Bush reaktiviert Contragates

John D. Negropontes Laufbahn als Karrierediplomat ist von fast vier Jahrzehnten US-amerikanischem Interventionismus in der Welt geprägt. Unter Henry Kissinger arbeitete Negroponte von 1973 an als verantwortlicher Offizier in Fragen des Vietnamkonfliktes für den Nationalen Sicherheitsrat der USA. Mit der Ernennung zum US-Botschafter von Honduras 1981 beginnt jedoch nachweislich seine Verstrickung in illegale Staatspraktiken.
Um den verdeckten Krieg der Reagan Administration gegen die linken Sandinistas in Nicaragua effektiv führen zu können, fungierte Negroponte vom Nachbarland Honduras aus als verlängerter Arm der USA. Bei der Sicherung von Ausbildungs- und Rückzugsbasen für die von Reagans Regierung illegal finanzierten Contras, wie die rechtsgerichteten nicaraguanischen Guerillas genannt wurden, spielte er eine maßgebliche Rolle.
Doch nicht genug damit, dass Negroponte Kraft seines Amtes mithalf, den illegalen Krieg gegen Nicaragua fortzuführen, seine Bemühungen vor Ort festigten auch die Militärdiktatur in Honduras selbst. Während seiner Amtszeit wurde die Militärregierung unter der Führung von General Gustavo Alvarez Martínez zu einem engen Verbündeten der USA – zur gleichen Zeit verschwanden innenpolitische Gegner in klassischer Manier der Todesschwadronen.

Honduras mit Norwegen verwechselt?

Verständlicherweise bekämpfen MenschenrechtsaktivistInnen daher die Nominierung Negropontes vehement. Selbst unter Kollegen gilt er als übereifriger Verfechter US-amerikanischer Interessen im Ausland, wobei er bekannt dafür ist, dass ihm „Menschenrechte hierbei nicht im Weg stehen.“ Unter Negropontes Aufsicht, so witzeln US-Diplomaten, habe sich der alljährliche Bericht der US-Botschaft über die Lage der Menschenrechte in Honduras eher wie ein Bericht aus Norwegen angehört. Andere Quellen sprechen von einer geheimen Terroreinheit, dem Batallion 316, die speziell von der CIA ausgebildet worden sei und hunderte von „Subversiven“ in Honduras entführte, folterte und exekutierte. Unter den wohlwollenden Augen Negropontes konnte also eine Todesschwadron des Militärs die Bevölkerung terrorisieren während die Militärhilfe für Honduras innerhalb weniger Jahre von 3,9 Millionen US-Dollar auf 77,4 Millionen US-Dollar anschwoll. Leo Valladares, Menschenrechtsbeauftragter in Honduras, behauptete kürzlich in einem Interview der Sun: „Botschafter Negroponte wusste alles über die Menschenrechtsverletzungen und er unternahm nichts, um sie zu stoppen.“

Zweifelhafter Lateinamerikaberater

Der zweite hochrangige Posten soll an Otto Juan Reich, einen profilierten Cuban-American und erklärten Castro-Gegner, vergeben werden. Reich ist für das Amt des Assistant Secretary of State for Western Hemisphere Affaires nominiert und wird somit als oberster Regierungsfunktionär für ganz Nord- und Südamerika zuständig sein. Seine Ernennung darf als politische Abschlagszahlung an die rechtsgerichtete Kuba-Fraktion in den USA gewertet werden, auf deren Unterstützung Bushs Wahlkampf in Florida letztes Jahr maßgeblich aufbaute.
Politisch bleibt Otto Reich, der auch Direktor des Center for a Free Cuba in Washington ist, von dem Thema Kuba besessen. In der vagen Hoffnung, einen Aufstand gegen Fidel Castro zu provozieren, setzte er sich in den letzten Jahren vehement für eine Ausweitung des Handelsembargos ein und wirkte maßgeblich am „Helms-Burton“-Gesetz mit.
Doch Reich lehnt nicht nur Handelsbeziehungen kategorisch ab, er verweigert auch jeglichen Kontakt zu Kuba. Selbst das Baseballspiel der Baltimore Orioles gegen ein kubanisches Team empfand er als unzulässige Annäherung, da „es die Situation dort trivialisiere. Das ist als ob man Fußball in Auschwitz spielen würde.“ So sind mit Reich die Weichen für eine Verschärfung der Konfrontation mit Kuba gestellt, zumindest scheint eine Entspannung der Lage in weite Ferne gerückt.

Iran-Contra und weiße Propaganda

Auch Reichs berufliche Vergangenheit ist von zahlreichen dunklen Episoden gezeichnet. Insbesondere seine Verwicklung in den Iran-Contra-Skandal macht ihn zu einer höchst bedenklichen Person. Mit Reagans Wissen und Unterstützung tätigten die USA Anfang der 80er Jahre illegale Waffengeschäfte mit dem Iran; Teile dieser Milliardenerlöse finanzierten wenig später die Guerillaaktivitäten der nicaraguanischen Contras, obwohl deren Unterstützung vom US-Kongress explizit verboten worden war. Angesichts der wachsenden innenpolitischen Opposition gegen ihren Krieg in Nicaragua, versuchte die Reagan Regierung daraufhin, die eigene Bevölkerung und den US-Kongress wieder auf Linie zu bringen. Reich wurde zum Leiter einer Propagandaabteilung des State Departments (Office of Public Diplomacy) ernannt, wo er seiner „Aufklärungsarbeit“ von 1983 bis 1986 im Sinne der Regierung nachkam.

Verschleiernde Aufklärungsarbeit

Diese Abteilung, die später von einem Untersuchungsausschuss als zutiefst illegal eingestuft und aufgelöst wurde, setzte sich aus Experten für die „psychologische Kriegsführung“ zusammen und legte ihre Berichte Oliver North, dem nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten vor. Ziel der Operation war es, das eigene Volk über die tatsächlichen Regierungsaktivitäten in Nicaragua im Unklaren zu lassen, indem man falsche Informationen verbreitete, missliebige Journalisten diskreditierte und Propagandataktiken anwendete, die eigentlich zur Verwirrung und Manipulation der Bevölkerung des Feindes entwickelt worden waren. Durch Publikationen, Werbung und gezielten Druck auf die Medien sollte die breite Ablehnung in den USA gegen das Eingreifen in Nicaragua abgemildert und um Verständnis für die Maßnahmen der Regierung geworben werden.
Das Iran-Contra Unternehmen endete trotz aller Mühen und aufgewendeter Steuergelder in einem Fiasko für Reagans Regierung und ging als einer der großen politischen Skandale gleich nach Watergate in die Geschichte ein.

Deutliche Signale

Doch aus der Geschichte scheint man in Washington wie so oft keine Lehren ziehen zu wollen. Die Nominierung von zwei Insidern der Iran-Contra-Affaire verheißt nichts Gutes, denn es geht dabei um ein deutliches Signal, das die neue Regierung aussenden will. Die ganze Welt soll merken, dass sich mit George W. Bush der Ton im Weißen Haus spürbar geändert hat und dies soll sich auch in der Auswahl seiner Berater konsequent widerspiegeln. Jedenfalls sind die Fehler der Vergangenheit vergeben und vergessen.
Ein US-Botschafter bei der UNO, der bisher die Menschenrechte wo immer er konnte mit Füßen getreten hat, mag zwar missverständliche Signale an „Schurkenstaaten“ wie China, Indonesien oder den Irak aussenden. Wichtiger jedoch ist die unterschwellige Wirkung: Zum einen diskreditiert man die missliebige Organisation der Vereinten Nationen ungemein, wenn man ihr einen „Schreibtischtäter“ wie Negroponte vorsetzt.
Gleichzeitig aber kann sich die Regierung Bush auch willensstark und unangreifbar zeigen, indem sie derart vorbelastete Hardliner wie Reich und Negroponte nominiert, ohne mit der Wimper zu zucken. Der öffentliche Widerstand war dabei programmiert und damit auch die erwünschte Medienaufmerksamkeit absehbar. Projekt Profil gewinnen, bis auf Weiteres erfolgreich abgeschlossen!

Neuer Name, altes Leid

In den 54 Jahren ihrer Existenz bildete die School of the Americas über 60.000 Militärs aus 21 lateinamerikanischen Ländern aus, darunter den grausamen Führer der Todesschwadrone El Salvadors Major D’Aubuisson und die Diktatoren Argentiniens, Panamas und Boliviens Roberto Viola, Manuel Noriega und Hugo Banzer. Ebenso den argentinischen Diktator Leopoldo Galtieri, verantwortlich für über 30.000 Tote im „schmutzigen Krieg“ gegen die politische Opposition. In der School of the Americas wurde auch die Doktrin der Nationalen Sicherheit entwickelt, deren Umsetzung für Lateinamerika drei Jahrzehnte blutiger Diktaturen und brutalster Menschenrechtsverletzungen bedeutete.

Doktrin der Nationalen Sicherheit

Die Entscheidung für eine Umbenennung der Ausbildungsstätte wurde getroffen, nachdem die School of the Americas in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik von Menschenrechtsgruppen geraten war und Enthüllungen den wahren Charakter der Ausbildung immer deutlicher werden ließen. Selbst eine Kommission des US-Verteidigungsministeriums musste Mitte der neunziger Jahre zugeben, dass die für die Ausbildung lateinamerikanischer Militärs verwandten Handbücher sehr zweifelhaft sind. Diese enthielten Erklärungen über die Anwendungen inoffizieller Vorgehensweisen, wie Einschüchterung, Kopfgelder für getötete Feinde, Schläge, willkürliche Verhaftungen, Exekutionen und die Anwendung eines Wahrheitsserums.
1996 musste sogar die US-Regierung zugeben, dass in Fort Benning illegale Praktiken unterrichtet worden waren. Im Rahmen der publicityträchtigen Entschuldigungen für die Unterstützung verschiedenster Diktaturen und Militärputsche in Lateinamerika durch US-Regierungen beteuerte die Clinton-Administration auch eine grundlegende Wende in der US-amerikanischen Lateinamerikapolitik. Die School of the Americas blieb jedoch weiter bestehen. Die Proteste gegen die Einrichtung nahmen aber auch in den USA immer weiter zu. Im Mai 1999 forderten mehrere Tausend Menschen vor dem Weißen Haus ihre Schließung, und Mitte November protestierten über 10.000 Personen direkt vor Fort Benning in Georgia. Etwa 3.600 Personen drangen dabei auf das Gelände, gegen über 2.100 von ihnen wurde bereits in Schnellverfahren ein Zutrittsverbot für eben dieses ausgesprochen.
Der erste Antrag, die School of the Americas zu schließen, war am 11. Februar 1999 von mehreren Kongressabgeordneten gestellt worden und sah vor, dies innerhalb von 30 Tagen durchzuführen. Es sollte aber noch über ein Jahr dauern bis sich der Kongress endgültig dazu durchringen konnte. Solange brauchte es wohl, um sicher zu stellen, dass das Ende von Fort Benning nicht auch das Ende der Ausbildung US-kontrollierter „bad guys“ bedeutete.

Ausbildung zum Killer

Der Antrag der Kongressabgeordneten wurde damit begründet, dass sich unter den Absolventen der Militärschule der US-Army „einige der schlimmsten Menschenrechtsverbrecher der westlichen Hemisphäre befinden“. Darunter die 19 Soldaten, die 1989 in El Salvador sechs Jesuiten, ihre Haushälterin und deren Tochter ermordeten. Sie hatten erst wenige Monate vorher ihre Ausbildung an der School of the Americas abgeschlossen.
Ebenfalls an der School of the Americas ausgebildet wurden zwei der drei Killer des Erzbischofs Oscar Romero und zehn der zwölf Offiziere, die sich für das Massaker an 900 Zivilisten im salvadorianischen Dorf El Mozote verantwortlich zeichneten.
In Kolumbien genossen die Hälfte der 247 nachgewiesenermaßen in schwere Menschenrechtsverbrechen involvierten Militärs ihre Ausbildung an der berüchtigten Schule, ebenso wie zehn der 30 chilenischen Offiziere, gegen die die spanische Justiz 1998 wegen Terrorakten, Folter und Entführungen ermittelte.
„Die Entscheidung, die Schule zu schließen war sehr schwer“, so Luis Caldera, US-Army-Secretary, „seit ihrer Entstehung hatte sie einen der bedeutendsten Anteile am Erfolg der Politik der USA in der Region“. So schwer wird der Abschied der US-Army aber nicht fallen, hat doch die Schule lediglich ihren Namen geändert und wurde dem US-Verteidigungsministerium unterstellt, während sie vorher direkt der US-Army unterstand.

Namenschwindel

Für die Gegner der berüchtigten Ausbildungsstätte ist der Kampf damit allerdings nicht beendet. „Den Kongress mögen sie getäuscht haben, aber die Leute nicht“, so der Priester Roy Bourgeois, der zusammen mit Carol Richardson seit über zehn Jahren vor Ort für die endgültige Schließung der School of the Americas kämpften. „Wir werden im Januar wieder vor dem neuen Kongress protestieren und immer wieder kehren, bis die Mörderschule – wie immer sie sie auch nennen mögen – geschlossen wird“, versprechen beide.
Die Veränderungen scheinen auch tatsächlich nicht weit über den Namen hinaus zu gehen. Gegenüber ihren wichtigsten Zöglingen erweist sich die US-Regierung in dieser Hinsicht auch als weitaus ehrlicher, als gegenüber der Öffentlichkeit. So äußerten der kolumbianische Verteidigungsminister Luis Fernando Ramírez und der Generalkommandeur der kolumbianischen Armee General Fernando Tapias auf Anfrage der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo einhellig, dass der US-Kongress und die US-Regierung ihnen zugesichert hätten, dass die Ausbildungsstätte weiterhin in Funktion bleiben werde und die kolumbianischen Militärs weiterhin dort ausgebildet werden könnten. „Was geschah, war eine Änderung des Namens und des Programms, aber es ist nicht so, dass es vorbei ist“, versicherte der Verteidigungsminister Ramírez.

Die vergessenen US-Amerikaner: Las Colonias

Was heißt es, an einem Ort
zu leben, in dem die Häuser keine Adressen, die Straßen keine Namen haben, an einem Ort, der auf keiner Landkarte des Staates Texas oder irgendeines anderen Staates zu finden ist? Was ist dies für eine Ort?
Es ist der Lebensraum der ärmsten Menschen in den USA, der vergessenen Amerikaner. An der Grenze zu Mexiko haben sich hauptsächlich Wanderarbeiter mexikanischer Herkunft niedergelassen. Sie selbst nennen diese Wohngebiete colonias [die mexikanische Bezeichnung für Stadtbezirke, Anm. d. Ü.].
Die Grenzregion zwischen Texas und Mexiko hat in den letzten Jahrzehnten eine regelrechte Bevölkerungsexplosion erlebt. Heute leben auf dem 1500 Kilometer langen Streifen von Brownsville/Matamoros bis El Paso/Juárez rund zwei Millionen Einwohner. Es ist die Region, die am meisten von der NAFTA, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen, beeinflusst wird und in der seit Abschluss des Abkommens der Wohlstand gewachsen ist. Völlig unberührt von diesem keimenden Wohlstand bleiben jedoch die Bewohner der colonias, die im langen Lauf der Geschichte immer auf der untersten ökonomischen Sprosse standen.
Insgesamt gibt es an der Grenze zwischen den USA und Mexiko rund 1.500 colonias, von denen sich die meisten in der mexikanisch-texanischen Region befinden. Das Land hier ist billig, aber es ist auch vollkommen wertlos. In dieser Gegend bleiben die Straßen ungepflastert, die Versorgung mit Strom und Wasser ist ganz und gar unzureichend. Die Bewohner bauen ihre Häuser an Orten mit idyllischen Namen wie Expressway Heights oder Green Valley Farms – Namen, die dem wirklichen Zustand der colonias spotten.
Bauvorschriften gibt es keine. María Pérez und ihr Mann kauften zum Beispiel erst einen Trailer [amerikanischer Dauer-Wohnwagen; transportables Haus, Anm. d. Ü.], an den sie später weitere Teile anbauten. So entstand ein Haus mit drei Zimmern und einer kleinen Küche, in dem sie zusammen mit ihren acht Kindern leben.
Die ersten dieser behelfsmäßigen colonias entstanden in den 50er-Jahren. Das Land wurde von den Immobilienmaklern als relativ wertlos eingeschätzt und hauptsächlich an Migranten verkauft. Insbesondere in den 70er-Jahren verramschte man Tausende von Grundstücken zu heruntergesetzten Preisen und mit dem Versprechen auf die baldige Installation von Strom und Wasser. Die Preise waren niedrig, aber die Lebensumstände bewegten sich auf dem untersten Niveau. Da die angekündigte Wasserversorgung nie errichtet wurde, mussten sich die Bewohner damit behelfen, das Wasser für das tägliche Leben in Tonnen aufzubewahren.
Nicht nur, dass den Migranten leere Versprechungen gemacht wurden; sie wurden auch mit den Verträgen betrogen. Die Menschen dachten, sie würden die Parzellen kaufen und sie auch mit einem Mal bezahlen. Tatsächlich stellte sich in den meisten Fällen heraus, dass sie die Grundstücke nur gepachtet hatten und dass die so genannten Kaufverträge nicht rechtskräftig waren.
Als Frank Martínez aktiv wurde und einen eigenen Brunnen grub, musste er feststellen, dass die Wasserqualität miserabel war. Das Wasser war nicht trinkbar, es ruinierte seine Kleidung und zerfrisst die Wasserleitung. Aus diesem Grund muss Martínez seine Wasserleitung nun alle zwei Jahre auswechseln. Als die Bewohner dieser colonia versuchten, sich an die städtische Wasserversorgung der Nachbarschaft anschließen zu lassen, schlugen sie fehl, da es keinen öffentlichen Eintrag gab, der die Existenz ihrer colonia bestätigte. So waren sie gezwungen, ihren Wasserbedarf auf illegale Weise zu sichern.

