmal erlebt hat, vergisst ihn nie. Als er im Jahre 1995 bei dem schon legendären Treffen kubanischer Autoren und Autorinnen in Berlin las, faszinierte er mit seiner halb szenischen Vortragsweise, die die Worte sichtbar machte. Die „plissierten Reispapierjalousien“, durch die im Gedicht „Schattierung“ das Licht ins Zimmer dringt, wurden in seinen Gesten, in seinem zwischen Buch und Publikum wandernden Blick zu etwas Anwesendem, und sie gaben einen Dichter zu erkennen, der eins ist mit dem, was er schreibt. In Interviews hat José Kozer sich gern dazu bekannt, dass er im Schreiben lebt, dass er jeden Tag ein Gedicht verfassen muss, er aber am Nachmittag oft bereits wieder vergessen hat, wovon dasjenige handelte, das er am Morgen schrieb: Schreiben als Daseinsweise, die sich nicht im Ergebnis, also in abgeschlossenen Gedichtbänden erfüllt (weswegen es müßig wäre, den „vollständigen“ Kozer zu publizieren – das ist eine Herausforderung an unsere Gewohnheiten), sondern im Prozess.
Im erwähnten Gedicht „Schattierung“ haben diese Jalousien die Funktion, noch eine Weile zu verbergen, dass das einfache Zimmer kein „Kaisersaal“ ist, dass die Blumen aus Plastik und der Teint der Geliebten nur Schminke sind. Beim Sprechen schaut der Dichter, oder beim Schauen spricht er: Vielleicht ist dies, das betrachtende Selbstgespräch, Kozers Schreibprinzip. Er hat dafür mit der Zeit eine eigene Form entwickelt, die dicht bei der Prosa angesiedelt ist. Seine Strophen beginnen jeweils mit einer über die ganze Buchseite durchgeschriebenen Zeile, während die folgenden Zeilen links und rechts etwas eingerückt sind. Wie ein breitgezogenes „T“ verkörpern sie Gedankenphasen, die in Ruhe strömen können, bis der nächste Impuls die nächste Strophe beginnen lässt. Unterbrochen werden die Abschnitte nur gelegentlich durch Worte in Klammern, die mal einen Gedanken verstärken, mal einen Kommentar abgeben, Widerspruch anmelden oder einfach dem Klang nachlauschen.
José Kozer ist durch seine Biographie mit genügend Anregungen versehen worden, sich mit dem eigenen Platz in der Welt zu beschäftigen. In seiner Familie sei er die erste und zugleich die letzte Generation, die man als Kubaner bezeichnen könnte, hat er einmal gesagt; die Viersprachigkeit seiner Kindheit (Polnisch, Tschechisch/Slowakisch, Jiddisch, Spanisch) kommt hinzu. Kozer setzt noch eines obendrauf: als Enkel eines in der jüdischen Tradition lebenden Orthodoxen (der nebenbei bemerkt die erste aschkenasische Synagoge in Kuba gründete) und als Sohn eines atheistischen Vaters fand José Kozer selbst eine Heimat im Buddhismus. Und bekennt sich doch dazu, dass er, wenn er das „Höre, Israel“ betet, das Kerngebet des Judentums, viel tiefer, existenzieller berührt ist als bei Zen-Meditationen.
Kozer zu lesen ist ein Abenteuer auf der Reise durch das eigene Ich, ein Abenteuer, das spektakulär werden kann. Vor einigen Jahren wurde erstmals eine Gedichtauswahl Kozers in Kuba selbst publiziert, man lud den Dichter im Februar 2002 ein, das Buch vorzustellen – und bei dieser Gelegenheit das Haus seiner Kindheit zu besuchen. „… im Glasschrank im Esszimmer fand ich dieselben Teller, die Purim-Becher, den Elia-Becher (Pessach), Becher des Empfangs im Dämmerlicht des Speisezimmers, Teller und Becher des Empfangens. // Man ließ mich den Schrank öffnen, ich roch sein Dunkel, das Kind erschnupperte das Kind …“ Aber die Kindheit und ihr Ort ist verloren, mit ihr auch die Möglichkeit des unmittelbaren Empfangens; was bleibt, bleibt in der Erinnerung – ein altes Menschheitsthema, nicht nur für diejenigen, die den realen Ort ihrer Kindheit verlassen haben.
Auch in Alberto Szpunbergs Gedichten ist die Abwesenheit von der Heimat ein immer wiederkehrendes Thema. Dies gilt auch für den siebenteiligen Zyklus „Exil in El Masnou“, das auf das katalanische Küstenstädtchen anspielt, in dem Szpunberg seit Jahren lebt. In „Achillesferse“, dem ersten Gedicht des Zyklus, steht ein Mann am Meer, das doch das Meer der (griechischen) Götter ist. „… du weißt genau, daß diese, deine Götter, die starben, nicht aufstehen werden … / Du wirst mit nassen Schuhen nach Hause kommen, was soll‘s, / auf dem Weg kaufst du die Zeitung und suchst vergeblich die Nachricht, / als sei das alles ein Traum, eine Mauer, kurz vor dem Einsturz.“
„… das alles“, das ist die argentinische Militärdiktatur. Szpunberg, der schon 1963/64 dem guevaristischen Guerilla-Volksheer EGP nahestand, war in den siebziger Jahren in das Revolutionäre Volksheer ERP eingetreten. Wie viele andere Kulturschaffende auch stand er dann auf den Todeslisten der Militärs, nachdem diese im März 1976 die Macht übernommen hatten. Er und seine Familie konnten sich retten, aber den 30.000 Getöteten und „Verschwundenen“ gilt sein Erinnern, etwa im Gedicht XIV des Zyklus „Das Buch Judith“: „Jede Abwesenheit – 30.000 Abwesenheiten – ist Lüge: / Jeder Blick widerlegt sie, / jede Träne spiegelt sie wider, / jede Straße ist für ihre Schritte, / was die Wirklichkeit für das Wunder ist: / diese Wahrheit, / nie gesehen / und immer gegenwärtig.“

Szpunberg konnte sich retten. Sein Erinnern gilt den 30.000 „Abwesenden“

In der Form sind Szpunbergs Verse auf ganz konventionelle Art frei. Auch wenn die eine oder andere an Erich Fried erinnernde Schlichtheit dazwischengerät, gelingen ihm eindrücklich schöne Szenen: etwa wie er am Meer die Sandburg findet, die seine Tochter morgens gebaut hatte und die noch nicht völlig vom Wasser zerstört ist.
Beeinträchtigt wird der Eindruck, den Szpunberg hinterlässt, allerdings durch die Wiedergabe im Deutschen. Bisweilen sind die Zeichenabstände und Wortzwischenräume – wohl um überhängende Zeilen zu vermeiden – so stark reduziert, dass es sich sehr schlecht liest. Es tauchen Fehler aller Art auf, die mit einem gründlichen Korrektorat hätten vermieden werden können. Vor allem aber leidet die Übersetzung selbst an Ungenauigkeiten und unsensiblen Lösungen. Wenn die Tochter an ihrer Sandburg gebaut hat und „en su costado“ noch die Spur der kleinen Hand erkennbar ist, dann befindet sich die Spur nicht „daneben“, sondern an der Seite der Burg, an ihrer Außenmauer. Schade auch die Übersetzung des schon angesprochenen Gedichts XIV, das bei Szpunberg so beginnt: „¿Qué uno entre todos / si no todos?“ Das im Verlauf häufig wiederholte „¿Qué …“ wird mit „Was für …“ übersetzt, also „Was für einer von allen, / wenn nicht alle?“. Das klingt holprig, geht aber im Notfall noch; was nicht mehr geht, ist die zweite Strophe: „¿Qué todos / si no uno y uno y uno…“ – „Was für alle / wenn nicht einer und einer und einer…“ Das „für alle“ gibt eine irritierende Zweideutigkeit im Deutschen, die im Spanischen nicht vorhanden ist. Und ein Notfall liegt nicht vor: es hätte einfach mit „Welche/r …“ übersetzt werden können.
Der Kozer-Band erfreut sich im Kontrast dazu einer Übersetzung, mit der Susanne Lange eine Meisterleistung ganz besonderer Art vollbracht hat. In großer Bescheidenheit sagt Kozer über Kozer: „Ein einziger ist sein Ehrgeiz: das gesamte Vokabular.“ Der Rausch der seltenen Wörter, der einen bei Kozer überkommt, ist bei Susanne Langes Version ohne weiteres nachzuerleben.
Am Ende überwiegen dann aber doch die Gemeinsamkeiten. Denn mit dem Zürcher teamart Verlag (François Bochud) und der Stuttgarter Edition Delta (Juana und Tobias Burghardt) präsentieren sich hier zwei risikofreudige und kompetente Kleinverlage, die mit einigen Bänden pro Jahr für die Nische der lateinamerikanischen (und iberischen) Lyrik Bewundernswertes leisten. Juan Gelman, Alejandra Pizarnik und Luisa Castro, Carlos Pellicer, Olga Orozco und Gloria Gervitz, Roberto Juarroz, Humberto Ak‘abal und José Hierro werden hier verlegt – nur lesen müssen wir, letzte Gemeinsamkeit, selbst.

José Kozer // Trazas / Spuren. Gedichte (zweisprachige Ausgabe) // Aus dem Spanischen von Susanne Lange // teamart Verlag // Zürich 2007 // 158 Seiten // 18,50 Euro // www.teamart.ch
Alberto Szpunberg // Der Wind ist manchmal wie alle. Gedichte (zweisprachige Ausgabe) // Aus dem Spanischen von Juana und Tobias Burghardt // Edition Delta // Stuttgart 2008 // 161 Seiten // 17,50 Euro // www.edition-delta.de

Rohstoffinteressen und Süd-Süd-Rhetorik

In jüngerer Zeit haben sich die Beziehungen Chinas zu Lateinamerika deutlich vertieft. Dies hat nicht nur Interesse, sondern mittlerweile auch Besorgnis erregt, da sich die volkswirtschaftliche Struktur und das Leben der Menschen in Lateinamerika dadurch dauerhaft verändern könnten. Anlass für den Lateinamerikaexperten Jörg Husar, diese Entwicklung und ihre Konsequenzen näher zu beleuchten. In seinem Buch „Chinas Engagement in Lateinamerika. Rohstoffbedarf, Versorgungssicherheit und Investitionen“ untersucht er die rohstoffpolitische Dimension der neu belebten Beziehungen zu China und trifft damit deren Kern.
Das theoretische Fundament der Arbeit bildet die Internationale Politische Ökonomie. Husar trägt der Verflechtung von Politik und Ökonomie Rechnung, indem er das Faktorproportionentheorem von Heckscher/Ohlin mit den neorealistischen Annahmen der Interdependenztheorie verknüpft und gekonnt anwendet. Der diplomierte Kulturwirt argumentiert dabei fundiert und anschaulich, ohne sich jedoch in Details zu verlieren.
Nachdem der theoretische Rahmen umrissen ist, bekommen die LeserInnen einen Einblick in den historischen Hintergrund der sino-lateinamerikanischen Beziehungen. Darauf baut der Hauptteil auf, in dem zunächst die unterschiedliche Ausstattung Chinas und Lateinamerikas mit Wirtschaftsfaktoren als Ursache für die Zunahme der wirtschaftlichen Transaktionen dargestellt wird. Daran anschließend arbeitet der Autor der Verwundbarkeit Chinas hinsichtlich bedeutender Rohstoffe heraus, um daraus dessen rohstoffpolitische Strategie in ausgewählten Ländern zu erklären. Im Vordergrund stehen dabei Brasilien, Argentinien, Chile, Kuba und Venezuela. Besondere Beachtung erfährt die Rolle der Staatsbetriebe. Ein Vergleich mit dem japanischen Engagement in den 1970er Jahren zeigt Parallelen, aber auch Unterschiede auf, die die Bewertung des chinesischen Vorgehens vereinfachen. Darauf folgt eine detaillierte Analyse der Chancen und Herausforderungen, die – ebenso wie das gesamte Buch – auch für nicht wissenschaftliches Publikum sehr lesenswert ist.
Hinsichtlich der politischen Relevanz der Transaktionen vermerkt Husar sehr treffend, dass es sich zwar von chinesischer Seite um eine langfristig geplante Strategie handele, die allerdings noch recht „unprofessionell orchestriert“ sei. Die Süd-Süd-Rhetorik fungiere hauptsächlich als Legitimationsgrundlage der Ressourcendiplomatie; für ein echtes kohärentes strategisches Zusammenwirken fehle noch die Substanz. Es müsse am gegenseitigen Verständnis gearbeitet werden, wenn Lateinamerika nicht in der Rolle eines Rohstofflieferanten stecken bleiben wolle. Im wesentlichen ist die „Bereitschaft Chinas […] über die Bedingungen der Kooperation [zu verhandeln] vom Grad der Verwundbarkeit Chinas bezüglich des jeweils betreffenden Rohstoffes abhängig.“
Jörg Husar warnt hinsichtlich der an Metallen, Erdöl und -gas sowie Soja reichen Länder vor einer voreiligen Euphorie ob der chinesischen Nachfrage und mahnt eine nachhaltige Investition der durch die steigenden Exporte gewonnenen Mittel an. Gleichzeitig stellt er zu Recht in Frage, ob Mexiko, das aufgrund seiner ähnlichen Außenhandelsstruktur mit China am stärksten in Konkurrenzdruck geraten ist, dadurch nur verlieren kann und unterbreitet Vorschläge für politische Entscheidungsträger.
Chinas Engagement in Lateinamerika birgt viele erhellende Einblicke und schließt eine wichtige Lücke in der gegenwärtigen Diskussion. Die hervorragend recherchierte Arbeit verharrt nicht im Deskriptiven und dürfte gerade deshalb auch in einigen Jahren noch interessant sein.

