„Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe”

Deutschland engagiert sich vor allem im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien. Nach den USA und Japan ist die BRD der drittgrößte Geldgeber für Hilfsprojekte. Was war der Grund Ihres Berlin-Besuchs, Herr Außenminister?

Natürlich geht es mir auch darum, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu vertiefen. Doch der eigentliche Grund meiner Reise ist ein anderer: Bolivien durchläuft gerade eine historische Phase. Wir sind dabei, uns eine neue Verfassung zu geben, eine komplizierte und risikoreiche Geburt. In meinen Gesprächen mit Regierungsmitgliedern, Vertretern von Parteien, Gewerkschaften und Medien in Deutschland und anderen europäischen Ländern möchte ich von diesem Prozess berichten und um Verständnis für den politischen und ökonomischen Wandel werben, der gerade in Bolivien stattfindet.

Was charakterisiert diesen Wandel?

In Bolivien gab es in den vergangenen fünfhundert Jahren eine systematische Plünderung der natürlichen Ressourcen. Die Mehrzahl der Bevölkerung hat von dem Reichtum des Landes nie profitiert. Die aktuelle Regierung hat entschieden, diese Situation nicht mehr länger hinzunehmen. Unser Präsident Evo Morales ist fest entschlossen, die Interessen der Mehrheit der Bolivianer zu verteidigen. Doch um wirklich etwas zu verändern, genügt es nicht, ein paar Gesetze zu erlassen. Und deshalb haben wir eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen. Die Bolivianer gaben ihr 2006 durch Wahlen den Auftrag, eine neue Konstitution auszuarbeiten.

Ein Teil der in der neuen Verfassung verankerten Reformen zielt auf eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierungen ab. Bereits am 1. Mai 2006 hatte Morales die Verstaatlichung der Treibstoffindustrie angeordnet – jetzt sollen weitere Schlüsselindustrien wie der Bergbau folgen.

Die »Nationalisierung« – wie wir sie nennen – der Treibstoffreserven, war ein Auftrag, den die Bewegung zum Sozialismus MAS mit ihrer Wahl 2005 vom Volke erhalten hat. Evo Morales hat mit der Nationalisierung also ein Wahlversprechen erfüllt. Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe. Die Investitionen, die bisher in Bolivien getätigt wurden, haben dafür gesorgt, dass der Reichtum aus dem Land abfloss statt der Bevölkerung zugute zu kommen. Wir wollen keine Investitionen mehr, die uns arm machen. Wir wollen Investitionen, die uns helfen, die Armut zu überwinden. Am Anfang hat das zu Spannungen geführt. Doch inzwischen haben alle multinationalen Unternehmen neue Verträge ausgehandelt und sind im Land geblieben.

Was bedeuten die neuen Regelungen für die Unternehmen, die in Bolivien tätig sind?

Für die Unternehmen sind die neuen Regelugen mit höheren Abgaben verbunden. Aber die Nationalisierung ist nicht gegen die Unternehmen gerichtet, sie erlaubt ihnen sogar weiter, Gewinne zu machen. Zudem wird ihnen Rechtssicherheit gewährt. Das ist neu. Unter den vorherigen Regierungen waren die Förderverträge geheim. Sie wurden nicht – wir es die Verfassung vorschreibt – vom Parlament bestätigt. Das haben wir geändert. Die neuen Verträge sind transparent, und der bolivianische Kongress hat ihnen zugestimmt.

Zu den größten Investoren in Bolivien gehört Petrobras, der staatliche Ölkonzern Brasiliens. Haben die Verstaatlichungen zu Spannungen mit dem Nachbarland geführt?

Zuerst war Petrobras wie andere Unternehmen mit den neuen Bedingungen nicht einverstanden. Inzwischen hat sich geändert. Beim letzten Gipfel zwischen beiden Ländern im Dezember, dem Besuch des brasilianischen Präsenten Inácio »Lula« da Silva in der bolivianischen Hauptstadt La Paz, war auch der Präsident von Petrobras dabei. Er hat seine Meinung gewandelt und kündigte bedeutende Neuinvestitionen an: Zwischen 750 Millionen und einer Milliarde US-Dollar will der Konzern ausgeben, um die Gasförderung in Bolivien zu steigern. Mit diesen Investitionen – auch das haben wir vereinbart – muss zuallererst die Versorgung unseres Binnenmarkts garantiert werden. Immer noch sind viele Bolivianer nicht ans Gasnetz angeschlossen. Dann müssen wir die bestehenden Lieferverträge mit Argentinien und Brasilien erfüllen. Und als weiteres Ziel wollen wir in die Etappe der industriellen Weiterverarbeitung dieser Rohstoffe eintreten. Wir werden in Bolivien eine petrochemische Industrie errichten.
Die Industrialisierung wäre auch ein Weg, aus der Abhängigkeit von ausländischen Hilfszahlungen und den schwankenden Rohstoffpreisen herauszukommen. Aber die meisten Projekte, wie die Erschließung neuer Gasfelder und die Weiterverarbeitung der Rohstoffe, befinden sich immer noch im Planungsstadium.
Es gibt viele Firmen aus aller Welt, die gespannt auf Bolivien schauen: Wir sind eines der rohstoffreichsten Länder. Und wir benötigen Investitionen und Technologie, um uns zu entwickeln. Doch zuerst brauchen wir neue Spielregeln – wie sie in der neuen Verfassung festgeschrieben sind. Die alten Verträge waren nicht darauf angelegt, dass wir die Rohstoffe im Land selbst verarbeiten können, sondern es ging nur darum, sie möglichst schnell und billig auszuführen. Wir brauchen Garantien, die verhindern, dass es wieder zu Korruption kommt wie in den vergangenen Jahren: Wir brauchen Investitionen mit Transparenz. In den kommenden fünf Jahren wird zum Beispiel der indische Konzern Jindal Steel umgerechnet 1,5 Milliarden Euro in die Ausbeutung des Eisenerzlagers El Mutún an der bolivianisch-brasilianischen Grenze stecken. Doch das Erz wird dort nicht nur abgebaut, Jindal Steel wird über eine Tochterfirma auch selbst Stahl in Bolivien herstellen. So werden insgesamt 30.000 neue Jobs entstehen.

Auch außenpolitisch hat die Regierung Morales einen neuen Kurs eingeschlagen. Bisher suchten bolivianische Präsidenten oft die Nähe der USA. Jetzt sucht Bolivien seine Bündnispartner vor allem in Lateinamerika und in Europa.
Wir hatten keine normalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den USA. Wir standen in einer Beziehung der Abhängigkeit zu ihnen. Doch jetzt wollen wir ein gleichberechtigtes Verhältnis wie es sich für souveräne Staaten gehört. Die USA haben nach anfänglichen Spannungen verstanden, dass sich die bolivianische Außenpolitik verändert hat. Wir sind zwar weiter an guten Beziehungen interessiert, doch sie müssen jetzt unter anderen Vorzeichen gestaltet werden.

An welchen Bündnissen ist Bolivien zur Zeit beteiligt?

Bolivien ist Mitglied mehrerer Bündnisse: der Andengemeinschaft CAN, der Union Südamerikanischer Staaten UNASUR, außerdem wollen wir dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) beitreten. Doch eines der wichtigsten und fortschrittlichsten Bündnisse ist für uns die Bolivarianische Alternative die Amerikas ALBA. Zusammen mit Venezuela, Kuba und Nicaragua wollen wir nicht nur Wirtschaftsprojekte verwirklichen, sondern uns auch politisch integrieren. Es gibt ideologische Übereinstimmungen. ALBA fördert ein harmonisches Leben unter den Menschen und zwischen den verschiedenen Gemeinschaften mit besonderer Rücksicht auf die Umwelt.

Derzeit verhandelt Bolivien über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Andengemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft. Was erwartet Bolivien von einem Vertrag mit der Europäischen Union?

Es kommt uns in den Verhandlungen mit der EU darauf an, daß der Assoziierungsvertrag die bestehenden Asymmetrien zwischen den Ländern anerkennt und ihnen Rechnung trägt – damit wir sie überwinden. Die deutsche Regierung könnte uns helfen, indem sie uns in diesem Anliegen unterstützt. Wir haben durchgesetzt, dass die Länder der Andengemeinschaft in den Verhandlungen nicht als ein einheitlicher Block behandelt werden, sondern dass ihre Besonderheiten gesehen werden. Eine spezielle Arbeitsgruppe beschäftigt sich nun mit diesen Asymmetrien. Denn wir haben weder die gleiche Wirtschaftsleistung und Entwicklungsgeschichte noch verfolgen wir alle das gleiche ökonomische Modell.

Mit dem Nachbarn Chile bestehen seit 1978 keine offiziellen diplomatischen Beziehungen. Bolivien beansprucht den im Salpeterkrieg verlorenen Zugang zum Meer. In der neuen Verfassung gibt es einen entsprechend Passus, der diesen Anspruch erneut bekräftigt. Wird es bald einen bolivianischen Pazifikhafen geben?

Es gab in den vergangenen zwei Jahren eine Reihe von Besuchen. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet war zuletzt Mitte Dezember in La Paz. Durch diese Treffen haben sich unsere beiden Länder angenähert. Bei Bachelets Besuch gab es eine Agenda mit 13 Punkten, die kein Thema ausschloss, auch nicht den Meerzugang. Beide Regierungen haben ihr Interesse bekundet, eine friedliche Lösung des historischen Anspruchs Boliviens zu erreichen. Für Bolivien ist der Meerzugang eine Frage der nationalen Souveränität. Wir sind zum ersten Mal in der Geschichte wieder soweit, dass wir direkt, bilateral verhandeln. Aber es gibt noch viel zu tun. Derzeit arbeiten wir daran, das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Wir fördern den Austausch und die Begegnung zwischen Repräsentanten beider Streitkräfte, zwischen Abgeordneten, Journalisten, Künstlern und Studenten. Zudem intensivieren wir die Wirtschaftsbeziehungen und reden über die Wiedereröffnung einer Eisenbahnlinie sowie einen Korridor für Waren, der von Brasilien über Bolivien nach Chile führen soll.

Zuckervorhang leicht geöffnet

Mit einem hellen Häubchen auf dem langen, dunkelblonden Haar und einem auffällig kurzen weißen Kittel eilt Mercedes auf klackernden Absätzen zwischen Krankenbett und Schwesternzimmer hin und her. Mit Wimperngeklimper umgarnt sie Frank, einen Expolizisten, der wie ein Hahn durchs Krankenzimmer stolziert und mittels Kreuzverhör unter den BesucherInnen aufdeckt, warum der junge Federico, mit getuschten Wimpern und ins Koma geprügelt, in der Klinik liegt.
Arturo Sottos Komödie La noche de los inocentes („Nacht der unschuldigen Kinder“, Kuba 2007) war einer der Publikumsmagnete auf dem 29. Havanna-Filmfestival im Dezember. Einen klassischen roten Teppich sucht man auf dem Festival vergeblich. Promis sind zwar bei den Vorführungen zugegen, Raum für Gespräche oder öffentliche Diskussionen mit RegisseurInnen und SchauspielerInnen gibt es allerdings nicht.
Das Havanna-Filmfestival ist sicher eines des bedeutendsten Kulturereignisse Kubas. Seit 28 Jahren stellt es den neuen lateinamerikanischen Film in den Vordergrund und setzt ihn damit dem internationalen Mainstream entgegen. Mit diesem Konzept hat Kuba weltweit Aufmerksamkeit erregt. Internationale Gäste ohne Spanischkenntnisse haben es jedoch schwer. Lediglich die Wettbewerbsfilme, die in diesem Jahr sehenswert, aber kaum herausragend waren, wurden simultan ins Englische gedolmetscht – und das auch nur in einem einzigen der über 20 auf Havanna und Umgebung verteilten Festival-Kinos. Klassische Kopfhörer waren nicht im Angebot, vielmehr hängte man sich ein Plastikgehäuse an ein Ohr, über das man dann eine mehr oder weniger gute Übersetzung zu hören bekam. Etwas Besseres gab es nicht, auch nicht für die international besetzte Jury. Wie allerdings ein türkischer Filmkritiker und Dokumentarfilmer, der kein Wort Spanisch spricht, so die 20 Spielfilme im Wettbewerb angemessen beurteilen sollte, blieb offen.
Es verwunderte also nicht, dass Necati Sönmez, Juror aus Istanbul, zunächst entgangen war, dass Carlos Reygadas mit Stellet Licht („Stilles Licht“ Mex 2007), einer plattdeutschen Liebesgeschichte im Norden Mexikos, ein außergewöhnlich authentisches und ergreifendes Bild mennonitischer Gemeinden in Lateinamerika zeichnet.
Die Jury lobte den kühnen und innovativen Charakter des Films: „Er erreicht die Meisterhaftigkeit eines Klassikers“. Das mexikanische Kunstwerk gewann die erste Koralle – das kubanische Pendant zum Goldenen Bären der Berlinale.
Der Film ist jedoch offensichtlich nichts für ein Massenpublikum: Während La noche de los inocentes tosenden Applaus erntete, sahen sich zahlreiche Kinogäste den inneren moralischen Kampf des verheirateten Mennoniten Johan, hin- und her-gerissen zwischen Gott und einer anderen Frau, gar nicht erst bis zum Ende an. Nach fünf Festivaltagen fehlte vielen offenbar die Geduld, sich auf den sehr langsamen und wortarmen, gleichzeitig aber äußerst bildstarken Film mit seinen LaienschauspielerInnen einzulassen. Stellet Licht, der bereits in Cannes den Jurypreis bekam, holte in Havanna völlig zu Recht ebenfalls die Korallen für die beste Fotografie und den besten Sound.
Neben Mexiko waren es in diesem Jahr vor allem Argentinien und Brasilien, die mit zahlreichen Beiträgen auf dem Festival vertreten waren. Unter den 500 Filmtiteln, die unter anderem in den Sektionen Experimentalfilm, internationales Panorama mit preisgekrönten Werken und Reihe Deutsches Kino liefen, wurden vermehrt lateinamerikanische Werke gezeigt, die sich mit den Siebzigerjahren auseinandersetzen. In Matar a todos („Alle umbringen!“, Chile/Arg/Uru/D 2007) geht der Uruguayer Esteban Schroeder beispielsweise den Machenschaften des chilenischen Biochemikers Eugenio Berríos Sagredo nach, der für Pinochets Geheimpolizei DINA arbeitete. Im so genannten Projekt „Andrea“, wurden während der Diktatur Tausende Menschen mit dem Nervenkampfstoff Sarin, medizinisch kaum nachweisbar, getötet. Für ihre exzellent gespielte Rolle als engagiert recherchierende Anwältin erhielt die Uruguayerin Roxana Blanco die Koralle für die beste Hauptdarstellerin in diesem Politstück.
Aber auch Kritik an Realitäten sozialistischer Gesellschaftsentwürfe war möglich. So wurde etwa der Stasi-Film Das Leben der Anderen (D/F 2006) gezeigt, der viele KinobesucherInnen deutlich berührte. In ihrem Dokumentarfilm El telón de azúcar („Hinter dem Zuckervorhang“, F/Sp/Kuba 2005) erzählt Camila Guzmán Urzúa von den kubanischen Träumen von einer gerechteren Welt und der gescheiterten Illusion eines sozialistischen Paradieses. Die gebürtige Chilenin, die selbst auf der Insel aufwuchs und sie 1990 verließ, geht dabei den Spuren ihrer eigenen Jugend nach. Mit dem eindrucksvollen Porträt ihrer Generation holte sie die Koralle für den besten Dokumentarfilm.
Eingerahmt wurde das Filmfestival jedoch nicht von lateinamerikanischen Themen, sondern von großer Weltpolitik. Den Anfang bildete das in Venedig preisgekrönte Doku-Drama Redacted („Editiert“, USA 2007) über die unsäglichen Exzesse von US-Soldaten im Irakkrieg. Die Bush-Regierung machte ihrem Ruf in Kuba dabei alle Ehre: Regisseur Brian De Palma konnte bei der Aufführung nicht anwesend sein, da ihm von den US-Behörden die Ausreisegenehmigung auf die Insel verweigert worden war.
Mit dem Dokumentarfilm Earth („Unsere Erde – Der Film“, GB/D 2007) wurde zum Abschluss ein Beitrag zur Klimadebatte gezeigt. Zuvor lenkte Alfredo Guevara, der langjährige Festivalpräsident, in seiner Abschlussrede die Aufmerksamkeit auf die revolutionäre Tradition und den Zusammenhang zwischen Kunst und politischer Intervention: „Ein Revolutionär zu sein, heißt, Dichter zu sein – und auch jeder Künstler ist revolutionär, selbst wenn es ihm nicht bewusst ist. Wer sich daran macht, die Wirklichkeit zu revolutionieren, und dies erreicht, ist ein Poet. Er fängt Augenblicke des Seins ein und lässt sie in die Ewigkeit eingehen.“
Größen wie der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez, der das Filmfestival 1979 mitgründete, und der argentinische Rockmusiker Fito Páez stiegen im Hotel Nacional ab, dem Luxusbau der Jahrhundertwende, wo sich nicht nur die Welt des kubanischen Films im Dezember versammelt. Auch Enrique Pineda Barnet, ein nahezu vergessener Star des kubanischen Kinos, war dort anzutreffen. Der Revolutionär und Koautor vom Drehbuch des Welterfolgs Soy Cuba („Ich bin Kuba“, Kuba/UdSSR 1964) wurde in diesem Jahr erstmals als Jurymitglied eingeladen. Fragen warf dabei jedoch die Tatsache auf, dass das Making-of seines noch ungeschnittenen, für dieses Jahr angekündigten Spielfilms Te espero en la eternidad („Ich erwarte dich in der Ewigkeit“) im Filmkatalog nicht erwähnt war. Letztlich wurden die Ausschnitte der Dreharbeiten über eine durch Emigration zerrissene kubanische Familie erst nach dem eigentlichen Festival, am Publikumstag nach der Preisverleihung, vorgeführt.
Ob dies eine politische Entscheidung war, blieb offen, denn auch sonst war der Ablauf häufig improvisiert. Das lag vor allem an der geringen Größe des Vorbereitungsstabes dieses internationalen Großereignisses. Zwar wurden die Karten an den Eingängen zügig kontrolliert und begannen die Filme pünktlich, eine Darstellung des genauen Programmablaufs war jedoch immer nur für denselben und den Folgetag erhältlich.
Die geladenen Gäste wurden bevorzugt behandelt: Erst wenn diese und die Presse in den Kinosälen Platz gefunden hatten, durften auch andere FilmliebhaberInnen eintreten. Wie vor Essensständen und Telefonzellen stehen die KubanerInnen eben auch an Kinokassen in langen Schlangen an. In der Regel konnte aber auch, wer erst kurz vor Filmbeginn das Kino erreicht, noch eine Karte ergattern. Ein wirklicher Vorteil des Havanna-Filmfestivals war, dass der Eintritt für alle bezahlbar blieb: Der Preis von 2 Pesos (6 Euro-Cent), ermöglichte auch bei einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 15 Euro, wovon in Kuba keine Miete bezahlt werden muss, die Teilhabe an kulturellen Großereignissen