Wertloses Land für die Migranten
Auch in Sunny Skies gibt es keine Wasserleitungen. Die ganze colonia ist von einem einzigen Wasserhahn am Straßenrand abhängig. Es ist zwar eigentlich verboten, aber viele Familien haben ihre privaten Wasserschläuche mit diesem einen Hahn verbunden.
Doch nicht nur der Wassermangel stellt ein Problem dar; auch ein Zuviel an Wasser kann wegen der fehlenden Kanalisation zu Katastrophen führen. Ein Grundstücksverkäufer hatte 15 Zentimeter Erde abgetragen, so dass jetzt jeder kleinere Regen gleich eine Überschwemmung auslöst. Der Tod durch Ertrinken ist dort deshalb kein seltener Fall. Erst kürzlich wäre fast wieder ein Paar auf dem Heimweg in seinem Auto ertrunken.
Vor fünf Jahren sah Rosie Leija eine Anzeige für Grundstücke in Green Valley Farms. Sie zog mit ihrem Wohnmobil dorthin um, ohne dass man ihr gesagt hatte, dass das Grundstück Mittelpunkt eines periodischen Sees war. Als es regnete, war ihr Haus ruiniert. Aber Rosie schaute nicht einfach zu, sie reagierte. Wieder und wieder ging sie zum Kreisgericht und legte die Schwierigkeiten dar, mit denen ihre colonia konfrontiert war. Die Beamten, von denen viele keine Ahnung von den herrschenden Zuständen hatten, konnten nichts tun, da die colonia kein integrierter Teil ihres Landkreises war. Rosie schrieb Briefe und brachte ihre Geschichte vor Gericht, aber als Wanderfeldarbeiterin musste sie nach einer Weile ihr Heim mit Brettern vernageln und die colonia verlassen, um im Mittleren Westen der USA zu arbeiten.
Von Frühling bis Herbst holt sie, wie viele andere WanderarbeiterInnen, auf den Feldern die Ernte ein, zu einem Lohn, der häufig das staatlich anerkannte Minimum unterschreitet. Wenn die Erntezeit vorüber ist, kehren die Migranten in das Rio Grande Valley in Texas zurück, die Gegend mit der höchsten Arbeitslosenzahl. Die colonias in Texas haben auch die landesweit höchste Rate an Krankheiten wie Hepatitis und Typhus.
Der unregelmäßige Schulunterricht beeinträchtigt die Kinder, die die Schule jedes Jahr bereits im Frühling verlassen und erst im Herbst zurückkehren und so jährlich die letzten zwei Monate des Unterrichts verpassen. In den colonias gibt es weder Parks noch Spielplätze, noch andere Orte, an denen die Kinder sich nach der Schule amüsieren können. Mehr als 50 Prozent dieser Kinder werden niemals die höhere Schulbildung abschließen. Das ist zur Zeit die Lage in den meisten colonias.
In Green Valley Farms, im texanischen Landkreis Cameron jedoch schrieb Rosie Leija weiterhin Petitionen und trat solange vor das Kreisgericht, bis die Legislative des Staates Texas über den Fall informiert war. Ihr Beispiel hat Früchte getragen. Die Beamten des Kreisgerichts Cameron haben die texanische Justiz informiert. Daraufhin haben die hispanischen Kongressabgeordnete und Senatoren Gesetzesinitiativen gestartet, die die Betrügereien der Verkäufer zügeln sollen. Interessanterweise war diesen Repräsentanten gar nicht bewusst, mit welchen Problemen sich ihre Klientel herumschlägt. Sie haben nun ihre Anstrengungen verschärft, um die Lage in Ordnung zu bringen. Eine Stiftung aus dem Industriesektor und der Staat steuerten Gelder bei, und Valley Interfaith, eine religiös-laikale Organisation, ist hauptverantwortlich dafür, die Notlage der colonias ans Licht zu bringen – sowohl innerhalb des Staates als auch auf nationaler Ebene.
Nach fünf Jahren Kampf wird Leijas colonia nun ihre erste asphaltierte Straße erhalten. Ein kleiner Sieg, aber auch andere colonia-Bewohner haben begonnen, sich in Selbsthilfeprogrammen zusammenzuschließen. Eines dieser Programme, EPISO, half dabei, Häuser für Migranten zu bauen. Es ist ein langsamer Prozess, doch es ist ein Anfang. Es wird noch lange dauern, bis die Rechtsmittel verbessert und die Jahre der Vernachlässigung kompensiert sind, aber die Rosie Leijas der colonia werden der Gerichtsbarkeit bei der Durchsetzung ihrer Rechte gründlich auf die Finger schauen. Wie so oft, wenn es um die Belange der Unterprivilegierten geht, wurde der Prozess durch das intensive Engagement einer Organisation in Gang gesetzt. Die Bewohner haben geschworen, in ihrer Achtsamkeit nicht nachzulassen. Nur die Zeit wird zeigen, ob Strom, Wasser, Kanalisation und feste Straßen in den 1500 Kilometern zwischen Brownsville und El Paso, Texas, Wirklichkeit werden.
Wie sagte Rosie Leija? „Wir leben im reichsten Land der Welt, wir sind Bürger und Bürgerinnen dieses Landes und wir zahlen unsere Steuern. Wir verdienen es, gehört zu werden.“ Vielleicht werden die colonia-Bewohner bald keine „vergessenen US-Amerikaner“ mehr sein.

Rolando Hinojosa
Übersetzung:
Ann-Catherine Geuder
Informationen zum Colonia Projekt: www.lascolonias.org

Casino Zombies

Am Ende der Aufsatzsammlung
Casino Zombies, die viele ältere Artikel von Mike Davis enthält, findet sich eine Art Lichtblick: Nach den eher düsteren Aussichten und Szenarien vorangegangener Analysen stößt der Leser / die Leserin auf den Text Magical Urbanism. Situation und Perspektiven lateinamerikanischer MigrantInnen in den Städten des US-amerikanischen Südwestens werden in diesem Artikel auf überraschend positive Art thematisiert.
Der Text entspricht der gleichnamigen Originalausgabe, die zudem noch den Untertitel: Latinos Reinvent the US-City trägt. Neuerfindung der gigantomanen und apokalyptisch anmutenden US-amerikanischen Megastadtkultur durch den Einfluss sozial und politisch schwacher Latino-Einwanderung? Eine gewagte These.
Aber genau mit derartigen Thesen hat sich der Autor von City of Quartz, mittlerweile Standardwerk der Stadtentwicklungssoziologie, seinen Namen als herausragender Beobachter nordamerikanischer urbaner Realitäten gemacht. Davis’ Erfolg hängt mit dem Stil der Präsentation seiner Werke zusammen: Die büfettartig ausgebreiteten Fakten, denen eine ebenso profunde wie leidenschaftliche Recherche anzumerken ist, sind attraktiv und münden in eine Analyse, die ohne zuviel Ideologie deutlich linke Standpunkte vertritt. Ohne bei der Auswahl einseitig zu werden, lässt Davis die Tatsachen für sich sprechen.
Mit einem schlafenden Drachen wird die Rolle der MigrantInnen verglichen, die aus den Ländern jenseits des Rio Grande in die Vereinigten Staaten übersiedeln. Die Bedeutung der Latinos in den USA erschließt sich leicht über die demographischen Daten: Die Bevölkerungsgruppe der lateinamerikastämmigen Menschen wird im Jahr 2005 den Anteil der AfroamerikanerInnen in den USA überflügelt haben. Bereits jetzt ist die „Lateinamerikanisierung“ der mittleren und größeren Städte im gesamten Bundesgebiet derart fortgeschritten, dass die Bevölkerung mit spanischem Familiennamen jährlich um eine Million Menschen zunimmt. Das entspricht dem Fünffachen des allgemeinen Bevölkerungswachstums.

Politischer Einfluss?
Doch wird alleine die Masse der MigrantInnen eine Veränderung des diskriminierenden Alltags bewirken können? Mittels Wahlen jedenfalls, da ist sich Davis recht sicher, kaum. Dazu fehlen der großen Latino-Mehrheit trotz drastisch steigender Wahlbeteiligung oftmals noch die grundlegenden Rechte als US-amerikanische Staatsbürger. Wenn die Menschen aus Puerto Rico, El Salvador und anderswo nicht bei dieser Wahl den entscheidenden Impuls geben werden, so könnte dies bei der Nächsten schon anders aussehen. Durch die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft in Mexiko ist es nun beispielsweise deutlich mehr Chicanos möglich, auch in den USA ihre Stimme abzugeben. Und mexikanischstämmig sind immerhin zwei Drittel aller Einwandernden aus Lateinamerika.
Nach Davis’ Ansicht waren die besonders diskriminierenden rassistischen Gesetzesvorlagen der letzten Jahre Anlass für lateinamerikanische MigrantInnen, auf andere Maßnahmen als die Stimmabgabe zurückzugreifen, um gegen die drastische Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen vorzugehen. Der Zugang, der „Unsichtbaren“ zum öffentlichen Leben muss sich über teils selbstbestimmte, teils gewerkschaftliche Organisierung vollziehen. Von weitreichender Bedeutung sind für Mike Davis die „solidarischen Gemeinschaften, die in den sozialen Kämpfen im Stadtteil und am Arbeitsplatz entstehen.“ Allerdings muss auch er bemerken, dass die Gewerkschaften bisher nur geringes Interesse gezeigt haben, auf die besonderen Schwierigkeiten der Latinos einzugehen. In die oberen Etagen der Gewerkschaften sind MigrantInnen aus Lateinamerika bisher kaum vorgedrungen. Ihr Bezug zur Arbeit definiert sich stattdessen oft über so genannte Beschäftigungsnischen. Dort spielt sich der Überlebenskampf nach dem Motto „Dog eats Dog“ ab, wie Davis beschreibt, als dass es zu einer gemeinsamen Organisierung kommt.
Das erste Ziel, das Migran-tInnen verfolgen, ist möglichst schnell wirtschaftliche Sicherheit zu erlangen, mit der Option, so genannte Migradollar, also Devisen, in ihre Herkunftsländer schicken zu können. Es wird geschätzt, dass etwa acht bis neun Milliarden US-Dollar jährlich durch die ökonomischen Nabelschnüre in die Heimatorte auf dem mittel- und südamerikanischen Kontinent zurückfließen. Die Lebensformen der WanderarbeiterInnen, die lediglich saisonbedingt über die Grenze gehen, führen sowohl in ihren Dörfern als auch in den comunidades in den US-Citys zu neuen sozialen Phänomenen. Anders als früher vereinfacht der Globalisierungseffekt durch moderne Telekommunikation und billige Flugreisen das Leben an zwei Orten gleichzeitig. Auch die Probleme finden somit teilweise ihren Weg von den Metropolen zurück in die Heimatorte: So erwähnt der Autor die Fortführung gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Straßengangs aus L.A in den Herkunftsländern, ausgetragen durch abgeschobene Jugendliche.
Inwieweit durch kulturelle Einflüsse eine reelle gesellschaftliche Machtverschiebung zugunsten einer weitgehend ohnmächtigen Latino-Bevölkerung eintreten kann, lässt Davis offen. Chancen bieten nach seinen Ausführungen gewisse kulturelle Effekte, so etwa einerseits die Annäherung zwischen Latino-Communities unterschiedlicher Nationalität, als auch andererseits der Erfolg des sabor tropical in Musik und Mode und dessen Wiederspiegelung in den Medien. Es scheint, als etabliere sich sowohl der gringo hispanizado (hispanisierter Weißer) als auch der latino agringado (US-amerikanisierter Latino). Schilder wie „se habla ingles“, die an Läden in Los Angeles’ Latino-Zentren angebracht sind, üben eine gewisse Faszination aus und nähren die etwas irreale Vision eines geeinten Amerika. Dieser neuen Form eines Panamerikanismus scheint sich auch Davis, obwohl er selbst Gegenargumente anführt, schwer entziehen zu können.

Der Südwesten
Davis stellt eine neue Art von Mentalität in den Grenzgebieten fest und betrachtet die speziellen Entwicklungen in den so genannten Zwillingsstädten, wie zum Beispiel Tijuana und San Diego. Dort herrsche zwar einerseits eine wachsende Angst vor der zunehmenden Militarisierung der Grenze, andererseits bilde sich aber auch ein neues Selbstbewusstsein bei der ansässigen Bevölkerung heraus. Die Verwaltungen müssten angesichts der übergreifenden Infrastruktur (z.B. beim Problem der Umweltverschmutzung) verstärkt zusammenarbeiten.
Wie eingangs erwähnt, ist die Auseinandersetzung mit der Migrationsthematik ein kleiner Ausschnitt aus dem mit interessanten Artikeln zur Entwicklung des Südwestens der USA angefüllten Buch von Davis. Gut geschriebene Schilderungen zur frühen Besiedlungpolitik als auch über nachhaltige und systematische Umweltzerstörungen in der von der Militärindustrie geprägten Zone geben ein eben doch rund-pessimistisches Bild der dortigen Lage. Die Berichte werfen Schlaglichter auf unterschiedlichste „off worlds“; bemerkenswert ist u.a. der dokumentierte Briefwechsel mit einem Häftling, der die Gefängnisindustrie von innen beschreibt.

Lichtblicke und Ausblicke
Die Lichtblicke, soviel wird klar, sind wenige, eine gewisse Endzeitstimmung macht sich in sämtlichen Berichten breit. Vielleicht greift Davis, der sonst kaltblütig analysiert, deshalb auf die Hoffnung zurück, durch Arbeitskämpfe würden sich grundlegende Verbesserungen erreichen lassen. Sie stellen nach Meinung des Autors die einzige denkbare und nachhaltige Alternative zu kurzfristigen und hauptsächlich von Verzweiflung angetriebenen Gewaltexplosionen dar. Einerlei, ob man diese Ansicht teilt oder nicht: mit dem Buch hält man ein zwar schwer zu verdauendes, aber auch authentisches Stück US-amerikanischen Südwestens, in den Händen.

Winnie Enderlein

Mike Davis: Casino Zombies und andere Fabeln aus dem Neon-Westen der USA. VLA, Hamburg 1999, 269 S., 32.- DM.

Auf Integrationskurs?

Vor vier Jahren taten republikanische Rechtsaußen wie Pat Buchanan mit ihrer nationalistischen und rassistischen Propaganda so ziemlich alles, um Latinos zu vergraulen. Dieses Mal hat der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, der texanische Gouverneur George W. Bush, Latinos zu einer Hauptzielgruppe seines Wahlkampfes erkoren. Al Gore überlässt ihm diese demokratische Bastion aber nicht kampflos, und so lassen beide keine Möglichkeit aus, sich bei der Latinobevölkerung anzubiedern, sei es mit ein paar Brocken Spanisch oder mit der Verkündigung, zum traditionellen Weihnachtsessen der Familie Bush gehörten mexikanische tamales, in Blättern gekochte Maiskuchen.
Angesichts dieser ungewohnten Töne ist es, gerade in der republikanischen Partei, um diejenigen stiller geworden, die das Land für ImmigrantInnen abriegeln wollen. Ein Grund für die neue Offenherzigkeit liegt in der veränderten Zusammensetzung der wahlberechtigten US-Bevölkerung. Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund stellen etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und werden in Kürze die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden. Für Bundesstaaten wie Kalifornien, Florida und Texas sind sich DemographInnen einig, dass Latinos innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre die Bevölkerungsmehrheit stellen werden. Nimmt man zu den drei genannten Staaten noch New York hinzu, wo auch ein ansehnlicher Anteil der EinwohnerInnen lateinamerikanische Wurzeln hat, bekommt man die vier bevölkerungsreichsten US-Staaten zusammen. Deren politische Bedeutung wird durch den Wahlmodus noch unterstrichen. Der Präsident wird nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von 538 Wahlmännern und -frauen, von denen allein 144 aus den vier genannten Staaten kommen. Der Kandidat, der in diesen vier Bundesstaaten gewinnt, kann sich also schon ein ansehnliches Polster zulegen, zumal die Regel gilt, dass der Gewinner alles bekommt. Wenn sich also Al Gore beispielsweise Kalifornien sichern kann – und sei es mit einem Prozent Vorsprung vor Bush –, stimmen alle 54 Wahlfrauen und -männer für ihn.
Zu den demographischen Verschiebungen kommt hinzu, dass im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich viele Latinos an die Urnen gehen. Während die Anzahl der abgegebenen Stimmen bei Präsidentschaftswahlen von 1992 auf 1996 um insgesamt neun Millionen sank, stieg sie bei Latinos um 690.000. Die Zahl der Wahlberechtigten und -willigen Hispanics wird derzeit auf knapp sechs Millionen geschätzt – PuertoricanerInnen in New York und Orlando (Florida), Cubano-AmerikanerInnen im Großraum Miami und vor allem Mexican-Americans im Südwesten zwischen Texas und Kalifornien. Damit stellen sie sieben Prozent aller Wahlberechtigten in den USA, Tendenz steigend.