Jörg Husar // Chinas Engagement in Lateinamerika Rohstoffbedarf, Versorgungssicherheit und Investitionen // Verlag für Entwicklungspolitik // Saarbrücken 2007 //
167 Seiten // 22 EUR

Reformierte Hoffnung

Havanna schwitzt. Während Raúl Castro seine Antrittsrede hält, zeigt das Thermometer über 30 Grad, ungewöhnlich heiß für den kubanischen Winter. Männer, für die bauchfreie Hemden verpönt sind, ziehen sich die Shirts über den Bauch hoch, damit die gelegentliche Brise vom Meer den Körper etwas kühlt.
Jede Schlange, an den Kinos, Bäckereien oder Bus­haltestellen, sucht unweigerlich den spärlichen Schatten. Oft werden dabei einige Worte über die neue Regierung gewechselt. „Dass Raúl gewählt wurde, war ja zu erwarten, aber Machado Ventura? Das ist kein gutes Zeichen“, fasst Sonia, eine 20-jährige Architekturstudentin die Meinung vieler junger Leute zusammen. Der 76-jährige Ventura gehört zur alten Garde der Parteiführung und gilt als kommunistischer Hardliner. Als erster Stellvertreter des Regierungschefs hat er nun die gleiche Position wie zuvor Raúl und würde in dessen Abwesenheit das Land regieren. „Viele von uns haben auf Carlos Lage gehofft. Es geht so einfach nicht weiter, es muss sich etwas ändern“, sagt Raiza, eine 60-jährige Englischlehrerin, die sich in den 1990er Jahren, während des Traumas der Spezialperiode, entgegen den meisten anderen Familienmitgliedern entschieden hat, in Kuba zu bleiben, weil sie von den Vorteilen der Revolution nach wie vor überzeugt ist.
Insgesamt zieht sich eine interessante Linie durch die Generationen: Diejenigen, die wie Raiza oder Orphelia noch die Zeit vor der Revolution erlebt haben, stehen trotz aller Schwierigkeiten hinter dem Projekt. Orphelia, 71, die durch ihre Eltern auch einen spanischen Pass besitzt und Verwandte in Spanien, den USA und anderen Ländern besucht hat, konnte sich nie dazu durchringen, ihr Land zu verlassen.
Die Generation, die mit der Revolution groß geworden ist und jetzt in ihrer produktiven Lebensphase steht, hat entweder eine Position im Staatsapparat oder in einem der neuen dynamischen Wirtschaftsbereiche gefunden – oder sie ist frustriert und spielt mit dem Gedanken, anderswo das Glück zu suchen.
Aber vor allem die jüngste Generation, diejenigen, die mit dem weltweiten Zusammenbruch des Sozialismus groß wurden und ihre Kindheit in den schwersten Tagen der Spezialperiode verbrachten, haben oftmals Schwierigkeiten mit den harten Realitäten eines blockierten und sich reformierenden sozialistischen Staats.
Auf einer Geburtstagsfeier junger Schauspieler­Innen und FernsehmoderatorInnen der Jugendmagazine beispielsweise kommt die Hoffnung auf ökonomische Liberalisierung an erster Stelle. Warum werden keine neuen Lizenzen für die Pizzastände oder Restaurants an der Straße ausgegeben, warum kann nicht jemand mit guten Ideen oder Geschick seine Dienste anbieten und damit anderen helfen, fragt Felix, ein 25-jähriger bleicher Layouter für Internetseiten, der vor allem nachts arbeitet.
Die offizielle Antwort: Seit 1993, in der tiefsten Krise nach dem Wegfall des europäischen Staatssozialismus, waren Kleinhandel und Dienstleistungen erlaubt, weil der Staat sich außer Stande sah, grundlegende Bedürfnisse zu decken. Seit dem neuen Jahrtausend jedoch, ist das Bruttoinlandsprodukt wieder an die 1990er Marke herangewachsen und die Hauptprobleme bei Transport, Wohnung und Ernährung haben abgenommen, auch wenn sie noch lange nicht zufriedenstellend gelöst sind. Seither zieht der Staat die Schrauben wieder an, vergibt weniger Lizenzen für neue „Unternehmen“. Je mehr Privatinitiative, umso ungleicher die Einkommen, so die Logik, auch wenn schon bisher private Restaurants oder Unterkünfte starken Auflagen unterliegen.
Wenn die Deviseneinkünfte beispielsweise aus dem Tourismus zentral über den Staat verwaltet werden würden, könnten sie besser auf die gesamte Bevölkerung umverteilt werden, also auch die 40 Prozent der Bevölkerung erreichen, die bisher keinerlei Zugang zur harten Währung haben. Bei Durchschnittslöhnen von umgerechnet 338 Pesos (circa 20 US-Dollar) ist es trotz der (unzureichenden, wenn auch fundamental wichtigen) staatlichen Subventionen für grundlegende Bedürfnisse wie Ernährung, Transport, Bildung und Gesundheit, schwierig, zurechtzukommen. Rudolfo, ein 70-jähriger Militärarzt, der in Angola und Nicaragua gearbeitet hat und sich ganz und gar mit dem System identifiziert, flüstert mir am Imbiss zu: „Sie müssen hier ja stehlen, die Angestellten“. Er hatte mich nach seiner Auszeichnung zum 50. Jahrestag der revolutionären Streitkräfte zu einem Bier eingeladen und zu wenig Wechselgeld erhalten.
Inzwischen gibt es jedoch eine Vielzahl von Einkünften, die vor allem den Menschen in der Hauptstadt helfen, über die Runden zu kommen. Fast jeder musste sich etwas einfallen lassen: Miguel, Leiter eines pädagogischen Instituts, begann in den 1990er Jahren Reifen zu flicken. Gabriela, Dozentin an der Universität Havanna, vermietet ihre Wohnung an TouristInnen. Es kursieren Gerüchte über Reformen zur Vermietung von privaten Wohnungen.
Alisont, der in einem britischen Tourismusunternehmen in Havanna arbeitet, erzählt mir, dass in Zukunft sein Lohn auch offiziell in Devisen ausgezahlt werden soll, „damit der Staat darauf dann Steuern erheben kann“ – zwischen 10 und 20 Prozent seien geplant.
Unter dem Lack sozialistischer Errungenschaften, der jeden Tag im staatlichen Fernsehen und Radio poliert wird, werden Kratzer und Beulen sichtbar, mit denen ein künftiger Regierungschef eventuell anders umgehen wird. Eine offizielle oder auch nur öffentliche Debatte um Kubas künftige Regierungszusammensetzung gibt es jedoch nicht, ebenso wenig eine Debatte um ein etwaiges Programm oder notwendige Maßnahmen. Der jüngste Parteikongress, laut Statut alle fünf Jahre zu halten, fand zuletzt 1997 statt. Was man auf Nachfragen hört, sind deshalb zumeist Gerüchte.
In seiner Antrittsrede vor dem Parlament Mitte Februar kündigte Raúl Castro eine Reihe einschneidender und notwendiger Reformen an. Der Staat solle kompakter und effizienter werden, eine Vielzahl von Organismen, Regelungen und Verboten soll abgebaut werden, da sie aus einer anderen Epoche stammen, so der neue Präsident. Hierfür gibt es große Zustimmung aus der Bevölkerung und lediglich ein – allerdings einflussreicher und von den Reformen betroffener – Teil der Staatsbürokratie dürfte diesen Prozess bremsen.
Raúl Castros Andeutungen auf Veränderung während der 40-minütigen Rede blieben vage und so gibt es Hoffnung, aber keinen Enthusiasmus.
Ganz oben auf der Erwartungsliste der KubanerInnen stehen vor allem eine einheitliche Währung statt zwei Parallelwährungen (peso und peso convertible), mehr ökonomische Effizienz sowie eine weitere Verbesserung des Transports, der Wohnungssituation und der Ernährung. Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer Themen, die das alltägliche Leben erschweren.
Nach dem endgültigen Rückzug Fidels eine Woche vor den Wahlen zum Staatsrat erklang zunächst ein Orchester von Solidaritätsstimmen in den staatlichen Medien. Intellektuelle, Gewerkschaften, StudentInnen in Kuba und linke Gruppen und Regierungen weltweit wurden im kubanischen Fernsehen gezeigt. Die zentrale Botschaft: Alles bleibt so, wie es ist (todo se queda igual), nichts ändert sich (nada cambia). Dies stellte vor allem eine Reaktion auf die GegnerInnen der Revolution dar, vor allem in Washington, die sogleich die Notwendigkeit eines Übergangs betonten.
Seitdem laufen auf dem meterhohen Display der US-amerikanischen Interessenvertretung an der Flaniermeile Malecón in großen roten Buchstaben die US-amerikanischen Bedingungen für Wechsel und „Annäherung“: Freilassung politischer Gefangener, Mehrparteiendemokratie, etc. Diese Propaganda war darauf ausgerichtet, aus weiter Entfernung und für viele sichtbar zu sein, doch die kubanische Regierung vereitelte diese ideologische Offensive mit einem schwarzen Fahnenmeer.
„Als das Display neu installiert wurde, waren wir neugierig“, erklärt mir Lisandra, aber „inzwischen interessiert das keinen mehr, die Botschaften wiederholen sich eh nur,“ sagt sie mit einem Ausdruck von Entäuschung. Ein beliebtes Thema, insbesondere unter der Jugend, ist die (Un-)Möglichkeit, in andere Länder zu reisen. Kuba ist eines der wenigen Länder, das von seinen StaatsbürgerInnen eine Ausreisegenehmigung verlangt. Zwar ist es nicht unmöglich zu verreisen, und oftmals sind es auch die reichen Industrieländer, die sich vor dem Zuzug schützen, aber insbesondere für junge, gebildete KubanerInnen ist es sehr schwierig.
„Warum kann ich als junger Kommunist nicht auch nach Bolivien reisen, dorthin, wo Che gekämpft hat?“, fragte Eliecer Ávila während einer Diskussionsrunde an der Universität für Informatik UCI den alten und neuen Parlamentspräsidenten Ricardo Alarcón. Die Kritik erntete viel Beifall selbst unter den StudentInnen, die als Elite des neuen Staates gelten. Es mag sein, dass auch hier eine Änderung ansteht, man weiß es jedoch nicht, sagt mir Pedro, Dozent an der Uni und insgeheim hoffend, bald in die USA reisen zu können. Das Thema der Reisefreiheit macht ein weiteres Dilemma der kubanischen Revolution deutlich: Ein Staat, der millionenschwer in eine traditionell hochwertige Bildung investiert, kann es sich nicht leisten, sein teures Humankapital einfach verschwinden zu lassen. Denn es sind oftmals die hochqualifizierten Arbeitskräfte, die sich ins Ausland absetzen, weil sie sich auf dem staatlich reglementierten Arbeitsmarkt in Kuba stark unterbezahlt sehen.

Die meisten KubanerInnen denken nicht in Schwarz oder Weiß, USA oder Kuba,
Kapitalismus oder Sozialismus.