www.habanafilmfestival.com

Die Bürde des Reichtums

Beim Thema der lateinamerikanischen Rohstoffe laufen zwei Dynamiken gegeneinander: Progressive Regierungen wie die von Hugo Chávez in Venezuela oder von Evo Morales in Bolivien versuchen mit schon lange genutzten, endlichen Ressourcen wie Erdöl neue Strukturen zu schaffen, die vor allem marginalisierten Bevölkerungsschichten zu Gute kommen. In Brasilien hingegen boomt der Markt der neuen oder auf neue Weise genutzten Ressourcen wie Ethanol und Biodiesel und reproduziert oftmals oligarchische Strukturen, die das Land schon lange beherrschen.
In der medialen Wahrnehmung in Deutschland wird Lateinamerika sowohl kritisch als auch unkritisch als zukünftiger Lieferant von Biomasse wahrgenommen. Das aktuelle Jahrbuch Latein­amerika Rohstoffboom mit Risiken beleuchtet die Ressourcenpolitik der lateinamerikanischen Regierungen historisch, politisch und ökonomisch. Es zeigt, dass die Bruchlinien in der Diskussion wesentlich komplizierter sind als es in den meisten deutschen Medien dargestellt wird.
Elmar Altvater und Ingo Bultmann nähern sich dem Thema historisch: Altvater stellt dar, wie die lateinamerikanischen Staaten seit der Kolonialzeit mit ihrem Reichtum umgingen. Eine Konstante in der mit dem Abbau von Rohstoffen verbundenen lateinamerikanischen Geschichte ist dabei laut Altvater der Streit zwischen Freihandel einerseits und Entwicklung unter Berücksichtigung sozialer Rechte andererseits. Dabei geht es seit Mitte des 20. Jahrhunderts natürlich vor allem ums Öl. In den letzten Jahren sei aber die Produktion von Biomasse zur Alternative geworden. Diese könnte das Öl als Einnahmequelle ablösen, doch das würde den erwähnten Widerspruch nicht ändern: „(…) wenn die Natur in Wert gesetzt und in Ware verwandelt und als solche zur Erzielung von Profiten in den kapitalistischen Kreislauf integriert wird, richtet sich die Produktion nicht mehr nach biologischen Rhythmen, sondern nach den Verwertungsbedingungen von Kapital“, schreibt Altvater. Entsprechend werden ökologische und soziale Schäden den Bedürfnissen des Marktes untergeordnet. Entscheidend, so Altvater, sei also nicht, welcher Rohstoff gefördert wird, sondern auf welche Weise und wie er genutzt wird. Als mögliche Alternative zur Kapitalisierung der Rohstoffe stellt er das von Hugo Chávez ins Leben gerufene, an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte Integrationsprojekt ALBA dar.
Ingo Bultmann schildert die Geschichte der lateinamerikanischen Rohstoffe aus politischer Sicht und setzt seinen Fokus auf den Ressourcennationalismus. Sein Fazit: der Diskurs ist heute ein ähnlicher wie in den siebziger Jahren, doch die AkteurInnen sind andere. Aus den ethnischen und sozialen Bewegungen, die die politische Praxis verändern konnten, sind teilweise linke Regierungen hervorgegangen, die den Ressourcenreichtum der Länder nutzen wollen, um mehr Verteilungsgerechtigkeit zu schaffen.
Dabei enttäuschen sie jedoch häufig nicht nur UmweltschützerInnen sondern auch soziale Bewegungen. Thomas Fatheuer stellt das am Beispiel des brasilianischen Zuckerrohrs dar. Stefan Thimmel bezieht sich auf Zellulosefabriken in Uruguay und Regine Rehaag berichtet mit diesem Fokus über die Zukunft der Gentechnik in Brasilien. Vor allem Fatheuers Artikel trägt wesentlich dazu bei, die Komplexität des Themas darzustellen. Und er hat die Größe zuzugeben, dass viele Faktoren noch unbekannt sind: „Bevor die internationale Umweltgemeinde vorschnell viel Geld und Energie auf bestimmte Lösungsansätze verwendet, sollten wir uns eingestehen, dass wir sehr wenig über die Entwicklungsmöglichkeiten des Agroalkohols in Brasilien wissen.“ Fatheuer zeigt, dass es vor allem um die Landnutzung geht. Der künftige Anbau von Zuckerrohr zur Gewinnung von Ethanol verringert das Weideland, das sich dann in Richtung Amazonas verlagert. Lulas Regierung gehe es vor allem um Wachstum, so Fatheuer. Wenige große Konzerne treiben dafür den Ausbau der neuen Rohstoffe voran und so reproduziere die linke Regierung oligarchische Strukturen. Das gelte auch für die Ausbreitung von Gensoja, die Lula zulässt, obgleich er vor seiner Wahl versprochen hatte, Gentechnik in Brasilien zu verbieten.
Auch in Uruguay ist das Verhalten der Regierung dem Wunsch nach Wirtschaftswachstum geschuldet: Massiv wird in Zellulose-Monokultur für den Export vor allem nach Europa investiert. Stefan Thimmel beschreibt, warum dies stark die Umwelt zerstört, ohne dabei Arbeit zu schaffen.
Wie kompliziert in solchen Konflikten die Fronten verlaufen, stellt Michael Pollman am Beispiel des Bergbaus in Peru dar: Die Wahrnehmung von Umweltzerstörung ist eine andere, je nachdem, ob Bäuerinnen und Bauern oder transnationale Unternehmen den Wald abbrennen. Ähnlich argumentiert Ulrich Brandt in seinem Beitrag über Biodiversität. Er beschreibt, wie in Mexiko Staat und NRO zusammenarbeiten, um Gebiete zu schützen und zugleich für transnationale Firmen zugänglich zu machen. Pollman fordert Vermittlung durch neutrale AkteurInnen, während sich Brand darauf beschränkt, die Widersprüche des Konflikts aufzuzeigen.
Wie Kuba sich hinsichtlich dieser Dynamiken positioniert, ist eine Frage, die Silke Helfrich eher unstrukturiert beantwortet. Sie behandelt eine Vielzahl von Themen, die allesamt interessant sind, aber wenig vertieft werden. Klar wird: Auch Kuba will unabhängiger von Rohstoffimporten werden, ist dabei jedoch vor andere Probleme gestellt. So wäre die Erzeugung von Ethanol von der Landnutzung her kein Problem, aber Castro lehnt sie ab, weil auch die USA die Erzeugung von Agro-Treibstoff vorantreiben. Im Zusammenhang mit Kuba wird die Rohstofffrage eher selten erwähnt, deswegen ist der Beitrag im Jahrbuch trotz seiner Schwächen gut platziert.
Generell gelingt es den AutorInnen des Jahrbuchs, neue Konfliktlinien aufzuzeigen und Vorschläge zu einem Thema zu machen, das in der Diskussion um Klimawandel und Energiesicherheit sehr präsent ist. Zugleich zeigen sie, wie Machtstrukturen auf dem lateinamerikanischen Kontinent hartnäckig bestehen bleiben, auch wenn jetzt linke Regierungen die Kontrolle über die fossilen und regenerativen Rohstoffe übernommen haben.

Karin Gabbert et al. (Hg.) // Jahrbuch Lateinamerika 31 Rohstoffboom mit Risiken // Westfälisches Dampfboot Verlag // Münster 2007 // 222 Seiten // 24,90 Euro

Die Revolution ist ein Buch

Großformatig und schwer kommt es daher. Und was schon das Äußere verspricht, hält auch der Inhalt. Die Revolution ist ein Buch und ein freier Mensch ist etwas Besonderes. Die umfangreiche Sammlung von Plakaten, Postern und Bildern aus dem revolutionären Nicaragua kann beides: Erinnerungen wecken bei ZeitzeugInnen, aber auch Geschichten für jüngere Menschen erzählen. Komplettiert werden die vielfältigen Bilder durch Textbeiträge. Diese wurden von NicaraguanerInnen, die selbst ProtagonistInnen der Revolution waren, oder von Deutschen, die diese Revolution unterstützt und begleitet haben, verfasst.
Besonders die Beiträge der NicaraguanerInnen sind eine Fundgrube der historischen Analyse und regen zum Nachdenken über das heutige Nicaragua an. Die Beiträge der deutschen AutorInnen hingegen rufen jenen Enthusiasmus in Erinnerung, mit dem in den 1980er Jahren Hunderttausende in vielen Ländern der Erde diese Revolution begleitet und solidarisch unterstützt haben. Die Solidaritätsgruppen in Deutschland haben nicht nur den Traum von einer besseren Welt mit geträumt, sondern waren auch bereit, aktiv mitzuarbeiten, um ihn Realität werden zu lassen. Dieser„brennenden Leidenschaft“ haben sie in den Plakaten und Postern Ausdruck verliehen, mit denen dieses Buch ein Wiedersehen erlaubt.
Die Plakate sind sehr kraftvoll in ihren Aussagen. Es ist ein Kunstgenuss und faszinierend zu sehen, welch künstlerische Inspiration diese Revolution freigesetzt hat. Sie lassen die Aufbruchstimmung noch einmal aufleben, die nach dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 in der Bevölkerung Nicaraguas herrschte. Sie war der Motor, die Menschen waren bewegt von der Vision gerechterer Gesellschaftsverhältnisse. Dafür waren viele Menschen bereit, ihr Leben einzusetzen. Denn die nicaraguanische Revolution, auch dies zeigen viele Plakate, konnte sich nicht ungestört und im Frieden entwickeln. Die US-Regierung unter Ronald Reagan betrachtete die mittelamerikanischen Staaten als ihren Hinterhof und wollten ein zweites Kuba um jeden Preis verhindern.
All dies belebt das Buch noch einmal. Die unbeschreibliche Kraft, Phantasie, Einsatz- und Opferbereitschaft der Bevölkerung. Aber auch den tiefen Optimismus und die Einsatzbereitschaft derer, die wir diese Revolution begleitet oder in Nicaragua unterstützt haben. Gemeinsam setzten wir uns ein für ein menschenwürdiges Leben aller in Nicaragua. Das Recht für alle auf Gesundheit und Bildung, das Recht auf Arbeitsplätze, die Durchsetzung von Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Alles schien möglich, weil die Bereitschaft dafür zu kämpfen in der Bevölkerung so tief verankert war.
Die Textbeiträge der NicaraguanerInnen vermitteln aber auch Einsichten, die die Solidaritätsbewegung damals teilweise nicht wahrhaben wollte. Dies gilt besonders für Sofía Montenegros Betrachtungen über die Plakate der Frauenbewegung und die sandinistische Frauenorganisation AMNLAE. Der Beitrag führt deutlich vor Augen, wie sehr die Frauen schon unter der damaligen Regierung von Daniel Ortega darum kämpfen mussten, Frauenrechte einzufordern und durchzusetzen. Und sich nicht lediglich für berechtigte Ziele der Revolution, wie zum Beispiel die Alphabetisierung, instrumentalisieren zu lassen. Sofía Montenegros Betrachtungen beleuchten vor allem, dass die Emanzipation der Frauen und die Würdigung als Personen mit eigenen Rechten während der sandinistischen Regierung von 1979 bis 1990 nicht wirklich unterstützt wurde.
Die Frauen haben in der weiterhin patriarchalen Gesellschaft mit denselben machistischen Machtverhältnissen wichtige politische Bildungsarbeit geleistet zu den Themen Sexualität, sexuelle Gewalt, Abtreibung, Hausarbeit, Ungleichheit und Diskriminierung, die in der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN Tabu waren. Sofía ist ihren feministischen Vorstellungen treu und bleibt weiterhin eine unbestechliche Kämpferin für die Selbstbestimmungsrechte der Frauen. Im Kampf um die Wiedereinführung des therapeutischen Schwangerschaftsabbruchs in Nicaragua steht sie in vorderster Reihe.
So lässt das Buch die Zeiten des Aufbruchs in Nicaragua aufleben und gleichzeitig auch Fragen hinsichtlich der heutigen Situation des mittelamerikanischen Landes aufkommen. Was hat die FSLN von heute noch gemeinsam mit dem sandinistischen Projekt der Revolution? Und wie konnte der heutige Präsident und damalige Revolutionsführer Daniel Ortega zu dem werden, der er heute ist? Zwar gibt das Buch auf diese und viele andere Fragen keine Antwort. Aber es gelingt dem Buch, eben nicht „nur“ eine historische Darstellung zu liefern. Es regt auch zum Nachdenken über das heutige Nicaragua an.

Otker Bujard, Ulrich Wirper (Hg.) // Die Revolution ist ein Buch und ein freier Mensch – Die politischen Plakate des befreiten Nicaragua // PapyRossa // Köln 2007 // 384 Seiten // circa 500 farbige Abbildungen // 36 Euro

„Die Bevölkerung in Kuba wartet auf den Wandel”

Im Oktober wurden die KubanerInnen gleich zwei Mal zu den Wahlurnen gerufen, um die GemeindevertreterInnen zu wählen. Wie würden Sie die Stimmung charakterisieren, vor deren Hintergrund die Wahlen stattfanden?
In Kuba kann man nicht von demokratischen Wahlen sprechen, denn die freie Meinungsäußerung und das Versammlungsrecht werden uns vorenthalten. Zudem gibt es über jeden Kubaner eine Karteikarte, die von der politischen Polizei geführt wird, darauf werden sowohl sein Verhalten als auch alle Äußerungen in der Öffentlichkeit festgehalten. Das schüchtert genauso ein wie die Tatsache, dass es in Kuba etliche politische Gefangene gibt, die sich für die Menschenrechte eingesetzt haben. Diese Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass es in Kuba eine Kultur der Angst gibt. Die Angst dominiert in Kuba den Alltag.

Sie haben sich für eine Änderung des Wahlgesetzes eingesetzt.
Die christliche Befreiungsbewegung und das Proyecto Varela, die für einen friedlichen Wandel in Kuba und für ein Referendum über die politische Zukunft eintreten, haben Ende August in Kuba einen Vorschlag für ein neues Wahlgesetz präsentiert. Am 30. August haben wir vor dem kubanischen Parlament gegen die derzeitige Wahlgesetzgebung protestiert, weil sie nicht verfassungskonform ist. Warum? Derzeit definiert das Gesetz, dass die Kandidaten für Parlamente auf kommunaler wie nationaler Ebene nur von staatlichen Kommissionen aufgestellt werden können. Darüberhinaus definiert das Wahlgesetz, dass die Zahl der Abgeordnetensitze mit der Zahl der Kandidaten übereinstimmen muss. Aus dieser Tatsache kann jeder seine eigenen Schlüsse ziehen.