Mitfühlender Konservatismus

In seinem Wahlkampf bemüht sich George W. Bush nach Kräften, die rassistische Politik seiner ParteigenossInnen vergessen zu machen. Als er kürzlich zu einem Auftritt nach Los Angeles kam, durfte der ehemalige erzkonservative republikanische Gouverneur Pete Wilson nicht einmal im Publikum sitzen. Als erster republikanischer Präsidentschaftskandidat trat Bush bei den Jahrestreffen der beiden bedeutendsten Latino-Organisationen auf, der League of United Latin American Citizens (LULAC) und dem National Council of La Raza (NCLR). Seine Zielgruppe ist die wachsende Latino-Mittelschicht. Einer seiner Gefolgsleute, der texanische Kongressabgeordnete Henry Bonilla, bringt seine Botschaft auf den Punkt: „Der Gouverneur genießt eine ungeheure Unterstützung, da er über alle gleich redet und alle gleich behandelt. Es ist absolut beleidigend, wenn der andere Kandidat daherkommt und sagt, nur weil deine Haut eine bestimmte Tönung habe, seist du ein Opfer, dass du in der Gesellschaft deshalb nicht konkurrenzfähig bist.“
Im Vordergrund seines Wahlkampfes stehen mit Steuersenkungen und dem schlanken Staat klassisch republikanische Themen. Eingebettet sind diese in das Motto des Compassionate Conservatism, des „Mitfühlenden Konservatismus“. Damit versucht Bush diejenigen zu gewinnen, die traditionelle familiäre Werte in Gefahr sehen und/oder gegen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sind. Den herkömmlichen republikanischen Diskurs von amerikanischen Tugenden und Disziplin hat Bush neu verpackt: „in sanft therapeutische Rhetorik von Selbstwertgefühl, repräsentiert von afroamerikanischen und Latino-Lehrern, die es als persönlichen Erfolg feiern, Innenstadt-Kids in ordentlich uniformierte Alphabeten umzuformen und dafür nichts Teureres benötigen als hohe Erwartungen“, so Bush in einem Beitrag für die Zeitschrift In These Times am 4. September 2000.
Das emotionsbeladene Thema Einwanderung versucht er, durch die – bereits betagte – Forderung nach einer Zweiteilung der Einwanderungsbehörde INS zu besetzen. Um die zum Teil jahrelangen Bearbeitungszeiten zu verkürzen, soll eine eigenständige Institution Aufenthaltsgenehmigungen erteilen und Einbürgerungen vornehmen. Die Grenzüberwachung soll davon abgetrennt und gleichzeitig verstärkt werden. Eine Amnestie für MigrantInnen, die derzeit ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in den USA leben – eine Forderung vieler Latino/a-Organisationen –, lehnt er konsequent ab.
Im Wahlkampf bekommt Bush tatkräftige Unterstützung von seiner politisch überaus erfolgreichen Familie. Sein Vater war von 1989–1993 US-Präsident und sein Bruder Jeb ist Gouverneur von Florida. Aus dessen Ehe mit der Mexikanerin Columba Garnica ging George Prescott hervor, der von den WahlkämpferInnen und den Medien zum Mädchenschwarm stilisiert wurde. Prescott verkörpert das Bild des erfolgreichen Vorzeige-Chicanos und zieht für seinen Onkel durch die Lande. Dabei unterläuft dem politisch Unbeschlagenen allerdings auch schon einmal ein Patzer: Kürzlich verglich er seinen Onkel indirekt mit dem unter Chicanos legendären César Chávez, der zentralen Figur der 60er und 70er Jahre im Kampf um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von mexikanischen ArbeiterInnen in der US-Landwirtschaft. Aufgrund massiver Proteste verschiedener Gruppen, vor allem der Gewerkschaft der United Farmworkers, entschuldigte sich Prescott schnell für den Vergleich. Wie geschmacklos dieser war, zeigt ein Beispiel aus der frühen Amtszeit von George W. Bush als texanischem Gouverneur. Auf Betreiben der Agrarindustrie war es eine seiner ersten Taten, von der demokratischen Vorgängerregierung etablierte Umwelt- und Arbeitsschutzstandards abzuschaffen. Dazu gehörte die Vorschrift, dass Felder zum Schutz der LandarbeiterInnen nach einem Pestizideinsatz markiert werden mussten und für eine bestimmte Sicherheitszeit nicht betreten werden durften.
Bei der offiziellen Kandidatenkür von George W. Bush Anfang August in Philadelphia zeigte sich dann das gesammelte PR-Können der RepublikanerInnen. Ihr Parteikonvent glich zwischendurch einer riesigen Latino-Show. 3000 Hispanics, darunter Pop-Größen wie Jon Secada, Celia Cruz und Emilio Estefan, waren angereist um ihre Unterstützung für Bush zu zeigen. Der Medienrummel zeigte Wirkung: In Umfragen unter Latinos stieg Bush bis hin zum Gleichstand mit Gore.

Bis er es sagt

Die DemokratInnen antworteten mit dem spanischen Sänger Enrique Iglesias, dem Schauspieler Edward James Olmos und mit Dolores Huerta, Gewerkschafterin und Weggefährtin von César Chávez. Zwar entwickelten sie kein griffiges Schlagwort wie die RepublikanerInnen, um ihrem Kandidaten ein eigenes Profil zu verpassen. Aber auch die Kür von Albert Gore war von der Botschaft erfüllt, dass in Wirklichkeit er dafür stünde, Angehörigen von Minderheiten den Weg in den Amerikanischen Traum zu ebnen. Gore hat es beim Werben um Latino-Stimmen deutlich einfacher, kann er doch auf die jüngere Vergangenheit der Demokratischen Partei aufbauen, in der diese mit Bevölkerungsminderheiten freundlicher umgegangen ist als die republikanische. Zudem haben auf dem Ticket der DemokratInnen bereits mehrere Latinos politische Karriere gemacht. Bekanntester ist der derzeitige Minister für Energie und Erdbau und ehemalige UN-
Gesandte der USA, Bill Richardson, den viele Hispanics gerne anstelle von Joseph Lieberman als Vizepräsidentschaftskandidaten gesehen hätten.
Gore richtet sich in seinem Wahlkampf weniger an die Mittelschicht als vielmehr an ärmere Latinos und an diejenigen, für die die Immigrationsproblematik virulent ist. Anstatt das Hohelied auf niedrige Steuern zu singen, entwirft er Pläne für eine bessere Sozialversicherung. Damit trifft er nicht nur, aber auch bei Latinos einen Nerv. Denn von den 44 Millionen US-AmerikanerInnen ohne Krankenversicherung stellen sie etwa ein Viertel. Den Mindestlohn will Gore von 5,15 US-Dollar um einen Dollar erhöhen – auf diesen oder gar auf noch weniger sind 7,5 Prozent der Latinos angewiesen. Auch einer anderen Forderung von ImmigrantInnen-Organisationen will Gore nachkommen, nämlich der nach der Ausweitung des „Unterstützungsgesetzes für NicaraguanerInnen und ZentralamerikanerInnen“ (NACARA). Mit diesem genehmigte der US-Kongress 1997 NicaraguanerInnen und KubanerInnen, die vor „Bürgerkriegen in ihren Ländern“ in die USA flohen, den dauerhaften Aufenthalt. Gore versprach nun, das Gesetz auf Flüchtlinge aus Guatemala, El Salvador, Honduras und Haiti auszuweiten. Auch ließ er durchblicken, dass er offen sei für eine Generalamnestie für ImmigrantInnen ohne gültige Aufenthaltspapiere. Im Gegensatz zu Bush sagte er zudem zu, zweisprachige Erziehungsprogramme und andere Förderinstrumente für ImmigrantInnen, vor allem die derzeit umkämpfte Affirmative Action, zu verteidigen und wenn möglich auszubauen.
Diese Liste schöner Versprechen könnte man noch fortsetzen. Allerdings ist Gore auch kein unbeschriebenes Blatt: Als Vizepräsident war er unter anderem daran beteiligt, parallel zum britischen New Labour und den deutschen SozialdemokratInnen die Linie der New Democrats zu entwickeln und den Konservativen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie deren klassische Themen übernahmen. Nur zwei Beispiele: Im Namen der Haushaltskonsolidierung beschnitten sie die Sozialhilfe, gerade auch für ImmigrantInnen, und im Namen der Nationalen Sicherheit forcierten sie im In- und Ausland den Krieg gegen DrogenkonsumentInnen, -produzentInnen und -händlerInnen. In den USA sitzen in Folge dessen über zwei Millionen Menschen im Knast. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat damit weltweit im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die größte Gefängnispopulation, größtenteils African-Americans und Latinos. Der Kabarettist Will Durst meint denn auch zu dem liberalen Image des demokratischen Kandidaten: „Das Problem mit Al Gore ist, dass ich eine ganze Menge von dem glaube, was er sagt – bis er es tatsächlich sagt.“

Außenseiter

Neben Gore und Bush gibt es noch zwei weitere Kandidaten: Pat Buchanan und Ralph Nader. Beide haben zwar keine Aussichten, ins Weiße Haus einzuziehen, sind aber trotzdem der Erwähnung wert. Der ehemalige Republikaner Pat Buchanan kandidiert auf dem Ticket der Reformpartei, für die bei den letzten Wahlen der Multimillionär Ross Perot antrat. Aus dem Achtungserfolg, den dieser damals erzielte, resultierte ein Parteivermögen von 12 Millionen US-Dollar aus der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung. Damit versucht nun Buchanan, seine ultra-konservative Botschaft unters Volk zu bringen. Zwar startete er einen Versuch, mit der starken Betonung von Familienwerten konservative Latinos für sich zu gewinnen, aufgrund seiner Tiraden gegen Einwanderinnen und Einwanderer steht er dabei aber auf verlorenem Posten. Umfragen geben ihm derzeit insgesamt um die zwei Prozent.
Auf der Linken tut sich dagegen der als KonsumentInnenanwalt bekannt gewordene Ralph Nader hervor, der für die Grüne Partei antritt. Diese ist in den USA relativ jung, klein und heterogen. Trotzdem konnte sie in Neu Mexiko und Kalifornien mit dem Einzug in die Regionalparlamente bereits Erfolge feiern. Im Gegensatz zu den deutschen Grünen vertritt Nader die Position, zentrale Probleme der Gesellschaft seien die Dominanz der großen Konzerne und die Entmündigung der BürgerInnen durch die politische Elite. Angesichts dessen fordert er eine Reform des Steuerrechtes und der Lohnstruktur sowie die Revision der Wahlgesetzgebung, um kleinen Parteien den Einzug in die Parlamente zu erleichtern. In der Einwanderungspolitik unterstützt er die Amnestieforderung und eine Öffnung der Grenzen.
Nader liegt derzeit mit sieben Prozent der erwarteten WählerInnenstimmen recht gut im Rennen und sieht dies selbst in erster Linie als wichtigen Schritt zur Konsolidierung der Partei. Da allgemein erwartet wird, dass er Stimmen von der Demokratischen Partei abzieht, kann er durchaus zum entscheidenden Faktor für einen Sieg von Bush werden. Von Latinos hat Nader – trotz seiner Positionen – nicht viel zu erhoffen. Am 14. September veröffentlichte die größte spanischsprachige Tageszeitung in den USA, La Opinión aus Los Angeles, ein Interview mit ihm. Einige Tage später lobte eine Leserin zwar seine Aussagen – aber auch die Redaktion, da diese mit dem Abdruck dazu beitrage, dass Latinos überhaupt von der Existenz einer Grünen Partei und von Nader erfahren würden.

Kein geschlossenes Votum

Die großen Latino-Bürgerrechtsorganisationen wie LULAC, NCLR oder auch der Mexican American Legal Defense and Educational Fund (MALDEF) geben traditionell keine Wahlempfehlung ab. Stattdessen veröffentlichte MALDEF Anfang September einen 50-seitigen Brief an die Kandidaten der beiden großen Parteien (www.maldef.org), in dem deren Positionen zur Förderung der sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Situation der Latino-Bevölkerung abgefragt werden. Bei den meisten Themen liegt Gore sicherlich näher an den MALDEF-Forderungen als sein Kontrahent, auch wenn er weit davon entfernt ist, diese zu erfüllen.
Latinos werden sicher kein geschlossenes Votum abgeben. Wie alle anderen Bevölkerungsgruppen haben auch sie unterschiedliche Interessen. Für diejenigen, die den Sprung in die Mittelschicht geschafft haben, wird Bush sicherlich eine interessante Option sein.
In den ärmeren Bevölkerungsgruppen wird er dagegen einen schweren Stand haben. Im stark personenzentrierten Präsidentschaftswahlkampf wird viel davon abhängen, wie die beiden Kandidaten an ihren Sympathiewerten arbeiten können. Interessant wird dabei sein, wie viele Stimmen die Kandidaten jeweils im Revier des anderen und unter den noch unentschiedenen WählerInnen holen können. Dabei tragen beide ihr Päckchen: George W. Bush wird sein Image des reichen weißen Texaners nicht los und über Al Gore behaupten spitze Zungen, es sei egal, ob er nun Englisch, Italienisch oder Spanisch spreche, er bleibe einfach ein Langweiler.

Mehr Informationen zum Thema im Internet:
www.latinovote.com. Diese Seite bietet viele grundlegende Infos und Links zu den Seiten der Präsidentschaftskandidaten und zu Latino-Organisationen.

Brüche im Anti-Castro Block

Einen „überragenden Sieg“ konnte der republikanische Abgeordnete Lincoln Díaz-Balart Anfang Oktober im Repräsentantenhaus in Washington feiern. In letzter Sekunde hatten die Republikaner und unter ihnen drei einflussreiche exilkubanische Abgeordnete, eine signifikante Embargoerleichterung gegen Kuba verhindert. Nun dürfen zwar Nahrungsmittel und Medikamente aus den USA nach Kuba exportiert werden, aber Exportkredite wird es dafür nicht geben. Der US-amerikanischen Agrarlobby, die sich maßgeblich für den spektakulären Deal eingesetzt hatte, ist auf den letzten Metern die Luft ausgegangen. Dabei blieb auch das Recht der US-Bürger auf Reisefreiheit auf der Strecke. Während in der Vergangenheit das US-Außenministerium Reisen nach Kuba per Anordnung untersagte, wird aus der faktisch jederzeit aufhebbaren Anordnung nun ein Gesetz. Demnach dürfen nur Cuban-Americans einmal jährlich nach Kuba reisen. Jeder weitere Trip muss genehmigt werden. Das gilt für normalsterbliche US-Bürger generell. Nur in Ausnahmefällen dürfen sie auf die Karibikinsel fliegen, die gerade neunzig Meilen von Miami entfernt ist. Kubas Strände werden also auch weiterhin nicht von US-Bürgern bevölkert.
Zu verdanken haben die Amerikaner das Gesetz den exilkubanischen Hardlinern von der Cuban American National Foundation (CANF), im Verbund mit erzkonservativen republikanischen Kreisen. Die bilden seit Jahren die zentrale pressuregroup, wenn es um Kuba geht, und auch diesmal funktionierten die alten Seilschaften – wenn auch in letzter Minute. Wer weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn der Wahlkampf nicht derzeit in die letzte Runde gehen würde und Demokraten wie Republikaner fleißig Stimmen sammeln würden. Vielleicht wäre es nicht bei der symbolischen Lockerung des Embargos geblieben, denn das kubanische Exil ist beileibe nicht mehr der monolithische Block, als den es die CANF seit 1981 nach außen vertritt. Zudem hat die CANF mit dem Tod ihres charismatischen Vorsitzenden Jorge Mas Canosa 1997 ihren einflussreichsten Repräsentanten 1997 verloren. Canosa ging zu seinen besten Zeiten im Weißen Haus ein und aus und prägte die US-amerikanische Kubapolitik wie kaum ein anderer. Hinter den Kulissen zog er die Fäden; so gilt er als eigentlicher Vater des Toricelli-Gesetzes, das 1992 mitten im Wahlkampf verabschiedet wurde und das Embargo verschärfte, aber auch des so genannten Helms-Burton-Gesetzes, das vier Jahre später von Senat und Repräsentantenhaus verabschiedet wurde und Sanktionsmöglichkeiten gegen sämtliche Unternehmen vorsieht, die in Kuba in enteigneten US-Besitz investieren.

Die zweite Generation der Cuban Americans

Sein Sohn, Jorge Mas Santos, hat die führende Funktion seines Vaters quasi geerbt und steht der Organisation als Präsident derzeit vor. Allerdings hat der 37-Jährige Mühe, die großen Schuhe des Vaters, der einst vom Präsidentenamt in Kuba träumte, zu füllen. Bei den von der CANF organisierten Demonstrationen gegen die Rückkehr Eliáns nach Kuba stand Jorge Mas Santos oft im Abseits und schaute den in die Jahre gekommenen Demonstranten zu. Junge Gesichter waren eindeutig in der Minderzahl, und die CANF steht vor dem Dilemma, dass sie zwar bei den Exilierten der ersten Generation eine feste Basis hat, aber bei der in den USA aufgewachsenen Cuban Americans zunehmend auf taube Ohren stößt. Zwar gelang es der CANF in der Auseinandersetzung um den Flüchtlingsjungen Elián noch einmal den Anschein fanatischer Einmütigkeit zu wecken und moderate Töne zu übertönen. Selbst der nicht gerade unbekannte Eloy Gutierrez Menoyo, immerhin Gründer des Cambio Cubano (Kubanischer Wechsel) und ehemaliger Guerillero mit und dann gegen Castro, kam nicht zu Wort. Der 66-Jährige, der für einen Dialog mit Kuba eintritt und auch schon von Castro empfangen wurde, musste Anzeigen kaufen, um sich Gehör zu verschaffen.
Doch Menoyo ist nicht der Einzige, der versucht, dem Teil der Exilgemeinde Gehör zu verschaffen, der sich für einen Wandel der US-Kubapolitik einsetzt. 46 Prozent sollen es Umfragen zufolge sein, und runde sechzig Prozent stimmten bei einer Internet-Umfrage der Tageszeitung Miami Herald dafür Elián an den Vater zu übergeben. Natürlich sind derartige Zahlen nicht allzu aussagekräftig, wenn sich ansonsten wenig im Auftreten nach außen ändert. Allerdings hat das auch seinen Grund, und kaum jemand kann es besser erklären als eben Menoyo. Für ihn ist es eine Anti-Castro-Industrie gegen die er angetreten ist. Die würden die Kuba-Embargopolitik wie eine Geisel halten, moderate Exil-Kubaner mit brüllenden Radiosendern einschüchtern, und jedes Mittel sei ihnen recht um ihren schwindenden Einfluss aufrechtzuerhalten, wettert der von der CANF als Büttel Castros verunglimpfte Mann. Für ihn agiert die CANF nicht anders als Fidel Castro in Kuba. Repression sei auch ein Instrument der Hardliner.
Dafür gibt es in Miami reichlich Beispiele. Das Restaurant Centro Vasco ging 1996 in Flammen auf, weil der Besitzer sich weigerte, einer kubanischen Bolerosängerin, die dort auftreten sollte, abzusagen. Die Universitätsprofessorin María Cristina Herrera, die offen für den Dialog mit Castro eintrat, entkam mehreren Bombenanschlägen nur knapp. Angefeindet wurden auch Gloria und Emilio Estefan, als sie sich 1997 für den Auftritt kubanischer Musiker im Rahmen eines Kongresses stark machten. Freie Meinungsäußerung kann in Miami ungeahnte und unangenehme Folgen haben. So haben sich viele entschieden, den Mund zu halten.