Auch Ivan, ein Mechaniker aus dem ärmeren Bezirk Cotorro, träumt davon, sich in die USA abzusetzen. Er ist aus diesem Grund dafür, dass die Gebrüder Castro an der Regierung bleiben. Denn „ohne sie wird die USA-Regierung sofort die kubanischen Sondergesetze aufheben“. Bisher werden KubanerInnen zu einer todesmutigen Migration aufgestachelt. Während die USA-Regierung ihr offizielles Visa-Abkommen (20 000 pro Jahr) jahrelang nicht erfüllte, bekommt jedeR KubanerIn , der oder die es bis an die Küste Floridas schafft, eine finanzielle Starthilfe; auf der anderen Seite werden mexikanische EinwandererInnen deportiert. Eine Überfahrt mit einem Schlepperboot kostet 10.000 Pesos convertible (ca. 8.000 Euro) und viele KubanerInnen, die sich für diesen Weg entscheiden, sind jahrelang verschuldet.

Nach der Rede von Raúl gibt es Hoffnung, aber keinen Enthusiasmus.

Ist es also ein wachsender Individualismus versus einer alten, bevormundenden Staatsmaschine, die sich gegenüberstehen? Sicher ist dies ein Teil des Problems. Aber die Widersprüche überlagern sich und sind nicht leicht aufzulösen. Dies macht es auch so schwer für DissidentInnen oder ausländische Medien, die permanent auf der Suche nach solchen sind, nennenswerten Zulauf zu erhalten. Die meisten KubanerInnen denken nicht in Schwarz oder Weiß, USA oder Kuba, Markt oder Staat, Sozialismus oder Kapitalismus. Sie glauben an die Reformfähigkeit des Systems oder an eine weitere Revolutionierung. Sie erkennen viele der Errungenschaften – trotz aller Probleme – an und identifizieren sich mit der Kultur, die aus ihnen geboren ist.

Erinnerungen im leeren Raum

Die Treppe hinunter. Im Ohr noch das Schlagen der Glocken, das über den Zócalo hallt, den großen Platz im Zentrum von Mexiko-Stadt, dessen Bild hier im Museum eine Leinwand füllt. Dunkel ist es unten, nur die wandgroßen Bildschirme, versteckt in Nischen, werfen bläuliches Licht. Die Treppe als Wendepunkt zwischen den spontanen, größenwahnsinnigen Aktionen, wie der Besetzung des Zócalo am 28. August, der Leichtigkeit, Spontanität und Gewissheit die Welt verändern zu können, die der Studierendenbewegung von 1968 in den ersten Wochen eigen war. Und der Anspannung, der Repression, die ab dem 1. September der Bewegung drohend näher rückte, die Angst in Erwartung dessen, was geschehen würde – und was hier, im Museum, jedeR BesucherIn schon zu Beginn des Rundgangs weiß. Die Regierung unter Präsident Diaz Ordáz schlug zurück, ließ auf die DemonstrantInnen schießen, die sich am 2. Oktober auf dem Platz der drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco versammelt hatten. Tausende Verletzte und Verhaftete; die Anzahl der Toten ist bis heute unbekannt.
Das Massaker von Tlatelolco jährt sich 2008 zum 40. Mal, und schon ein Jahr zuvor, am 22. Oktober 2007, hat die Nationale Autonome Universität (UNAM) an genau diesem Ort ein universitäres Kulturzentrum eröffnet. Mit Räumlichkeiten für Tagungen und Seminare, einer Kunstgalerie – und dem Memorial del 68, dem ersten Museum zu 68 der Welt. Zwei Jahre zuvor, im Juli 2005, hatte die UNAM einen Vertrag mit der Regierung von Mexiko-Stadt geschlossen, unter dem damaligen Bürgermeister und späteren Präsidentschaftskandidaten Álvaro Manuel López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Gut ein Jahr später, im November 2006, übergab die Stadtverwaltung der Universität offiziell die Räume in dem Gebäude am Rand des Platzes der drei Kulturen, ein hoher, moderner Bau aus den 1960er Jahren, in dem über vier Jahrzehnte das Außenministerium saß.
Gleich am Eingang eine riesige Fotomontage: Hunderte kleine Fotos von 68ern aus aller Welt bilden schemenhaft eine Hand, die sich zur Faust ballt. Das Memorial del 68 beschränkt sich nicht auf die Darstellung des Massakers, es widmet sich der gesamten Bewegung, dem heißen Sommer der Rebellion. Man kann den KünstlerInnen und HistorikerInnen, die das Museum gestaltet haben, nicht vorwerfen, sie hätten keinen Aufwand betrieben, die Stimmen von damals einzufangen. Kern des Konzepts sind über 100 Stunden Filmmaterial. Die Erlebnisse, Einschätzungen und Erinnerungen von 57 AktivistInnen und Intellektuellen jener Zeit wurden in Interviews festgehalten und dokumentiert. Hinzu kommt Material aus Archiven, wie Flugblätter, Plakate, Fotos, Filmsequenzen, die die zwei Etagen der Ausstellung mit Klängen, Bildern, Eindrücken füllen. Alles ist multimedial aufbereitet, lesen müssen BesucherInnen kaum, um über die Geschehnisse zwischen Juli und Dezember 1968 etwas zu erfahren, um den „Geist der Epoche“ zu spüren.
Auf diesen „Geist“ haben die MuseumsmacherInnen viel Wert gelegt und er erwartet einen, noch bevor man den ersten Raum betritt. In einer Nische, auf gepolsterten Bänken, lässt sich eine Installation des Künstlers Óscar Gúzman verfolgen: Auf zwei Bildschirmen strömen zur Musik von John Lennon, Rolling Stones und vielen anderen die Bilder der 1960er Jahre vorüber, überblenden und vermischen sich, lösen sich aus ihrem Kontext, vermischen sich in einem Potpourri aus Tragik, Kitsch und Emotionen: Kennedy, Che und Martin Luther King, die Landung auf dem Mond und flüchtende vietnamesische Kinder, die Revolution in Kuba, Panzer in Prag und die Beatles beim Besuch in Indien.
Diese Installation steht wie ein Deckblatt über der gesamten Ausstellung, deren Stärken und Schwächen sie voraus nimmt. Die starke Fokussierung auf die Schicksale einzelner Personen, die Erzählung über Biographien macht die Erlebnisse nachvollziehbar, reißt die Geschichte aus dem Abstrakten, macht die Ereignisse begreifbar und konkret. Die biographischen Erzählungen der Interviews machen es möglich, Geschichte lebendig zu erzählen und unterschiedliche Interpretationen und Deutungen der damaligen Ereignisse in der Bewegung sichtbar zu machen. Nicht „die Geschichte“ wird erzählt, sondern die wirklichen, gelebten Geschichten.
Auch diese Darstellung hat ihre Schönheitsfehler, ihre blinden Flecken: So haben AktivistInnen von 68 kritisiert, dass sich unter den dargestellten „AktivistInnen“ auch Personen finden, die gar keine waren, sondern schon damals als Intellektuelle die Ereignisse deuteten und deren Interpretation prägten – wie Elena Poniatowska oder Carlos Monsiváis. „Vor allem die Geschichte des Streikrates CNH wird erzählt,“ kritisiert daneben die Aktivistin Ana Ignacia Rodríguez, die auch unter den Interviewten ist „dafür fehlen Aktionsformen und die Bedeutung der studentischen Brigaden in der Darstellung fast ganz.“ Gerade die Besonderheiten der politischen Organisation von damals, das Gefühl, anders, basisdemokratisch Politik zu machen, das viele AktivistInnen so nachhaltig prägte, wird nicht in dem gelebten – und im Memorial sonst auch präsenten – Facettenreichtum repräsentiert.

Nicht „die Geschichte“ wird erzählt, sondern gelebte Geschichten.

Keine Frage, es ist ein gewaltiges gesellschaftliches Symbol, wenn am Ort des Massakers ein Memorial der Studierendenbewegung steht. Eine gute und notwendige Ergänzung zum Gedenkstein, der 1993 aus privater Initiative für die Opfer des Massakers errichtet worden war. Eine permanente Würdigung, die die Gedenkveranstaltungen und jährlichen Demonstrationen am 2. Oktober erweitert und ergänzt.
Ambivalent bleibt der Zugang des Museums zu den Ereignissen von 1968 aber vor allem, weil er so ungewöhnlich gar nicht ist: Denn die Geschichte von 1968 ist ja auch für junge MexikanerInnen von heute nichts Fernes und Abstraktes, gerade der emotionale, der „kulturelle“ Zugang zu 68 ist in der Gesellschaft, nicht nur in Mexiko, durchaus präsent. 1968 als Aufbegehren der Jugend, als symbolischer Beginn eines neuen Hedonismus, 68 als Pop – das ist nichts Marginales, nichts, was in der Gesellschaft verschwiegen werden würde, das ist ein herrschendes Deutungsmuster, das die Wahrnehmung von 1968 in Europa, den USA und auch in Mexiko prägt. So hat es durchaus seine Bedeutung, wenn der gesamte erste Teil des Museums der (internationalen) Vorgeschichte der Bewegung gewidmet ist, und wenn auch hier die „globale“ Kultur, vor allem Film und Popmusik, eine große Rolle spielt. Was dabei hintenüber fällt, das ist die Politik und die Einordnung in den lokalen Kontext: So erfährt man von der Landung auf dem Mond und den Aufständen in Tschechien – die politische Situation, die Vorgeschichte und Hintergründe in Mexiko hingegen bleiben im Dunkeln, kein Wort zur Situation im ländlichen Mexiko, auch Fotos der mexikanischen Hippies, xipitecas, sind keine zu sehen. Und es fehlt eben auch eine Analyse der Folgen fürs politische System, die über die häufig gefeierte Aussage hinausgeht, 68 sei der Beginn der Demokratisierung Mexikos, die in der Wahl Fox‘ 2000 verwirklicht worden sei.
So bleibt die Deutung der Ereignisse und ihre Einordnung in die Geschichte im Memorial del 68 der Architektur überlassen. Nach dem Weg durchs düstere Untergeschoss, dem Ort von Unterdrückung, Gefangenschaft und Tod, dem Ort, an dem auch die Olympiade hier ihren Platz hat, die wenige Tage nach dem Massaker begann, geht es wieder aufwärts, zurück ins Licht. Die voll verglasten Räume geben den Blick auf den Platz der drei Kulturen frei. TouristInnen klettern über die Azteken-Ruinen, die Kathedrale duckt sich wie ein altes Mütterchen, flockige Wolken treiben am Himmel. Hell und friedlich die Gegenwart, seltsam kräftig die Farben nach all dem vergilbten schwarz-weiß der alten Bilder und Filme.
Das vielleicht ist schließlich das bedeutendste Scheitern des Museums: Dass es endet, wo die Diskussion doch eigentlich beginnen müsste. Mit der Aufhebung des Streiks ist die Darstellung der Ereignisse zu Ende, kein Wort zu Straffreiheit der Täter, kein Wort über all die Streiks, Mobilisierungen, politischen Aktionen, die nach 1968 kamen und sich darauf bezogen und beziehen: Die Demonstrationen am 2. Oktober, die seit 40 Jahren immer neue Generationen weiter geführt und mit ihren Themen besetzen haben, die alten und neuen Guerillas, der neunmonatige Streik an der UNAM 2001, der wie 1968 mit der Besetzung der Universität durch die Polizei endete. Vielleicht zu viele, zu heikle Themen für ein erstes Erinnern. Aber indem das Museum jeglichen Bezug zu heutigen Kämpfen, jede offene Frage über den demokratischen Charakter des heutigen Systems verweigert, gerät es in Gefahr, genau das zu sein, was es nicht sein wollte: Ein Ort, der eine Bewegung historisiert, reif macht fürs Museum. Ein Ort, der 1968 als eine abgeschlossene Episode darstellt, die man in ihrer architektonisch manifesten Deutung besichtigen, durchlaufen kann (und wieder verlässt). Ein Ort, der eine, wenn auch vielstimmige Version der Geschichte festschreibt als die Wahrheit – und damit ausblendet, dass Geschichtsdeutungen immer ein fortwährender Kampf um Wahrheiten sind.

Kein Zurück mehr

Margarita Suzán
1968 war ich nicht mehr in der Kommunistischen Partei aktiv, hatte aber schon einige Erfahrung in politischer Arbeit. Von Beginn an organisierten wir uns an der politikwissenschaftlichen Fakultät. Die Trotzkisten verleumdeten uns alle, die wir auf die eine oder andere Art marxistisch orientiert waren, obwohl man dachte, dass das gar niemand wusste. Wir waren eine, wie soll ich sagen, eine undogmatische Gruppe: Wir hörten die Stones, lasen Sartre, fühlten uns wie die Kings. Die Anderen betrachteten uns mit Argwohn. Wir lasen viele Bücher, die wir, wenn wir sie nicht im Buchladen klauten, aus der Bibliothek ausliehen und diskutierten dann darüber. Wir gingen ins Kino und machten viele Dinge, die nicht im Einklang mit der strengen Parteidisziplin standen. Die „schicken“ Linken wurden wir genannt. Uns gefielen eben andere Dinge. Ich stellte einen Filmklub auf die Beine, verteilte aber auch Flugblätter am Unabhängigkeitstag, wobei ich von der Polizei verhaftet wurde.