Gilt dieses Prozedere auch für die Kommunalwahlen?
Ja, allerdings werden die Kandidaten in öffentlichen Versammlungen per Fingerzeig nominiert. Nun wollen Sie bestimmt fragen, weshalb wir da nicht teilnehmen? Weil diese öffentlichen Versammlungen von der Kommunistischen Partei und der politischen Polizei kontrolliert werden. Ich habe es einmal versucht und wurde bedroht. Wir, die christliche Befreiungsbewegung kämpfen für einen friedlichen Wandel in Kuba, in dem die Kubaner ihre demokratischen Rechte wahrnehmen und über ihre politische und ökonomische Zukunft selbst entscheiden können.

Die Regierung in Kuba rühmt allerdings die hohe Wahlbeteiligung.
Nehmen Sie das Beispiel der DDR, auch dort gab es laut Erich Honecker eine massive Partizipation an den Wahlen und eindeutige Ergebnisse. In Kuba ist das heute nicht sonderlich anders. Es gibt in Kuba derzeit keine Möglichkeiten, eigene Kandidaten aufzustellen und sie zu wählen. Daran wollen wir mit dem Proyecto Varela etwas ändern. Wir treten für die nationale Versöhnung, für den Erhalt des unentgeltlichen Gesundheits- wie Bildungssystems ein und für die nationale Selbstbestimmung. Wir wollen das Recht haben zu entscheiden. Dazu gehört es auch, die guten Dinge zu erhalten, die das System besitzt, wir sind keine Extremisten.
Aber die Kubaner sollen selbst über ihre Zukunft entscheiden – in absoluter Freiheit. Das können viele Deutsche sicher gut verstehen, denn auch in der DDR gab es ja keine Reisefreiheit, keine Versammlungsfreiheit, keine ökonomische Freiheit. Ein Deutscher darf in Kuba sein Geld ohne Probleme investieren, ein Kubaner darf das nicht. Für diese Rechte kämpfen wir, damit wir Kubaner unsere eigene Gesellschaft neu gestalten können.

Wie hat die Regierung auf die Proteste gegen das derzeitige Wahlgesetz reagiert?
Gar nicht, denn es wird am Wahlgesetz festgehalten und auch an der Intoleranz der Regierung hat sich nichts geändert. Die Zahl der politischen Gefangenen ist nicht wesentlich zurückgegangen, nach wie vor werden die Dissidenten in Kuba bespitzelt, observiert und eingeschüchtert und am politischen Diskurs der Verantwortlichen hat sich auch nichts wesentliches geändert. Dabei wartet die Bevölkerung in Kuba auf den Wandel, auf neue Perspektiven.

Die Opposition in Kuba gilt als sehr zersplittert. Haben die Appelle zur Einigkeit der letzten Monate, unter anderem von Ihrer Seite, etwas bewirkt?
Unseren Appell „Einheit für Freiheit“ haben die allermeisten der bekannten Dissidenten Kubas unterzeichnet und in diesem Dokument sind die wesentlichen Forderungen der kubanischen Opposition nach Versöhnung, friedlichem Wandel und echter Partizipation definiert. Das ist ein wichtiger Schritt für die Zukunft unseres Landes.

Hat die Bevölkerung denn überhaupt eine Ahnung von der Existenz dieser Opposition?
Die kubanische Bevölkerung will Veränderungen und sie weiß oftmals mehr, als innerhalb und außerhalb Kubas vermutet wird. Das Proyecto Varela ist durchaus bekannt, obwohl wir selbst keine Möglichkeiten haben in die Öffentlichkeit zu treten, und obwohl die staatlichen Medien in Kuba über uns nicht berichten. Auch unter den Exil-Kubanern in Miami gibt es viele Widerstände gegen unser Projekt, da einflussreiche Kreise dort unsere Ziele nicht teilen. Gleichwohl steigt die Zahl der Aktivisten in Kuba, die sich offen zu uns bekennen.

Hector Palacios, ein sehr bekannter Dissident in Kuba, hat kürzlich behauptet, dass die Opposition in Kuba langsam wächst. Von 5.000 Oppositionellen hat er gesprochen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Es ist möglich, dass die Zahlen steigen. Wesentlich wichtiger ist es aus meiner Sicht, dass die Zahl der Menschen, die offen für den Wandel eintreten, steigt. Mir geht es weniger darum politische Blöcke zu formieren, wichtiger ist es mir, dass die Bürger für ihre Rechte eintreten. Die Kubaner sollen die Protagonisten des Wandels sein, nicht einige wenige Politiker.

Hat der Druck der Sicherheitsbehörden auf Sie und ihre Organisation in den letzten Monaten abgenommen?
Nein, er ist unverändert, und nach wie vor sitzen viele unserer Aktivisten unter entwürdigenden Bedingungen im Gefängnis. Das ist ein Akt der Einschüchterung gegenüber der Bevölkerung und unserer Bewegung. Nach wie vor lautet die offizielle Parole „Sozialismus oder Tod“. Der Tod ist für uns jedoch keine Option, wir kämpfen für Freiheit und Leben.
Zweimal hat das Proyecto Varela Unterschriftenlisten eingereicht, um ein Referendum über die politische Zukunft der Insel durchzusetzen. Gab es jemals eine Antwort?
Nein, keine direkte. Allerdings wurden viele unserer Mitglieder verhaftet, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Ansonsten wurde der Mantel des Schweigens darüber gebreitet, denn die unbequemen Fragen, die wir aufwerfen, kann und will die Regierung in Havanna nicht beantworten.

Wie denken Sie in diesem Zusammenhang über die Kubapolitik der Europäischen Union?
Es ist positiv, dass die Europäische Union für die Menschenrechte, die Rechte der Kubaner und die Demokratie in Kuba eintritt. Gleichwohl ist es eine abwartende Haltung, die die Europäische Union einnimmt, es gibt keine aktive Unterstützung für unsere pazifistische Alternative und für die Freilassung der politischen Gefangenen. Derzeit gibt es, so denke ich, zwei Flügel innerhalb der EU. Die einen, die sich an Havanna annähern, den Druck reduzieren und die anderen, die auf Distanz bleiben. Beide Positionen tragen aus unserer Sicht nicht unbedingt zum friedlichen Wandel bei. Gleichwohl hilft eine Verbesserung des Klimas natürlich den Unternehmern, die in Kuba Geschäfte machen, und auch den Touristen, die nach Kuba kommen, um sich zu erholen.

Wie beurteilen Sie die Perspektiven Kubas?
Es gibt die konkrete Gefahr, dass es bei anhaltender Ignoranz der kubanischen Regierung gegenüber dem Wunsch nach Wandel und bei anhaltender Unterdrückung auch zur Gewaltanwendung kommen kann. Bisher hat es keinerlei Signale für einen Wechsel gegeben, es gibt kaum eine Perspektive für die Bevölkerung und das ist ein Risiko. Dem gegenüber steht unser Referendumsvorschlag – eine echte Alternative, um eine humanere, gerechtere und freiere Gesellschaft aufzubauen.

Welche Bedeutung hat Fidel Castro, der jüngst erstmals wieder im Fernsehen zu sehen war, für die Entwicklung in Kuba?
Darüber will ich nicht spekulieren. Wir haben in fast fünfzig Jahre in Kuba nur über einen einzigen Mann gesprochen, aber in Kuba gibt es mehr als elf Millionen Einwohner. Die sollen auch einmal zu Wort kommen, das ist ihr gutes Recht.

Kasten:
Osvaldo Payá
Osvaldo Payá ist 55 Jahre alt, er lebt in Havanna, im Stadtteil Cerro. Er ist in der christlichen Befreiungsbewegung aktiv, die sich für Änderungen im politischen System einsetzt, so unter anderem für eine Änderung des Wahlrechtes. Gegenüber dem Haus, in dem Payá wohnt, hat der kubanische Staatsschutz eine Wohnung angemietet, um die Familie zu kontrollieren. Payá hat zwei Söhne im Alter von 19 und 15 Jahren und eine 18-jährige Tochter. Er arbeitet als Wartungstechniker für medizinisches Gerät in einem Krankenhaus der kubanischen Hauptstadt.

UNO watscht US-Embargo ab

In der UNO sind die USA in Sachen Kuba isoliert. Am 30. Oktober wurde in der UN-Vollversammlung das so genannte US-Embargo gegen Kuba verurteilt und seine Aufhebung gefordert. Nur vier Gegenstimmen (USA, Israel, Marshall Islands, Palau) standen den 184 Befürwortern gegenüber und bescherten der „roten Insel in der blauen Karibik“ zum 16ten Mal in Folge einen Sieg – allerdings einen nur moralischen. Denn wie seit 1992 wird sich auch nach diesem überwältigenden Abstimmungssieg über eine lediglich unverbindliche „Resolution“ für Kuba nichts ändern. Im Gegenteil: Die Blockadegesetze der USA gegen Kuba wurden sogar 1992, 1996, 2004 und 2006 trotz all der UN-Resolutionen verschärft und modernisiert.
US-Präsident Bush hielt kurz vor dieser UN-Abstimmung eine flammende Rede vor Exilkubanern „Nun ist es an der Zeit, die Differenzen beiseite zu schieben, die in der internationalen Gemeinschaft bestanden. Sie muss vorbereitet sein auf den Moment des Wandels (in Kuba, Anm. d. Red.).” Gemeinsam mit anderen Staaten wolle er in einem „Freiheitsfonds“ eine Milliarde US-Dollar für den „Wiederaufbau“ Kubas anlegen lassen. Die Gelder sollten aber erst dann freigegeben werden, wenn in Havanna ein Systemwechsel stattgefunden habe. Bush richtete deutliche Worte an kubanische PolizistInnen, SoldatInnen und FunktionärInnen: Sie müssten Stellung beziehen, wenn sich das Volk gegen das „Regime“ erhebe. Dass dies geschehe, ist nach seiner Sicht nur eine Frage der Zeit, denn: „Das sozialistische Paradies ist ein tropischer Gulag“. Die Bush-Rede solle „ein Aufruf an die Kubaner“ sein, „Widerstand“ zu leisten. „Wir werden kein altes Regime mit neuen Gesichtern akzeptieren“, warnte Bush; es werde gerade ein Diktator durch einen neuen ausgewechselt. Dieses „sterbende Regime“ sei eine Schande.
Es geht dem Ende von Bushs Präsidentschaft entgegen, der Wahlkampf beginnt und die Sieges-aussichten seiner Partei sind schlecht. Gerade nun gilt es, wichtige WählerInnengruppen bei der Stange zu halten. Tatsächlich gaben die Hunderttausenden wahlberechtigten ExilkubanerInnen in Florida schon mehrere Male den wahlentscheidenden Ausschlag zugunsten der Republikaner.
Das vorerst nur symbolische Fäusteschwingen von Bush hat jedoch auch eine kontinentale Dimension: Zeitgleich zu Bushs Rede kam es in Bolivien zu Bombenanschlägen auf kubanische und venezolanische Einrichtungen, der Kuba-Beauftragte der USA, Caleb McCarry, griff zudem Kubas Alliierten Venezuela verbal scharf an. Und im kubanischen Exil sammeln sich in Miami nun auch Gegner der venezolanischen Regierung, um den Kampf nach ihren Niederlagen im eigenen Land aus dem US-Exil heraus fortzuführen – in Symbiose mit Teilen der US-Elite.
Bei der von den USA als Embargo bezeichneten Maßnahme handelt es sich eigentlich um eine Blockade, weil die nicht nur bilateral, sondern multilateral wirkt und entgegen dem Völkerrecht umgesetzt wird. Die Facetten dieser US-Politik sind sehr umfassend. Durch Bush wurden zum Beispiel Reisemöglichkeiten von US-Amerikanern nach Kuba extrem eingeschränkt, die Geldüberweisungen aus den USA nach Kuba eklatant minimiert; unzählige Waren und Ersatzteile, die Kuba günstig in den USA kaufen könnte, muss es auf Umwegen und zu höheren Preisen aus anderen Ländern importieren. Hinzu kommen selbstverständlich noch militärische und andere Sicherheitsvorkehrungen wegen der immer wieder aufflackernden Bedrohung durch die USA.
Die Effekte für Drittstaaten sind ebenfalls zum Teil erheblich: die mächtige Schweizer Bank UBS zahlte ohne Aufmucken im Mai 2005 ein Strafgeld von 100 Millionen US-Dollar wegen des Austauschs alter gegen neuer Dollarnoten mit Kuba; auf Betreiben von US-Mutterkonzernen haben kürzlich Banken z.B. in Großbritannien und Österreich ihren kubanischen Kunden ihre Konten gekündigt, kubanische Gäste werden in US-Hotelketten auch außerhalb der USA nicht beherbergt. Teilweise treiben die Sanktionen kuriose Blüten: Der Regisseur Oliver Stone musste 6322 US-Dollar Strafe zahlen, weil er beim Drehen seines Films „El Comandante“ gegen Embargoauflagen verstoßen haben soll. Gleiches droht dem Filmemacher Michael Moore, der für sein neues Werk „Sicko“ über das US-amerikanische Gesundheitswesen auch in Kuba gefilmt hat und nun ein Verfahren wegen Embargoverstoßes gegen sich laufen hat.
Für Kuba gewichtiger ist die Tatsache, dass die vor der Küste verlaufenden Unterseekabel von Arcos, die die Internetnutzer der Region mit schnellen und günstigen Breitband-Zugängen versorgt, wegen des US-Handelsembargos nicht genutzt werden dürfen. Kürzlich wurde in der US-Administration eine Task Force geschaffen, um Verstöße gegen all die Bestimmungen gegen Kuba noch nachdrücklicher überführen und bestrafen zu können: dabei sind unter anderen Experten des FBI, der Homeland Security und des Finanzministeriums. Die von einem aus Südflorida stammenden Staatsanwalt geleitete Gruppe hat nach seinen Aussagen das Ziel, „das Castro Regime ökonomisch zu isolieren … und den Wandel zur Demokratie in Kuba zu beschleunigen.“
In einer Klage im Jahr 1999 forderte Kuba von den USA eine Summe von 181 Mrd. US-Dollar als Kompensation für ökonomische Verluste und Todesopfer, die durch die 40 Jahre dauernde „Aggression“ sich ergeben hätten. Demnach starben 3.478 Kubaner und 2.099 weitere wurden verwundet oder versehrt, beispielsweise durch Terroranschläge und Sabotage. Nach jüngsten Angaben von Außenminister Felipe Pérez Roque beläuft sich die Summe inzwischen auf 222 Milliarden US-Dollar. Diese Zahlen allerdings sind lediglich Schätzungen, denn aufgrund der Vielzahl und indirekt wirksamen US-Maßnahmen sind genauere Angaben nicht zu machen. Für die kubanische Gesellschaft allerdings lassen sich die Effekte der US-Politik nachzeichnen. Waren die Überweisungen aus Florida bis vor kurzem die drittgrößte Deviseneinnahmequelle für Kuba, ist deren Volumen auf unter die Hälfte gesunken – und trifft damit weite Teile der Bevölkerung hart. Gleiches gilt für die minimierten Familienbesuche.
Im anschwellenden Vorwahlkampf wurden von führenden Demokraten erste Signale in Sachen Kuba gesendet. Ende August hat sich auch der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Barack Obama, in Sachen Kubapolitik in die Debatte eingemischt: „Eine demokratische Öffnung Kuba ist und sollte das allerwichtigste Ziel unserer Politik sein.“ Er kritisiert Bushs Kubapolitik, weil sie nur aus großen Gesten bestehe, und gleichzeitig dazu führte, dass die KubanerInnen noch mehr als früher von der Castro-Regierung abhängig gemacht worden sind – zum Beispiel durch Kürzung der Möglichkeiten von Geldüberweisungen von Familienangehörigen in den USA nach Kuba. „Wenn eine Regierung nach Fidel Kuba für demokratischen Wandel öffnen sollte, dann sind die USA (der Präsident in Zusammenarbeit mit dem Kongress) vorbereitet, Schritte zur Normalisierung der Beziehungen und zur Lockerung des Embargos zu unternehmen, das die Beziehungen zwischen beiden Ländern in den letzten fünf Jahrzehnten beherrscht hat.“
Auch ein anderer Präsidentschaftskandidat, Christopher Dodd sagte, wenn er Präsident werden würde, würde er das „Embargo“ gegen Kuba aufheben, die Reisebeschränkungen lockern, das aggressive Helms-Burton-Gesetz aufheben, die antikubanische TV-Station TV Marti auflösen, das Radio Marti reformieren, normale diplomatische Beziehungen aufnehmen und in Havanna eine Botschaft eröffnen. Das wäre tatsächliche ein weitreichender Politikwechsel, wenngleich das Ziel, die „demokratische Öffnung Kubas“ und der „Regimewechsel“ bestehen blieben. Doch diese sehr liberale Position dürfte in der Partei kaum eine reale Chance haben, die exilkubanische Lobby und ihre geballte Macht wird trotz allen Wandels und einer Schwächung noch zu sehr gefürchtet.
Im Sommer brachten die Demokraten eine Beschlussvorlage ein, mit welcher der Handel zwischen USA und Kuba erleichtert werden sollte. Früher war dies aufgrund der Mehrheit der Republikanern knapp abgelehnt worden. Nun, mit der Mehrheit der Demokraten, schien der Erfolg sicher. Doch dann wechselten 66 Abgeordnete der Demokraten die Seite und die Vorlage wurde abgelehnt! Dafür eingesetzt haben sich junge demokratische Abgeordnete aus Florida, die allem Anschein nach dadurch bei den Wahlen punkten wollen. Auch beim Irak-Krieg haben die Demokraten es mit ihrem butterweichen Zickzackkurs nicht geschafft, eine profilierte Opposition zur Regierung zu entwickeln. Sie und ihre Führungsfiguren wollen und können zu wichtigen Themen keine Position beziehen, sie wollen vermeiden sich festzulegen, um nicht als unpatriotisch gebrandmarkt zu werden.
Die Zeit läuft für Kuba: die Gesellschaft erholt sich spürbar von der schwierigen Spezialperiode nach der Auflösung des realsozialistischen Osteuropa, Öl- und Gasfunde verbessern die Energieversorgung spürbar, und es integriert sich stärker als zuvor in Lateinamerika (z.B. Entwicklungsstrategie ALBA) und baut die Beziehungen zu China, Indien, Südafrika aus. Kuba hat derzeit den Vorsitz der nicht-paktgebundenen Staatengruppe und ist international weitgehend angesehen und geschätzt.
Hinzu kommt außerdem, dass Kuba auf einem Erfolg versprechenden alternativen Entwicklungskurs zu sein scheint. Schon lange waren seine Sozial- und auch Umweltpolitik bekannt. Und seit drei Jahren bestätigt sich, Kuba sei das einzige Land, das bereits als nachhaltig eingestuft werden könne! Das ist Resultat der Studie „Living Planet Report 2007“ des Global Footprint Network und des WWF über 150 Nationen. Dafür wurde der Human Development Index der UN mit dem ökologischen Fußabdruck der Staaten kombiniert. Während einerseits viele Länder weit über die ökologischen Verhältnisse leben (allen voran die USA), werden andererseits in vielen anderen soziale Mindeststandards nicht erreicht. Als einziges Land hat bislang Kuba beide Dimensionen recht weit entwickelt.