Kubanische Millionarios

Schweigen muss jeder der bei Hardlinern angestellt ist. Die verfügen nach wie vor über beträchtlichen politischen und ökonomischen Einfluss. Mindestens 1.000 kubastämmige US-Bürger haben Millionenvermögen angehäuft – unter ihnen natürlich auch Jorge Mas Santos, der die Firma MasTec seines Vater übernommen hat. Die macht eine runde Milliarde Umsatz im Jahr, und aus deren Gewinn ist so manche Aktion der CANF, unter anderem auch die wichtigen Parteispenden in Wahlkampfzeiten, finanziert worden.
Wer in Miami in der Politik etwas werden will, muss sich gegen Castro gerade machen. Antikommunismus ist dort Bestandteil der Kommunalpolitik, diagnostizierte der Miami Herald, und wer nach oben will muss stramm auf der ideologischen Flöte spielen. 1997 kandidierten beispielsweise zwei castro-feindliche Cuban Americans für das Bürgermeisteramt der Stadt. Allein das zeigt wie gut die Exilgemeinde seit den 80ern gelernt hat, an Einfluss zu gewinnen. Auch in der Finanz-wirtschaft und Politik haben viele Cuban Americans Fuß gefasst. Zu verdanken haben sie dies der besseren Ausbildung, aber auch der systematischen Begünstigung bzw. Förderung durch die US-Behörden mittels Krediten und anderer Starthilfen. Lobbying beherrschem viele Exilkubaner aus dem Eff-Eff. Die Basis dafür waren die Annahme der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft und die Nutzung des Wahlrechts. Damit hatten sie den meisten anderen Exilgruppen einiges voraus. Den damit einhergehenden Einfluss wusste vor allem Mas Canosa zu kanalisieren.

Die YUKAs kehren Miami den Rücken

Doch so einfach wie in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre lässt sich die exilkubanische Einheit heute nicht mehr herstellen. Zum einen drängt die Wirtschaft darauf, endlich auch in Kuba Geschäfte machen zu dürfen, zum anderen sind die Kinder nicht gewillt, das gleiche Banner vor sich herzutragen wie ihre Eltern. Die nachwachsende Generation nimmt die USA nicht als Diaspora und Kuba nicht als das verlorene Paradies wahr. Auch die nachfolgenden Immigrationswellen von 1980 und von 1994, haben andere Sichtweisen ins Exil gebracht. Die jüngeren Exil-Kubaner kamen eben nicht aus einer begüterten Oberschicht, die sich von der Revolution beraubt fühlt und sind nicht überwiegend weiß, sondern farbig. Sie können der kubanischen Revolution auch Positives abgewinnen, allerdings wird Derartiges in der Öffentlichkeit in Miami nicht vertreten – es könnte schließlich den falschen Ohren zugetragen werden.
Gleichwohl halten viele den Kontakt zur Familie auf der Insel, reisen über Mexiko nach Kuba und überweisen die dringend benötigten US-Dollar auf die Insel. Jährlich zwischen 800 und 1.000 Millionen US-Dollar sind es nach Schätzungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), die aus Miami nach Kuba fließen und die Inselökonomie mit über Wasser halten. Den Hardlinern sind diese Transfers natürlich ein Dorn im Auge, aber daran ändern können sie nichts. Zudem haben viele Cuban Americans der zweiten Generation längst ihrer Neugier nachgegeben und sind ohne das Wissen der Eltern nach Kuba gefahren – auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.
Andere junge Cuban American haben die ihre schon gefunden. Rund ein Drittel der Cuban Americans der zweiten Generation geben mittlerweile an, dass sie sich als US-Amerikaner fühlen. Zudem kehren viele aus der zweiten Generation, die es sich leisten können, Miami den Rücken. Sie entfliehen dem Dunstkreis Miamis und den damit einhergehenden Tabus. Manche der Alten haben das begriffen und klagen darüber, das der American Way of Life ihre Kinder verderbe. Stöhnend nehmen sie zur Kenntnis, dass traditionelle kubanische Feiertage einen US-amerikanischen Anstrich kriegen, dass ihr Kuba ein anderes ist als das der YUCAs, der Young Urban Cuban Americans.
Einige der Veteranen haben eingesehen, dass ihr Kampf schon lange verloren ist. Andere wollen es allerdings nicht wahrhaben und sehen sich nach wie vor als Märtyrer einer politischen Mission oder als Opfer Fidel Castros. Diese Fraktion, die in der CANF beheimatet ist, kämpft gegen den Verlust der Disziplin und ihrer Meinungshoheit. Zum Instrumentarium gehört die massive Einflussnahme über die Medien. Abweichende Meinungen werden, wann immer es geht, außen vor gelassen. Die Auseinandersetzung um El¡án war dafür das beste Beispiel.
Aber die Fraktion wird kleiner – die biologische Uhr tickt gegen sie und die vielbeschworene Einheit des Exils, die es faktisch so nie gegeben hat, ist lange dahin. Aus dieser Perspektive könnten auch die Präsidentschaftswahlen ausgesprochen interessant werden. Denkbar wäre es schließlich auch, dass die CANF eine Abfuhr bekommt für die aus exilkubanischer Sicht erschwerte Ausreise nach Kuba. Die Beschränkung auf einen Flug pro Jahr wird bestimmt nicht allen Cuban Americans geschmeckt haben und auch die Fortführung der Embargo-Politik ist, wie erwähnt, alles andere als klar mehrheitsfähig.

Exportprodukt Zero Tolerance

Die zunehmende Gewalt in den Städten ist einzig mittels Repression in den Griff zu bekommen: Mit diesem Rezept reagierten die neokonservativen Denkfabriken in den USA auf die sozialen Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Unter dem Schlagwort „Nulltoleranz“ wird die soziale Unordnung, die auf Arbeitslosigkeit, prekäre Löhne und Sozialabbau zurückgeht, mit Polizei und Justiz bekämpft. Die Opfer des deregulierten Marktes werden kriminalisiert und bestraft, der Polizeistaat ersetzt den Wohlfahrtsstaat. Dieselben Köpfe, die vor Jahren unter dem Schlachtruf „weniger Staat“ den Rückzug des Staates aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik forderten und durchsetzten, rufen nun nach mehr Staat, wenn es um die Eindämmung der Folgen geht.
Mit dieser Kehrseite der neoliberalen Wirtschaftsordnung befasst sich der französische Soziologe Loïc Wacquant in seinem Buch Elend hinter Gittern, dessen deutsche Übersetzung beim Universitätsverlag Konstanz erschienen ist. Wacquant untersucht, wie die Ideologie der Nulltoleranz in New York entwickelt und dann im Ausland propagiert wurde. Er beschreibt, wie diese Ideologie nach London exportiert wurde, um von dort nach Westeuropa auszustrahlen, und wie die westeuropäischen Länder auf diese Ideologie reagieren: Noch stehe Westeuropa, im Gegensatz zu den USA, vor der Alternative, den Polizeistaat definitiv als Waffe gegen die Opfer der Marktdiktatur einzusetzen oder aber neue Bürgerrechte zu schaffen wie ein arbeitsunabhängiges existenzsicherndes Einkommen, lebenslange Ausbildung oder den allgemeinen Zugang zu Gesundheit und Wohnung.
Der 39jährige Wacquant ist Professor an der Universität Berkeley und Forscher am Centre de Sociologie Européenne des Collège de France.

Was ist die Politik der Nulltoleranz?

Loïc Wacquant: Die Nulltoleranz ist ein Mythos aus den USA – die Idee, dass man einen Zauberstab gefunden hat, um das Verbrechen, allein das Verbrechen, zu zerschlagen, ohne seine tiefen Ursachen zu berühren. Konkret ist es ein Schlagwort für eine Politik, die in New York umgesetzt wird und darin besteht, sehr hart und sehr systematisch die Kleindelinquenz vor der Straße zu entfernen: die Obdachlosen, die Prostituierten, die Bettler, die Ausgeschlossenen, die als physische oder moralische Bedrohung empfunden werden. Diese „Politik der Lebensqualität“, wie sie in New York heißt, ist nichts anderes als die Klassensäuberung der Straßen, damit der öffentliche Raum für die Mittel- und Oberklassen angenehmer und auch konsumierbarer wird.

Beschränkt sich die Nulltoleranz auf die Straßenkriminalität?

Es handelt sich um eine selektive Intoleranz gegenüber den Armen auf der Straße und gegen gewisse Verhaltensweise der Armen, die als unerwünscht oder gefährlich gelten, und sie äußert sich in der sozialen Säuberung. Es ist keinesfalls eine Intoleranz gegenüber aller Art von Kriminalität, niemand spricht von Nulltoleranz in Zusammenhang mit Steuerhinterziehung oder politischer Korruption, sondern immer nur in Zusammenhang mit der Straßenkriminalität.

Sie sprechen von einem Zauberstab, der nur das Verbrechen, nicht aber dessen Ursachen berührt. Was meinen Sie damit konkret?

Ich gebe ihnen ein Beispiel. Am Tag, als ich mein Buch „Elend hinter Gittern“ in Buenos Aires vorstellte, segnete der argentinische Kongress die Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes ab, das bereits sehr flexibel war. Er schuf damit die Grundlage für noch mehr soziale Unsicherheit, besonders in den armen Schichten. Parallel dazu hielten die Stadtpolitiker im Wahlkampf einen hysterischen Diskurs über die Nulltoleranz, es lief eine völlig verrückte Kampagne rund um die Sicherheit, die natürlich strikt auf ihre kriminelle Dimension reduziert wurde. Das scheint schizophren: Auf der einen Seite sagt man, man wolle mehr Sicherheit, die man auf die Sicherheit vor Kriminalität reduziert hat, man will also eine repressivere Polizei- und Strafpolitik. Und auf der anderen Seite verabschiedet man Gesetze, welche die soziale Unsicherheit vergrößert. Das scheint auf den ersten Blick widersprüchlich.

Und auf den zweiten Blick?

In Tat und Wahrheit sind diese beiden Bewegungen, der soziale und wirtschaftliche Rückzug des Staates einerseits und anderseits die Zunahme und Glorifizierung der Sicherheits- und Repressionsaufgaben, nicht widersprüchlich, sondern komplementär: Es handelt sich um eine Gesamtpolitik, die mehr und mehr mit dem Polizei- und Strafapparat auf die Unordnung antwortet, die ihrerseits auf die wirtschaftliche Deregulierung zurückgeht, auf die Zunahme der prekären Löhne, der Arbeitslosigkeit, des Elends, der Ungleichheiten, auf den Abbau des sozialen Schutzes. Diese Politik bestraft die Armut, die sich mit dem neoliberalen Wirtschaftsmodell ausgeweitet hat.

Das heißt, die Armen werden zum Sündenbock gemacht.

Ja. Noch vor 15 Jahren war die soziale Unsicherheit sozusagen das Monopol der Armen und der Arbeiterschichten. Doch mit der objektiv steigenden sozialen Unsicherheit, die heute auch Teile der Mittelklasse trifft und noch weiter hinaufsteigt, nimmt die Angst vor dem sozialen Absturz zu, die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, den Mittelklassestatus nicht halten zu können – und ihn nicht an die Kinder weitergeben zu können. Man schickt die Kinder an die Universität und ist nicht sicher, ob sie mit einem Abschluss auch eine sichere und angebracht bezahlte Arbeit finden werden. Diese generelle soziale Angst spitzen Politiker und Medien auf den Kriminellen zu, der die Angst vor dem sozialen Absturz symbolisiert, und deshalb kommt es zu diesem sehr heftigen Diskurs und zu dieser Forderung, den Kriminellen, den Armen, den Immigranten auf Distanz zu halten, also all die Menschen, die in den Ritzen der Gesellschaft leben und für die Mittel- und Oberklasse den sozialen Absturz symbolisieren.

Die Nulltoleranzpolitik soll also die negativen Folgen des neoliberalen Modells eindämmen. Wie erfolgreich war sie denn in den USA?

Keine andere Stadt in den USA hat diese Politik so rigoros umgesetzt wie New York, und viele Städte entschieden sich für zum Teil diametral entgegengesetzte Politiken. San Francisco etwa oder Boston entwickelten zusammen mit Stadtteilgruppen und Kirchen eine aktive Präventionspolitik. Die Polizei versucht, die Probleme der Nachbarschaft zu verstehen und gemeinsam mit der Bevölkerung Diagnosen aufzustellen, um zu verhindern, dass es überhaupt zu Verbrechen kommt, anstatt hinterher zu reagieren. Chicago praktiziert eine ähnliche Präventionspolitik unter dem Namen „Polizei der Nähe“, in San Diego hieß sie „Problemlösungspolizei“. In all diesen Städten ist die Kriminalität genauso stark zurückgegangen wie in New York, wenn nicht noch stärker.

Der Rückgang der Kriminalität in New York geht gar nicht auf die Politik der Nulltoleranz zurück?

Diese Politik begann man in New York 1993 umzusetzen. Doch die Kriminalität dort hatte bereits drei Jahre früher zu sinken begonnen – wie überall in den USA, unabhängig von der Stadtgröße oder von der eingeschlagenen Politik.

Wo liegen die Gründe für diesen Rückgang?

Grundsätzlich gibt es vier Faktoren, die seit 1990 zusammenspielen. Der erste ist die bessere Wirtschaftslage und der damit verbundene deutliche Rückgang der Arbeitslosigkeit unter der jungen Bevölkerung in den Armenvierteln. Sobald es bezahlte Arbeit gibt, geben die Jungen sofort die informelle und kriminelle Arbeit auf den Straßen auf. Der zweite Faktor ist der demographische Rückgang der jungen Generationen. Haupttäter der Straßenkriminalität sind die 15- bis 25jährigen; wenn dieses Alterssegment abnimmt, nimmt auch die Straßenkriminalität automatisch ab.
Drittens hat sich der Drogenmarkt stabilisiert – ich rede von Stabilisierung, nicht von Rückgang, denn die milliardenteure repressive Drogenpolitik in den USA ist ein totaler Fehlschlag, gesunken ist nicht der Konsum, sondern nur das Preisniveau. Der Drogenmarkt hat sich stabilisiert. In den 80er Jahren, als unter anderem Crack eingeführt wurde, entstand ein neuer Markt. Das war ein hartes Konkurrenzgeschäft, in dem sich kleine Banden heftig bekämpften, und in der illegalen Wirtschaft wird der Markt brutal und mit Gewalt geregelt. Anfang der 90er Jahre hatten die wichtigsten Gangs die Drogenverteilung unter sich aufgeteilt, man beobachtet eine Art Oligopol, das sich vom puren und perfekten neoliberalen Modell entfernt. Mit dieser Aufteilung erübrigt sich die Waffengewalt, um die Kontrolle auszuüben.
Viertens haben sich Teile der jüngsten Generation in den Schwarzen- und Latino-Vierteln aus Erfahrung von der illegalen und kriminellen Straßenwirtschaft zurückgezogen. Sie erlebten die Gewalt der 80er Jahre hautnah – ältere Brüder, Cousins, Freunde wurden umgebracht, verletzt, invalid, ins Gefängnis gesteckt – und zogen ihre Schlüsse daraus.

Weshalb gilt die Politik der Nulltoleranz in den USA und auch außerhalb dennoch als erfolgreich?

Weil es zu Beginn der 90er Jahre ein wissenschaftliches Erklärungsvakuum gab. Niemand hatte diesen Rückgang kommen sehen, also gab es auch keine Erklärungen dafür. In dieses Vakuum stießen die Ideologen der neokonservativen Thinktanks und Beratungsinstitute, welche die Nulltoleranz propagierten. Für sie war dieses Vakuum die traumhafte Gelegenheit, zu beweisen, dass ihre Politik die Straßenkriminalität hatte zurückgehen lassen. Sie konnten in New York, in den USA und in der westlichen Welt ihre Politik legitimieren: Die Zerstörung des Sozialstaates, die Deregulierung der Wirtschaft und der Arbeit, und die Glorifizierung des Straf- und Polizeistaates. Sie lancierten eine umfassende Propagandakampagne.

Wie verlief diese Kampagne?

Diese Thinktanks sind eigentlich Propagandamaschinen. Wenn sie ein Schlagwort produzieren wie die Nulltoleranz, geben sie Berichte ab, bombardieren die Medien mit Kommuniqués, organisieren Pressekonferenzen mit Pseudointellektuellen, die für die universitäre oder akademische Legitimation sorgen sollen. Dieses systematische Vorgehen hat reelle Folgen: Das Schlagwort gelangt in die Alltagssprache, die Politiker fühlen sich zu dieser Politik gezwungen, wer für fundiertere Ursachenbekämpfung der Unsicherheit plädiert, steht als mediatischer Zwerg da.

Wer steckt konkret hinter der Kampagne?

Es tauchen immer dieselben bekannten Namen auf. Das Manhattan Institute in New York zum Beispiel, das Charles Murray lancierte. Murray war der US-Guru in Sachen Zerstörung des Sozialstaates. Derselbe Murray warb nicht nur in den USA für die Nulltoleranz, sondern trat auch in Großbritannien als Experte auf und machte Propaganda für diese Politik – von dort aus strahlte diese Politik nach Europa aus. Und es ist wieder Murray, der jetzt Pamphlete darüber schreibt, wie gut die Gefängnisse funkionieren, dass sie die Kriminalität zurückgeworfen haben. Oder William Bratton, der frühere Chef der New Yorker Polizei, der eine private Sicherheitsfirma hat: Er brachte sich in die Marketingkampagne des Manhattan Instituts ein, das seine Ideologie den kulturellen und politischen Gegebenheiten jener Länder anpasst, die diese Politik aufnehmen und verinnerlichen sollen.

Nulltoleranzpolitik als Exportprodukt?