Ich sollte mich immer ums Essen kümmern. Bis ich sagte: „Diese Assoziation Frau-Küche-Essen – vergesst es!“

1968 wurden an allen Fakultäten Vollversammlungen abgehalten, auf denen die Anführer per Abstimmung gewählt wurden. Meistens wurden jene in die Leitung gewählt, die sich bereits vorher politisch engagiert hatten, die wussten, was in einer bestimmten Situation zu tun ist, die allgemein anerkannt waren und Charisma hatten. Einige waren begnadete Redner. Die Wahlen durch die Vollversammlungen liefen absolut demokratisch ab, was allerdings auch sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Wenn der CHN eine Entscheidung getroffen hatte, wurden an den einzelnen Einrichtungen nochmal Versammlungen einberufen, auf denen über die Annahme abgestimmt wurde. Bei einer Ablehnung musste das Thema im Nationalen Streikrat erneut diskutiert werden. Ich war eine Zeit lang Delegierte im Streikrat, wo wir Sitzungen von vierzehn, fünfzehn, manchmal sogar achtzehn oder zwanzig Stunden hatten. Wir waren dermaßen demokratisch, dass niemandem das Wort verwehrt oder entzogen wurde. Das erste Mal, dass ich ein geschlossenes Nein hörte, ohne dass sich noch wer zu Wort meldete, war, als im Hörsaal der medizinischen Fakultät ein Redner forderte, dass wir bewaffnet durch die Straßen ziehen sollten. Die Leute sagten: „Wir machen doch keine Revolution, wir wollen doch nur, dass es in diesem Land ein bisschen mehr Demokratie gibt.“ Es ging um demokratische Freiheiten, um ein bisschen mehr Raum für die politischen Rechte des Einzelnen.
Eine Sache, die mich furchtbar aufgeregt hat, war, dass die Kommunisten und die Sozialisten so konservativ und kleinkariert waren, was das Bedürfnis von uns Frauen anging, uns zu entfalten: „Frauen können auf der Schreibmaschine tippen, aber doch kein Manifest schreiben.“ Das war schon in den Jahren davor so. In den Sechzigern hat es viel mehr als nur die Studentenbewegung gegeben, für mich war es wie ein Erwachen. Die Tatsache, dass ich – wenn ich nicht vergaß, jeden Tag die Pille zu nehmen, und mir auch jemand gefiel – schlafen konnte, mit wem ich wollte, war geradezu Identitätsfindung: Ich bin meine eigene Herrin, ich kann machen, wonach mir ist. Also kannst du, nur weil du zu einem anderen Geschlecht gehörst, mir nicht erzählen, was ich zu machen habe. Als wir in Brigaden unterwegs waren, sollte ich, nur weil ich die einzige Frau in der Gruppe war, mich ständig um die Verpflegung kümmern. Bis ich eines Tages sagte: „Nein! Warum soll ich mich um das Essen kümmern? Diese Assoziation Frau-Küche-Essen – vergesst es!“
Die Demonstration am 27. August. Ich erinnere mich daran, wie ich das erste Mal das Gefühl hatte, dass diese Stadt, in der ich geboren war, meine Stadt war – es war unsere Stadt, durch die wir Parolen skandierend marschierten. Zum Schluss, als wir nur noch rannten, verfolgte mich ein Soldat. Er beschimpfte mich und versuchte, mich festzunehmen, gleichzeitig aber auch nicht, ich glaube, zu dem Zeitpunkt gab es noch keinen Befehl, jemandem etwas zu tun. Er war aber völlig überzeugt, beschimpfte mich als Nutte, ich rannte, und er lief immer schimpfend hinter mir her. Später, ich weiß nicht mehr auf welcher Höhe, konnte ich in ein Auto einsteigen, mit dem ich wieder zurück zum Uni-Gelände fuhr. Als wir uns dann an den Fakultäten wieder versammelten, hatte jeder eine Anekdote zu erzählen. Wir waren alle über den Anblick der Panzer schockiert. Noch nie zuvor hatten wir das Militär aus der Nähe gesehen, noch dazu in einer Situation, in der wir als die Feinde angesehen wurden.
Leute starben, weil sie von der Polizei dabei erschossen wurden, als sie Parolen an die Wände schrieben, manche verschwanden einfach und kehrten nie mehr zurück. Das ist verbürgt. Wir wussten, dass es Repression geben könnte, es hatte sie auch vorher gegeben. Schon seit den ersten Aktionen der Brigaden wussten wir, dass wir unterwandert wurden, es gab viele Spitzel – wir stellten schließlich eine wirkliche Bedrohung für den Status quo dar. Aber es gab auch kein Zurück mehr. Niemand hat in dem Moment gedacht: „Und was, wenn sie mich schnappen und in den Knast stecken? Ich geh’ lieber wieder nach Hause.“ Sie steckten uns dann wirklich ins Gefängnis, zu dem Zeitpunkt waren sie allerdings zum Glück noch bei Sinnen. Einmal wurden wir, 25 Frauen, in eine Zelle gesteckt, in die Nachbarzelle 25 Männer. Wir sangen die ganze Nacht Lieder und bei Tagesanbruch hielten es die Wachleute wohl nicht mehr aus und ließen uns frei.
Nach dem 2. Oktober, wo sollten da noch Massenversammlungen stattfinden – und mit wem? Die Stadt war völlig verstört. Die Leute trauten sich abends nicht mal mehr auf die Straße, alles war erstickt. Es gab tatsächlich keine Möglichkeit mehr, die Bewegung wieder zu beleben, so wie es vor dem 2. Oktober ja noch gelungen war. Die Gefangenen sahen das anders. Die dachten, wir würden nur nicht hart genug arbeiten oder wären nicht dazu in der Lage. […]
Wir waren überzeugt davon, dass wir weiter kämpfen mussten: für Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit. Viele von uns hatten nach wie vor dieselben Ziele. Ich glaube – und das ist nur meine eigene Vermutung – uns hat sehr geprägt, dass plötzlich so viele Drogen verfügbar waren und so viele unserer Genossen begannen, Marihuana und LSD zu konsumieren, während andere bereits begannen, sich auf den Kampf der Stadtguerilla der nächsten Jahre vorzubereiten. Es gab einen großen Unterschied zwischen denen, die nicht so sehr in der Bewegung aktiv waren, beziehungsweise nur schnell zurück in ihre Seminare wollten, und denen, die sich der erlittenen Niederlage bewusst waren und nun keine Alternativen mehr sahen. Und die gingen zur Guerilla, wofür ihnen mein ganzer Respekt gebührt.
Ich ging in den Siebzigern nach Nicaragua, weil ich immer noch fand, dass die Revolution irgendwie stattfinden müsste. Da ich sie in meinem Land nicht machen konnte, ging ich dazu eben in ein anderes. […] Ich blieb 15 Jahre lang. Als ich gefragt worden war, ob ich trotz der beginnenden Militarisierung bleiben wollte, hatte ich mit Ja geantwortet. Denn ich dachte, das hieße nur, meine Zivilkleidung gegen eine Uniform einzutauschen.

Elisa Ramírez
Ich bin in einer außergewöhnlichen Familie aufgewachsen. Mein Vater war Universitätsprofessor, außerdem Psychoanalytiker, Pionier einer Wissenschaft und Praxis, die es noch nicht gab. Meine Mutter war berufstätig, ebenfalls als Psychoanalytikerin. Im Gegensatz zu vielen meiner Kommilitoninnen, die die ersten Akademikerinnen in ihrer Familie waren, bin ich bereits die dritte weibliche Generation an der Universität. Mein Vater war absolut liberal. Kein Linker, aber liberal, tolerant. Er verstand sich wunderbar mit all unseren Freunden. Er war 1968 Koordinator der entstehenden Psychologischen Fakultät, die damals aus der Philosophischen Fakultät heraus entstand. Bei uns zuhause wurde einfach über alles gesprochen und gestritten, auch laut. Als ich an die Uni kam, wurde ich sofort von der Kommunistischen Partei rekrutiert, das lag an meinem Bruder, der in der Kommunistischen Jugend aktiv war. Doch während ich noch dabei war, Texte zu lesen und mich diszipliniert damit auseinander setzte, worum es ging, warben mich die Spartakisten ab. Ich war auch dort noch gar nicht richtig dabei, als wir schon wieder in Massen zu den Trotzkisten überwechselten. Nachdem wir zwei Jahre lang versucht hatten, Teil dieser Bewegung zu sein, gründeten wir schließlich eine kleine anarchistische Partei, was für damalige Verhältnisse ziemlich ungewöhnlich war.
Unser 68 war – wenn es nicht so tragisch gewesen wäre – unglaublich fröhlich. Wir hatten wahnsinnig viel Spaß. Eines der ausgelassensten Erlebnisse war die Nacht, in der wir auf Beschluss des Nationalen Streikrats (CHN) die Stadt mit Parolen verschönerten. Da gab es ein Riesendurcheinander. Wer sich beim Schmieren erwischen ließ, wurde von der Polizei verfolgt. Wir mussten also rennen und uns verstecken. Wir waren außerdem so viele, dass es eine Schlacht um die Wände im Umkreis der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) und des Polytechnikums gab. Unsere Gruppe suchte sich die Mauer des Heldenfriedhofs Panteón Civil de Dolores aus, auf die wir schrieben: „Hier ruhen die Überreste der 36 Studenten, die von der faschistischen Regierung Gustavo Díaz Ordaz ungestraft umgebracht wurden“. Diese Mauer ist unendlich lang, und wir brauchten eine ganze Weile. Als wir fertig waren, stellten wir fest, dass wir das Wort „faschistischen“ zweimal geschrieben hatten und mussten alles wieder abändern. Es war ein Heidenspaß.

Unser 68 war – wenn es nicht so tragisch gewesen wäre – unglaublich fröhlich.

Wir bildeten Frauenbrigaden für frauenspezifische Aktionen und ließen uns dabei von großen, starken Männern begleiten, die nur dazu da waren, uns zu beschützen. Wir verteilten oft Flugblätter in der Gegend um die Straßen San Antonio Abad und Izazaga. Wir fragten die Frauen dort, wie es ihnen gehe, was sie wollten, was sie nicht wollten und wer sie seien. Aber jetzt, mit einigem Abstand, scheint es mir so, dass wir mehr daran interessiert waren, ihnen zu erzählen, wer wir waren, als ihnen zuzuhören. Innerhalb der Uni hatten wir Frauen einen ganz anderen Umgang miteinander. Das war eher Konkurrenz als Schwesterlichkeit, obwohl das natürlich immer auch auf den einzelnen Fall ankam. Eine Sache habe ich aber wirklich als bedrohlich und einschüchternd empfunden, dieses Verlangen des Nächsten, mir Lektionen zu erteilen, mir meinen Stolz zu nehmen, meinen Witz, meine Schönheit, meine Intelligenz. Das hat mir irgendwie Angst eingejagt, um es gelinde zu sagen. Denn ich kam aus völlig behüteten Verhältnissen und fand mich plötzlich mit meinem Minirock und meiner Albernheit im Raubtierkäfig wieder.
Die Nacht des 27. August. Verfolgung und Zweifel. Die Soldaten kamen wieder und wir rannten die ganze Avenida Juárez hinunter. Aus den Hotels wurden sie mit Gläsern beworfen, mit Eis, Matratzen, Kleidungsstücken, Schuhen, Stühlen, mit allem, was die Leute in den umliegenden Bars und Hotels in die Hände bekamen. Einige von uns waren auf die Baustelle der U-Bahn vorgedrungen, weil die Panzer nicht auf diese Allee konnten. Ich erinnere mich noch an das Geräusch der Rosensträucher, die über unsere Schuhe kratzten, als wir den Platz in Richtung der Station Hidalgo verließen, wo uns die U-Bahn-Fahrer empfingen und wieder zurück zum Uni-Gelände brachten. Ich glaube, das war der Moment, als mich wirklich Angst durchfuhr und ich dachte: „Dieses Spiel ist wahnsinnig lustig, aber die werden uns umbringen!“ Und wenn dich jemand umbringen will, fragst du dich zumindest, warum du dein Leben aufs Spiel setzt. Aber während da diese Zweifel aufkamen, fühltest du dich gleichzeitig moralisch verpflichtet gegenüber all den anderen, die um dich herum waren.
Das Jahr 68 hat einige Prozesse beschleunigt, die ohnehin gekommen wären. Die sexuelle Befreiung hatte schon vorher begonnen, sie war weder inexistent noch unsichtbar, aber leiser. Es war mehr oder weniger zu spüren, was in der Gesellschaft vor sich ging. Ich glaube, 1968 war nur eine zeitliche Verdichtung – nicht mehr. Es hätte vermutlich genauso auch 1970 passieren können. Was mit dem Minirock, dem freien Ausleben unserer Sexualität und unserer Körperlichkeit begonnen hatte, setzte sich schließlich in einer neuen Sprache fort, in neuen Sichtweisen, in Forderungen und in der Verpflichtung meiner Generation jenen gegenüber, die für immer jung bleiben werden.