Vom Geist der Ruinen

Woher kommt die dekadente Faszination am urbanen Verfall? Was ist so charmant anziehend und gleichzeitig lustvoll skandalös an der Erkundung alter Gebäuderuinen? Fragen wie diesen geht der kubanische Schriftsteller Antonio José Ponte seit 1995 in seiner Poesie und Prosa nach. Seine Texte sind dabei häufig von einer Atmosphäre bedeutungsvoller Abwesenheit und nostalgischer Wünsche geprägt. Davon konnte man sich anlässlich des Internationalen Literaturfestivals Berlin im September bei einer Lesung Pontes überzeugen. Als der Dichter mit dem verschlossenen Blick das Gedicht „La promesa mayor“ (Das größte Versprechen) klangvoll vorträgt, wird auch das Publikum unweigerlich in eine melancholische Stimmung der Abwesenheit versetzt: „Un aire venido del mar levanta las cortinas, las deja caer, y puede que a esta hora signifique algo.“ (Eine Meeresbrise hebt die Vorhänge, bringt sie zu Fall und vielleicht hat das zu diesem Zeitpunkt etwas zu bedeuten.)
In zahlreichen Gedichten, Kurzgeschichten und essayistischen Romanen thematisiert der selbsternannte Ruinologe die verfallenen Altbauten Havannas in unterschiedlichen Kontexten. Sie verleihen der Stadt immer wieder eine Aura apokalyptischer Fiktion. Jene Aura empfindet der 1964 in Matanzas geborene Autor nicht nur beim Gedanken an Kubas Hauptstadt, sondern ebenso im Hinblick auf die Geschichte und politische Situation des Landes. „Seit wir klein sind, werden wir darauf vorbereitet, dass ein Angriffskrieg unmittelbar bevorsteht. Das zeigt sich sogar in Kinderspielen. Seit 1959 ist die Apokalypse eine Konstante im kubanischen Denken.“
Diese Apokalypse ist bisher nicht eingetreten und die offizielle Präsentation Kubas erhält nach außen ungebrochen viel Sympathie, deshalb erscheint Ponte sein Land zunehmend als fiktiv. Sogar fiktiver als andere Länder: „Es gibt außerhalb des Landes viele Legenden zu Kuba. Die Vorstellungen, die um Kuba ranken, sind aufgrund ihrer mythologischen Konsistenz viel fiktiver als z.B. bei Argentinien oder Guatemala.“ Allerdings scheint der fiktive Zustand des Landes nicht im Widerspruch zu Pontes eigenem Leben und literarischem Schaffen zu stehen. „Es ist nicht so, dass Kuba eine Fiktion ist und ich es nicht wäre. Auch mein eigenes Leben erscheint mir als eine Fiktion. Es kommt immer ein Punkt, an dem alles unwirklich wird. Deshalb spreche ich über Fiktion. Auf diese Art nähert man sich einer Literatur, die oft sehr glaubwürdig wirken kann, aber sie kommt immer zu der Wendung, an der man erkennt, dass sie nicht die Realität verkörpert.“
Aber was hat Fiktion mit Ruinen zu tun? Die Antwort liegt im Verhältnis des Autors zu Havanna. „Diese Stadt zu lieben bedeutet nicht nur die Präsenz, sondern auch die Abwesenheit zu lieben.“ Ruinen als Symbolkraft des Abwesenden. Jene bezeichnet der gelernte Hydraulikingenieur mit den ernsten braunen Augen jedoch nur als eine seiner zahlreichen literarischen Obsessionen. Der Geist der Ruinen zieht sich dennoch wie ein roter Faden durch Pontes Werk. Davon zeugen der Gedichtband „Asiento en las ruinas“ (Sitzplatz in den Ruinen) oder die Kurzgeschichte „Un arte de hacer ruinas“ (Die Kunst, Ruinen zu erschaffen). Diese handelt von einem Architekturstudenten, der seine Abschlussarbeit über die so genannten Barbacoas, die Zwischengeschosse in Havanna, schreiben will.
Dafür sucht der Protagonist eigentlich längst unbewohnbare Häuser auf und dringt in das Leben ihrer BewohnerInnen ein. Es geht dabei nicht vordergründig um die Beschreibung des Zustandes maroder Altbauten, sondern um Ruinen als universale Metapher für die Verwaltung von Zeit, als Erscheinungsformen von Alter und Tod, das Auftauchen und Verschwinden von Lebensformen.
Neben jenen emblematischen Aspekten stehen die Ruinen Havannas aber auch für ein kritisches Statement gegenüber der kubanischen Stadtplanung. Besonders in dem von Ponte mitgestaltetem Dokumentarfilm „Die neue Kunst, Ruinen zu bauen“ kommt das zum Ausdruck. In ihm wird auf den problematischen und bisweilen lebensgefährlichen Alltag von Menschen aufmerksam gemacht, die aufgrund von knappem Wohnraum in einsturzgefährdeten Gebäuden leben müssen. Er zeigt betroffene Personen bei ihrer Alltagsgestaltung, so z.B. beim Kampf gegen die ins Wohnzimmer hinein fließenden Abwässer. Oftmals sind es poetisch-philosophische Reflexionen über ein Leben in Havannas maroden Altbauten, die die begleitende Kamera einfängt. Auch Ponte selbst führt den Zuschauer als Interviewpartner mit fester rauer Stimme durch das Ruinenlabyrinth. Zu dieser Zeit hatte er sich bereits mit seinem literarischen Schaffen bei der Schriftsteller- und Künstlervereinigung Kubas unbeliebt gemacht und als Konsequenz ein mehrjähriges Publikations- und Ausreiseverbot auferlegt bekommen.
Grundsätzlich scheinen die Veröffentlichungen Pontes nicht nur inhaltlich, sondern auch im Hinblick auf literarische Ästhetiken aus dem nationalen Rahmen zu fallen. Denn der Lyriker, Essayist, Erzähler und Drehbuchautor setzt sich zwar wie die einstigen Wegbereiter der kubanischen Neobarockliteratur mit der Gestaltung des leeren Raums auseinander, jedoch nicht mit der Absicht, diesen im Sinne des „horror vacui“ zu füllen. Vielmehr geht es ihm darum, das Abwesende zu betonen. „Ich bin nicht Teil dieser barocken Mehrheitsströmung Kubas: Mich interessiert es, auf die Armut mit einem Stil der Einfachheit zu antworten und nicht mit einem Stil der Fülle.“ Was jedoch die literarische Orientierung Pontes angeht, so kennt diese keine expliziten geographischen oder geschichtlichen Abgrenzungen. Ob Virginia Woolf, Jean Paul Sartre, Johann Wolfgang von Goethe, Fernando Ortiz, Guillaume Apollinaire, Émile M. Cioran oder Marcus Tullius Cicero – seine Inspirationsquellen sind äußerst vielfältig.
Seit 2006 lebt der mit Einreiseverbot nach Kuba belegte Ponte in Madrid und ist Mitherausgeber der dort erscheinenden regimekritischen Monatszeitschrift „Encuentro de la Cultura Cubana“ (Treffen mit der kubanischen Kultur). Außerdem arbeitet er an einem Essay über das Verhältnis zwischen Ruinen und der Erinnerungskraft. Und mittlerweile ist man auch außerhalb des spanischsprachigen Raumes, in Frankreich und Deutschland, auf den unkonventionellen und vielseitigen Schriftsteller aufmerksam geworden. So erscheint sein jüngster Roman „La fiesta vigilada“ (Das überwachte Fest) im Herbst 2008 in deutscher Übersetzung. Dabei geht es um die surreale Rückkehr des Erzählers in Kubas Hauptstadt nach einem 25-jährigen Einreiseverbot. Ob die Übersetzung des Buches dann auch den apokalyptischen Geist der Ruinen in sich tragen wird, bleibt abzuwarten.

Requiem für die „Schweiz Lateinamerikas”

Am 7. Oktober ist im weltweit ersten Volksentscheid über einen internationalen Freihandelsvertrag entschieden worden. Nun ist auch in Costa Rica die Ratifizierung des Central American Free Trade Agreement CAFTA zwischen Zentralamerika, der Dominikanischen Republik und den USA besiegelt worden. In allen anderen Mitgliedsländern war der Vertrag schon vor einem Jahr trotz massiver Proteste in Kraft gesetzt worden. Mit etwa 52 Prozent Zustimmung gegenüber 48 Prozent Ablehnung hätte das Referendum kaum knapper ausfallen können. Bis kurz vor dem Urnengang schien es sogar, als hätte sich das wochenlange Patt endlich zugunsten der CAFTA-GegnerInnen aufgelöst.
Noch eine Woche zuvor demonstrierten in der Hauptstadt San José etwa 150.000 Menschen in volksfestartiger Stimmung gegen die Ratifizierung. Das über den Menschenmassen kreisende Kleinflugzeug mit einem Banner der Befürworter des Vertrages wirkte demgegenüber wie ein hilfloser Akt der Verzweiflung und gleichzeitig wie ein Symbol für die Kampagnenführung der beiden Seiten: Die „Allianz des Ja“ verpulverte etwa 1 Million US-Dollar für ein wahres Bombardement der Bevölkerung mit markigen Slogans und Propagandamaterial auf Hochglanzpapier. In Ermangelung ähnlicher Ressourcen – insgesamt verfügten sie nur über knapp 60.000 Dollar – initiierten die Parteigänger des „Nein“ schon früh einen intensiven Diskussionsprozess auf Basisebene. Im ganzen Land bildeten sich hunderte lokaler Komitees, AktivistInnen zogen von Haus zu Haus, veranstalteten Diskussionsrunden und erzwangen so die Entscheidung per Referendum. Costa Rica rang sich zu einem Experiment in kollektiver Entscheidungsfindung durch, die jeder westlichen Industrienation zur Ehre gereichen würden.
Drei Tage vor Abstimmung sagte die letzte Umfrage dem „Nein“ zu CAFTA einen Sieg mit 55 gegenüber 43 Prozent Stimmanteil voraus. Ein an die Öffentlichkeit geratenes internes Regierungsmemorandum an Präsident Oscar Árias schien zum letzten Stolperstein für den Freihandelsvertrag zu werden. Darin empfahlen Vizepräsident Kevin Casas und ein Abgeordneter der Regierungsfraktion eine Angstkampagne: Die Bevölkerung sollte mit einer drohenden Abwanderung von InvestorInnen eingeschüchtert, die GegnerInnen als von Kuba und Venezuela ferngesteuert hingestellt werden. In Costa Rica, wo der Stolz auf eine offene, demokratische Diskussionskultur zu den Säulen nationalen Selbstverständnisses gehört, sorgten diese Vorschläge für einen Aufschrei der Empörung.
Wie kam es also, dass auf dem Wege eben dieser demokratischen Traditionen das Schicksal des solidarischen Sozialstaates, der zweiten Säule der costaricanischen Ausnahmestellung in Zentralamerika, besiegelt wurde? Wieso gaben die CostaricanerInnen plötzlich die lange und verbissen verteidigten Staatsmonopole im Versicherungs-, Elektrizitäts- und Telekommunikationssektor auf, welche bisher gute, unentgeltliche Gesundheitsversorgung und fast jedem noch so abgelegenen Weiler eine Strom- und Telefonleitung garantiert haben? Warum entscheidet ein Land, das über ein halbes Jahrhundert lang sein Selbstbewusstsein aus bescheidenem Wohlstand und sozialem Frieden zog, die ihm sein entwicklungspolitischer Sonderweg gebracht hatte, sich auf einmal für die ausgetretenen Pfade des Neoliberalismus?
Die Angstkampagne der CAFTA-ParteigängerInnen ist zwar entlarvt worden, Erfolg hatte sie trotzdem. Gespräche drehten sich immer häufiger um die Sorge um Arbeit und das eigene bescheidene Auskommen. Kurz vor dem Referendum warnte die US-Regierung noch einmal vor der Aussetzung bisheriger Handelsprivilegien und Präsident Árias setzte die Ablehnung des CAFTA mit „kollektivem Selbstmord“ gleich. Beide konnten sich des positiven Widerhalls in den Massenmedien sicher sein. Ihren Kontrahenten fehlte hingegen eine Plattform, die einer raschen Reaktion genügend Aufmerksamkeit hätte bieten können. Von den drei großen Tageszeitungen Costa Ricas war die erste zur offenen Diffamierung der CAFTA-Gegner übergegangen. Bei der zweiten kündigte der Koordinator für politische Nachrichten, obwohl er persönlich den Vertrag befürwortet, weil Chefredaktion und Verlag immer wieder die Veröffentlichung CAFTA-kritischer Beiträge unterbanden. Die dritte ist ein Regenbogenblatt, das kaum für politische Analysen taugt. In den beiden Nachrichtensendern konnte die „Allianz des Ja“ beispielsweise am Tag des Referendums, lange vor Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen, etwa viermal soviel Sendezeit verbuchen wie ihre GegnerInnen. Und auf einmal wurden sogar entschiedenen CAFTA-GegnerInnen die Knie weich. Im letzten Moment bekam der kleine David Angst vor der eigenen Courage. Er hat die Schleuder fallen lassen und ist reumütig auf den von Goliath zugewiesenen Platz zurückgekehrt.
Dennoch: In Costa Rica hat jeder gespürt, dass nur ein Augenblick gefehlt hat, bis der Stein geflogen wäre. Dementsprechend blieb großspuriges Triumphgehabe bis auf den Abend direkt nach der Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen weitgehend aus. Stattdessen versuchen die Regierung und ihre Verbündeten nun die Frustration und Erschöpfung der GegnerInnen auszunutzen und mit Dialogangeboten möglichst viele auf ihre Seite zu ziehen. Wie ernst gemeint solche Bekundungen sind, bleibt ebenso abzuwarten wie die Antwort auf die Frage, ob die von der Anti-CAFTA-Bewegung geschaffenen Diskussionsräume auf Basisebene kollabieren oder bewahrt werden können. Das ist nach den ersten Schockmomenten auch die größte Sorge vieler AktivistInnen.
Obwohl in den ersten erhitzten Momenten auch Gerüchte von direktem Wahlbetrug die Runde machten und es vereinzelt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, werden die von den über 20.000 Wahlbeobachtern gesammelten Beschwerden wohl kaum ausreichen, um diesen Verdacht zu bestätigen. Stattdessen konzentriert sich die Kritik nun auf die bereits geschilderte Schieflage in der Medienberichterstattung und in den Ressourcen, die beiden Parteien zur Verfügung standen, um ihre Standpunkte zu vermitteln.
Wie auch immer es weitergeht: Die Tage des Sonderweges, die dem kleinen Land zwischen Karibik und Pazifik, Panama und Nicaragua den Namen der „Schweiz Lateinamerikas“ eingetragen haben, sind vermutlich gezählt.