Aber sicher. Weshalb, denken Sie, hat sich das Schlagwort „Nulltoleranz“ in westeuropäischen Ländern verbreitet? Großbritannien, Deutschland, Frankreich, sogar Amsterdam macht mittlerweile Versuche mit der Nulltoleranz. Das Schlagwort wurde nicht einfach so hergeweht. Die New Yorker Behörden machten und machen diese Exportarbeit sehr bewusst, methodisch, gut organisiert, in Absprache mit den neokonservativen Thinktanks. Sie tun das, um die Politik in New York besser zu legitimieren – wenn alle ihre Politik anwenden, dann doch nur, weil ihre Politik die Bestmögliche ist.

Und das Exportprodukt wird dem jeweiligen Importeur angepasst?

In den USA wurde die Sozialpolitik durch die Strafpolitik ersetzt – Gefängnisse statt Sozialprogramme. In den 90er Jahren hat die Gefängnisbelegung in den USA jährlich um acht Prozent zugenommen, derzeit sitzen rund zwei Millionen Menschen hinter Gittern, dreimal mehr als vor 15 Jahren. Gleichzeitig wurden Sozialprogramme massiv zusammengestrichen. In Westeuropa hat die Politik der Nulltoleranz zwar Fuß gefasst, doch bisher hat man dort die Sozialpolitik nicht zugunsten der Strafpolitik aufgegeben. Im Manhattan Institute arbeitet Bratton mit einem lateinamerikanischen Forscher zusammen, um die Nulltoleranz der lateinamerikanischen Realität anzupassen. Bratton reist in diese Länder, um die Nulltoleranz zu propagieren, umgekehrt lassen sich lateinamerikanische Politiker in New York informieren.

Lateinamerika scheint ein sehr fruchtbarer Boden für diese Politik zu sein. Wo liegen die Gründe dafür?

Zum einen in der sozialen Unsicherheit, von der ich vorhin sprach. Sie hat in diesen Ländern in den 90er Jahren sehr stark zugenommen. Gleichzeitig sind das Länder mit einer autoritären politischen Tradition. Das macht die Sache auch so gefährlich: Mit der Nulltoleranz entfernt man sich von einer Sozialpolitik gegen die Armut, die eh schon schwach war. Denn der Wohlfahrts- und Sozialstaat ist in diesen Ländern nicht etabliert, weder hat er entwickelte Eingriffsmöglichkeiten noch ist seine Legitimierung in der Gesellschaft verankert. Über große Eingriffsmöglichkeiten und eine lange Erfahrung verfügt hingegen der Straf- und Polizeiapparat, den man einsetzen will, um die Folgen der sozialen Unsicherheit einzudämmen. Wenn man aber den Repressionsapparat einsetzt, um in den Unterschichten Ordnung zu halten, legitimiert man die Rückkehr zu einer Praxis, die an die der Diktaturzeiten erinnert – ohne Garantie, dass diese Praxis auf die Armenviertel beschränkt bleibt.

Es ist aber just die Bevölkerung in den Armenvierteln, die am lautesten nach der Politik der harten Hand rufen.

Das ist paradox. Zwar drückt diese Ruf die Forderung nach einer Senkung der Kriminalität aus, deren Hauptopfer die Armen sind – die Kriminalität der Armen richtet sich vor allem gegen sie selber. Anderseits werden sie die ersten Opfer der harten Hand sein, denn die richtet sich gegen die gesamte Bevölkerung in den Armenvierteln, nicht nur gegen die Kriminellen. Aber dieser Ruf aus den Armenvierteln ist auch ein Ruf nach einer Lebensstabilität. Weil die Menschen nicht in der Lage sind, stabile Arbeit zu fordern, fordern sie Stabilität dort, wo sie können, wo es eine Chance gibt, gehört zu werden. Das ist ein großes Dilemma, dem man sich mit Diskussionen und Information stellen muss: Aufzeigen, dass der Zauberstab der Nulltoleranz die Kriminalität verschwinden lässt, indem sie die Armenviertel der Polizei ausliefern.

Hat die Politik der Nulltoleranz öffentliche Diskussionen ausgelöst?

In den USA nicht, da gibt es keinen öffentlichen Raum mehr für solche Debatten, sie beschränken sich auf universitäre Kreise. In Europa und Lateinamerika hingegen laufen lebendige Debatten, da ist der Wille spürbar, zu diskutieren, sich Problemen zu stellen, zu fragen, welche die Folgen einer solchen Politik sein werden. Ich habe mich deshalb von Anfang an auf das europäische und lateinamerikanische Publikum konzentriert und das Buch auf französisch geschrieben. Es wird in acht Sprachen übersetzt, und bezeichnenderweise ist es einzig die englische Übersetzung, die nicht ganz gesichert ist – wo doch die Politik der Nulltoleranz zuerst in den USA und in Großbritannien umgesetzt wurde.

Interview: Michele Laubscher

Loïc Wacquant: Elend hinter Gittern. Universitätsverlag Konstanz 2000, 169 S., 16,80 DM (ca. 10 Euro).

US-Gewerkschaften entdecken die Latinos

Es ist Zeit, dass wir uns mit den eingewanderten ArbeiterInnen für ein neues Legalisierungsprogramm einsetzen“, erklärte den 5.000 Delegierten der Antragsteller Josie Mooney, Chef des Ortsverbands San Francisco. Diese nahmen den Vorschlag mit großer Mehrheit an. In einer etwas kitschig geratenen Inszenierung stellten sich anschließend unter dem Applaus der Delegierten ImmigrantInnen aus über 40 Ländern auf die Bühne und hielten Schilder mit den Namen ihrer Herkunftsländer und einem Transparent mit der Aufschrift „United Nations of SEIU“ in die Luft.
Damit macht sich die 1,3 Millionen Mitglieder starke SEIU zum Vorreiter der neuen Einwanderungspolitik des US-Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO. Dieser hatte bereits im Winter eine ähnliche Resolution beschlossen. Auf öffentlichen Hearings, welche der 13 Millionen Mitglieder zählende AFL-CIO in einer Reihe wichtiger Städte organisiert, berichten nun EinwanderInnen über Probleme mit Behörden und Unternehmern. Der AFL-CIO will damit, wie Vizepräsident Linda Chavez-Thompson sagt, zunächst „in der Gewerkschaftsbewegung für ein besseres Verständnis über die Wichtigkeit der Organisation von Immigranten sorgen“. In der Vergangenheit habe es unter Gewerkschaftsmitgliedern teilweise eine starke Zurückweisung gegenüber ImmigrantInnen gegeben.
SEIU erntet dagegen bereits heute die Früchte einer jahrelangen Kampagne der gewerkschaftlichen Organisierung von Einwanderern. In Chicago und Los Angeles konnten seit April mies bezahlte Putzkräfte mit Streiks eine Lohnerhöhung von 25 Prozent erkämpfen, in anderen Städten starten die Mobilsierungen in den nächsten Wochen. Die GebäudereinigerInnen, welche in nächtlicher Arbeit Großraumbüros auf Hochglanz polieren, zählen zu den Millionen von Menschen, die in den USA im unterbezahlten Dienstleistungsbereich arbeiten. Viele von ihnen sind EinwanderInnen, die oft über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen. SEIU führt seit Ende der 80er-Jahre die Kampagne „Justice für Janitors“ – „Gerechtigkeit für das Putzpersonal“ durch, deren Logo ein von einer Faust umschlossener Besenstiel ist. So ist es der am schnellsten wachsenden Gewerkschaft in den USA gelungen, während der letzten Jahre Verträge für insgesamt 100.000 von der SEIU organisierte Putzkräfte auszuhandeln, welche im Lauf dieses Frühsommers erneuert werden müssen.
Der erfolgreiche Aufstand der Putzkräfte und die neue immigrantenfreundliche Politik, welche der AFL-CIO eingeschlagen hat, zeige die „Macht der Latinos in der Arbeiterbewegung“, meint Baldemar Velazquez, Vorsitzender des Farm Labor Organizing Committee. Tatsächlich reagierte der AFL-CIO mit seiner Resolution auf den langjährigen Druck von Netzwerken gewerkschaflich organisierter EinwanderInnen, hauptsächlich aus Lateinamerika.

Zuwanderung ohne Rassismus?

Viele der rund 30 Millionen Latinos, welche in den USA leben, arbeiten in schlecht bezahlten, niedrig qualifizierten und ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen im Dienstleistungssektor, wie beispielsweise dem Hotel- und Gaststättengewerbe, häuslichen Dienstleistungen oder aber der Bau- und Landwirtschaft. Gerade die über die mexikanische Grenze neu eingewanderten Latinos, welche meist über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen, müssen notgedrungen alle Jobs annehmen, die sich ihnen bieten. Doch das neue Dienstleistungsproletariat ist nicht in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten eingewandert, um Tellerwäscher zu bleiben, sondern um Millionär zu werden.
Der Weg aus der Armut führt über die Gewerkschaften, erklärt David Bacon vom Labor Immigrant Organizer Network (LION): „Insgesamt betrachtet sehen die EinwanderInnen viel eher als die Gesamtbevölkerung in den Gewerkschaften ein wichtiges Werkzeug, um ihre Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern.“ Eine wichtige Rolle dafür scheint auch zu spielen, dass viele Einwanderer aus Ländern mit einer langen Geschichte des Gewerkschaftsaktivismus kommen und kollektiven Interessenvertretungen von vorneherein offenere gegenüberstehen als viele US-AmerikanerInnen
Seitdem 1995 mit John Swenney, der früher Vorsitzender der SEIU war und Vater der Kampagne „Gerechtigkeit für Putzkräfte“ ist, eine neue reformorientierte Führungsspitze in das Exekutivkomitee des AFL-CIO gewählt wurde, macht sich der Gewerkschaftsverband gezielt daran, EinwanderInnen zu organisieren. Gleichzeitig schließen die Gewerkschaften Allianzen mit Bürgerrechtsgruppen und sozialen Bewegungen, zu denen bisher wenig Verbindungen bestanden. So organisierte der AFL-CIO gemeinsam mit einem breiten Spektrum teilweise radikaler Gruppen die massiven Proteste gegen die Tagungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle letztes Jahr und gegen die Frühjahrsversammlungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in Washington Anfang April. Der frische Wind und die neue Basisorientierung sorgen für Erfolge bei der Mitgliederwerbung. Letztes Jahr verzeichnete der Verband zum ersten Mal seit den 50er-Jahren wieder ein Mitgliederwachstum.

Gerechtigkeit für Putzkräfte

Gerade die erfolgreiche Kampagne der Putzkräfte zieht die Aufmerksamkeit auch von internationalen BeobachterInnen auf sich, scheint SEIU doch gelungen zu sein, wovon Gewerkschaften anderswo nur träumen. Die Organisation von EinwanderInnen im Dienstleistungsbereich gilt in Gewerkschaftskreisen als ein strategisches Problem, das schwer zu knacken ist. Kent Wong, Direktor des Zentrums für Arbeitsbeziehungen von der University of California in Los Angeles, meint, die Kampagne der Putzkräfte könnte hier Vorbildcharakter bekommen: „Sie wird vielleicht ein Modell für Aktionen im ganzen Land darstellen“, erklärt er. Den entscheidenden Moment für den Erfolg sieht der Arbeitssoziologe Gary Chaison von der Clark University darin, dass die Putzkräfte ihren Lohnkampf in eine „Demonstration für Bürgerrechte verwandelt“ hätten. SEIU sei es gelungen, das Anliegen ihrer Basis als eine elementare Frage der Gerechtigkeit darzustellen. Das ist auch der Ansatz bei der Kampagne für eine Amnestie der EinwanderInnen ohne Papiere. „Wenn ihre Arbeit hier nachgefragt wird, dann muss sie auch legalisiert werden“, meint kurz und bündig Monica Santana vom Latino Workers Center aus New York.

Papiere für alle

Der US-amerikanische Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO hat beschlossen, eine Kampagne für die Legalisierung des Aufenthaltsstatus der etwa sechs Millionen Einwanderer ohne Papiere zu führen. Was fordert der AFL-CIO konkret?

Zunächst ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Veränderung der Position des AFL-CIO das Ergebnis des Drucks von unten ist. Eingewanderte Arbeiter bilden einen großen Teil der Mitgliedschaft wichtiger Gewerkschaften. Viele Gewerkschaften hängen in wachsendem Maße vom hohen Niveau des gewerkschaftlichen Bewusstseins und der Einsatzbereitschaft der eingewanderten Arbeiter ab, um neue Mitglieder und neue Betriebe zu organisieren. Gewerkschafter, die sich für Einwanderer innerhalb der Organisationen einsetzten, haben jahrelang dafür gekämpft, dass die Gewerkschaften Einwanderer organisieren und ihre Interessen verteidigen sollen, statt sie auszugrenzen.
Der AFL-CIO entwickelte so eine neue Position zur Einwanderung. Diese beinhaltet drei grundlegende Eckpfleiler: Erstens wird die Rücknahme eines Teils des Einwanderungsgesetzes von 1986 gefordert, das Unternehmen sanktioniert, welche Arbeiter ohne Papiere beschäftigten. Dieses Gesetz wurde damals vom AFL-CIO unterstützt, illegalisierte aber die Beschäftigung von Einwanderern ohne Papiere. Zweitens fordert der AFL-CIO ein neues Amnestieprogramm, durch das Einwanderer ohne Papiere einen legalen Status mit Arbeitserlaubnis bekommen sollen. Drittens soll ein neues Programm zur Aufklärung der Einwanderer über ihre Rechte aufgelegt werden.

Es ist noch nicht so lange her, dass der AFL-CIO Kampagnen gegen die Nordamerikanische Freihandelszone (Nafta) führte, die einen deutlich rassistischen Unterton gegenüber Mexikanern enthielten. Was hat die Position des AFL-CIO verändert?

Einige Gewerkschaften führen Kampagnen gegen Nafta und betrachteten dabei mexikanische Arbeiter, sowohl in Mexiko als auch in den USA, als eine Konkurrenz um Jobs. Aber das war nicht die Position der Mehrheit der Einzelgewerkschaften im AFL-CIO und es war auch nicht die Position des Verbandes insgesamt.
Die Gewerkschaften, die sich am nachdrücklichsten gegen Nafta aussprachen, riefen auch dazu auf, eine engere Beziehung zwischen Arbeitern in Mexiko und den Gewerkschaften zu entwickeln, um sich gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen. Das vor allem, wenn diese Arbeiter von Unternehmen beschäftigt werden, die auch in den USA tätig sind. Von diesen Gewerkschaften gingen einige einen Schritt weiter und riefen zur Solidarität mit mexikanischen Arbeitern in den USA auf. Viele aktive Gewerkschafter stellten eine Verbindung her zwischen der US-Handelspolitik einerseits, welche Löhne und Arbeitsbedingungen in Mexiko verschlechtert, und andererseits der US-Einwanderungspolitik, die mexikanische Arbeiter kriminalisiert, wenn sie in die USA kommen, weil die Lebensumstände in Mexiko so hart geworden sind.
Die Verbindung zwischen der Handels- und Einwanderungspolitik der USA war sehr wichtig für die Anstrengungen die Einwanderungspolitik des AFL-CIO zu verändern. Aktivisten, welche versuchten, Solidarität unter Arbeitern auf beiden Seiten der Grenze herzustellen, setzten sich auch für die Veränderung der Einwanderungspolitik ein. Schließlich waren auch Organisationen der Einwanderer Teil des Versuchs die Politik zu verändern. Die Gewerkschaften, welche viele Einwanderer organisieren, entwickelten eine enge Arbeitsbeziehung mit diesen Organisationen, welche auf zwei Verpflichtungen basierte. Erstens, die Versuche der Einwanderer zur Bildung von Gewerkschaften zu unterstützen, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Zweitens, die Politik des AFL-CIO zu verändern, so dass die Arbeiterbewegung Einwanderungsgesetze und eine Politik unterstützen sollte, welche die Rechte der Einwanderer verteidigt, statt in ihnen Feinde zu sehen.

In einem Amnestieprogramm von 1986 wurde in den USA drei Millionen Einwanderern ohne Papiere ein legaler Aufenthaltsstatus eingeräumt. Gleichzeitig machte es die Regierung aber schwieriger für neue Einwanderer über die Grenze zu kommen. Zeichnet sich ein ähnliches Vorgehen der nächsten Regierung ab?

Der AFL-CIO hat zu diesem Punkt noch keine Position, obwohl er in seiner letzten Resolution feststellt, dass die Bewegung von Menschen über die Grenze nicht gestoppt werden kann, ohne die weltweiten wirtschaftlichen Ungleichheiten zu ändern, die Menschen dazu zwingen, ihre Herkunftsländer zu verlassen.
In LION diskutieren wir, wie wir uns eine Amnestie vorstellen. Wir wollen nicht nur die Legalisierung der Menschen, die bereits hier sind, während diejenigen, welche die Grenze morgen überqueren unter den selben Problemen leiden müssen, die die Menschen ohne Papiere heute bedrücken. Wir denken, es sollte einen Weg geben, wie die Einwanderer ihren Aufenthalt legalisieren können, nachdem sie hier angekommen sind. Der einzige Weg, die illegale Einwanderung zu vermindern ist, die Möglichkeiten die Grenze legal zu überqueren auszuweiten.