Ana Ignacia Rodríguez (Nacha)
Ich heiße Ana Ignacia, den Spitznamen Nacha erhielt ich im Zusammenhang mit meiner Festnahme und meiner Haft. Es war der Deckname, mit dem ich im Strafregister geführt wurde. Damit sollten wir stigmatisiert werden: Straftäterin Nacha. Ich bin aber stolz auf diesen Namen, und auch darauf, dass in meiner Prozessakte steht: „Ana Ignacia Rodríguez Márquez, alias Nacha, Guevara-Anhängerin“. Dafür bin ich der Regierung sehr dankbar: Mir wurden zwei Jahre Frauengefängnis bezahlt und ich hatte Zeit, Guevara zu lesen. Jetzt bin ich tatsächlich Guevara-Anhängerin.
Ich studierte damals an der Juristischen Fakultät. Diese war eine Hochburg der Partei der institutionellen Revolution (PRI) sowohl was das Personal als auch was die studentischen Organisationen anging. Wir brachen das völlig auf. Wir gründeten eine Gruppe namens Progressive Studentenpartei, die kulturelle Aktivitäten organisierte. […] So fingen wir an, eher ruhig, aber dann kam 1966 der erste Streik, und ich erlebte die ganze Beteiligung unserer Fakultät mit.
Es ist eigentlich nie deutlich gemacht worden, welch wichtige Rolle die Frauen in der Studentenbewegung spielten. Aber schon 68 bildeten wir eigene Brigaden, gingen zu öffentlichen Versammlungen und in die Fabriken, auf die Märkte, sammelten Spenden – und die Bevölkerung unterstützte uns. Von dem gespendeten Geld und den Lebensmitteln konnten wir eine ganze Weile leben. Wir wohnten in der Fakultät. Es gab oft Gerüchte, dass das Militär einmarschieren würde, so oft, dass wir nicht mehr daran glaubten, auch dann nicht, als es schließlich wirklich kam. Am 8. September hörte ich – es war ein unglaublich lautes Geräusch – die Stiefel der Soldaten. Als wir aus der Fakultät rannten, fragten wir uns, wohin wir flüchten sollten. Wir entschieden uns für das Rektoratsgebäude, weil wir dachten, dort seien wir halbwegs sicher. Ich sehe uns noch, wie wir durch den kleinen Garten neben dem damaligen Gebäude des Rektors liefen. Später wurden wir von einem Kommando festgenommen und auf den Vorplatz geführt.]

Es ist nie deutlich gemacht worden, welch wichtige Rolle die Frauen in der Bewegung spielten.

Man brachte uns auf einen Hof mit steinernen Tischen. Wir waren dermaßen euphorisch, dass wir dachten, die anderen Genossen würden uns hören, und riefen laute Parolen, um ihnen Mut zu machen. Noch war uns nicht klar, was Repression bedeuten sollte. Ich wusste noch nicht einmal, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits politische Gefangene gab, auch kannte ich das Frauengefängnis nicht. Am nächsten Tag kamen unzählige Kriminalbeamte, um uns zu befragen. „Wie oft sind sie nach Kuba und in die Sowjetunion gereist?“ – „Ich war oft in den USA. Ich habe dort Geschwister.“ – „Nein, darum geht es nicht, uns interessieren nur Kuba und die Sowjetunion, wie oft Sie bei den Roten waren.“ Und dann haben sie es so hingedreht, dass wir Teil eines kommunistischen Komplotts seien, wir unterstützten den Kommunismus dabei, hier Ableger zu bilden, handelten auf Anweisung. Unsere Freilassung erfolgte auf Druck der Leute draußen. All unsere Kommilitonen hatten sich vor dem Gefängnis versammelt und riefen ganz laut: „Freiheit, Freiheit!“ Nach drei Tagen wurden wir freigelassen. Als ich die Haftanstalt verließ, war ich sehr gerührt, die Leute hoben mich hoch und begrüßten mich. Meine Gedanken waren damals: „Sie haben die Unabhängigkeit der Universität angetastet, was so ziemlich das Schlimmste ist, was der Bewegung widerfahren ist – und wir müssen weitermachen, wir müssen sogar noch härter kämpfen. Denn es gibt Gefangene, Verletzte und Tote.“
Den 2. Oktober hatten wir nicht erwartet. Ich stand auf dem Vorplatz, als wir die Leuchtraketen sahen, die von dem Hubschrauber abgeschossen wurden. Ich wusste in dem Moment nicht, was das zu bedeuten hatte. Später erfuhr ich, dass es der Einsatzbefehl war. Das einzige, was ich mitkriegte, war, dass der Redner auf dem Podium von einem Typ mit einem Handschuh gepackt wurde. Er und andere wurden nach hinten geschleppt. In dem Moment wurde mir bewusst, dass etwas vor sich ging, und schon hörte man die Geschosse über und unter uns. Ich sagte: „Das kann doch nicht sein, die können doch nicht auf uns schießen.“ Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen und sagte zu Tita: „Das kann doch keine echte Munition sein.“ Sie antwortete: „Jetzt stell dich nicht blöd, siehst du nicht, wie die Leute umfallen?“ Ich drehte mich um und sah, wie die anderen zu Boden fielen. Wir begannen um unser Leben zu rennen. […]
Sie holten mich und Antonio aus meiner Wohnung ab und brachten uns zu einem Gebäude der Sicherheitspolizei. Ich glaube, es war an der Ausfallstraße nach Toluca, denn wir überfuhren Gleise und wurden an einen Ort gebracht, an dem Ballen mit Pferdefutter gelagert waren. Dort wurden unsere Daten notiert. Das Schlimmste an dieser Entführung war die Fessel, eine breite Fessel, aber dermaßen straff angelegt, dass ich dachte, sie zerquetscht mir mein Gehirn. Am nächsten Tag wurde ich in einen anderen Raum geführt und das Verhör begann. Es wurde von einem US-Amerikaner durchgeführt. Er war rothaarig, hatte einen Bürstenhaarschnitt, war mit einer Tarnuniform bekleidet und sprach mit Akzent. Er sagte, ich solle unterschreiben.

Die endlose Grenze

Luis Buñuel war das Thema der Retrospektive der diesjährigen Berlinale. Sind die zentralamerikanischen MigrantInnen deine Form eines Portraits der Vergessenen?
Man könnte es so ausdrücken, denn in der Tat wird in der Reflektion des Themas Migration die zentralamerikanische Perspektive oft vernachlässigt. Aber man muss ein bisschen vorsichtig sein mit der Analogie. Die MigrantInnen leben nicht am Rande der Gesellschaft, sie sind durchaus Teil davon. Sie sind sehr präsent, sehr real.

Du präsentierst in deinem Dokumentarfilm weder Zahlen noch Fakten und reflektierst in einigen wenigen Kommentaren deinen eigenen Ansatz. Wie bist du an das Thema herangegangen?
Ich wollte nicht einfach einen weiteren Film über Migration drehen. Ich wollte den MigrantInnen selbst eine Stimme geben, die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählen. Ich wollte nicht die offiziellen Aussagen der BeamtInnen, der Regierung, der Medien oder der internationalen Organisationen wiedergeben. Ich wollte auch keine Statistiken oder Zahlen ausgraben, sondern mich voll und ganz auf die Personen, die Menschen konzentrieren, die emigrieren.
In meinem Projekt habe ich versucht die Klassifizierung dessen, was wir „Migrant” nennen zu überprüfen, denn in Wirklichkeit sind wir in gewisser Weise alle MigrantInnen. Du bist nach Berlin migriert, ich von Pachuca nach Mexiko-Stadt. Wir sind beide Migranten. Deswegen war es mir auch wichtig, dass der Film eigentlich überall auf der Welt hätte gedreht werden können, in Marokko, Russland oder in Kuba.

Wie bist du auf das Thema der MigrantInnen aus El Salvador, Honduras und Guatemala aufmerksam geworden?
Als ich anfing, den Film zu planen, wollte ich wissen, was diese Menschen antreibt. Warum nehmen sie diese Strapazen und Schwierigkeiten auf sich. Ich bin für erste Recherchen nach Chiapas gefahren und habe dort gemerkt, wie schlimm die Situation für zentralamerikanischen MigrantInnen ist.
In den letzten sieben bis zehn Jahren hat der mexikanische Staat angefangen, seine südliche Grenze zunehmend zu schließen. In inoffiziellen Vereinbarungen mit der US-amerikanischen Regierung hat sich Mexiko dazu verpflichtet, die zentralamerikanische Migration zu unterbinden. Damit die MigrantInnen es also gar nicht erst bis in die USA schaffen, wurden Kontrollen schon in Mexiko und besonders an der Südgrenze Mexikos verstärkt. Es wiederholt sich also im Süden Mexikos, was im Norden durch die USA stattfindet. Gleichzeitig interessiert sich die aktuelle mexikanische Regierung, die eigentlich behauptet, die Menschenrechte zu respektieren und zu verteidigen, nicht für die MigrantInnen und ihre Probleme, geschweige denn für Lösungen.
Inwiefern unterscheidet sich die zentralamerikanische Migration von der Mexikanischen?
Ein großer Teil der mexikanischen Migration bestand lange Zeit darin, dass viele Männer nur zum Arbeiten in die USA gingen, um dann wieder nach Hause zurückzukommen, sozusagen als Saisonarbeiter. Von den Menschen aus Zentralamerika, also aus Guatemala, Honduras und El Salvador, kommen offiziell nur geschätzte hunderttausend in den USA an. Ungefähr jede vierte Person schafft es bis in die USA. Da der Weg so weit ist, bleiben viele dort und kehren nicht wieder zurück.

Welche Probleme erfahren die Menschen konkret auf ihrer Wanderung?
Wenn die zentralamerikanischen MigrantInnen losziehen, haben sie oft nicht mehr als 100 US-Dollar in der Tasche. Die meisten MigrantInnen gehen deswegen also nicht mit einem traficante (Schlepper), sondern machen sich zu Fuß auf den Weg. Und eben auch mit dem Zug, der ja eine wichtige Rolle im Film spielt. Auf diesen wird tagelang gewartet. Er bringt sozusagen die Hoffnung, dass es weitergeht. Wenn sie in Mexiko ankommen, ist das Geld meistens schon weg, da sie auf dem Weg BeamtInnen und Militärs bezahlen müssen. Außerdem ist der Rassismus ein Problem der mexikanischen Gesellschaft. Mexiko ist ein sehr rassistisches, segmentiertes Land. Im Norden fühlt man es weniger, aber in Chiapas ist das stark ausgeprägt. Nicht nur gegenüber den ZentralamerikanerInnen, sondern auch innerhalb der mexikanischen Gesellschaft, gegenüber der indigenen und der mestizischen Bevölkerung. Andererseits gibt es auch eine starke Solidarität. MigrantInnen wird Essen gegeben, auch wenn sie kein Geld mehr haben.

Welche Rolle spielen die Medien in diesem Prozess? Wird das Thema der Migration im öffentlichen Diskurs aufgegriffen?
Nein, so gut wie gar nicht. Im Fernsehen praktisch gar nicht. In einigen Printmedien wie in der linken Tageszeitung La Jornada oder der Wochenzeitschrift El Proceso gibt es hin und wieder Artikel. Wenn das Thema besprochen wird, werden zahlreiche Stereotypen aufrecht erhalten. Es wird nicht auf den Menschen eingegangen.