Dem Gelächter eine Gasse

Farben und Musik fliegen durch die Altstadt Havannas. Junge SchauspielerInnen laufen auf Stelzen hin und her und jonglieren nicht nur mit Feuer, Bällen und Keulen, sondern auch mit Worten. Sie sprechen die PassantInnen an und erzählen Geschichten. Ihr Lachen ist die Brücke, über die eine Kommunikation zwischen FußgängerInnen und Schauspielenden zustande kommt. Die Tropazancos, “Stelzentruppe” ist eine Gruppe von StraßenschauspielerInnen, die Fröhlichkeit und Stoff zum Nachdenken in die Straßen der Altstadt von Havanna bringt. Marionetten und Musik begleiten ihr traumähnliches Spektakel.
Seit April 2000 gibt es die „Stelzentruppe“, die zu Beginn nur aus drei SchauspielerInnen bestand. Mittlerweile gehören der Gruppe sechszehn Frauen und Männer an. Bevor sie zusammen kamen, waren sie in unterschiedlichen Bereichen tätig: Einige hatten vorher bereits als Schauspieler gearbeitet, andere musizierten oder studierten Literatur an der Universität von Havanna. Allen gemeinsam war der Wunsch, ihre Mitmenschen zum Nachdenken über sich selbst und ihre Umwelt zu bringen. Und allen schien die Kunst der beste Weg dafür zu sein. Sie wählten die Form des Straßentheaters, da Performances im öffentlichen Raum ermöglichen, mit den PassantInnen ins Gespräch über ihre Lebensbedingungen zu kommen. Das Theater der Tropazancos engagiert sich: die SchauspielerInnen wollen die Leute anregen, umweltbewusst zu leben, und ihnen gleichzeitig zeigen, wie sie das, mit dem Wenigen, das sie haben, erreichen können. Umweltbewusst – damit meinen Tropazancos nicht nur ökologische Nachhaltigkeit, sondern immer auch den Umgang mit anderen und sich selbst. Solidarität ist zentrales Thema ihrer Aufführungen.
Die Tropazancos treten inzwischen fast überall in Havanna auf: in Krankenhäusern, auf Plätzen, auf den Straßen und in Parks. Die auf Stelzen laufende Gruppe kooperiert dabei auch mit anderen sozialen Organisationen und leitet selbst weitere Projekte. So ist eine der Gründerinnen von Tropazancos auch Sängerin des Hip-Hop Duos Las Krudas. Das Duo unterstützt die feministische Szene von Havanna und setzt sich gleichzeitig mit Rassismus und anderen Alltagsproblemen auseinander. Mit dem Geld, das Tropazancos auf der Straße einnehmen, unterstützen sie neben Las Krudas auch Krebskranke und Kinderprojekte.
Straßentheater ist auf Kuba eine Herausforderung. Seit 1965 gab es auf der Insel keine Theatergruppe mehr, die unabhängig vom Staat arbeitete. Alle Ensembles sind staatlich finanziert. Zudem bedarf es einer Genehmigung des Kultusministeriums, um überhaupt spielen zu dürfen. Die fehlende Spiellizenz war für Tropazancos zu Beginn ein großes Problem. “Todo principio es dificil” – aller Anfang ist schwer, sagten sie sich und beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Gruppe begann ohne Genehmigung aufzutreten. Ganz problemlos verliefen die Aufführungen nicht: Zwar wurden sie von der Polizei nicht unterbrochen, diese beschlagnahmte aber am Ende der jeweiligen Aufführungen die Spenden, die die Gruppe von den ZuschauerInnen erhalten hatte. Da die ersten Auftritte in der Altstadt Havannas stattfanden, wo viele UrlauberInnen unterwegs sind, argumentierte die Polizei, dass die TouristInnen belästigt worden seien. Ungehindert auftreten kann die Stelzentruppe erst, seit Eusebio Leal, der offizielle Stadthistoriker Havannas, ihr erlaubte, auf den Straßen der Altstadt Havannas zu spielen. Leal ist eine politisch gewichtige Person in Kuba: Er leitet das private Großprojekt der Restaurierung von Havannas Altstadt, das vor allem von der Aktiengesellschaft Habaguanex S.A. finanziert wird. Die Finanzmittel stammen vor allem von den zahlreichen Hotels und Geschäften in der Altstadt Havannas, die heute fast alle Habaguanex gehören. Mit der Fürsprache von Leal war der Weg frei für die StraßenkünstlerInnen, und er sollte von Erfolg gekrönt werden.
Das Repertoire der Zanqueros, wie die Gruppe Tropazancos von vielen genannt wird, ist heute umfangreich. Es reicht von Live-Musik (Salsa, Mambo, Reggeton, Rumba), über Jonglieren bis zum Marionettenspiel. Ihre Stoffe schreiben sie selbst oder kooperieren mit AutorInnen. In jedem Stück gibt es eine ErzählerIn. Er lenkt zum großen Teil die Handlungen der SchauspielerInnen und das Geschehen, lässt aber auch zu, dass wesentliche Bestandteile der Aufführungen unter Einbeziehung der Eigenheiten des jeweiligen Publikums und Schauplatzes improvisiert werden. Zum Publikumsliebling entwickelte sich das Stück Sir William y su kimbado escudero contra el furioso dragon Tribilin (Sir William und sein Knappe gegen den wütenden Drachen Tribilin), in dem es um Straßenfeger geht, die ihre eigene Welt erfinden. Die Gruppe nimmt auch Rückgriffe auf die mündliche kubanische Erzähltradition vor. So zum Beispiel in ihrem Klassiker „La Ceiba y la Tiñosa“ (Der Wollbaum und der Geier). Wie der Titel des Stücks andeutet, handelt es sich um eine Fabel, die mit Elementen der kubanischen Folklore und Mythologie arbeitet. Der Geier kann in diesem Zusammenhang sowohl Glück, als auch Pech bedeuten. Die „Ceiba”, die auch Nationalbaum Kubas ist, repräsentiert Weisheit und ist zentral für die „Santería“ – die wichtigste der in Kuba verbreiteten Religionen, die aus der Mischung verschiedener afrikanischer Religionen und des Christentums hervor gegangen sind.
Der Ansatz von der Tropazancos ist nicht nur erfrischend für die kubanische Gesellschaft, sondern auch dringend notwendig in einem Land, wo seit langem ein öffentlicher Dialog gebraucht wird. Es wird den KubanerInnen nicht leicht gemacht, die sozialistische Regierung zu kritisieren. Mit der Begründung, die Kritik des politischen Systems spiele nur den Feinden des Regimes in die Hände, stempelt die Regierung sämtliche Kritik als konterrevolutionär ab.
Die von vielen KubanerInnen empfundene Ohnmacht kommt auch in anderen kubanischen Stücken zum Ausdruck: So singt eine Figur in der von Victor Varela geschriebenen „Blinden Oper“, der Opera Ciega: „Los sueños han caído en una trampa” – „die Träume sind in eine Falle getappt“: Solange Kritik am System in Kuba nicht offen geäußert werden kann, bleiben Träume von einer besseren Gesellschaft, die weiterhin ein viel diskutiertes Thema auf der Insel ist, unrealisierbar. Die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen können die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit nicht entschuldigen. Obwohl ihre Stücke Kritik äußern, sind Tropazancos offiziell keine Gegner der Regierung: Sie bewegen sich in den ungewissen Gewässern der Duldung. Ihre Arbeit ist eine Herausforderung für das stehengebliebene Denken vieler FunktionärInnen. Im Gegensatz dazu begrüßen viele Leute auf der Straße die Aufführungen.
Die SchauspielerInnen der Gruppe antworten auf die Frage, ob sie glücklich mit ihrer Arbeit sind, wie aus einem Munde mit einem lauten: „Ja“. Auch die Frage, ob sich ihre Erwartungen erfüllt haben, bejahen sie. Aber es ist ein zweischneidiges Ja: „Ja, aber trotzdem haben wir immer noch viel zu tun“, antwortet Roberto Salas, der Regisseur, mit einem wunderschönen Lächeln im Gesicht. Und er fügt hinzu: „Tropazancos ist für mich ein Versuch von KubanerInnen, trotz allem Freude am Leben zu haben und den Glauben an eine bessere Zukunft nicht aufzugeben.“

„Die Karibik“ neu aufgelegt

Im Vervuert-Verlag ist dieses Jahr die dritte und völlig neu bearbeitete Auflage des Sachbuches „Die Karibik“ von Frauke Gewecke erschienen. Um aktuelle Prozesse und Hintergründe der letzten Jahre erweitert und ergänzt, bieten die vorliegenden Texte einen umfassenden Einblick in Geschichte, Politik und Kultur der 28 karibischen Staaten und Verwaltungseinheiten.

Die naturräumlich und politisch so vielfältigen Länder der Karibik greifen auf eine ganze Reihe gemeinsame historische Erfahrungen zurück, welche bis in die Gegenwart hinein das Leben der Inselstaaten prägen. Jahrhunderte kolonialer Abhängigkeit, Verschleppung, Versklavung und Ausbeutung der Bevölkerung, Plantagenwirtschaft, die zuschnappende neoliberale Schuldenfalle, die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank, die sich bis heute fortsetzende wirtschaftliche Abhängigkeit aller karibischen Länder – ein Blick in die Geschichtsbücher von Jamaika, den Bahamas, Kuba, Haiti und den anderen karibischen Staaten mutet an wie die Sichtung des Registers aller kolonialistischen, kapitalistischen und neoliberalen Übergriffe der Neuzeit. Bis heute gehört die Karibik aus Sicht der nordamerikanischen Machthaber zum „Hinterhof der USA“, und auch andere Staaten wie Kanada, Mexiko, Brasilien, etc. bis hin zur EG/EU machten und machen ihren Einfluss geltend.

In wissenschaftlichem Ton und trotzdem recht flüssig zu lesen gibt das Buch der Heidelberger Professorin einen interessanten und detaillierten Überblick über Geschichte, Politik und Kultur der Karibik. Der Text ist zweigeteilt in eine in politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bestandsaufnahme sowie eine Analyse der Gegenwart der Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung. Das Buch erhebt den Anspruch einer umfassenden und perspektivisch reichen Betrachtung der Karibikstaaten, welcher es letztendlich in Hinblick auf die Kulturen der Länder doch nicht ganz gerecht wird. Es beweist sich, dass es ein fast unmögliches Unterfangen ist, Historie und Gegenwart von 28 Staaten multiperspektivisch und umgreifend abzuhandeln – das vorliegende Sachbuch macht aber einen beachtlichen Anfang.

Durchwachsener Start

El Pueblo Presidente” – “Das Volk ist Präsident”. Sechs Monate nach Amtsantritt verkündet Daniel Ortega seinen Wahlslogan unermüdlich weiter. Währenddessen konzentriert das „Präsidentenehepaar“ die Macht zunehmend bei sich selbst. Für Kritik und Misstrauen sorgten in den letzten Monaten eine ganze Reihe von Ortegas Entscheidungen. Zu allererst ist da die Ehegattin Rosario Murillo. Ortega hatte erklärt, dass er sich die Macht mit seiner Frau teilen würde. Dabei ist diese nicht demokratisch über Wahlen legitimiert. Ihr Einfluss auf die Regierungspolitik sind jedoch so offensichtlich, dass in Nicaragua fast nur noch vom Präsidentenpaar gesprochen wird. Als Vorsitzende des Rates für Bürgerbeteiligung und Kommunikation leitet Murillo zudem einen der umstrittensten Räte. Heißt es offiziell, dass die Räte die Aufgabe haben, das Land zur partizipativen Demokratie hinzuführen, sorgte der Rat bisher für Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass jegliche Kommunikation der MinisterInnen mit der Presse und sämtliche Dienstreisen durch Murillo genehmigt werden müssen.
Auch Ortega hat seine MinsterInnen straff in der Hand. Bereits fünf Ministerinnen wurden in den ersten sechs Monaten entlassen. So wurde die Kultusministerin schon zweimal ausgetauscht. Auch die Ministerin für Umwelt und natürliche Ressoucen Amanda Lorío sowie die Familienministerin Glenda Ramírez Noguera und die Direktorin des Instituts für ländliche Entwicklung, María Auxiliadora Briones mussten inzwischen ihren Hut nehmen. Auffällig ist, dass alle entlassenen Amtsträgerinnen Frauen waren.
Ortegas Beschluss, das Militär seiner engeren direkten Kontrolle zu unterstellen, hat zu Spekulationen über diktatorische Absichten des Präsidenten geführt. Und die Entscheidung, die FSLN-Parteizentrale zum neuen Regierungssitz umzufunktionieren, nährt Befürchtungen, dass man es zukünftig mit der Trennung zwischen Staat und Partei nicht allzu genau nehmen wird.
Die nicaraguanische Justiz gilt sowieso als stark sandinistisch dominiert. Momentan werden Vorwürfe der Korruption und Günstlingswirtschaft innerhalb der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) immer lauter. Im April dieses Jahres erst setzten FSLN und die liberale PLC des Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán gemeinsam Veränderungen zweier Artikel des Strafgesetzbuches durch. Seitdem wird bei „Geldwäschedelikten“ unterschieden zwischen solchen, die im Zusammenhang mit Drogenhandel stehen und solchen, die dies nicht tun. In letztem Fall liegt das Strafmaß nur noch zwischen fünf und sieben Jahren. Zwar werden die Anstrengungen der neuen Regierung und der neuen sandinistischen Polizeichefin Aminta Granera im Kampf gegen den Drogenhandel gelobt. Die benannte Gesetzesänderung hat jedoch offensichtlich einen anderen Hintergrund: Ex-Präsident Arnoldo Alemán wurde wegen Korruption und Geldwäsche zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im Dezember liegt dieser Richterspruch fünf Jahre zurück – dann wird es möglich sein, das neue Gesetz rückwirkend anzuwenden und Alemán kann ganz „legal“ freikommen.

Kurswechsel in der Außenpolitik

Während Ortega also innenpolitisch an seinem alten Pakt mit Alemán festhält, hat sich der außenpolitische Kurs des Landes unter der FSLN-Führung stark geändert. Schon einen Tag nach seinem Wahlsieg erklärte Ortega den Beitritt zur Bolivarianischen Alternative für Amerika (ALBA). Mit Kuba und Venezuela wurden eine Reihe von Kooperationsabkommen geschlossen. Venezuela hat bereits mit der Lieferung von kostengünstigem Öl begonnen, neue Energiekraftwerke konnten installiert und somit die Zahl der Stromausfälle stark gesenkt werden. Außerdem wurde der Bau von Raffinerien und einer Aluminiumfabrik versprochen. Kuba hilft im Gesundheitssystem und beim Kampf gegen den Analphabetismus. Ausgerechnet der umstrittene iranische Präsident Ahmed Ahmadinedschad war einer der ersten Staatsgäste Ortegas. Mitte Juni reiste Ortega dann selbst in den Iran. In einem Statement bezeichnete der Präsident die libyschen Revolutionsräte zudem als beispielhaft für eine partizipative Demokratie.

Kein Abschied vom Neoliberalismus

Doch obwohl es in manchen Diskursen den Anschein erwecken mag, ist die Regierung Ortega keine revolutionäre Regierung. In vielen Politikbereichen gibt es Kontinuität zu verzeichnen. So geht der Haushaltsplan dieses Jahres noch auf die Regierung Bolaños zurück und die neue Regierung wird die bereits ratifizierten Freihandelsabkommen einhalten. Auch der nationale Entwicklungsplan für die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wurde bereits von der Regierung Bolaños erarbeitet, die Regierung Ortega nahm nur wenige Änderungen an dem neoliberalen Papier vor. Die Inlandsschulden, von denen ein großer Teil auf undurchsichtige Machenschaften bei der Bankenkrise 2000/2001 zurückgeht, werden erstmal weiter zurückgezahlt, obwohl noch nicht einmal ihre Rechtmäßigkeit geklärt ist. Der Schaden für den Fiskus wird von der zivilgesellschaftlichen Organisation Coordinadora Civil auf über 500 Millionen US-Dollar beziffert.
KritikerInnen halten die Kapitalismus- und Imperialismuskritik des Präsidenten deshalb für reine Rhetorik. Coordinadora Civil kritisiert, dass die Regierung hinter geschlossenen Türen mit dem IWF verhandeln will. Dennoch bedeutet bereits die Änderung der Tonlage gegenüber dem IWF ein Schritt in Richtung mehr politische Souveränität: Innerhalb von fünf Jahren möchte man sich vom IWF befreien.