Interview: Boris Kanzleiter

Weitere Informationen zum Beschluss von AFL-CIO gibt es unter http://www.aflcio.org/home.htm

Mit Hauptstadtplänen ins neue Jahrtausend

Am Morgen des zehnten Februar erwartete die MitarbeiterInnen des Ibero-Amerikanischen Instituts eine böse Überraschung: Wasserrohrbruch im Magazin. Eine ursprünglich pragmatische Überlegung hatte fatale Folgen: Als die Bibliothek in einer Siemensvilla am südlichen Stadtrand Berlins in den siebziger Jahren aus allen Nähten platzte, wurde sie in der Cafeteria der gerade neuerbauten Staatsbibliothek am Potsdamer Platz untergebracht. Den einst als Tiefgarage geplanten Keller funtionierte man kurzerhand zum Büchermagazin um. Die dort verlegten Wasserleitungen wurden an jenem zehnten Februar vor allem den Altbeständen aus der ursprünglichen Sammlung der argentinischen Gelehrtenfamilie Quezada zum Verhängnis. Ein Drama für alle BuchliebhaberInnen und -benutzerInnen. An diesem Tag mußte das Institut geschlossen bleiben, und alle MitarbeiterInnen beteiligten sich an der Rettung der Bücher. Die durchnäßten Bände gingen noch am selben Tag nach Leipzig in das Zentrum für Bucherhaltung. Dort werden die Bücher zur Zeit trocken gefroren.
Das Iberoamerikanische Institut wurde 1930 als preußisches Kulturinstitut gegründet. Mit einem Anfangsbestand von 130.000 Bänden war das Institut im Marstall in Berlin-Mitte untergebracht. Mittlerweile beläuft sich der Bestand auf etwa 800.000 Monographien und 4.500 laufende Zeitschriften. Darüber hinaus verfügt das Institut über eine umfangreiche Kartensammlung, meistens Militärkarten, über eine Dia-, Foto- und Videosammlung und über mehr als 20.000 Tonträger. Im Magazin, wo sich die Bestände befinden, erinnert kaum mehr etwas an die Tiefgarage: Ein Labyrinth aus Bücherregalen, Gängen, Treppen und Türen, der leicht saure Geruch von Bücherstaub in der Luft. Nur die leuchtenden Mittelstreifen, die bei Stromausfall den Weg nach draußen weisen, lassen vermuten, daß die Räumlichkeiten einst anderem dienen sollten.

Könige und Stinos

Oben im Leesesaal studieren nicht nur Leute aus dem akademischen Bereich in den Büchern aus dem Ibero-Amerikanischen Kulturraum: Da sitzt zum Beispiel ein interessierter Bürger neben einer Studentin der Lateinamerikanistik, eine argentinische Akademikerin forscht für ihre Dissertation, ein Venezolaner liest in der Zeitungsecke seine heimische Tagespresse. Auch prominenten Besuch bekommt das Institut des öfteren. Der spanische König staunte nicht schlecht, als ihm bei einem Besuch im Institut eine Tonbandaufnahme von seinem Großvater überreicht wurde.
Im letzten Jahr kam das Ibero-Amerikanische Institut durch den Bericht des Bundesrechnungshofs in die Presse. In den Feuilletons der großen Zeitungen schlug sich nieder, daß laut darüber nachgedacht wurde, ob das Institut ohne seine wissenschaftliche Abteilung und als Teil der Staatsbibliothek nicht wirtschaftlicher arbeiten könnte. Kurz machte sich Panik breit, daß damit die gut ausgestattete Institution, deren Bestände weltweit kaum ihresgleichen finden, dichtgemacht werden könnte. Bald legte sich die Aufregung aber wieder. Die Pläne sind vom Tisch.

Das Institut der großen Politik?

„Nur was sich verändert, bleibt“, sagte der scheidende Präsident Dietrich Briesemeister bei seiner Verabschiedung im Februar. War Briesemeister als Romanistik-Professor vorwiegend im Hochschulbereich tätig, so wird unter seinem Nachfolger Günter Maihold eher das Wissenschaftsmanagement in den Vordergrund gerückt werden. Maihold war lange Zeit Chef des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Costa Rica und ist Leiter der Projektgruppe Entwicklungshilfe.
Die neue Regierung in Bonn hat die Mittel für den Erwerbungsetat um circa 25 Prozent erhöht, somit beläuft sich der Etat jetzt auf fast 1,3 Millionen DM. Damit können empfindliche Bestandslücken gefüllt und der laufende Erwerb aufrechterhalten werden. Zugleich wird das Institut neben seiner alltäglichen Bibliotheksfunktion stärker in der offiziellen Kulturpolitik verankert werden. Mit dem Umzug der Regierung und sämtlicher Botschaften nach Berlin werden die Wege für eine internationale Kulturarbeit sehr viel kürzer.

Und die Technik…

Das Computersystem des Instituts ist noch längst nicht auf dem neuesten Stand, obwohl es in letzter Zeit einige Veränderungen gab. Mehrere Terminals können von den BenutzerInnen für die Suche nach Literatur benutzt werden, dennoch ist bislang noch nicht einmal der gesamte Katalog im hauseigenen Netzwerk eingearbeitet geschweige dem per Fernabfrage zugänglich. Nach wie vor ist der Griff zum Zettelkatalog notwendig. Es wird wohl noch mindestens fünf Jahre dauern, bis der gesamte alphabetische Katalog des Instituts per Computer abgefragt werden kann. Trotzdem wird das zur Verfügung stehende Angebot demnächst im Internet zugänglich sein, und mit einem CD-Rom Netzwerk ist der Zugriff auf verschiedene Datenbanken bereits ermöglicht worden.
Eine weitere Schwierigkeit ist das dürftige Angebot an lateinamerikanischer Tagespresse. Ein kleiner Ständer mit ein paar Zeitungen und ein paar Sessel vermitteln zwar eine gemütliche Atmosphäre, aber an die täglichen Informationen kommt man hier kaum. Da würden einige Terminals mit Internetanschluß mehr Aktualität bringen – und dem „Ibero“, wie es von seinen BenutzerInnen kurz bezeichnet wird, zu dem technischen Niveau verhelfen, das ihm seiner Bedeutung nach zukommt.

Ibero-Amerikanisches Institut
Preußischer Kulturbesitz
Potsdamer Str. 37, 10722 Berlin
Tel: 030 / 2662500
Fax:030 / 2662503
eMail: iai@iai.spk-berlin.de
http://www.iai.spk-berlin.de
Da das Ibero-Amerikanische Institut nicht in direkter Verbindung zu universitären Einrichtungen steht, können Diplom- und Magisterarbeiten sowie Dissertationen zu lateinamerikanischen Themen nur in die Bibliothek gelangen, wenn die VerfasserInnen selbst dafür sorgen. Das Institut bat uns, auf diesen Umstand hinzuweisen. Wir kommen dem gern nach.

USA forcieren eine militärische Lösung

Bei der ungewohnten Selbstkritik von Madeleine Albright Anfang Dezember war es unter anderem um die Rolle der Militärschule „School of America“ in Fort Brenning/Georgia gegangen, auf der in den vergangenen Jahrzehnten Tausende von lateinamerikanischen Generälen in Anti-Guerilla-Strategien und psychologischer Kriegsführung unterrichtet worden sind. Doch während sich Albright wegen der Vergangenheit in Chile in Betroffenheit übte, machte die Clinton-Regierung in Kolumbien weiter wie gehabt – und dies, obwohl die Greueltaten dort immer schrecklichere Ausmaße annehmen.

Eskalation der Gewalt

In einer noch nicht dagewesenen Eskalation der Gewalt massakrierten paramilitärische Gruppen seit September mehr als 1000 Menschen. Mit Todeslisten in der Hand durchkämmten Todesschwadrone in der Erdölstadt Barrancabermeja und San Carlos ganze Stadtviertel, in der Provinz Bolívar zerstückelten die Schlächter Bauern mit der Motorsäge und folterten Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu Tode. Allein in der zweiten Januarwoche des neuen Jahres töteten sie im ganzen Land 150 Zivilisten aufgrund vermeintlicher Guerilla-Sympathien.
Die engen Verbindungen zwischen Todesschwadronen und der Armee sind dabei nirgends ein Geheimnis. So retteten in Montecristo in der Provinz Bolívar Armee-Einheiten im vergangenen Oktober 150 von der Guerilla eingekreiste Paramilitärs durch die Entsendung von Helikoptern und Spezialeinheiten. Auch die Massaker in den Städten Barrancabermeja, San Carlos und San Pablo fanden mit offensichtlicher Rückendeckung der Armee statt. Darüber hinaus deckte die Washington Post schon im vergangenen August auf, daß der damalige Geheimdienstkoordinator der kolumbianischen Armee Iván Ramírez nicht nur bis vor kurzem auf der Gehaltsliste der CIA stand, sondern auch als enger Vertrauter des Paramilitär-Chefs und Drogenhändlers Carlos Castaño gilt. Zudem stellte die Washington Post auch den Kommandanten der 5. Brigade Fernando Millán sowie den Chef der 17. Brigade Rito Alejo Del Río als Kriegsverbrecher fest. Der demokratische Abgeordnete Kennedy ergänzte diese Enthüllungen mit der Information, daß mehr als die Hälfte der 240 in Fort Brenning/Georgia ausgebildeten kolumbianischen Offiziere in Menschenrechtsverletzungen verwickelt seien.

Direkte Unterstützung in der Guerillabekämpfung

Dennoch bekräftigt das US-Verteidigungsministerium seit einigen Monaten die Notwendigkeit einer direkten Unterstützung der kolumbianischen Armee. Der Chef des US-Kommandos Süd Charles Wilhelm kündigte auf dem Militärgipfel in Cartagena an, daß die USA die kolumbianische Regierung nicht mehr nur in der Drogenbekämpfung, sondern nun auch offen im Krieg gegen die linke Guerilla unterstützen werde. „Wenn Kolumbien weiter destabilisiert wird, wird dies Auswirkungen auf die ganze Region haben“, erklärte Wilhelm besorgt vor der Presse. Im Rahmen des neuen Kooperationsvertrages vereinbarte man deshalb, verstärkt US-Militärberater einzusetzen, um eine Professionalisierung der kolumbianischen Armee und ihres Geheimdienstapparates zu gewährleisten. Zur strukturellen Absicherung der Kooperation gründeten die beiden Regierungen zudem eine „Bilaterale Verteidigungsgruppe Kolumbien-USA“, in der die US-amerikanische Seite von einem Beamten mit dem seltsamen Titel „Staatssekretär für Spezialoperationen und Konflikte geringer Intensität des US-Departments“ vertreten sein wird.
Das neue Programm ist bereits im Januar angelaufen. In den nächsten Wochen werden 300 US-amerikanische Ausbilder von Spezialeinheiten sowie eine unbestimmte Zahl von CIA-Hochtechnologiespezialisten in Kolumbien erwartet. Von zwei neugegründeten kolumbianischen Elite-Bataillonen, die offiziell zur Drogenbekämpfung dienen sollen, aber in unmittelbarer Nähe des Hauptquartiers der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) agieren, wird eines direkt von US-amerikanischen Militärberatern geleitet. Zudem stellte die US-Luftwaffe der kolumbianischen Regierung Satelliten und Spionageflugzeuge zur Überwachung der im Rahmen der Friedensgespräche demilitarisierten Gebiete im Süden des Landes zur Verfügung.
Insgesamt erwarte man in diesem Jahr, so der Politologe Eduardo Pizarro von der Universidad Nacional in Bogotá, die Aufstockung der US-Militärhilfe auf 400 Millionen US-Dollar, womit Kolumbien zum drittgrößten Empfänger dieser Art von Finanzhilfen in der Welt avancieren würde. Das größte Problem stellt dabei das US-amerikanische Leahy-Gesetz dar, das Waffenlieferungen an solche Armee-Einheiten verbietet, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden. Da es in Kolumbiens Armee kein einziges Bataillon gab, das diesen Auflagen entsprach, wurde auf Anraten der USA Ende 1998 kurzerhand eine bisher in den internen Konflikt nicht involvierte Grenztruppe in eine Brigade umgewandelt. Von Einreiseverboten für in Menschenrechtsverletzungen verwickelte Generäle ist hingegen nicht mehr die Rede.

Im Zeichen der Drogenpolitik

Der Soziologe Alfredo Molano, der als einer der wichtigsten Beobachter des Friedensprozesses gilt, äußerte in der Tageszeitung El Espectador Mitte Januar aus diesem Grund besorgt die Einschätzung, daß eine US-amerikanische Militärintervention immer wahrscheinlicher werde.
Das einzige positive Zeichen in diesem Zusammenhang war das Treffen zwischen dem Lateinamerika-Berater Clintons, Peter Romero, und den FARC in Costa Rica Ende 1998. Bei der nicht-öffentlichen Zusammenkunft, für die Romero in den USA von republikanischen Politikern inzwischen scharf kritisiert wurde, unterbreitete die Guerilla den USA den Vorschlag, den Coca-Anbau in ihren Gebieten völlig zu unterbinden, wenn die US-Regierung Finanzhilfen für Substitutionsprogramme zur Verfügung stelle.
Doch trotz dieses Lichtblicks stehen die Zeichen weiter auf Sturm. Nach den schweren Niederlagen der kolumbianischen Armee im Kampf gegen die Guerilla sind in den vergangenen 18 Monaten alle wichtigen US-Sicherheitsorgane in Kolumbien zur Inspektion gewesen, darunter nicht nur Verteidigungsminister William Cohen, sondern auch der Chef der “Drogenpolizei “ (DEA) Thomas Constantine, FBI-Direktor Louis Freeh, der Anti-Drogen-Zar Barry McCaffrey, sowie der Kommandant des „Kommandos Süd der US-Armee Charles E. Wilhelm. Der Hintergrund dafür war die Anfang 1998 veröffentlichte US-Studie, wonach die Guerilla den Krieg in den kommenden fünf Jahren gewinnen könne, wenn die USA nicht entschlossener in den Konflikt eingriffen.
Offensichtlich ist die von der US-Administration verkündete Kehrtwende in der Außenpolitik sowohl in ihrem Vokabular als auch in ihrer Praxis sehr viel weniger grundlegend, als gemeinhin angenommen wird. Zwar redet die Clinton-Regierung nicht mehr vom „Kampf gegen den Kommunismus“, sondern von „internationalem Drogenhandel und Terrorismus“, aber für die betroffene Bevölkerung der ländlichen Regionen macht dies keinen Unterschied.

Viva la Confrontación!

Es war eine Initiative aus dem Herzen des politischen Establishments der USA. Gestandene Konservative wie die ehemaligen Außenminister Henry Kissinger, Laurence Eagleburger und George Schultz hatten sich für eine überparteiliche Kommission stark gemacht, die eine grundsätzliche Revision der US-amerikanischen Kuba-Politik auf die Tagesordnung setzen sollte (siehe http: //uscubacommission.org). Eine ganze Reihe Senatoren beider Parteien unterschrieben, starke Wirtschaftsinteressen assistierten, allen voran die exportorientierten US-Unternehmen von der Farmer- bis zur Pharma-Lobby, die in Kuba einen potentiell interessanten Absatzmarkt sehen. Noch kein Vorstoß zuvor hatte vergleichbare Aussichten, in der Realpolitik der USA tatsächlich Umsetzungsmöglichkeiten zu finden.
Natürlich entdeckten die Vertreter dieser Allianz nicht plötzlich ihre Sympathie zur kubanischen Revolution. Ihr Argument: Das Embargo ist zu einem Dogma geworden, das die Verhältnisse in Kuba zementiert, nicht verändert. Stattdessen gehe es darum, Zuckerbrot und Peitsche intelligenter einzusetzen, um einen politischen Wechsel in Kuba nicht nur zu fordern, sondern auch zu erreichen. Bei den Hardlinern der kubanischen Exil-Gemeinde bissen sie dennoch auf Granit, denn ihnen gilt nach wie vor jeder Anflug einer Aufweichung des Embargos als „Verrat“ und „Kollaboration mit dem Diktator“.

Halbherzige Maßnahmen aus Washington…

Lange schien unklar, wie sich in diesem Kräftemessen die Regierung in Washington verhalten würde. Sie optierte schließlich für einen „typischen Clinton“: Am 5. Januar verkündete der US-Präsident Maßnahmen, die die Nachrichtenagentur afp unter die Überschrift setzte: „USA wollen Embargo gegen Kuba aufweichen“, während Reuters völlig entgegengesetzt titelte „US-Regierung gegen Revision der Kuba-Politik“. Und beide hatten Recht, irgendwie.
Wie für einen Teil der Linken Fidel Castro ein unantastbares Symbol ist, so ist es für einen Teil der Rechten das Embargo. Dies in Frage zu stellen, scheute sich Clinton und erteilte der Einrichtung dieser überparteilichen Kommission eine Absage. Besonders Vize-Präsident Al Gore hat sich dem Vernehmen nach gegen eine weitergehende Wende in der Kuba-Politik stark gemacht. Nicht unbedingt, weil er „rechter“ wäre als Clinton, sondern weil er seine Wahl erst noch vor sich hat; schon jetzt bemüht er sich so um die Wählerstimmen der Cuban-Americans, wie es auch Clinton in seinen Wahlkämpfen getan hatte.
Stattdessen verkündete Clinton fünf Maßnahmen, die weit bescheidener sind als es die Initiative der überparteilichen Kommission war, die aber doch ein wenig in die gleiche Richtung gehen:
– US-Bürger dürfen künftig Überweisungen bis zu 1.200 US-Dollar im Jahr an Privatpersonen oder staatsunabhängige Einrichtungen in Kuba senden – was bislang nur den Exil-Kubanern erlaubt war. (Die Geld-Überweisungen aus dem Ausland sind inzwischen die größte Devisenquelle des kubanischen Staates, noch vor den Nettoeinnahmen aus dem Tourismus und den Zuckerexporten.)
– In den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Sport sollen die Kontakte ausgebaut und der Genehmigungsweg erleichtert werden. Da Baseball der Nationalsport beider Länder ist, steht als symbolträchtiger Auftakt ein Match zwischen der US-Profi-Mannschaft der Baltimore Orioles und der kubanischen Nationalmannschaft an, für das seit geraumer Zeit Kontakte geknüpft werden.
– Lebensmittel und Agrarinputs wie Düngemittel, Pestizide etc. sollen künftig an staatsunabhängige Einrichtungen in Kuba verkauft werden dürfen, wobei explizit „religiöse Gruppen und Kubas entstehender Privatsektor wie Familienrestaurants und private Kleinbauern“ genannt werden.
– Der direkte Flugverkehr, der bislang auf Flüge zwischen Miami und Havanna beschränkt war, soll nun auch für weitere Städte in den USA und Kuba genehmigt werden.
– Der direkte Postverkehr zwischen beiden Staaten soll wieder eingerichtet werden.
Begleitet wurden diese Maßnahmen mit Zuckerstücken und Beruhigungspillen für die exil-kubanische Lobby: die Absage an die Bildung einer überparteilichen Kuba-Kommission, eine Aufstockung der Mittel für die aus den USA sendenden Anti-Castro-Stationen Radio-und TV-Martí sowie eine Bekräftigung des Helms-Burton-Gesetzes, durch das 1996 das US-Embargo entscheidend ausgeweitet worden war.
Offensichtlich sind diese Lockerungsschritte mit gezielten politischen Interessen aufgeladen. Wenn der Verkauf von US-amerikanischen Lebensmitteln an nicht-staatliche Organisationen in Kuba erlaubt wird, dann eröffnet dies etwa die Möglichkeit, die Armenspeisungen der katholischen Kirche mit US-Hilfe zu fördern – nicht nur um den Armen in Kuba zu helfen, sondern auch, um der Lebensmittelverteilung des sozialistischen Staates weithin sichtbare Konkurrenz zu machen. Auch sonst macht die US-Politik keinen Hehl daraus, daß es ihr darum geht, durch verstärkte Kontakte nicht nur Menschen glücklicher zu machen, sondern vor allem einen politischen Wandel auf der Insel zu bewirken.