Dein Dokumentarfilm wirft einen sehr intimen Blick auf die Menschen, Die MigrantInnen werden ernst genommen und wirken glaubwürdig. Wie hast du ihr Vertrauen gewonnen?
Es war eigentlich einfach. Ich habe mir viel Zeit genommen. Außerdem waren wir ein sehr kleines Team von drei Personen: ein Kameramann, ein Tontechniker und ich. Wenn wir an den Drehorten ankamen, haben wir einfach mit den Menschen gesprochen – ohne Kamera. Wir mussten sie davon überzeugen, dass wir nicht vom Fernsehen kommen und mit dem Film kein Geld verdienen werden. Und auch, dass wir nicht von der Regierung sind. Wir haben also mit ihnen gegessen, mit ihnen geredet sie bei ihrem Tagesablauf begleitet. Am zweiten Tag hatten wir dann die Kamera dabei und haben angefangen, zu filmen. Wir haben immer klargestellt, dass sie Bescheid sagen sollen, falls wir etwas nicht filmen sollen. Wir mussten das Filmen nie unterbrechen.

Du hast gesagt, dass dein Film ein ethischer und kein ästhetischer Film ist. Wo liegt da für dich der Unterschied?
Für mich ist es wichtig, dass ich mich auf den individuellen Menschen konzentriere, und dass ich mich nicht in den aktuellen politischen Diskurs einschalte.

Du gibst in deinem Film auch keine Lösung und stellst kein Programm vor.
Genau, deswegen ist er nicht politisch. Aber ich behandle ein sozial relevantes Thema. Dadurch wird er natürlich automatisch, wenn auch unbeabsichtigt, zu einem politischen Statement.

Wird dein nächster Film wieder einen Aspekt der Migration behandeln, oder hast du schon andere Pläne für kommende Projekte?
Gerade habe ich den kurzen sechsteiligen Dokumentarfilm Zimapan: Geschichte eines Endlagers fertig gestellt. Mein nächstes Projekt wird das Thema reflektieren, wie die Bilder, die uns die Medien zeigen, mehr und mehr dem Mainstream entsprechen, anstatt neue Möglichkeiten zu suchen, Bilder zu zeigen und Probleme darzustellen. Viele der aktuellen RegisseurInnen, auch viele die mit mir studiert haben, machen nur Filme mit dem roten Teppich im Kopf.

Orte der Kunst abseits des Mainstreams

Lateinamerikanische Kunst im internationalen Kontext stärker sichtbar machen – das ist das Anliegen des Kunsthauses Casa Daros in Rio de Janeiro. Ab Mitte diesen Jahres wird das Museum für zeitgenössische lateinamerikanische Kunst seine Türen öffnen. Auf rund 10.000 Quadratmetern wird dann in einem ehemaligen Waisenhaus das Pendant zur Schweizer Privatsammlung lateinamerikanischer Gegenwartskunst „Daros-Latinamerica” zu sehen sein.
Die Schweizer Sammlung mit Sitz in Zürich existiert seit dem Jahr 2000 und enthält derzeit die Arbeiten von über 100 Künstlern und Künstlerinnen aus nahezu allen lateinamerikanischen Ländern. Damit ist sie Europas größte Privatsammlung zeitgenössischer Kunst aus Lateinamerika. Alle Genren und Medien sind unter den künstlerischen Werken vorwiegend konzeptueller Ausrichtung vertreten, die größtenteils in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind.

Erklärtes Ziel der Schweizer Sammlung, die von dem Kuratoren Hans-Michael Herzog geleitet wird, ist die Vermittlung und Stärkung des Verständnisses zeitgenössischer lateinamerikanischer Kunst. Es geht ihm um deren Publikmachung in Europa, aber vor allem auch in Lateinamerika selbst. Daher beschlossen die InitiatorInnen ein Museum in Lateinamerika zu eröffnen, um die Sammlung dort auszustellen und der Anziehungskraft westlicher Kunstzentren auf lateinamerikanische KünstlerInnen etwas entgegenzusetzen. Das Gefühl, sich an den dort produzierten Werten messen zu müssen, führt dazu, dass sich die Kunstszenen der lateinamerikanischen Länder untereinander kaum kennen, wohingegen sie erstaunlich gut über das aktuelle Schaffen der nordamerikanischen oder europäischen Kunstszene informiert sind.
Mit dem Ansatz, Orte der Kunst zu beleuchten, die eher abseits des so genannten Mainstream liegen, setzt Casa Daros besonders auf die Zusammenarbeit mit der alternativen Kunstszene Lateinamerikas sowie mit Universitäten und Kunsthochschulen. Casa Daros will dazu beitragen, die lateinamerikanischen KünstlerInnen zusammenzubringen, damit sie sich stärker austauschen und Plattformen entwickeln, die ihnen ermöglichen, die Produktion und Positionen ihrer Nachbarn kennen- und wertschätzen zu lernen. Gerade Brasilien, das als einziges lateinamerikanisches Land kein Spanisch spricht, ist in gewisser Weise gegenüber den angrenzenden Staaten autark und vom interkontinentalen Kunst- und Künstleraustausch isoliert.

Von den brasilianischen KünstlerInnen wird das Projekt durchaus positiv aufgenommen. Sie sehen das Museum als Bereicherung und Gelegenheit, die Bedeutung Brasiliens im internationalen Kunstgeschehen zu stärken. So äußert sich beispielsweise der Künstler Antonio Dias begeistert: „Casa Daros ist sehr wichtig für Rio, weil es hier erstmals eine Anlaufstelle für Kunst aus lateinamerikanischen Ländern geben wird.“ Auch die Performance-Künstlerin Lais Mirrha bewertet die Idee positiv: „Vor allem, da es nicht nur eine Institution ist, die ihre Sammlung ausstellt, sondern weil Casa Daros Veranstaltungen organisiert wie Filmprojektionen, Vorträge und Symposien. Aktivitäten, die fundamental sind für die Bildung des Publikums.“ Laut Ariel Ferreira könne das neue Museum „die Entfernung zwischen Brasilien und Lateinamerika verkürzen, an der Zugehörigkeit zu welchem das Land immer zweifelte.“
Doch es werden auch Vorbehalte gegen das Projekt laut. Der Künstler Alexis Azevedo, der Projekte im öffentlichen Raum realisiert, kritisiert die Tatsache, dass sich eine ausländische Institution einen Ort schafft und damit einen gewissen Anspruch formuliert, lateinamerikanische Kunst zu repräsentieren. „Noch mehr Räume für Privatsammlungen? Ich sehe ein Problem in dem institutionellen Format sowie der Zentralisierung der Aktivitäten und Ausstellungsinhalte, die von einem Kurator ersonnen werden,“ so Azevedo.
Der gesamte Bau soll bis 2010 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Mit dem Umbau ist der brasilianische Architekt Paulo Mendes da Rocha beauftragt, der als radikaler Modernist und Vertreter der Avantgarde-Bewegung bekannt ist. Die Grundidee ist, die wichtigsten Elemente der alten Bausubstanz zu erhalten und gleichzeitig die Räume so zu transformieren, dass sie ihrer neuen Funktion als Ausstellungsfläche gerecht werden. Im Mittelpunkt wird die Präsentation brasilianischer Kunst stehen, welche durch wechselnde Ausstellungen aus ganz Lateinamerika ergänzt wird. Darüber hinaus beherbergt das Museum auch Medienräume, Künstlerstudios, eine Bibliothek und Räumlichkeiten für Tagungen, Vorträge und andere kunstspezifische Veranstaltungen.

Kasten
Tania Bruguera (Kuba)

In der von der Daros Sammlung erworbenen Video-Performance „Destierro” (Verbannung) verwandelt sich die Künstlerin in ein Wesen aus Schlamm, aus dem Hunderte von Nägeln herausragen. In dieser Angst einflößenden Erscheinung bricht sie aus dem Galerieraum aus und läuft durch die Innenstadt von Havanna. Bruguera verkörpert Nkisi, eine Gottheit afrikanischer Herrkunft, von der man sich erzählt, dass sie ihre Gläubiger aufsucht, um sich an ihnen für uneingelöste Versprechen, Lug und Trug zu rächen. Ist die Figur, die als Rachegöttin in der Innenstadt von Havanna nach Schuldigen sucht, ein Emblem auf uneingelöste Versprechen, so steht sie gleichzeitig für eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen und einer Gesellschaft, die das Erscheinen der Rachegöttin heraufbeschworen hat.
Tania Bruguera ist eine der bedeutendsten KünstlerInnen Kubas, die sich in ihren Performance-Auftritten auf radikale Art und Weise mit politischen Themen auseinandersetzt. Das Spannungsverhältnis von Ideologie und Macht sowie Schweigen und Selbstzensur als Strategien des Widerstands sind zentrale Themen ihres Oeuvres. In ihren Aufführungen arbeitet sie meistens mit dem eigenen Körper, den sie Extremsituationen aussetzt und benutzt organische Materialien wie Blut, Erde, tote oder lebendige Tiere. Sie integriert in ihrem Werk das Erbe der afroamerikanischen Mythen und Riten, jedoch mit einem deutlichen Bezug auf die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation Kubas.

Juan Manuel EchAvarría (Kolumbien)
Der Kolumbianer Juan Manuel Echavarría war dreißig Jahre lang Schriftsteller, bevor er sich dafür entschied die Bildende Kunst, namentlich die Fotografie und Videokunst, für seine gesellschaftspolitischen Anliegen zu nutzen. „Bocas de Ceniza” (Münder aus Asche) heißt das Mündungsdelta des Flusses Río Magdalena, von dem aus einst die spanischen Eroberer in das Land eindrangen. In der Geschichte Kolumbiens ist der Fluss seit jeher Symbol für Leben und Tod, aus dem bis zum heutigen Tage Tausende von Leichen des kolumbianischen Drogenkrieges geborgen werden. Das Video „Bocas de Ceniza” der Daros-Sammlung spiegelt die Auswirkungen der Gewalt wider, der das Land seit Jahrzehnten ausgeliefert ist. In verschiedenen Sequenzen erscheinen Einheimische auf dem Bildschirm, die in selbstkomponierten Liedern ihre Gewalterfahrungen schildern und verarbeiten. Sie sind Überlebende eines fünfzig Jahre andauernden Bürgerkrieges, der bereits Hunderttausende Todesopfer gefordert hat. Die Protagonisten singen a cappella auf erschütternde Art und Weise von ihren traumatischen Erlebnissen und übersetzen den Horror in eine Sprache der Poesie. Ihre Mienen, ihre Tränen, ihre Narben und der melancholische Ton ihrer Stimmen vermitteln das Grauen eindringlicher als jedes Bild.

Santiago Sierra (Spanien/Mexiko)
Der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra thematisiert in seinen provokanten Aktionen das Phänomen der Arbeit und der damit verbundenen Ausbeutungsmechanismen in der kapitalistischen Gesellschaft. Er arbeitet vor allem mit den Marginalisierten der Gesellschaft, mit Obdachlosen, Prostituierten, Arbeitslosen, Flüchtlingen, Drogenabhängigen und ImmigrantInnen. Den Wert des Menschen und seine Arbeitskraft als Ware thematisierend, bezahlt er ihnen einen Niedriglohn für die Verrichtung unsinniger und demütigender Handlungen, um damit auf die menschenverachtenden Mechanismen des kapitalistischen Gesellschaftssystems aufmerksam zu machen und aufzuzeigen, bis zu welchem extremen Grad die ökonomische Bedürftigkeit die Menschen dazu zwingt, Arbeiten zu verrichten, die ihre Würde und ihren Körper schädigen.
So ließ er in „250-cm-Linie auf 6 bezahlte Leute tätowiert”, gegen Bezahlung Arbeitslosen eine Linie auf den Rücken tätowieren. Die Tatsache, sich für eine minimale Entlohnung bereit zu erklären ein lebenslängliches Mal auf dem Körper zu tragen, spiegelt auf drastische Weise die Macht des Geldes wider. Ebenso ließ er Männer gegen Bezahlung masturbieren, mietete Personen an, um stundenlang Lasten durch Galerieräume zu schleppen oder Erdlöcher auszuheben. Er bezahlte Obdachlose dafür, unter Pappkartons auszuharren und in Ecken zu stehen. Seine aktuellen Arbeiten sind zusehends von einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem musealen Raum und dessen Störung auf unterschiedlichen Ebenen geprägt. In „300 Tonnen” belastete er die Statik des Museums Bregenz, in Österreich, durch die Anhäufung von Ziegelsteinen dermaßen, dass das Gebäude an die Grenze der Einsturzgefahr geriet. Die Daros Sammlung ist im Besitz der Dokumentation einer anderen Art von Störung: Sierra mietete einen Lastwagen an und beauftragte den Fahrer, diesen auf einer Hauptverkehrsstraße in Mexiko Stadt querzustellen. Die Aktion dauerte fünf Minuten, was ausreichte, die Zirkulation so zu stören, dass es zu einem Verkehrschaos kam.