Soziale Akzente

Im Vorfeld der IWF-Verhandlungen machte Daniel Ortega bei einer Rede vor LehrerInnen deutlich, dass sich die neue Regierung ihre Lohnpolitik nicht vom IWF wird vorschreiben lassen. Ziel dieser Bemerkung war es wohl auch, die Gemüter der LehrerInnen zu beruhigen, die wochenlang für höhere Löhne gestreikt hatten, während die Regierung stur geblieben war. Da war es ein für viele Menschen wichtiges Signal, dass der Präsident sein eigenes Gehalt von rund 10.000 auf 3.200 US-Dollar senkte. Und auch einige andere Veränderungen, die gleich nach Amtsantritt von der Regierung durchgesetzt wurden, kommen bei großen Teilen der Bevölkerung gut an: Die öffentliche Bildung ist wieder für alle kostenfrei und auch „freiwillige” Einschulungsgebühren wurden verboten. Die Krankenhäuser arbeiten gratis und setzen dabei auf Generika, der Buspreis in Managua wurde von drei auf 2,50 Córdoba gesenkt.
Bei ihrem Programm „Hambre Cero“ (Null Hunger) verfolgt die Regierung eine nicht auf dem Verteilen von Almosen basierende produktive Sozialpolitik, die auch bei der Befreiung von den entwicklungsfeindlichen Zwängen des IWF helfen soll. Zehn Millionen US-Dollar sind im Haushalt für das Programm vorgesehen, bei dem Vieh an besonders arme Bauernfamilien übergeben werden soll. Der produktive Ansatz wird auch durch die Gründung einer Filiale der venezolanischen Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (Bandes) deutlich, die ab Juni günstige Kleinkredite mit nur zwei Prozent Zinsen an landwirtschaftliche Kooperativen ausgeben wird. Mit ihren 27 Millionen US-Dollar Startkapital ist die Bank aus Venezuela ein viel versprechender Schritt in Richtung des Abbaus ökonomischer Schranken der Eigeninitiative im Agrarsektor.
José de Jesús Bermúdez, der bei der Regierung für die Umsetzung der Freihandelsverträge zuständig ist, meint jedoch, dass die Kredite aus Venezuela keineswegs ausreichen, um die landwirtschaftliche Produktion im Land wirklich anzukurbeln. Dazu brauche man eine staatliche Entwicklungsbank.
Indessen verbindet Ortega weiterhin linke Rhetorik mit einem stark religiös geprägten Diskurs. So kündigte er in seiner Rede zum 1. Mai an, sich innerhalb von fünf Jahren vom „brutalen Kapitalismus“ des IWF zu befreien, um direkt im Anschluss daran dafür zu danken, dass die jüngsten Entwicklungen in Lateinamerika in erster Linie ein „großes Wunder Gottes“ seien.

Sieg über den Machismo

Als „Lebensfeinde“ und „Kindesmörder“ beschimpfte der mexikanische Klerus, angeführt von Kardinal Norberto Rivera, gemeinsam mit Anti-Abtreibungsorganisationen monatelang die BefürworterInnen für ein Recht auf legale und sichere Abtreibung. Genützt hat es nichts. Am 24. April liberalisierte das Parlament von Mexiko-Stadt das Abtreibungsrecht. Künftig sind Schwangerschaftsabbrüche in der von der linken PRD regierten mexikanischen Metropole bis zur 12. Woche straffrei.
Der Verabschiedung der Reform im Parlament ging eine hitzige öffentliche Debatte voraus. Feministische Organisationen, die das Recht auf Abtreibung als grundlegenden Bestandteil der Selbstbestimmung von Frauen begreifen, organisierten zahlreiche Foren und Diskussionsveranstaltungen, um die Bevölkerung in den Prozess mit einzubeziehen. Rechts-fundamentalistische Organisationen wie PROVIDA und der Klerus lancierten – unterstützt von regierungsnahen Konzernen wie dem Fernsehsender Televisa und der Telefongesellschaft LADATEL – Hetzkampagnengegen gegen die BefürworterInnen.
„Seit der Veröffentlichung meines Briefes an Chespirito habe ich hunderte Mails erhalten. Danksagungen und Glückwünsche für den gelungenen Artikel, jedoch mindestens genauso viele Hasstiraden, Angriffe die unter die Gürtellinie gehen, Morddrohungen – ausschließlich von Männern“, berichtet die Journalistin Guadalupe Loazea auf einem Diskussionsforum zur Abtreibungsreform in Mexiko Stadt Mitte April. „Chespirito“ ist bekannter Komiker und Protagonist eines polemischen Anti-Abtreibungsspots der rechten Regierunspartei PAN. Loazea hatte in der konservativen Tageszeitung Reforma in einer Replik auf den Fernsehspot der PAN den Komiker sarkastisch bloßstellt. Neben dem rechtskonservativen Klerus sei der tiefverwurzelte Machismo der schlimmste Feind des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben und eine selbstbestimmte Mutterschaft, meint die Journalistin, die außer für Reforma ebenso für das Boulevardblatt ¡HOLA! schreibt und mit der Frauenbewegung bislang kaum in Kontakt stand. Feministinnen betonen, dass die freie Entscheidung der Frauen über ihren eigenen Körper eine der bedrohlichsten Angstfantasien mexikanischer Männer sei. Eine Freiheit, die die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft angreife und den einzelnen „Macho“ seiner Macht beraube.
Drohungen waren im Kontext der in den vergangenen Monaten in Mexiko-Stadt geführten Abtreibungsdebatte keine Seltenheit. Kardinal Norberto Rivera drohte nicht nur den ParlamentarierInnen, sondern allen katholischen Gemeindemitgliedern, die sich offen für die Reform aussprachen, mit Exkommunizierung. Die feministische Organisationen GIRE und die „Katholikinnen für das Recht auf freie Entscheidung“ CDD, die im Zusammenhang mit Frauenrechten und Geschlechtergerechtigkeit seit Jahren für ein liberales Abtreibungsrecht arbeiten, sowie engagierte ParlamentarierInnen erhielten Morddrohungen per E-Mail.

Kirche zieht nicht

Auf Transparenten und Plakaten der Pro-Abtreibungs-Demos, wie auch in der Presse wurde immer wieder die Frage gestellt: „Mexiko – ein laizistischer Staat?“ Die massive Einmischung der katholischen Kirche in den Meinungsbildungsprozess, der von Seiten der Regierung kein Einhalt geboten wurde, ließen Zweifel an der Trennung von Staat und Kirche aufkommen. Vielmehr wurde am Beispiel der Abtreibungsdebatte die Verbindung zwischen VertreterInnen des Staates, fundamentalistischen religiösen Organisationen und der Kirchenelite klar deutlich.
Auffällig ist jedoch, dass die Mobilisierungskraft der Kirche, trotz machtvoller Dreierallianz und beeindruckendem Medienspektakel, nur allzu schwach ist. Von den 80 Prozent der katholischen Gläubigen Mexikos, die Norberto Rivera zu vertreten meint, kamen nur ein paar Tausend dessen Aufrufen zum zivilen Ungehorsam nach. Am Tag der Gesetzesabstimmung überschritten die Hundertschaften der Polizei bei weitem die Zahl der wütenden AbtreibungsgegnerInnen, die sich vor dem Parlament versammelt hatten, um mit Bildern zerstückelter Föten und Kindersärgen „für das Leben“ zu demonstrieren. Abgesehen davon, dass Studien von Frauenorganisationen zufolge über die Hälfte der katholischen Bevölkerung eine straffreie Abtreibung befürworten, hat der Klerus an Glaubwürdigkeit verloren. Mit der Parole „Ja, zur Abtreibung – Nein, zum Kindesmissbrauch“ bringen Feministinnen die Doppelzüngigkeit des kirchlichen Diskurses auf den Punkt. Innerhalb der letzten Jahre wurden zahlreiche Fälle von Kindesmissbrauch aus den Reihen des Klerus öffentlich. Viele der vehementesten
Abtreibungsgegner wurden als „Päderasten“ geoutet. Kardinal Noberto Rivera wird nachweislich als Mitwisser dutzender Missbrauchsfälle angeklagt.

PAN startet Gegenoffensive

Auch nach der Verabschiedung des neuen Abtreibungsrechts geht das Ringen weiter. Auf Kirchenseite mischte sich erneut der Papst ins Geschehen ein. Laut Aussage des Pontifex haben sich alle Mitglieder des Stadtparlaments, die für die Legalisierung der Abtreibung stimmten, selbst exkommuniziert. Schon Wochen zuvor hatte sich Ratzinger abfällig über die politische Entwicklung in der mexikanischen Hauptstadt geäußert und dem mexikanischen Klerus seine uneingeschränkte Unterstützung zugesichert. Auf politischer Ebene tritt nun ein, was die Feministin und Anthropologin Marta Lamas vorausgesagt hat. Die Partei der nationalen Aktion versucht die praktische Umsetzung der Reform zu unterwandern.
VertreterInnen der PAN, vom Präsidenten Felipe Calderón über den Gesundheitsminister bis hin zur Direktorin des Nationalen Fraueninstituts, beharren strikt auf der nationalen Gesetzgebung. Im föderalen Strafrecht ist Abtreibung nach wie vor illegal. VertreterInnen der rechtskonservativen Regierungspartei drohen infolgedessen dem medizinischen Personal staatlicher Krankenhäuser in Mexiko Stadt mit harten Strafmaßnahmen bei Durchführung eines nicht gesetzlichen Schwangerschaftsabbruchs. Die PAN initiierte eine Informationskampagne, die sich an das Gesundheitspersonal städtischer Krankenhäuser richtet. In Broschüren und auf Veranstaltungen werden ÄrztInnen über ihr Recht aufgeklärt, Schwangerschaftsabbrüche aus Gewissensgründen zu verweigern. Diese Informationsstrategie boykottiert nicht nur die Umsetzung der Reform, sondern leistet auch dem „Geschäft mit der Abtreibung“ Vorschub. In vielen anderen Ländern mit ähnlicher Gesetzesgrundlage werden Schwangere in öffentlichen Kliniken unter Vorschub moralischer und ethischer Bedenken zurückgewiesen, um daraufhin gegen das entsprechende Entgelt außerhalb der Klinik behandelt zu werden. Die städtische Regierung wird sich beeilen müssen, um der Kampagne der PAN konstruktiv entgegenzutreten. 14 städtische Kliniken sind bisher zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen vorgesehen, jedoch fehlt bislang die notwendige Schulung des Personals. Ebenso lässt die angekündigte Informationskampagne zu Sexualerziehung, sexueller und reproduktiver Gesundheit noch auf sich warten.
Die Initiative in der Hauptstadt hat in ganz Mexiko einen Stein ins Rollen gebracht. Im Bundesstaat Nuevo León haben Bundesabgeordnete der PAN kurzerhand eine Reforminitative des Strafrechts eingereicht, die die Sanktionen gegenüber denjenigen, die Abtreibung praktizieren, verschärfen soll. ÄrztInnen, ebenso wie Patientinnen sollen nach dem Entwurf mit höheren Strafmaßnahmen rechnen. „Das ist eine präventive Maßnahme, damit die Sache aus der Hauptstadt gar nicht erst bei uns ankommt,“ meint ein PAN-Abgeordneter aus Nuevo León. VertreterInnen der PRD legten in Tamaulipas einen Gesetzesentwurf vor, der dem Beispiel Mexiko-Stadts nacheifert. Daraufhin belebten die VertreterInnen der PAN einen Reformvorschlag wieder, der schon im Jahre 2005 in den lokalen Kongress eingebracht wurde. Bislang ist Abtreibung im Bundesstaat Tamaulipas straffrei, wenn die Schwangere vergewaltigt wurde oder hohe gesundheitliche Risiken bei Austragung der Schwangerschaft bestehen. Der von der PAN vorgelegte Gesetzesentwurf soll auch diese Möglichkeiten einschränken und sieht eine strikte Überwachung seitens des Gesundheitsministeriums vor. Auch in anderen Bundesstaaten wird innerhalb der Zivilgesellschaft und parteienintern über neue Abtreibungregelungen diskutiert. Fraglich ist jedoch, ob sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der lokalen Kongresse ähnlich positiv zugunsten einer Liberalisierung verschieben können wie in der Hauptstadt. Das gilt auch für den Bundeskongress, dem zwei Reformentwürfe zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts vorliegen. Die Stoßrichtung der PAN folgt auf Bundesebene eher dem nicaraguanischen Vorbild. Mit einer Stimmenmehrheit der sandinistischen Partei FSLN verabschiedete dort das Parlament im vergangenen Jahr eine Gesetzesänderung, die auch Abtreibung aus medizinischen Gründen unter Strafe stellt.
Mit der Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Mexiko Stadt wurde ein Meilenstein für das Recht auf Gesundheit und soziale Gerechtigkeit gesetzt. Doch die Nachwehen dieser Geburt sind mit schweren Komplikationen verbunden.

KASTEN:
Vorreiter in Mexiko und Lateinamerika
Mit den Stimmen der linken PRD und der ehemaligen Staatspartei PRI wurde am 24. April die Abtreibungsregelung in der mexikanische Hauptstad liberalisiert. Künftig dürfen Frauen bei ungewollten Schwangerschaften bis zur 12. Woche legal und kostenfrei abtreiben. In allen anderen Bundesstaaten Mexikos sind Abtreibungen nach wie vor nur aufgrund von Vergewaltigung, akuter Lebensgefahr der Schwangeren und /oder Missbildung des Fötus erlaubt. Auch für den lateinamerikanischen Kontext ist das neue Gesetz der mexikanischen Hauptstadt außergewöhnlich. Nur auf Kuba und Guayana ist Abtreibung bislang legal, in allen anderen Ländern Lateinamerikas und der Karibik kämpfen Feministinnen nach wie vor für das „Recht auf freie Entscheidung“ sowie „legale, sichere und kostenlose Abtreibung“. Der Kampf für ein Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft hat eine lange Geschichte in Mexiko. 1916 kam es in Yucatán zum ersten dokumentierten Feministinnentreffen des Landes. Schon damals war eines der diskutierten Themen das Recht auf Abtreibung. 1931 wurde erreicht, dass bei Vergewaltigung ein Abbruch straffrei ist.

Neue Geber, neue Chancen?

Venezuela leistet Entwicklungshilfe in den USA, hätte die Schlagzeile lauten können: Im Winter 2005/2006 startete der venezolanische Präsident Hugo Chávez ein Hilfsprogramm für arme US-AmerikanerInnen. Was bei den EmpfängerInnen für Freude sorgte, verärgerte das Weiße Haus. Die US-Regierung hatte sich geweigert, die Heizkostenzuschüsse für arme Haushalte wegen der hohen Heizkosten zu erhöhen; US-Konzerne lehnten Preissenkungen ab. Chávez sprang ein, bot armen US-Haushalten um 40 Prozent verbilligtes Heizöl an – und provozierte einmal mehr seinen „Lieblingsfeind“, US-Präsidenten Bush.
So weit, dass ein Land des ehemals globalen Südens „Entwicklungshilfe“ in einem Industrieland leistet, ist es noch nicht. Doch das starre Muster, das dem Diskurs von Entwicklung und Entwicklungshilfe lange Zeit zugrunde lag, ist aufgebrochen. Die Episode von Chávez‘ Hilfsprogramm zeigt: Längst stehen sich nicht mehr wohlhabende Industrieländer und mittellose Dritte-Welt-Staaten gegenüber, längst fließt Hilfe nicht mehr nur vom Norden in den Süden. Die globalisierte Welt zerfällt in ein Mosaik von armen und reichen Blöcken, Staaten, Regionen, in Netzwerke von Konkurrenz und Kooperation. Nicht nur in den USA, auch in den ehemals europäischen Zentren des Wohlstandes bilden sich zunehmend Schichten heraus, auf die die Bezeichnung „arm“ zutrifft – während Staaten wie China, Indien oder Brasilien zu Wirtschaftsmächten aufsteigen, die die ehemals vorherrschenden westlichen Staaten weder ignorieren noch umgehen können.