… und vollmundige Ablehnung aus Havanna

Gleichwohl stellen die Maßnahmen Schritte auf dem Weg einer Normalisierung dar, die zwar als unzureichend und ob ihrer politischen Schieflage zu kritisieren sind, gegen die eine Anti-Embargo-Position aber kaum eine Opposition beziehen kann. Sollte man zumindest meinen. Doch das hat die Rechnung ohne die kubanische Regierung gemacht. Während der in Haiti weilende Außenminister Robaina zunächst noch moderate Töne anschlug, wurden die Clintons Maßnahmen von den KP-Oberen in Havanna in einer kühnen Interpretation nicht als „zu wenig“ kritisiert, sondern als „Verschärfung der Agression“ und „neue Offensive der Yankees“ gebrandmarkt, die man nur „in kategorischster Form ablehnen“ und bekämpfen könne.
Parlamentspräsident Alarcón oblag es, den Rundumschlag im kubanischen Fernsehen zu verlesen (siehe Granma Internacional 1/99; www.granma.cu). Das kubanische Volk verwehrt sich demnach auf das entschiedendste gegen jede einzelne dieser Maßnahmen, gegen diese „Beleidigung“ und „ideologische und politische Subversion“ mit dem Ziel, die Kubaner „zu bestechen, ihr Bewußtsein zu erkaufen, den Versuch, Verräter zu produzieren.“ Selbst die Wiedereinrichtung eines normalen Postverkehrs wird mit dramatischem Ton als Manöver entlarvt, solange die US-Regierung nicht entschieden gegen Terroristen vorgehe, die Briefbomben nach Kuba schicken. Mehr Flüge, mehr Besuche? „Die Flugzeuge kommen, so wie wir es für richtig halten; die Personen kommen mit einem Visa, das wir ausstellen.“ Darüber habe die USA gar nichts zu entscheiden, denn: „Dieses Land ist keine Kolonie Nordamerikas!“ Wo auf der einen Seite das Embargo selektiv gelockert wird, wird es auf der anderen Seite selektiv wieder hochgezogen.
In den Tagen danach wurden von den offiziellen Gewerkschaften, dem Bauernverband, kirchlichen Organisationen, NGOs und anderen potentiellen Adressaten der Clintonschen Ankündigung Treuebekenntnisse eingesammelt, die dann in Serie in der Parteizeitung zu lesen waren. Etwa die „Erklärung der kubanischen Bauernschaft angesichts der neuen Offensive der Yankees“, in der diese gelobt, keinerlei anderen Weg als den des sozialistischen Staates für Düngemittel, Samen oder Ackergeräte zu benötigen oder zu wollen, und daß dieser „neue Versuch der Aggression (…) nicht das geringste an unserer absoluten Einheit mit der Partei, der Revolution und Fidel mindert“. Es ist gar nicht lange her, daß der offizielle Bauernverband ANAP, der dies schreibt, sich im Ausland um das Image einer unabhängigen NGO bemühte – und auch in Kuba selbst Hoffnungen nährte, daß er künftig weniger Transmissionsriemen der Regierungspolitik nach unten sondern in wachsendem Maße eigenständige Interessenvertretung der in ihm organisierten Bauern sein könne. Derzeit werden andere Töne verlangt.
Alles deutet darauf hin, daß die kubanische Führung bereits die bescheidenen Änderungen in der US-Politik durchaus als ernste Bedrohung versteht. Dabei stimmt zweifelsohne, daß die USA auch mit den jetzigen Lockerungen der Sanktionen politische Interessen verfolgen, die durchaus in Kontinuität mit der bisherigen Washingtoner Kuba-Politik stehen. Doch daß sie, wie es etwa der Bauernverband in seiner Erklärung schreiben zu müssen meint, eine „Verschärfung der Blockade“ sind, ist schlicht Unsinn. Ganz im Gegenteil, Clintons Maßnahmen geben einen ersten Eindruck davon, welche Konflikte und Probleme eine Aufweichung oder gar Aufhebung der Embargo-Politik für ein politisches System mit sich bringen kann, für dessen Stabilität sich in der Vergangenheit die starre Politik seines Feindes als überaus hilfreich erwiesen hat. Und die bisherige Reaktion der Regierung in Havanna läßt befürchten, daß sie darauf vor allem autoritär im Inneren antworten will.
Nach der Ankündigung aus Washington hatten manche auf ein Tauwetter gehofft, in dem sich beiderseitige politische Gesten und vertrauensbildende Maßnahmen Schritt für Schritt bis zu einer weitgehenden Normalisierung der Beziehungen hochschaukeln könnten. Clintons Maßnahmen waren ein wenig überzeugender Start. Und die Antwort aus Havanna hatte eine klare Botschaft: Es ist Eiszeit, und Punkt.
Aber vielleicht kommt wenigstens das Spiel der Baltimore Orioles gegen Kubas Nationalmannschaft zustande.

Der unberechenbare Riese erwacht

Am 3. November richteten sich in den USA viele Augen auf den „schlafenden Riesen“, wie die Latinos seit ein paar Jahren genannt werden. Es war der Tag der Gouverneurswahlen, der letzten Wahlen vor dem großen Run auf das Weiße Haus. Das Ergebnis fiel in den einzelnen Bundesstaaten sehr unterschiedlich aus, doch eins dürfte auch dem letzten Politiker klar geworden sein: für die Präsidentschaftswahl gilt es, den Giganten zu wecken und seine Gunst zu gewinnen. Während die Wahlbeteiligung insgesamt sehr niedrig war, gingen mehr Latinos als je zuvor zu den Urnen. Zum einen gibt es immer mehr wahlberechtigte Bürger hispanischer Herkunft (32 Mio.), zum anderen wuchsen durch die umstrittene Immigranten- und Minderheitenpolitik der letzten Jahre politisches Bewußtsein und Aktivität der Latinos. In Bundesstaaten mit dichter hispanischer Bevölkerung wie Kalifornien, Texas, Florida und New York spielten sie diesmal eine Schlüsselrolle. Gemeinsam stellen diese vier Staaten die Mehrheit der Stimmen, die im Jahr 2000 zur Wahl des Präsidenten notwendig sein wird.
Doch mit welcher Politik ist der Riese zum Wählen der eigenen Partei zu bewegen? Latino ist nicht gleich Latino: Die mexikanisch-amerikanische Bevölkerung in Kalifornien wählt anders als die in Texas, Puerto Ricaner in New York haben andere Interessen als Exil-Kubaner in Miami, und selbstverständlich gibt es innerhalb dieser Gruppen wiederum unterschiedliche Strömungen. Im Bundesstaat Florida, mit seiner eher konservativen kubanisch-amerikanischen Bevölkerung, gewann zum Beispiel der amtierende demokratische Senator Bob Graham überraschende 65 Prozent der Latino-Stimmen. Er hatte einen für Demokraten ungewöhnlich harten Anti-Castro-Kurs eingeschlagen und konnte damit Wähler gewinnen, die weniger für die Republikaner, als einfach gegen Castro waren.
In Kalifornien unterstützten drei Viertel der Latino-Wähler Gray Davis, der nach 16 Jahren der erste demokratische Gouverneur des Bundesstaates wurde. Seine Parteigenossin Cruz Bustamante, die schon vor vier Jahren Golden State-Geschichte schrieb, als sie als erste Latina zur Sprecherin des Parlaments gewählt wurde, stieg nun (mit 84 Prozent der Latino-Stimmen) zur Stellvertretenden Gouverneurin auf und ist
damit die zweitmächtigste Politikerin Kaliforniens. Die Latinos besitzen jetzt im Parlament ein Drittel, im Senat sogar fast die Hälfte der Sitze und werden somit bei zukünftigen Entscheidungen mehr als ein Wort mitzureden haben.

Anti-Latino-Politik

Der Blick auf die Wahlergebnisse der Latinos muß die Republikaner beunruhigen. Schließlich wird Kalifornien mit dem 2000-Zensus wegen der ansteigenden Bevölkerungsrate wahrscheinlich sieben Mitglieder mehr im Repräsentantenhaus stellen. Zudem werden die Wahlbezirke für die Sitze im Kongreß das nächste Mal von den Demokraten aufgeteilt, die dabei versuchen werden, neue, „sichere“ Sitze einzurichten. Die Republikaner könnten so die Kontrolle über das Repräsentantenhaus verlieren. Sie müßten sich jetzt sehr anstrengen, um die Latinos noch zum Lagerwechsel zu bewegen. Zuviele Sympathien haben sie mit ihrer Latino-feindlichen Politik der letzten Jahre verspielt. Die Erinnerungen an Pat Buchanans Anti-Immigranten-Hetze 1992 sind genauso lebendig wie die an die minderheitenfeindliche Politik des ehemaligen Gouverneurs Pete Wilson. „Wilson ist immer noch Gift unter den Hispanics“ meint der Meinungsforscher William Schneider und bezweifelt, daß sich die Republikaner davon jemals erholen können.
Ob man den angerichteten Schaden in den nächsten zwei Jahren wieder gut machen können wird, darüber scheiden sich auch innerhalb der Grand Old Party die Geister. Die Republikanische Partei hatte die verschiedenen Immigranten- und Minderheitenfeindlichen Propositions (Anträge auf Verfassungszusätze) in Kalifornien unterstützt, die Startschüsse für nationale Kampagnen waren. So hatte sie 1994 die Proposition 187 befürwortet, welche die staatliche Unterstützung für „illegale“ Immigranten einschränkt und deshalb auf großen Widerstand bei den Einwanderergruppen gestoßen ist. Sie hatte mit ihrer Polemik die mexikanischen Migranten zum Sündenbock gemacht, der für die ökonomische Krise Kaliforniens verantwortlich sein soll. Die von Clinton abgesegnete Militarisierung der Südgrenze, „Operation Gatekeeper“, ging in die gleiche Richtung.

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Die Proposition 209 beendete 1996 die staatlichen Affirmative-Action-Programme, durch die erreicht werden sollte, daß Minderheiten im öffentlichen Sektor verstärkt eingestellt werden. Die Republikaner vermittelten in der hitzigen Debatte vielen Latinos das Gefühl, daß sie sie am liebsten gar nicht im Land hätten. Auch die Medien wie das Time Magazine schürten die Ängste der WASP (White Anglo-Saxon Protestants)-Bevölkerung vor dem „Farbenwechsel“ Amerikas, der apokalyptisch für das Jahr 2056 angekündigt wird.
Weniger rassistisch angelegt, aber ebenso umstritten war die Proposition 227-Kampagne, die im Sommer 1998 mit 61 Prozent – und relativ großer Latino-Beteiligung – angenommen wurde. Ihr Initiator, der Software-Millionär Ron Unz, hatte sich letztlich durchgesetzt gegen die Meinung Bill Clintons, der vier Regierungskandidaten beider großen Parteien und der hispanischen Medien, welche mit einem Etat von 1,5 Millionen US-Dollar doppelt soviel wie Unz für den Stimmenkampf ausgegeben haben.
Mit der Proposition 227 ist der bilinguale Unterricht an den öffentlichen Schulen Kaliforniens abgeschafft. Bis dahin wurden Schüler, die kein oder nur unzureichend Englisch sprechen – zur Zeit ungefähr 1,4 Millionen Kinder –, in bilinguale Klassen gesteckt, in denen sie sowohl in ihrer Muttersprache den normalen Unterrichtsstoff als auch Englisch lernten. Von nun an gehen sie ein Jahr lang in englischsprachige Sonderklassen, nach dem Motto „sink or swim“. Danach sollen sie am regulären Unterricht teilnehmen, ungeachtet fortbestehender Verständnisschwierigkeiten.
Immerhin 37 Prozent der Latinos votierten für diesen Antrag. Hauptgrund für die Zustimmung ist die allgemeine Unzufriedenheit mit dem bestehenden Erziehungssystem. Viele Eltern klagen, daß ihre Kinder nicht schnell genug bzw. unzureichend Englisch lernen würden. Schließlich sollen ihre Kinder es besser haben. Und das Beherrschen der englischen Sprache gilt als wichtigste Vorraussetzung für eine schnelle Assimilierung in die US-amerikanische Gesellschaft und damit für wirtschaftlichen Erfolg. In der Tat hätte das praktizierte System Reformen nötig gehabt. Die Abbruchrate unter Latino-Schülern ist immer noch besonders hoch; einige Schüler bleiben in den bilingualen Klassen „hängen“ und lernen in keiner der beiden Sprachen ausreichend Lesen und Schreiben. Den Befürwortern des bilingualen Unterrichts waren diese Probleme zwar seit langem bekannt; sie fürchteten jedoch, daß das System ganz eingestellt würde, wenn sie diese thematisierten. Überlegungen, mit welchen Methoden Kinder am besten Englisch lernen könnten, gingen im Lärm der Kampagne unter.

Die Gebrüder Bush

In Texas schaute man dieser Entwicklung mit einem weinenden und einem lachenden Auge zu. Immerhin erhoffte man sich, die in Kalifornien nun aufgabelos gewordenen Lehrer an die eigenen Schulen locken zu können. Dort herrscht ein akuter Mangel an geeignetem Lehrpersonal. Nur wenige der angeschriebenen Lehrer sind diesen Werbungen bisher gefolgt; das Land der Rednecks und Klapperschlangen ist wohl für Kalifornier nicht besonders einladend. Der texanische Gouverneur und potentielle Präsidentschaftskandidat George W. Bush kann das gar nicht verstehen. Schließlich hat er einen Latino-freundlicheren Kurs als sein Parteigenosse Wilson eingeschlagen: „Wenn ein bilinguales Programm dazu beiträgt, daß Kinder Englisch lesen und verstehen können, dann sollten wir applaudieren und sagen: Gut gemacht.“ Mit solchen Sätzen kitzelte er den Riesen wach. Am 3. November erzielten er und sein Bruder Jeb in Florida große Erfolge. Seitdem gelten die Söhne des ehemaligen Präsidenten als Modellstrategen für die Rückeroberung des Weißen Hauses. George W. Bush hatte sich durch seinen Widerstand gegen die immigrationsfeindliche Rechtsgebung des von seiner Partei angeführten Kongresses bei den Latinos beliebt gemacht. Im Wahlkampf hatte er diese Zielgruppe mit spanischsprachigen TV-Spots und „amigo“-Floskeln umworben. Jeb Bush hatte diesmal eine spanischsprachige Website eingerichtet, sich unermüdlich an seine Jahre in Venezuela erinnert und auch sonst den Kurs seines Bruders übernommen. Belohnt wurden seine Anstrengungen mit dem Gouverneursstuhl in Florida.

Endspurt auf hispanisch

Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß die Republikaner diese Latino-Politik auf nationaler Ebene aufgreifen werden. Schließlich bilden in den USA immer noch die Gringos die Mehrheit, und mit denen will man es sich auf keinen Fall verscherzen. Also fährt man etwas zweigleisig, im Fall des Falles aber eindeutig auf der rechten Spur. Vordergründig hat die Partei zwar ein Hispanic-“outreach“-Programm geschaffen, um die Beziehungen zu den Latino-Wählern wieder zu verbessern, und ehemals radikale Kongreß-Advokaten der English-Only-Bewegung lassen heute ihre wöchentlichen Berichte ins Spanische übersetzen. Gleichzeitig führen die Republikaner jedoch ihren Feldzug gegen Affirmative-Action-Programme und bilingualen Unterricht fort. Zudem versuchen sie, eine Stichprobenerhebung im nächsten Zensus zu verhindern, welche eine Unterschätzung von Minderheiten vermeiden soll. Sie möchten Latinos und andere Minderheiten als notwendiges Übel kleinhalten. So scheint das Wählerverhalten vorhersehbar zu sein: Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, daß 52 Prozent der Latinos die Demokraten und nur 32 Prozent die Republikaner wählen würden.
Doch die Demokraten sollten sich nicht zu früh freuen. Eine andere Untersuchung warnt, daß Latinos keine enge Parteibindung hätten und daher durch Latino-freundliche (Wahl)Politik noch zu beeinflußen seien. Latinos also als Spielball des politischen Wettkampfs? Die Republikaner wollen Steuererleichterungen, Förderung des Bildungswesen und Verbrechensbekämpfung zu ihren Hauptthemen machen. Die Demokraten konzentrieren sich auf das Bildungs- und Gesundheitswesen, sind ansonsten jedoch vor allem den Republikanern für ihre Fettnäpfchen-Politik dankbar. So prophezeit die Staatssekretärin des Weißen Hauses Maria Echaveste, daß ihre Partei im Jahr 2000 die meisten Latino-Stimmen erhalten wird: „Die Republikaner fahren mit ihrem Anti-Immigranten-, Anti-Hispanic-Kurs fort. Das macht unsere Aufgabe, die Hispanic-Unterstützung zu festigen, wesentlich einfacher.“ Ohne diese Unterstützung, soviel ist heute schon sicher, läuft gar nichts im Jahr 2000.