Emanzipation oder Staatsdiskurs?

Wir haben mehr Geld in das Wohlergehen unserer eigenen Leute investiert, als wir den ausländischen Gläubigern gezahlt haben. Uns interessiert nicht so sehr, wie gut es den Reichen geht, sondern eher, wie viel besser es denen geht, die am wenigsten haben“, so Correa in seiner Regierungserklärung am 18. Januar. In der Tat überstiegen die Sozialausgaben erstmals die Summe, die Ecuador in den Schuldendienst investiert. Die Sozialhilfe für die Ärmsten und das Wohngeld wurden verdoppelt, der staatliche Mindestlohn heraufgesetzt, ein Mikrokreditprogramm zu bescheidenen fünf Prozent Zinsen aufgelegt, die Ausgaben für Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Infrastruktur erheblich gesteigert. Und die Maßnahmen zeigen erste Wirkungen: beispielsweise eine Verringerung der Wartezeiten in öffentlichen Krankenhäusern, da mehr ÄrztInnen zur Verfügung stehen.

Erster Blick: Rafael Correas erstes Amtsjahr war ein voller Erfolg.

Noch Ende Dezember wurde eine Steuerreform verabschiedet. Aus europäischer Perspektive wenig spektakulär, hat sie bei der ecuadorianischen Oberschicht für Entrüstung gesorgt. Denn Ziel der Reform ist eine gerechtere Verteilung des Reichtums: Gestaffelte Einkommenssteuer, satte Besteuerung von Luxusautos, Grundbesitz und Erbschaften ab einer bestimmten Höhe und Strafen für Steuerhinterziehung. Das Wirtschaftswachstum sei mit 3 Prozent im Vergleich zu den 4,9 Prozent im Vorjahr gering ausgefallen, bemängelt die Opposition. Der Wirtschaftswissenschaftler Correa kann derlei Kritik nicht aus der Fassung bringen. Das geringe Wachstum sei noch eine Nachwirkung der schlechten Planung der Vorgängerregierung, insbesondere in der Erdölbranche. Hier hat Correa im Oktober festgelegt, dass die zusätzlichen Gewinne aus dem hohen Weltmarktpreis für Rohöl künftig zu 99 Prozent dem Staat zufallen und nur zu einem Prozent den ölfördernden Unternehmen. Bis dahin hatte ein Verhältnis von 50 zu 50 Prozent gegolten. Die privaten Ölfirmen stehen vor der Alternative, diese neuen Regeln zu akzeptieren oder ihre Verträge in reine Dienstleistungsverträge umzuwandeln, in denen der Staat sie für die Ölförderung entlohnt, das Produkt aber selbst auf den Weltmarkt bringt. Die meisten in Ecuador arbeitenden Ölkonzerne scheint diese Option zu interessieren – sie sitzen bereits mit der Regierung am Verhandlungstisch.
2007 war in Ecuador ein Jahr der permanenten politischen Konfrontation. Banken, Unternehmerverbände, die im Besitz der Banken befindlichen Privatmedien und die im Parlament vertretene Parteienoligarchie versuchten mit allen Mitteln, die Reformen der Regierung Correa zu torpedieren. Abgeordnete der Verfassunggebenden Versammlung (VV) sollten gekauft werden, um gegen die neue Verfassung zu stimmen. Die VV hat das Parlament Anfang Dezember kurzerhand beurlaubt – womit die traditionellen Parteien ihre wichtigste Bühne verloren haben. Für eine Interimsperiode nimmt die VV selbst die legislative Funktion wahr. Mittlerweile sind die Privatmedien nicht mehr die alleinigen Meinungsmacher: Die Regierung hat einen öffentlichen Fernsehkanal, eine staatliche Tageszeitung und einen staatlichen Radiosender eingerichtet. Auch wenn deren Inhalte noch verbesserungswürdig sind, haben BürgerInnen jetzt zumindest die Möglichkeit, die Debatten um die neue Verfassung live zu verfolgen.

Viel Sprengstoff bieten die Themen Umweltschutz, Ausbeutung von
Bodenschätzen und indigene Rechte.

Außenpolitisch hat Ecuadors Regierung aktiv an der lateinamerikanischen Integration mitgewirkt. Die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), in der die Wirtschaftsräume Mercosur und Andenpakt zusammengeführt werden sollen und die ihren künftigen Sitz in Quito haben soll, ist noch für dieses Halbjahr geplant. Die dazugehörige Banco del Sur, eine südamerikanische Entwicklungsbank als Alternative zu multilateralen Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank, wurde Anfang Dezember 2007 in Buenos Aires aus der Taufe gehoben. Ferner ist Ecuador der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) wieder beigetreten und hat Handelsverträge mit China und dem Iran unterzeichnet.

Auf den ersten Blick war das erste Amtsjahr von Rafael Correa also ein voller Erfolg. Dennoch regt sich bei kritischen BeobachterInnen in Ecuador auch Besorgnis über die Richtung, die das von Correa angeführte politische Experiment einschlägt. Da ist zum einen die Akkumulation von Kompetenzen in der Verfassunggebenden Versammlung, die keinem Kontrollgremium unterliegt, und das zuweilen recht autoritäre Auftreten des Präsidenten. Fragwürdig ist auch die Rolle, die die Regierung den Militärs zugedacht hat. Ausgerechnet die Marine ist mit der Restrukturierung des staatlichen Ölkonzerns Petroecuador beauftragt. Und der Transport des Erdgases wurde ihr für nicht weniger als 22 Jahre zugesichert. Der Straßenbau wird zum Großteil vom Ingenieurskorps des
Heeres ausgeführt – auf sehr ineffiziente Weise, wie KritikerInnen bemängeln. Polizei und Militär wurden auch aus der Begrenzung öffentlicher Gehälter ausgenommen. Das sind Privilegien, die der Regierung die Loyalität dieser bewaffneten Korps sichern könnten – andererseits jedoch auch Rückschritte in der demokratischen Runderneuerung des Landes bedeuten.

Am meisten Sprengstoff besitzen die Themen Umwelt- und Ressourcenschutz, Ausbeutung
der Bodenschätze und indigene Rechte. Noch ist nicht entschieden, ob Ecuador sich vom „extraktiven Entwicklungsmodell“, das wie zu Kolonialzeiten zum großen Teil auf dem rücksichtlosen Abbau und Export von nichterneuerbaren Rohstoffen basiert, verabschieden wird. Die Alternative wäre, dass es nur mit neuen, „sozialistischen“ Vorzeichen versehen wird – um mehr Einkünfte für den Staat
zu generieren und damit Sozialprogramme zu
finanzieren.
Während Alberto Acosta, ehemaliger Energieminister und heute Präsident der VV, für ein nachhaltiges Entwicklungsmodell steht, spricht Rafael Correa eine andere Sprache. Beispielsweise fordern die Konföderation der amazonischen indigenen Nationalitäten CONFENIAE und diverse lokale Umweltbewegungen einen kompletten Stopp der Bergbauaktivitäten. Correa jedoch tritt für einen „umweltfreundlichen“ Abbau der Bodenschätze ein, der den Staat und die betroffenen Gemeinden erheblich an den Gewinnen beteiligt. Dafür soll das Bergbaugesetz, das bisher ausschließlich ausländische Unternehmen begünstigte, grundlegend reformiert werden. Bestehende Konzessionen wurden Ende Januar bereits zurückgezogen. Der Präsident verhandelt auch mit Brasilien über eine Handelsroute quer durch den Regenwald von Manaus (Brasilien) zur Küstenstadt Manta und will einen neuen Flughafen im Amazonasbecken bauen – große Infrastrukturprojekte, die den Erhalt der Biodiversität der Amazonasregion erheblich gefährden. Ein vielbeachteter Vorschlag Ecuadors zur Rettung des ecuadorianischen Amazonasurwalds wurde jüngst wieder in Frage gestellt. Vermutete Rohölvorkommen im Herzstück des ecuadorianischen Teils des Urwalds sollten demnach unangetastet bleiben, wenn Gläubiger dem Land im Gegenzug Schulden in Höhe von 50 Prozent der erwarteten Gewinne erlassen. Im Herbst unterzeichnete die Regierung eine Umweltkonzession für einen Teil der Pufferzone um das fragliche Gebiet, die dem brasilianischen
Konzern Petrobras dort grünes Licht für Bohrungen gibt.
Auch außenpolitisch legen die neuen progressiven Regierungen Südamerikas einen ökonomischen Pragmatismus an den Tag, der den von ihnen verkündeten humanistischen Prinzipien entgegensteht. So ist der Präsident des iranischen Mullah-Regimes, Ahmadinejad, in Venezuela oder Ecuador ein gern gesehener Staatsgast, und Rafael Correa lobt die chinesische Ökonomie in den höchsten Tönen, ungeachtet der miserablen
Arbeitsbedingungen und anderer Menschenrechtsverletzungen. Manta, der größte Hafen Ecuadors soll zur Handelspforte Chinas nach Südamerika ausgebaut werden. Der Ökonom Correa legt hier eine klare Priorität auf die Wirtschaftspolitik. Entsprechend tituliert er sein Projekt, genauso wie Hugo Chávez in Venezuela und der bolivianische Vizepräsident Alvaro García Linera, als „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ . Dieses Etikett stößt in Ecuador nicht überall auf Gegenliebe. Kritische Stimmen, wie der Journalist Pablo Davalos konstatieren, dass Regierungen, vor allem die venezolanische, sich den Begriff zu Nutzen machten, um geopolitische Legitimation zu erlangen. Die Debatte stünde nicht auf der Agenda vieler sozialen Bewegungen, die sich immer in einer libertären, dem Sozialismus kritisch und emanzipatorisch gegenüberstehenden Tradition gesehen hätten und dadurch eine organisatorische Schwächung erführen. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts sei in Wirklichkeit ein Staatsdiskurs, der auf die Akzeptanz einer Regierungsstrategie der Einheitspartei als Staatspartei zugeschnitten sei.

KritikerInnen sehen die Debatte um den
„Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ als reinen Staatsdiskurs an.

Das Konzept vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wird in der ecuadorianischen Öffentlichkeit wenig debattiert, obwohl Correa es seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr oft öffentlich verwendet. Ausgerechnet seinen Staatsbesuch in China nahm der Präsident zum Anlass, dieses vor den Gastgebern genauer auszuführen. Auf welchen theoretischen Grundlagen basiert dieses Konzept, das Hugo Chávez erstmals auf dem Weltsozialforum 2005 propagierte und damit den venezolanischen Prozess, der bis dahin eher unter basisdemokratischen Vorzeichen stand, in eine ganz neue Richtung lenkte?
Das von dem deutschen Soziologen Heinz Dieterich entwickelte Theoriemodell ist wie seine klassischen Vorgänger aufs Ökonomische zentriert.
Es schlägt eine nichtmarktwirtschaftliche Äquivalenzökonomie vor, ein Demokratiemodell, das Plebiszite und Basisdemokratie in den Vordergrund stellt, einen „angemessenen“ Minderheitenschutz und die Partizipation eines „rational-ethisch-ästhetisch selbstbestimmten Staatsbürgers“. Lateinamerikanische AltmarxistInnen haben das Modell als zeitgemäße Version des Marxismus begeistert rezipiert. Doch bleiben sie, genau wie die Staatschefs von Bolivien, Venezuela und Ecuador, die Antwort auf die Frage schuldig, inwieweit dieser neue Sozialismus sich vom in Kuba praktizierten Modell des historischen Staatssozialismus oder dem chinesichen Parteikapitalismus unterscheiden soll.

Die historischen Leitfiguren des Sozialismus des 21. Jahrhunderts sind vielfältig. Hauptsächlich sind es Figuren aus den antikolonialen und Unabhängigkeitskämpfen Lateinamerikas, wie Túpac Amaru oder Simón Bolívar, aber auch frühe Liberale wie Eloy Alfaro aus Ecuador. Gesellschaftstheoretische und machttheoretische Erkenntnisse aus jüngerer Zeit, wie Diskriminierung, ausgrenzende Strukturen und Traditionen überwunden werden können, die in der Kultur und den Institutionen verwurzelt sind, finden in Dieterichs Theorie keine Resonanz. Es ist jedoch gerade die systematische und historische Ausklammerung von Indigenen, Schwarzen und Frauen aus staatsbürgerlicher Praxis, politischer Repräsentation und vollwertiger Partizipation, die es so leicht gemacht hat, die lateinamerikanischen Formaldemokratien der letzten Jahrzehnte auf neoliberalen Kurs zu bringen.