Entwicklungshilfe für die Geber

Dies wirkt sich auch auf die Entwicklungspolitik aus. Lange Zeit hatten die westlichen Industrienationen freie Hand: Für die technische und finanzielle Hilfe, die sie den ärmeren Staaten des globalen Südens zukommen ließen, konnten sie weitreichende Forderungen stellen. Dabei ging es häufig um wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Vor allem Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) machten seit den 1980er Jahren Strukturanpassungsmaßnahmen zur Bedingung für Kredite. Entsprechend ihrer neoliberalen Doktrin bestanden diese vor allem aus Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen. Seit den 1990ern forderten die traditionellen Geberländer zunehmend Anstrengungen im Bereich der good governance („guter Regierungsführung“) für Entwicklungshilfe: Verringerung der Korruption, Einhaltung der Menschenrechte, Meinungs- und Wahlfreiheit. Beides brachte den Geberländern von verschiedener Seite Kritik ein: Die geforderten Reformen dienten vor allem der eigenen Wirtschaft und erleichterten den Industriestaaten den Zugang zu den Märkten des Südens; sie zwängen anderen Staaten ihre Vorstellungen von Demokratie und freier Marktwirtschaft auf oder machten es manchen diktatorisch regierten Staaten unmöglich, überhaupt noch Hilfe zu bekommen – worunter vor allem die Ärmsten in diesen Ländern zu leiden hätten.
Jetzt ist alles anders, oder zumindest scheint es auf den ersten Blick so: Viele Staaten in Afrika, Asien oder Lateinamerika haben an Wahlfreiheit gewonnen, seit neue Staaten die Entwicklungspolitik für sich entdeckt haben. Für viele afrikanische Staaten ist China inzwischen wichtigster Handelspartner, Investor – und wichtigstes Geberland für Entwicklungshilfe. Für seine Investitionen fordert China nichts als den Zugang zu Rohstoffen, es interessiert sich – wenig verwunderlich – weder für die Lage der Menschenrechte noch für wirtschaftliche Reformen. Um seinen hohen Energiebedarf zu decken, hat China ein weitgefächertes Netz von Rohstofflieferanten geknüpft und dabei gerade die Länder in Asien oder Afrika einbezogen, die der Westen lange Zeit links liegen ließ. Was der SPIEGEL (13/2006) einen „brachialen Expansionskurs“ schimpft, ist gerade für viele afrikanische Staaten eine Alternative zum neoliberalen Programm von Weltbank und IWF. In Angola beispielsweise hat „der chinesische Weg“ die Armut deutlich effektiver bekämpft als die Entwicklungskredite des IWF. Chinas Ignoranz gegenüber Verletzungen der Menschenrechte machen seine Hilfe dennoch zu einer zweischneidigen Sache, wenn es, wie in Burma oder dem Sudan, bedingungslos mit Militärregimen kooperiert.
Anders die Situation in Lateinamerika: Dort avanciert Venezuela zum zentralen Akteur in Sachen Entwicklungspolitik. Im Unterschied zu China geht es dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez nicht (nur) um Wirtschaftspolitik: Er treibt vor allem sein politisches Projekt ALBA voran, eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit der Länder Lateinamerikas, die explizit gegen die US-amerikanische Vorherrschaft in der Region gerichtet ist.

Öl gegen Solidarität

Die „Bolivarianische Alternative für Amerika“ soll genau das Gegenteil der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA sein, mit deren Aufbau die USA in Lateinamerika scheiterten. ALBA statt ALCA – der Wechsel symbolisiert auch den Machtverlust der USA in Lateinamerika. Zwar sind die USA für viele Länder Lateinamerikas weiterhin wichtigster Handelspartner, doch haben sie ihren einstigen „Hinterhof“ in den letzten Jahren vernachlässigt, finanziell wie politisch. Einzig Kolumbien erhält über den Plan Colombia nach wie vor hohe finanzielle Zuschüsse. Der größte Teil des Geldes, mit dem sich die USA den Süden des Kontinents gefügig machten, geht heute in den Irak. So boten sich für Chávez perfekte Bedingungen: Während er in Venezuela den Aufbau des „Sozialismus des 21.Jahrhunderts“ in seinem Sinne vorantreibt, sichern ihm die sprudelnden Öleinnahmen außenpolitisch freie Hand. Linksgerichtete Regierungen wie in Argentinien, Bolivien und Ecuador unterstützt er großzügig und sichert sich im Gegenzug ihre Solidarität in seinem Konfrontationskurs gegenüber den USA.
Zwar hat Venezuelas Großzügigkeit auch wirtschaftliche Gründe: Zum einen geht zurzeit noch ein Großteil seiner Exporte in die USA, und Chávez möchte dem Land neue Absatzmärkte erschließen. Zum anderen erhöhen die vermehrten Öleinnahmen den Druck auf die venezolanische Währung. Um diese nicht aufwerten zu müssen und damit Exporte zu verteuern, sind die Finanzhilfen an befreundete Staaten ein willkommenes Mittel, um Kapital zu exportieren. Seit 2005 hat Venezuela für über drei Milliarden US-Dollar argentinische Staatsanleihen erworben. Auch Argentinien hat davon profitiert. Die argentinische Regierung konnte mit dem venezolanischen Geld auf einen Schlag ihre Schulden beim IWF zurückzahlen – was den Internationalen Währungsfonds politisch wie finanziell in eine Krise stürzte.

Kreative Tauschgeschäfte

Wieviel Venezuela tatsächlich in Entwicklungshilfe investiert, lässt sich nicht sagen – anders als in den Staaten der OECD gibt es weder einen festen Etat für die Hilfe noch ein eigenes Ministerium. Die Hilfe läuft zumeist über den staatlichen Ölkonzern PDVSA. Neben Finanzhilfen bietet Venezuela verschiedene, durchaus kreative Formen der Hilfe an. So zahlt es im Rahmen des Aufbaus von ALBA in Kompensationsfonds ein, mit denen bestehende Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten ausgeglichen werden sollen. Es versorgt Länder Zentralamerikas und der Karibik im Rahmen des Petrocaribe-Abkommens mit verbilligtem Öl, was den Anstieg des Ölpreises für diese abmildert und ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt verringert. Mit Kuba verbindet Venezuela nicht nur die symbolische Freundschaft zwischen Fidel Castro und dem Aufsteiger Chávez, sondern auch ein besonderer Tausch: Kuba erhält Öl – und schickt im Gegenzug Ärzte in die Armenviertel Venezuelas. Ähnlich funktioniert die Zusammenarbeit mit Bolivien, das gegen Öl Nahrungsmittel liefert, die an Bedürftige in Venezuela verkauft werden.
Gerade an solchen Projekten werden die Besonderheiten der venezolanischen Hilfe deutlich: Venezuela hat auch die Armut im eigenen Land noch nicht vollkommen besiegt und verknüpft so Aufbau in anderen Ländern mit Armutsbekämpfung im Inneren. Zugleich ist die Hilfe – auch aufgrund dieser Tatsache – stärker auf gegenseitige Kooperation angelegt als auf paternalistische Bevormundung, wie das bei der westlichen Entwicklungszusammenarbeit der Fall war. Den Staaten Lateinamerikas haben sich so zumindest Wahlmöglichkeiten ergeben: Sie können sich zwischen verschiedenen Optionen der Kooperation – und damit auch der Richtung der Entwicklung – entscheiden. Und das erhöht wiederum den Druck auf die Geberländer, ihre Formen der Hilfe zu überprüfen: Sie müssen nun nachweisen, wie erfolgreich ihre Hilfsprogramme tatsächlich sind. Die Zeiten sind vorbei, als die westlichen Geberländer den Ländern des Südens neoliberale Reformen aufdrücken konnten, ohne deren katastrophalen Folgen rechtfertigen zu müssen.
Dennoch bewegt sich Entwicklungshilfe weiterhin auf einem schmalen Grat: zwischen neuen Abhängigkeiten und der Eröffnung politischer Spielräume, zwischen freiwilliger Gefolgschaft und erkaufter Loyalität. Was auf der einen Seite Wahlmöglichkeiten bedeutet, bedeutet auf der anderen Seite auch Konkurrenz: Konkurrenz nicht nur zwischen den Geberländern, die durch die Hilfe auch Zugang zu begehrten Rohstoffen oder strategische Allianzen sichern. Sie bedeutet auch Konkurrenz um die Geber, um Investitionen und Handelserleichterungen. Der Wettbewerb der Standorte setzt sich – verschärft – in der Entwicklungshilfe fort. Wo, wie im Fall Venezuelas, politische Strategien eine größere Rolle spielen, mag diese Tatsache vorübergehend abgemildert werden. Auch hier gilt: Hilfe wird weiterhin nicht ohne Hintergedanken gegeben. Auch wenn manche der jetzt in Lateinamerika erprobten Ansätze die Hoffnung wecken, auf Dauer tatsächlich zu mehr Gleichheit zwischen den Partnern zu führen, statt, wie Entwicklungshilfe es bisher oft getan hat, die Ungleichheiten nur zu zementieren.

KASTEN:
Monetäre Emanzipation
Brasilien unterstützt Venezuela beim Aufbau einer „Bank des Südens“
Schon wieder so eine verrückte Idee von Chávez, mag man in den Bankdirektionen des Nordens geseufzt haben, als der venezolanische Präsident letztes Jahr ankündigte, eine „Bank des Südens“ aufbauen zu wollen – ein regionales Gegengewicht zu Internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank. Die bestehenden internationalen Finanzinstitutionen werden von den Staaten Lateinamerikas seit vielen Jahren als zu stark von den USA dominiert kritisiert. Um Kredite zu bekommen, mussten sie neoliberale Reformen durchführen, die manche von ihnen – wie Argentinien – erst recht in die Krise trieben. Damit soll es jetzt vorbei sein – und das meint nicht nur Chávez, der am 30. April gar den Austritt Venezuelas aus IWF und Weltbank verkündete. Bereits im Februar 2007 unterzeichnete er mit dem argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner offziell ein Abkommen zur Gründung der Bank, inzwischen haben sich Ecuador, Paraguay und Bolivien angeschlossen. Als kürzlich auch Brasilien zusagte, sich zu beteiligen, horchte man auf einem Mal auch im Ausland auf. Die regionalen Schwergewichte Brasilien und Venezuela sind sich zwar nicht immer einig – arbeiten sie zusammen, könnte es die „Bank des Südens“ aber tatsächlich bald geben. Beide Staaten haben derzeit hohe finanzielle Einnahmen und suchen nach Möglichkeiten, ihr Geld anlegen zu können. Wann die „Bank des Südens“ ihre Arbeit aufnehmen kann und Infrastrukturprojekte sowie kleine und mittlere Betriebe finanziert, ist noch offen; in den kommenden drei Monaten sollen zunächst grundlegende Fragen geklärt werden. Eines lässt sich in jedem Fall sagen: Der IWF verliert in der Region weiter an Einfluss.
Juliane Schumacher

Mit voller Kraft zum Sozialismus

Caracas am frühen Abend. Auf den palmenbesäumten Straßen rund um die U-Bahn-Station Altamira staut sich der Verkehr. Auffällig viele Taxis und teure Geländefahrzeuge ziehen sich an riesigen Shopping-Malls vorbei oder an luxuriösen Apartmentblocks, die von hohen Mauern mit Elektrodrähten umzogen sind. Die zahlreichen Cafés und Restaurants sind überfüllt. In den Supermärkten, wo die KundInnen mit gezückter Kreditkarte und randvoll gefüllten Einkaufswagen geduldig vor den Kassen ausharren, ist der Kaufrausch ausgebrochen. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den die Regierung ansteuert, fehlt jede Spur.
Nur wenige U-Bahn-Stationen weiter, am Capitolio, ist das anders. Dort tagt das venezolanische Parlament, in dem seit dem Wahlboykott der Opposition Ende 2005 nur noch AnhängerInnen des Präsidenten Hugo Chávez sitzen. „Vaterland, Sozialismus oder Tod!“ heißt es hier martialisch auf einem quer über der Straße hängenden Transparent. Oder: „Mahmud Ahmadinedschad, Präsident des Iran, du bist willkommen! Das rebellische Caracas steht auf deiner Seite.“ Solche Parolen sind vermutlich im Präsidentenpalast Miraflores erdacht worden, der von hier zehn Minuten zu Fuß entfernt liegt. Gleich hinter dem Amtssitz des Präsidenten wächst bereits das Armenviertel 23 de Enero die grünen Hänge hinauf.

Die Sierra Maestra von Caracas

Die U-Bahn steuert dieses Viertel von der Station Capitolio aus an. Sie verlässt dort die unterirdischen Tunnelgewölbe und gibt den Blick auf müllübersäte Hänge, schäbige Baracken und riesige Wohnblöcke frei. Nach einem Stopp ist 23 de Enero erreicht. Klapprige Busse und wild hupende Kleintransporter, die den Nahverkehr abwickeln, prägen das Straßenbild. Gelegentlich drängen sich schrottreife, verbeulte Limousinen dazwischen, die schwarze Rauchsäulen hinter sich herziehen. Wieviel Sprit sie verbrauchen, kümmert ihre FahrerInnen nicht, denn ein Liter Benzin kostet in etwa soviel wie ein Kaugummi. Reiseführer raten TouristInnen dringend davon ab, dieses Viertel zu besuchen. Doch wer sich dafür interessiert, wie es um die bolivarianische Revolution bestellt ist, sollte lieber hier aussteigen als in Altamira.
Bereits eine kurze Fahrt mit dem Kleinbus zeigt, dass 23 de Enero eine linke Hochburg ist: Wandmalereien verdammen den US-Imperialismus, das berühmte Portrait des Comandante Che Guevara ziert unzählige Mauern und Hauswände. Links zieht die Sierra Maestra vorbei, einige Wohnblöcke, die nach dem Gebirge benannt wurden, von dem die kubanische Revolution ihren Ausgang nahm. Fidel Castro selbst weihte diese Blöcke 1959 ein. Der gesamte Stadtteil verdankt seinen Namen dem 23. Januar 1958, als nach dem Sturz des Diktators Marco Pérez Jiménez neu errichtete Wohnblöcke einfach von der Bevölkerung besetzt wurden.
Inzwischen sind die über 50 Blocks im Viertel, die Pérez Jiménez als Sozialbauten errichten ließ, ein wenig heruntergekommen. Der Putz an den Fassaden bröckelt, und der Rost hat in die dicken Abfallrohre, die an den Außenwänden nach unten führen, riesige Löcher gefressen. Da die BewohnerInnen der oberen Etagen ihren Müll ungeachtet dessen durch diese Rohre nach unten befördern, landen Berge von Unrat nicht in den dafür vorgesehenen Behältern, sondern direkt auf der Straße. Die Angestellten der städtischen Müllabfuhr kümmert das nicht. Sie durchkreuzen das Viertel an diesem Tag in nagelneuen Transportern, auf denen in großen Lettern für die bolivarianische Revolution geworben wird, doch sie leeren nur die Müllbehälter.

Die Ingenieure der Revolution

Die Fenster einiger Wohnblöcke sind bis in die oberen Etagen vergittert. Wären da nicht überall bunt behängte, an den Gitterstäben festgezurrte Wäscheleinen, würden die Gebäude an Gefängnisse erinnern. Auf den Dächern einiger Blocks stehen großflächige Werbetafeln. Links wirbt der Toyota-Konzern für seine Produkte, und gegenüber heißt es: „Auf dem Weg zum bolivarianischen Sozialismus. 23 de Enero zündet die Motoren.“ Doch so wenig Toyota seine Karossen für die Reise in den Sozialismus zur Verfügung stellen wird, so wenig sitzen die Ingenieure der Revolution, die an diesen – insgesamt fünf – Motoren tüfteln, in 23 de Enero. Zum ersten Motor hat Chávez nämlich seine umstrittene Vollmacht erklärt, mit Gesetzesdekreten am Parlament vorbeiregieren zu können. Als zweiter Motor gilt eine Verfassungsreform, die das Gerüst des sozialistischen Rechtsstaats schaffen soll. Der dritte Motor steht für eine Erziehung zu neuen Werten und der vierte für die geografische Neuordnung des Landes. In 23 de Enero wird vor allem am letzten Motor auf Hochtouren gearbeitet: der „Explosion der kommunalen Volksmacht“. Viele der AktivistInnen, die daran basteln, den fünften Motor zu frisieren und zünden, nennen sich „SozialkämpferInnen“. Sie haben in der Regel einen dreimonatigen Kurzlehrgang auf Kuba absolviert.
Einer von ihnen sitzt im Kleinbus, der soeben die Sierra Maestra hinter sich gelassen hat. Sein Name ist Johnny, doch er stellt sich als Marxist-Leninist vor. Johnnys Aufgabe ist es, in diesem Viertel beim Aufbau von Kommunalen Räten zu helfen, die auf der Grundlage eines Gesetzes vom April letzten Jahres zusehends in die Lokalpolitik eingreifen sollen. Jetzt ist Johnny unterwegs, um sich mit dem Chef des Viertels zu treffen, der unter dem Spitznamen Mao bekannt ist. Während der Fahrt lässt er seiner Empörung darüber Lauf, dass eine kurze Fahrt mit dem Kleinbus fast doppelt so teuer ist wie eine U-Bahn-Tour quer durch die Stadt. „Damit wird bald Schluss sein“, schimpft er, „Die bolivarianische Revolution wird solchen Preiswucher nicht mehr lange hinnehmen!“

Der große Steuermann

Mao, der seinen Posten dem chavistischen Bürgermeister von Caracas verdankt, residiert im „Haus der Volksmacht“, im Erdgeschoss eines großen Blockes. Hier werden so banale Dokumente wie Sterbeurkunden oder Führungszeugnisse ausgestellt. Mao thront hinter einem riesigen Schreibtisch. Mit seiner runden Brille und seinem blond gefärbten Spitzbart erinnert er eher an den sowjetischen Revolutionsführer Trotzki als an seinen Namensgeber. Neben den obligatorischen Fotos von Castro, Guevara und Chávez hängt hinter seinem Rücken ein gemaltes Portrait von ihm, Mao, selbst. Auf einer Art Altar stehen neben diversen Revolutionsdevotionalien ein Plastikweihnachtsmann und die Jungfrau Maria. Während Mao erklärt, wie es zur „Explosion der Volksmacht“ kommen soll, schreibt er ein paar Zeilen in seinen aufgeklappten Laptop und unterzeichnet eine von seiner Sekretärin gereichte Geburtsurkunde. Oder er trommelt mit den Fingern zu Jazzrhythmen, die aus seiner Stereoanlage klingen.
Ob Mao als großer Steuermann auch nach der Zündung der Motoren die Revolution in diesem Viertel lenken wird, ist fraglich. Er selbst prophezeit, dass Bürgermeister und Gouverneure ihren Job verlieren, wenn die Räte erst einmal erfolgreich arbeiten. Insgesamt sollen in Venezuela bis Ende des Jahres 50.000 Kommunalräte entstanden sein. Ein Drittel davon hat sich bereits konstituiert. In einem Bezirk wie 23 de Enero können sich laut Gesetz zwischen 200 und 400 Familien zu einer asamblea, einer Versammlung, zusammenfinden. Die Versammlung wählt die Räte und ist bei Anwesenheit von zehn Prozent ihrer Mitglieder beschlussfähig. Die Räte bestehen aus verschiedenen Komitees, die unter anderem für Gesundheit, Wasser oder Müll zuständig sind. Eine kommunale Bank und ein Kontrollorgan, das Korruption und Amtsmissbrauch verhindern soll, kommen hinzu. Die Bank, von der Regierung mit einem Grundkapital ausgestattet, kann Darlehen an Mikrounternehmen und Kooperativen vergeben. Eigene Einkünfte können die Kommunalen Räte durch Verhängung von Bußgeldern generieren. Ansonsten müssen sie vorerst beim zuständigen Ministerium oder beim Bürgermeister Projektanträge stellen. Die Arbeit der Räte kann damit prinzipiell von höheren Instanzen kontrolliert werden. Die Regierung kündigte an, für dieses Jahr fünf Milliarden Euro für Projekte der Räte bereitzustellen. Immerhin dreimal so viel wie im vergangenen Jahr.

Der neue Mensch

Mao glaubt fest an die Zukunft der Räte. Während heute etliche korrupte Bürgermeister auf ihren Amtssesseln klebten, so doziert er, könne die Bevölkerung künftig in den Räten alle Politiker davon jagen, denen sie nicht mehr vertraue. An eine Kontrolle von oben glaubt der örtliche Chef der Volksmacht nicht. Ein gut begründeter Projektantrag müsse schließlich vom Ministerium bewilligt werden. KritikerInnen bemängeln vor allem das rasende Tempo, in dem die Räte Kompetenzen von den Bürgermeisterämtern übernehmen. Die Rechtsopposition fürchtet, dass sie in einem System der kommunalen Volksmacht immer weniger Mitspracherecht bekommt und langfristig ihre letzten Bürgermeister- oder Gouverneursämter verliert. Wie die Räte künftig auf überkommunaler Ebene kooperieren werden, bleibt weitgehend unklar. Vermutlich hängt es vom Engagement der Räte und anderer örtlicher Initiativen ab, ob sich in Venezuela künftig tatsächlich eine Basisdemokratie entwickelt. Ob der an autoritäre Entscheidungen gewöhnte Präsident bereit ist, einen Teil seiner eigenen Macht abzugeben, ist allerdings fraglich.
In 23 de Enero haben die 84.000 EinwohnerInnen bereits 17 Räte ins Leben gerufen. 57 sollen es Mao zufolge insgesamt werden. Aber das Viertel ist nicht unbedingt repräsentativ, denn die Menschen waren hier schon immer besser organisiert als anderswo. Einige Kollektive vor Ort
widmen sich seit Jahren der Stadtteilarbeit, greifen erfolgreich in die Kommunalpolitik ein, und haben den Drogenhandel aus der Zone verbannt. Zudem waren es nicht zuletzt die Bewohner Innen des 23 de Enero, die nach dem Putsch gegen Hugo Chávez im April 2002 erfolgreich für seine Rückkehr sorgten.
In anderen Regionen des Landes kommt die Gründung der Räte schleppender voran. In seiner Fernsehsendung Aló Presidente, in der sich Chávez einmal pro Woche direkt an die Bevölkerung wendet, träumte der Präsident kürzlich den alten Traum des Che Guevara, einen neuen Menschen zu schaffen, der sich, von sozialistischen Idealen geprägt, an der Bildung der Volksmacht beteiligt. Dieser Traum soll mit Hilfe des dritten Motors der Revolution Wirklichkeit werden: Tausende Brigadiere wurden bereits in alle Landesteile geschickt, um die Bevölkerung zu schulen und zu unterrichten. Während die Regierung sich jedoch öffentlich darüber auslässt, wie viele Brigadiere sie bis zu welchem Datum mobilisieren kann, schweigt sie sich über den Inhalt der Kampagne aus.

Haargel für das Volk

Auf die bisherigen Errungenschaften der Revolution in 23 de Enero kann Mao stolz sein. Die Regierung hat dort fünfzehn so genannte bolivarianische Schulen eingerichtet, in denen Kinder bis zum Abend beschäftigt werden und drei Mahlzeiten pro Tag erhalten. In fünf Großküchen werden an Bedürftige – Obdachlose, Behinderte, Schwangere oder ältere Menschen – umsonst Mittagessen ausgeteilt. Wer nicht als bedürftig eingestuft wird, erhält das Menü, zu dem in der Regel Fleisch, Gemüse, Obst und eine Suppe zählen, zum Vorzugspreis. Die Speisesäle, die im ganzen Land eingerichtet wurden, sind sehr sauber, das Personal ist freundlich und hilfsbereit. Außerdem können die EinwohnerInnen von 23 de Enero in ihrem Viertel günstig einkaufen. Wie in anderen Armenvierteln hat der Staat auch in 23 de Enero kleinere Supermärkte, so genannte mercales, eingerichtet, die ihre Waren direkt bei den ProduzentInnen kaufen und so versuchen, den Zwischenhandel auszuschalten. Grundnahrungsmittel werden dort zu einem Preis angeboten, der deutlich unter dem der privaten Supermärkte liegt.
In diesen Tagen fällt das Angebot in den mercales indes nicht besonders üppig aus. Die halbleeren Regale erinnern an einen ehemaligen HO-Laden in der DDR. Frisches Obst und Gemüse gibt es kaum. Das wird an bestimmten Tagen nur in einem Mega-mercal im Zentrum von Caracas verkauft. In den Regalen stehen aber immerhin Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Nudeln, Öl oder Salz. Auch Toilettenartikel von der Seife bis zum Haargel oder Produkte wie Kakao, Pudding oder Ketchup sind günstig zu erstehen. Am Wochenende, sagt die Verkäuferin, würden auch Hähnchen angeboten. Ansonsten ist Fleisch, ebenso wie Zucker und Karotten, zur Zeit knapp. Die ProduzentInnen dieser Produkte behaupten, der Staat habe deren Preise so niedrig festgesetzt, dass beim Verkauf Verluste entstünden. In den privaten Supermärkten rund um die
U-Bahn-Station Altamira ist von diesem Mangel nichts zu merken, denn die Preisbegrenzung gilt nicht für Waren in höherer Qualität.

Kein Bier in Altamira

Das Prunkstück der Revolution in 23 de Enero ist die Gesundheitsvorsorge. Etwa 100 von insgesamt über 20.000 kubanischen ÄrztInnen im Land arbeiten dort in Krankenstationen und einem neu eingerichteten Hospital. Knapp 40 von ihnen unterhalten eine Praxis in kleinen, achteckigen Bauten, deren Obergeschoss sie bewohnen. Sie besuchen die PatientInnen im Notfall auch zu Hause, ein Service, den es im Viertel zuvor nicht gegeben hat. Drei mittelgroße Krankenstationen, Modul 2 genannt, bleiben rund um die Uhr geöffnet und sind mit Röntgen- und Ultraschallgeräten, einem Labor und sogar einem kleinen Operationssaal ausgestattet. Die Gebäude sind nagelneu, die Behandlungsräume sauber, die medizinischen Geräte gewartet und gut in Schuss. Das Angebot reicht von klassischer Medizin, Massage, Akupunktur oder Logopädie bis hin zu Beschäftigungs- und Psychotherapie. In der Ecke eines größeren Raumes, in dem PatientInnen unter Aufsicht eines Physiotherapeuten mit Gewichten und Medizinbällen trainieren, wird mit Fotos und kubanischen Fahnen José Martí, der Freiheitsheld der Karibikinsel, geehrt.
Die kubanischen ÄrztInnen haben sich verpflichtet, zwei Jahre in Venezuela zu bleiben und müssen mit etwa 200 US-Dollar pro Monat auskommen. Für Ausflüge mit der U-Bahn nach Altamira und dem anschließenden Besuch einer Bar reicht das nicht. Ohnehin sollen die ÄrztInnen ihr Viertel aus Sicherheitsgründen nur in Begleitung verlassen. Denn Einzelne von ihnen, sofort an ihrem Dialekt erkennbar, sind in Venezuela schon ermordet worden. Der tiefe Hass gegen die Regierung im reichen Caracas macht offenbar auch vor den kubanischen ÄrztInnen nicht Halt. Da ist zum Beispiel Portu, ein aus Portugal stammender Taxifahrer, der in den besseren Zonen der Hauptstadt heftig gegen die ÄrztInnen von der sozialistischen Insel wettert. Er hält sie für unqualifiziert und behauptet, sie würden einheimischen ÄrztInnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Vermutlich hat Portu noch nie eine Krankenstation mit kubanischen DoktorInnen von innen gesehen. Und sollte er zufällig einen arbeitslosen und qualifizierten venezolanischen Arzt kennen, so wäre dieser mit Sicherheit nicht bereit, zu dem dafür vorgesehenen Gehalt in einer Krankenstation wie im 23 de Enero seinen Dienst zu tun.
So gesellen sich zu den Widersprüchen des bolivarianischen Prozesses auch jene zwischen Vierteln wie Altamira und 23 de Enero. Die sind nicht nur aufgrund der sozialen Gegensätze zwei Welten, die nicht zusammenpassen: Vorurteile gegen die Revolution hier, Unverständnis für die Opposition dort. Selbst wenn die fünf Motoren erfolgreich zünden, wird das Tempo auf dem Weg zum Sozialismus in beiden Stadtteilen auch künftig völlig unterschiedlich ausfallen. Wo es Volksmacht nicht einmal im Keim gibt, kann sie auch nicht explodieren.

Gringo go home

Die Charme-Offensive des US-Präsidenten hatte offenbar einen üblen Beigeschmack. So kündigte ein Priester eines Maya-Dorfes in Guatemala an, er werde nach der Abreise Bushs den heiligen Ort Iximche flugs einem „Reinigungszeremoniell“ unterziehen, um ihn für die Mayas wieder sauber und nutzbar zu machen. Bushs Botschaft, die er vor seiner achten und ausgedehntesten Lateinamerikareise vor der Hispanischen Handelskammer in Washington verkündet hatte, stieß auf taube Ohren, obwohl er sie mit spanischen Bruchstücken garniert hatte: „Trabajadores y campesinos, ihr habt einen Freund in den Vereinigten Staaten. Wir kümmern uns um eure Not.“
Not gibt es in Lateinamerika in der Tat nach wie vor reichlich: Über 40 Prozent der 570 Millionen LateinamerikanerInnen leben in bitterer Armut. Ihre Hoffnungen setzen sie jedoch mit Fug und Recht nicht auf Bush und seine neoliberalen Ratschläge, sondern auf die Linksregierungen, die sie in den letzten Jahren an die Macht gewählt haben.
Bush hat reichlich spät erkannt, dass sich vielerorts in Lateinamerika der Wind gedreht hat, doch was er bei seiner Reise im Gepäck hatte, waren dennoch nur Peanuts und alte Rezepte: Ein Lazarettschiff zur kostenlosen Behandlung bedürftiger Patienten in Mittelamerika, ein Wohnungsbauprogramm für 385 Millionen Dollar und 75 Millionen Dollar für Stipendien zum Sprachstudium in den Vereinigten Staaten. Dabei beherrschen die Latinos das „Gringo go home“ schon jetzt bestens – allen voran Bushs großer Gegenspieler Hugo Chávez bei seiner gezielten Gegentour. Allein die Aussprache von Chávez’ Namen wiederum mied der US-Präsident wie sonst nur der Teufel das Weihwasser. Trotzdem ist offensichtlich, dass Bushs PR-Tour nur ein Ziel hatte: den wachsenden Einfluss des venezolanischen Präsidenten, der seine bolivarianische Revolution über die Bolivarianische Alternative für Amerika (ALBA) zu exportieren gedenkt, diplomatisch auszubremsen.
Noch ist ALBA nicht weit gediehen, auch wenn nach Kuba inzwischen Bolivien beigetreten ist und Nicaraguas Präsident Daniel Ortega nur noch auf die Ratifizierung seitens des Parlaments wartet. Dennoch trifft dieses Modell einer gleichberechtigten Integration den Nerv in Lateinamerika. Denn die neoliberalen Reformen in den 90ern haben bei allen Unterschieden überall die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Und so war Bush im Gegensatz zu dem euphorisch gefeierten Chávez bei der Basis nirgendwo willkommen, obgleich er sich doch für seine Reiseroute Länder ausgesucht hatte, deren Regierungen ihm zumindest nicht offen ablehnend gegenüber stehen: Brasilien, Uruguay, Kolumbien, Mexiko und Guatemala.
Bushs Helferrhetorik hat bei den über 200 Millionen als arm klassifizierten LateinamerikanerInnen nicht gegriffen, die Abneigung gegen den großen Bruder im Norden ist aufgrund der Geschichte einfach zu groß. Die USA haben auch in ihrem „Hinterhof“ immer die Politik praktiziert, keine Freunde, sondern nur Interessen zu haben. Daran hat sich kein Jota geändert. Bush verspricht zwar seit geraumer Zeit eine Reform der Einwanderungspolitik, doch die Realität sieht anders aus: Jahr für Jahr sterben mit steigender Tendenz Hunderte von MigrantInnen beim Versuch, die immer aufwändiger gesicherte Grenze zu den USA zu überwinden.
Frei sollen aus Sicht der USA nur Waren und Kapital zirkulieren, bei denen sie einen Wettbewerbsvorteil haben. Brasiliens Forderung, die Importzölle auf Ethanol zu streichen, wurde von Bush mit einem kategorischen Nein beschieden. Damit macht man Punkte bei der US-Agrarlobby, nicht aber in Lateinamerika.
Die starre Haltung beim Ethanol konterkariert zudem das Bestreben, Lula als Bündnispartner gegen Chávez zu gewinnen. Aus Bushs Sicht ist das Zünglein an der Waage im Kampf um die politische Hegemonie auf dem amerikanischen Kontinent Brasilien. Das südamerikanische Land versteht sich selbst als regionale Großmacht und Präsident Lula sieht Chávez Vorreiterrolle in Sachen lateinamerikanischer Integration durchaus nicht mit reiner Freude. Dennoch: Als Statthalter für die US-Interessen kann sich Lula nicht hergeben, ohne politisch zur Bedeutungslosigkeit zu verkommen. Denn Bushs diplomatische Offensive in Lateinamerika kann an einem Fakt nichts ändern: Das neoliberale Modell hat dort abgewirtschaftet – so mühevoll der Aufbau von Alternativen auch ist. „Gringo go home“ ist en vogue wie seit langem nicht mehr.

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