RÄTSELRATEN UM FIDEL CASTRO

Wofür die Parlamentswahlen in Kuba nicht sorgen, dafür sorgt Fidel Castro: für Spannung. Wenn der máximo líder sich zu Wort meldet, ist die ganze Nation Ohr. Ob er wie Ende Dezember in einer seiner „Reflexionen“ im Parteiblatt Granma verkündet, er wolle der jüngeren Generation keinesfalls im Wege stehen oder kurz vor der Parlamentswahl vom 20. Januar physische Schwächen zugesteht: „Ich bin nicht in der Lage, direkt zu den Nachbarn in der Gemeinde zu sprechen, wo man mich zu den Wahlen aufgestellt hat. … Also tue ich das, was ich kann: Ich schreibe.“ Und das genau einen Tag nachdem Brasiliens Präsident Lula nach einem Gespräch mit ihm offenbarte, der 81-Jährige sei bei tadelloser Gesundheit und werde schon bald seine angestammte Rolle wieder einnehmen. Wer soll daraus schlau werden?

Fidel Castros politische Zukunft klärt sich bis spätestens Anfang März, wenn sich in Havanna die neue Nationalversammlung konstituiert und als eine ihrer ersten Amtshandlungen den Staatsratsvorsitzenden bestimmt. Die Lage ist übersichtlich: Tritt Fidel an, wird er gewählt, verzichtet er, ist sein Bruder Raúl am Zuge, der ihn schon in den letzten 18 Monaten in allen Ämtern vertrat und sich dabei keine Blöße gegeben hat. Auf einen der Castros läuft die Entscheidung auf jeden Fall hinaus. So weit, so gut.

So gut? Positiv für Kuba, für die KubanerInnen ist es sicherlich, dass die früher oder später ohnehin unvermeidliche „biologische Lösung“ der Führungsfrage nicht mit dem Zusammenbruch des historischen Lebenswerks von Fidel Castro einhergehen wird. Man muss kein 150-prozentiger Fidelist sein, um anzuerkennen, dass ein Rollback, wie es der tonangebenden Elite der EmigrantInnengemeinde in Miami vorschwebt, für die Insel verhängnisvoll wäre. Veränderungen sind in fast allen Lebensbereichen nötig, in vielen Fällen sind sie überfällig, aber dafür ist ein Minimum an Stabilität unerlässlich. Insofern ist die Aussicht auf eine gewisse Kontinuität an der Spitze des kubanischen Staates tatsächlich eine gute Nachricht.

Gar nichts Gutes ist hingegen an den Umständen, die diese Präsidentenwahlen begleiten. Beängstigend ist die Ergebenheit, mit der die KubanerInnen zusehen, wie das Bruderpaar die Entscheidung, die doch jede/n von ihnen betrifft, unter sich ausmacht. Zwar debattieren natürlich auch die KubanerInnen, ob Fidel, Raúl oder ganz jemand anders in den nächsten Jahren den Hut aufhaben sollte. Auch haben die KubanerInnen angespornt durch Raúls trockenen Kommentar von vor einem Jahr, die Revolution sei der ständigen Rechtfertigungen überdrüssig, in den vergangenen Monaten in Tausenden von Versammlungen Missstände benannt und Abhilfe verlangt, und das öffentlich wie seit langer, langer Zeit nicht mehr. Doch ihre Forderungen blieben letztlich Petitionen an die Obrigkeit, nicht mehr.

Sollen die Errungenschaften der kubanischen Revolution – was immer man unter ihnen verstehen mag – bewahrt werden, sollen sie nicht nur Fidel und Raúl überdauern, sondern auch noch Vizepräsident Carlos Lage und Parlamentspräsident Ricardo Alarcón und wie sie alle heißen, dann braucht es Räume, in denen offen und auch öffentlich über alternative Modelle innerhalb und auch außerhalb der bestehenden Ordnung gesprochen und entschieden werden kann. Im Idealfall könnte Kubas neue Nationalversammlung das nötige Forum bieten. Die Geheimniskrämerei um Fidel Castro, sein Comeback oder seine Pensionierung lässt jedoch vermuten, dass die kubanische Führungsriege der Versuchung nachgeben könnte, sich um diese Aufgabe noch eine Weile herumzumogeln.

Wandel mit angezogener Handbremse

„Mit Raúl wird es mehr Pragmatismus und eine wirtschaftliche Öffnung geben, von der auch wir Kubaner profitieren werden“, prognostizierte Oscar Almiñaque, ein kubanischer Ökonom, im Juli 2006. Überzeugt war der Hochschullehrer, der sein Auskommen längst mit der privaten Zimmervermietung bestreitet, damals, dass es unter Fidels Bruder weniger Kontrollen und mehr Service von staatlicher Seite geben würde. 18 Monate später hat sich an den grundsätzlichen Strukturen in Kuba wenig geändert. „Hier ist vieles hochbürokratisch, ineffizient und teuer. Ich zahle Preise wie in Hamburg, erhalte aber den Service von Burkina Faso“, schimpft Juan de Marcos González. Der Musiker, der vor zehn Jahren den Buena Vista Social Club gemeinsam mit Ry Cooder aus der Taufe hob, schüttelt verärgert die langen, graumelierten Rastalocken. Vor drei Jahren hat er mit DM Ahora das erste unabhängige Plattenlabel in Kuba gegründet, doch aufgrund der vielen Hürden auf der Insel arbeitet er mehr im Ausland als in Havanna. Ein Grund für die Schwierigkeiten ist die Tatsache, dass kubanische UnternehmerInnen in Kuba schlicht nicht vorgesehen sind, der andere ist die himmelschreiende Ineffizienz auf der Insel.
Der hat der jüngere der Castro-Brüder den Kampf angesagt – ganz offiziell und seitdem ist die Vokabel Effizienz wieder in den kubanischen Sprachschatz aufgenommen worden. Mehr Leistung wird eingefordert und bei Androhung von Strafe – auch eingeklagt. Ein Novum in Kuba, wo das Fernbleiben von der Arbeit in den letzten 15 Jahren zum Volkssport wurde. Schließlich hat doch jeder Kubaner und jede Kubanerin etwas anderes zu tun, denn angesichts der lumpigen Gehälter muss man sich schließlich um andere Einnahmequellen kümmern. Das ist noch immer so, wie Omar Everleny Pérez unumwunden zugibt. „Eine durchschnittliche vierköpfige Familie braucht etwa 1.600 Peso (ca. 50 Euro) im Monat, um über die Runden zu kommen. Doch kaum ein Haushalt kommt bei einem Durchschnittslohn von 400 Peso auf diese Summe“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Havanna. Ein wesentlicher Grund, weshalb viele KubanerInnen nebenbei auf eigene Rechnung arbeiten, wodurch die Ineffizienz in vielen Betrieben längst systemimmanent ist. Das weiß auch Raúl Castro, doch anders als sein Bruder will er an diesen Strukturen etwas ändern. Seit Januar 2007 gibt es ein Gesetz, das bei wiederholter Abwesenheit vom Arbeitsplatz mit Entlassung droht – ein Novum in der kubanischen Geschichte. Auch den FunktionärInnen weht mittlerweile ein kräftiger Wind entgegen. So kritisierte die Zeitung der kommunistischen Jugend Juventud Rebelde im November die „erdrückende Einmütigkeit“ und die „Ignoranz und Lauheit“ der FunktionärInnen. Ungewöhnlich deutliche Töne, denen das Gesetz 246 folgte. Harsche Strafen für FunktionärInnen, die ihre Aufgaben nicht erfüllen, sieht es vor und ist ein deutliches Signal an die Kader. Dass es von ganz oben kommt, daran herrscht in Kuba kein Zweifel, denn anders als der große Bruder steht Raúl Castro für effiziente Strukturen und für Pragmatismus. Sein zentraler Machtbereich, die Armee, gilt als Kubas Paradeinstitution. Dort wurden bereits Ende der 1980er Jahre marktwirtschaftliche Managementmethoden eingeführt und die revolutionären Streitkräfte finanzieren sich durch ein Geflecht von Unternehmen, darunter auch die Tourismusholding Gaviota, selbst. Aufmerksam hat der im Gegensatz zu seinem charismatischen Bruder eher blasse 76-jährige darauf geachtet, dass die Versorgung der SoldatInnen stimmt. Das hat ihm ein hohes Maß an Loyalität innerhalb der Institution beschert und diesen Ansatz verfolgt Raúl Castro auch als Interimsstaatschef. „Bohnen statt Kanonen“ ist ein Slogan, den der glänzende Organisator schon in den 1990er Jahren inmitten der tief greifenden Wirtschaftskrise des Landes prägte und unter seiner Regie soll sich die Revolution endlich auch an den Esstischen der KubanerInnen beweisen.
Dazu sind strukturelle Reformen in der Landwirtschaft nötig, die Raúl Castro erstmals im Dezember 2006 ankündigte. Doch auch über ein Jahr später warten die KubanerInnen noch auf den großen Wurf. Das bisherige Ausbleiben ist ein Indiz für Auseinandersetzungen hinter den Kulissen, denn längst wird in den Forschungsinstituten Kubas offen über die Landfrage debattiert. „Die Ackerfläche dem, der sie bebaut“, heißt die Devise hinter vorgehaltener Hand. Mit Raúl ist die anvisierte Agrarreform, von der vor allem Kleinbauern- und bäuerinnen profitieren sollen, vorstellbar. Mit Fidel hingegen kaum, argumentieren kubanische AgrarexpertInnen, die lieber anonym bleiben wollen. Allem Anschein zufolge hält der kranke Comandante seine Hand über die heiligen Kühe der Revolution. Eine kostspielige Eitelkeit, denn allein im letzten Jahr musste Kuba für mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar Lebensmittel aus den USA und anderen Ländern ordern. Mehr als 240 Millionen US-Dollar als ursprünglich kalkuliert. Das sorgt genauso wie die Erwartungshaltung der Bevölkerung für beachtlichen Reformdruck, die Raúl persönlich noch anheizt. Mehrfach hat er für strukturelle Reformen geworben, auf die niedrigen Löhne verwiesen und an die KubanerInnen appelliert, zu kritisieren, was ihnen an ihrer Revolution nicht gefällt. Dabei geht der Staatschef mit gutem Beispiel voran und verweist selbst auf interne Defizite wie den katastrophalen öffentlichen Nahverkehr. Mittlerweile haben die staatlich kontrollierten Medien nachgezogen und sprechen vermehrt hausgemachte Defizite an. Neue Töne in Kuba, die auch dem Comandante auf seinem Krankenbett nicht verborgen bleiben dürften. Ohnehin ist der politische Diskurs unter der Ägide des zumeist in beigefarbener Uniform auftretenden Raúl Castro wesentlich weniger ideologisch gefärbt. Auch die aufwändigen Propaganda-Kampagnen, die den Alltag der KubanerInnen bis zum Tag der Notoperation im Juli 2006 prägten, sind ersatzlos gestrichen worden. Signale aus dem Büro des Armeechefs, der – anders als sein Bruder – kein Problem damit hat, die Bühne mit anderen zu teilen. Regelmäßig übernehmen Mitglieder des Führungskollektivs wie Vizepräsident Carlos Lage oder Außenminister Felipe Pérez Roque wichtige nationale und internationale Termine an Stelle des Interimsstaatschefs. Der zieht hinter den Kulissen die Fäden und unter seiner Regie hat sich Kuba so weit verändert, dass kaum ein Kubaner noch an die Rückkehr des máximo líder Fidel Castro in die Machtzentrale glaubt, so Omar Everleny Pérez. Selbst die anstehenden Parlamentswahlen werden daran nichts ändern, obwohl der Comandante dort noch einmal auf den Wahllisten steht. „Fidel Castro will oder kann seine unzähligen Ämter nicht mehr antreten. Er hat öffentlich verkündet, dass er den Weg für Jüngere freimacht“, so Everleny. Für die Insel geht damit eine Ära zu Ende, auch wenn der Comandante als elder statesman der Revolution erhalten bleibt. Die wird sich jedoch wandeln müssen, wie die aktuelle Parole zeigt, die in Havanna plakatiert ist. „Revolution bedeutet all das zu ändern, was geändert werden muss“. Ein Zitat vom Comandante, das den Weg für echte Reformen weist. Auf die warten viele KubanerInnen wie Oscar Almiñaque und Juan de Marcos González; andere haben längst die Geduld verloren und kehren der Insel den Rücken wie die steigenden Auswanderungszahlen belegen.

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