KASTEN:
Das Zünglein an der Waage

Welches Gewicht die Latino-Stimmen in die politischen Waagschalen werfen können, dämmerte den Demokraten und Republikanern spätestens seit den Viva-Kennedy-Kampagnen 1960. Damals verhalfen die hispanischen Texaner dem Demokratischen Präsidentschaftskandidaten zum Sieg: Während sich die Anglo-Stimmen in Texas auf Nixon und Kennedy aufteilten, stimmten in einigen Wahlbezirken alle Tejanos für Kennedy. Doch obwohl es in den folgenden Jahren erste Ämter für Latinos zu besetzen gab, blieb das ungute Gefühl, daß beide großen Parteien zwar immer mehr bereit waren, hispanische Kandidaten zu unterstützen, jedoch nur in Bezirken, in denen der Anteil lateinamerikanischer Bevölkerung besonders hoch war und ein Politiker aus diesen Reihen einen sicheren Sieg versprach. Ein größerer Einfluß blieb ihnen verwehrt.
In den stürmischen 60ern entluden sich Wut und Enttäuschung der mexikanisch-amerikanischen Bevölkerung schließlich im Chicano Movement. Gemeinsam mit anderen Minderheiten und der Friedensbewegung kämpfte man für ein besseres Amerika. Doch schon Mitte der 70er Jahre schlug das politische Klima um: Der Vietnamkrieg war vorbei, die Protestler durch staatliche Zugeständnisse besänftigt. Militante Gruppen brachen zusammen – ihre Anführer saßen häufig im Knast –, aus Aktivisten wurden Politiker. Man strebte nach Integration in das politische System, nicht nach dessen Veränderung. Forderungen nach Reformen wichen einer anpassungsorientierten Wahlurnenpolitik.
Doch die Hürden, die den Einzug von Latinos in die politische Arena erschweren, sind seitdem kaum niedriger geworden: Viele potentielle Kandidaten scheitern schon an den Wahlkampfkosten. Zudem sind die Wahlkreise oft ungünstig aufgeteilt, so daß Latinos ihre Politiker nicht gemeinsam unterstützen können. Die größten Hindernisse liegen jedoch innerhalb der Gemeinschaft: Das Wir-Gefühl der 60er ist der Einzelkämpfermentalität der „Viva-Yo-Generation“ gewichen. Politiker reiben sich in internen Zwistigkeiten auf. Zudem dienen sie häufig als „Schrankenwächter des Status Quo“. Oben angekommen, vergißt manch einer, wer ihn dort hingewählt hat. Wenn er gewählt wird. Denn das Gefühl, sowieso nichts bewirken zu können, hält viele von den Urnen fern. Mitarbeiter von Wähler-Registierungs-Projekten gehen deshalb in die Latino-Gemeinden, motivieren und begleiten potentielle Wähler zur Registrierung und achten darauf, daß die Stimmzettel auch zum entscheidenen Zeitpunkt abgegeben werden. Heute gehen tausende Latinos ins Rennen für Ämter auf allen politischen Ebenen. Und mit diesen Erfolgen wächst auch das Vertrauen der Bevölkerung in ihre politische Stärke. „Con voto latino el pueblo jamás será vencido.“

Margaritas lange Reise nach Nueva York

Am 4. November 1997 bin ich mit einem großen Schmerz im Herzen aus meinem Haus gegangen. Meine Familie war sehr traurig, daß ich ging. Mit diesem Schmerz habe ich mich verabschiedet und zog mit anderen Leuten in Richtung San Salvador los. Wir kamen in einem Hotel in San Salvador an. Es war schon spät in der Nacht, und wir blieben dort bis zum anderen Tag. Gegen 11 Uhr morgens kam ein Bus, um uns abzuholen. Wir sind zu einem anderen Hotel gefahren, wo wir uns mit ganz vielen Leuten trafen – es waren ungefähr 75 Personen. Dann kamen zwei Busse, zwei Gruppen wurden gebildet, und wir fuhren Richtung Guatemala.
Gegen 3 Uhr nachmittags waren wir an der Grenze, wo wir alle ausstiegen, damit wir die Aufenthaltserlaubnis für Guatemala bekämen. Wir fuhren weiter und gegen 6 Uhr waren wir in der Hauptstadt. Dort hielten wir uns 15 Minuten auf. Dann ging es weiter, und wir fuhren die ganze Nacht im Bus, bis wir an einen Ort kamen, der Naranjo heißt. Von dort gibt es viele Wege, um an die Grenze nach Mexiko zu kommen. Wir mußten vier Tage bleiben. Danach haben uns die coyotes (so nennt man die Leute, die man bezahlt, damit sie einen in die USA bringen) abgeholt und an das Ufer eines Flusses gebracht. Dort sind wir in ein paar Boote eingestiegen.

Coyotes als Wegführer

Wir fuhren in der Nacht auf dem Boot ca. zwei Stunden, bis wir an einen Ort kamen, der Campamento Santa Clara heißt. Dort ruhten wir uns 15 Minuten aus. Die Männer gingen los, zu Fuß, und uns Frauen nahmen sie auf einem Traktor mit. Wir stiegen ein, und als wir bereits aufgestiegen waren, kam eine Gruppe von den Männern zurückgerannt. Sie waren sehr erschöpft und sagten, daß wir aussteigen sollten, weil an der Grenze zu Mexiko eine Gruppe von Soldaten sei, und daß einige von der Gruppe gefaßt worden seien. Nach und nach tauchten auch die anderen Männer auf. Noch am anderen Tag kamen einige Männer, die in den Wäldern geschlafen hatten, weil sie in der Dunkelheit nicht zurückkommen konnten. Aber noch immer fehlten elf von uns. Die Soldaten hatten sie gefaßt. Wir verbrachten also die ganze Nacht und den ganzen Tag dort. Es gibt dort einige Häuser, und die coyotes kauften den Bewohnern dort eine Kuh ab, schlachteten diese und gaben uns zu essen. Als es dunkel wurde, es war 12 Uhr nachts, haben uns die coyotes abgeholt. Wir wanderten eineinhalb Stunden. Gott sei Dank waren dort keine Soldaten, und wir konnten ohne Gefahr passieren. Gegen 1.30 Uhr kamen wir an einen Ort mit Namen San Luis, wo wir uns in einige Häuser flüchteten. Der coyote zahlte, damit wir dort bleiben konnten. Er bezahlte auch für das tägliche Essen. Dort blieben wir also. Sie sagten, wir könnten nicht weitergehen, weil es einen Posten mit mexikanischen Soldaten gäbe.

Warten, wandern, rennen

Erst neun Tage später gingen wir weiter. Wir starteten gegen 7 Uhr abends. 20 Minuten, nachdem wir losgegangen waren, mußten wir rennen, und ich stürzte und verstauchte mir den Fuß. Es tat fürchterlich weh. Der Fuß ist mir angeschwollen. Und je mehr ich wanderte, desto mehr tat es weh. Später ging ich gestützt auf die Schultern einer compañera. Danach hat mir ein Mann aus Honduras geholfen, meinen Rucksack zu tragen. So sind wir die ganze Nacht gewandert bis 3.30 Uhr morgens. Dann kamen wir an das Ufer eines Flusses und stiegen wieder in Boote, mit denen wir dann vier Stunden unterwegs waren. Als es langsam hell wurde, kamen wir an einen Ort, wo sie uns aus den Booten rausließen. Wir wanderten in schlammigem Wasser. Ich hielt es kaum aus zu gehen, mit meinem Schmerz im Fuß. Bei jedem Schritt fiel ich hin. Dann hat mich der Honduraner, der meinen Rucksack getragen hatte, am Arm gefaßt und mir beim Gehen geholfen. So sind wir 45 Minuten gegangen, ich immer mit der Hilfe dieses Mannes, bis wir aus dem Schlamm heraus waren. Wir gingen auf einer Straße, bis wir an einem bestimmten Ort in einige Laster einstiegen. Da wir in Guatemala mit mehr Leuten zusammengekommen waren, waren wir jetzt fast 200 und haben uns auf zwei Laster verteilt.
Um 7 Uhr morgens fuhr der Laster los. Dann wurde es immer wärmer. Wir hielten die Hitze nicht mehr aus. Alle fuhren wir stehend, nur drei Kinder und zwei schwangere Frauen fuhren vorne, sitzend, auch ich fuhr im vorderen Teil. Und dann, nach kurzer Zeit, wurde es den Leuten schwindelig, weil der Laster mit einer Plane versiegelt war und keine Luft hereinkam. Es war wie die Hölle. Fast alle Männer fielen um wegen Müdigkeit, wegen Übernächtigung, und der Hunger ließ sie schwindelig werden. Außerdem hatten wir alle unsere schmutzigen Sachen an, voll von Schlamm. So entstand ein sehr unangenehmer Geruch, aber Gott sei Dank wurde nur eine vierzehnjährige Frau ohnmächtig.
Dann aber mußten wir die Grenzkontrollen, la migra, passieren. Zwei passierten wir – wir alle in absoluter Stille, weil der Fahrer zur migra sagte, daß er andere Dinge in seinem Laster transportiere. Aber die dritte Kontrolle hielt uns an. Die migra stieg ein. Weil die Leute es nicht mehr aushielten, hatten sie mit Messern einige Löcher in die Plane geschnitten, damit Luft hereinkäme. Das hatte die migra bemerkt und konnte durch die Löcher sehen, daß Menschen im Laster waren. Sofort entfernten sie die Kartons, die den Blick in den hinteren Teil des Lasters verdeckten, und wir mußten alle aussteigen.
Wir mußten zur Kontrollstelle. Uns Frauen und Kinder brachten sie außerhalb des Zaunes unter. Aber die Männer wurden eingesperrt. Wir wuschen uns alle und zogen uns um. Weil wir so Hunger hatten, kauften wir ein Brot mit Fleisch und eine Cola. Danach brachten sie uns in ein anderes Gefängnis, wo sie uns zu essen und Wasser zu trinken gaben. Mir ging es sehr schlecht und ich konnte kaum mehr laufen wegen meiner geschwollenen Füße voller Blasen. Ich ertrug meine Schuhe nicht mehr und zog sie aus. Dann sagte uns der coyote leise: Ich werde nicht nach El Salvador zurückkehren. Ich werde es noch einmal mit euch versuchen. Den coyote hatten sie nämlich auch geschnappt, aber wir hatten ihnen erzählt, daß wir allein unterwegs gewesen seien. Gegen 10 Uhr nachts haben sie uns frei gelassen.
Ein Bus des Grenzschutzes brachte uns zurück und gegen 6 Uhr morgens kamen wir in Mesillas an, an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Der coyote brachte uns zu einem Hotel in der Nähe und sagte zu uns allen: Wir werden nicht zurückkehren, wir gehen weiter, noch einmal, vorwärts. Ich sagte ihm, daß ich zurückfahren würde, weil ich krank sei. Aber er sagte mir, daß wir drei Tage hier bleiben würden und daß es mir nach diesen drei Tagen besser gehen würde. Er kaufte mir Tabletten und ein compañero hat mir den Fuß massiert, und so ging es meinem Fuß nach drei Tagen besser.

Die ersten geben auf

Wir fuhren wieder los, zwei Busse mit uns allen. Das heißt, nicht mit allen, weil ungefähr 20 zurückfuhren. Sie sagten, sie würden diese schreckliche Reise nicht aushalten, und wir hätten ja noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Es ging durch viele Teile Guatemalas, den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht, bis wir am Morgen gegen 5 Uhr wieder in Naranjo ankamen, wo wir schon einmal gewesen waren. El Naranjo ist ein Ort im Petén, ein Departamento von Guatemala. Dort blieben wir zwei weitere Tage. Dann gingen wir los und in Booten überquerten wir den Fluß. Wir stiegen in große Autos ein und fuhren auf einer Straße, auf der ich schon im August gefahren war, als ich bei meinem allerersten Versuch scheiterte, sie mich erwischt hatten und ich nach Hause zurück bin. Ich bin also noch einmal auf denselben Wegen gefahren, teilweise gingen wir aber auch zu Fuß. Wir kamen an einen Ort, der Buenos Aires heißt, wie die Hauptstadt von Argentinien, mitten in den Bergen. Von dort sind es zweieinhalb Stunden bis zur Grenze nach Mexiko. Vier Tage waren wir dort in Häusern. Die coyotes zahlten Unterkunft und Essen. Nach vier Tagen gingen wir weiter.
Gegen 4.30 Uhr am Nachmittag waren wir in der Nähe der Grenze. Wir warteten, bis es dunkel wurde. Wir waren klatschnaß, weil es zu regnen begonnen hatte. Alle Wege waren voller Wasser. Als es dunkel war, überquerten wir die Grenze, mehr rennend als gehend. Das Unwetter hörte nicht auf, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Wir gingen die ganze Nacht, durchnäßt, mit kurzen Pausen. Wir gingen durch ein Stück voller Schlamm und nur mit großer Anstrengung bekamen wir die Füße hoch. Manchmal reichte uns auch das Wasser bis zum Gürtel.

Hunger und Zweifel

Als es hell wurde, kamen wir zu einer Scheune am Ufer eines Flusses. Der Ort heißt Cariba und gehört schon zu Mexiko. Dort blieben wir viele Tage. Wir waren hungrig. Alle waren zerstochen von den Mücken. Viele sind krank geworden. Ich hatte nur eine Grippe. Es verging Tag um Tag und sie holten uns nicht ab. Wir begannen schon, die Hoffnung zu verlieren. Viele vertrauten den coyotes nicht mehr. Einige gaben auf und kehrten um. Wir blieben mit ungefähr 60 Leuten zurück. Dann – nach ca. 14 Tagen – brachten sie uns Essen, und in der Nacht gingen wir wieder los. Sie haben uns in kleinen Booten transportiert. Wir überquerten den Fluß und kamen zu einer Straße. Einige Autos kamen und brachten uns zu einem Ort namens Aguila, der zum Bundesstaat Tabasco gehört. Von dort ging es mit den Autos zu einer Finca in der Nähe, wo wir noch einmal zwei Wochen blieben. Sie sagten uns, daß uns wieder ein Laster abholen würde, aber die Leute verzweifelten wieder. Da wir nicht genug zu essen hatten, war es so, daß wir immer nur jeden zweiten Tag essen konnten. Deswegen gaben noch einmal 28 von uns auf und kehrten um. Wir waren noch jetzt noch 32, dazu noch zwei coyotes. Ich habe die Hoffnung nicht verloren, ich wollte weiter, und ich habe Gott um Hilfe gebeten.
Mit den 32 Leuten fuhr der Laster los, der endlich kam, um uns abzuholen. Nun konnten wir sehr bequem fahren, weil er sehr groß war und wir alle liegen und schlafen konnten. Wir stiegen gegen 2 Uhr nachts ein und beteten alle zu Gott, daß sie uns nicht wieder anhalten würden. Aber der Fahrer bezahlte alle Posten der migra, damit sie uns durchließen. Angeblich sind die mexikanischen Soldaten unbestechlich, sie wollen das Vaterland nicht verraten. Aber sie haben uns nie angehalten. Man mußte ihnen nur das Geld geben, und wir konnten weiterfahren.

Schock nach kurzem Glück

Gegen 8 Uhr morgens waren wir in Puebla. Dort waren wir zwei Tage lang in einem Hotel. Von dort ging es weiter, im Auto, im Bus oder im Taxi, nach D.F., der großen Stadt von Mexiko. Mit großer Neugier habe ich alles angeschaut in dieser großartigen Stadt, in der ich zum ersten Mal war. Gegen 8 Uhr abends haben sie uns zum Busbahnhof gebracht und zahlten den Bus nach Matamoros zur Grenze zu den Vereinigten Staaten. Ich war glücklich, weil ich noch nie soweit gekommen war.
Aber dann weiß ich nicht, was passierte. In meiner Gruppe waren wir zu siebt mit dem Führer in einem Auto unterwegs, als plötzlich ein Wagen der migra auftauchte – sie haben uns geschnappt. Wir mußten in ihr Auto einsteigen. Aber der coyote gab uns ein Zeichen, daß wir abhauen sollten, und das taten wir. Mein Rucksack verhakte sich im Auto und so rannten die anderen mich über den Haufen. Deswegen konnte mich die migra zunächst festhalten, mich und noch einen Jungen. Ich habe dem Polizisten gesagt: Laß mich los! Als er mich an der Schulter packte, verpaßte ich ihm einen Kinnhaken und riß mich mit aller Kraft los. Ich rannte, so schnell ich konnte, und sagte auch dem Jungen, daß er laufen sollte, was er auch tat. Ich erreichte den coyote und die anderen und wir versteckten uns hinter einem großen Wagen. Die Autos der migra fuhren auf der Straße vorbei. Ich betete, und mein Herz schlug, und ich betete mehrmals den 91. Psalm. Dann kam der coyote und nahm uns mit zu einem anderen Ort. Er sagte uns, wir sollten uns unauffällig verhalten. Dann kam der Führer, und wir fuhren im Bus und in der Metro. Gott sei Dank haben sie uns nicht noch einmal festgenommen.
Am anderen Tag trafen wir alle anderen wieder und fuhren mit einem Bus weiter. An jedem Posten der migra zahlten die coyotes. Um 5 Uhr morgens kamen wir in Matamoros an. Ich glaubte, zu träumen, dachte schon, US-auf amerikanischen Boden zu stehen. Aber wir waren noch lange nicht an unserem Ziel.

Endlich am Rio Bravo

Wir versteckten uns in einem Wald. Dann brachten sie uns mit einigen Autos in die Nähe des Rio Bravo. Abends um 8 Uhr gingen wir wieder los und begannen zu wandern. Um 1.30 Uhr waren wir am Fluß. Ich hatte Angst, weil ich nicht schwimmen kann und das Wasser tief war. Aber ein Mann hat mich hinübergebracht. Ganz schnell zogen wir uns die nassen Sachen aus und gingen weiter. Wir waren darauf eingestellt, daß wir rennen müßten, wenn es nötig wäre, aber Gott sei Dank war kein Grenzposten da. Wir konnten passieren. Nach 15 Minuten kamen wir zu einem Dorf. Nach kurzer Zeit kam ein Auto und nahm uns mit. Ich war eine der ersten, die einstieg. Die anderen mußten warten, sie wurden später abgeholt. Wir wurden zu einem Haus in Bronsville/Texas gebracht. Dort telefonierten wir mit denen, die auf uns warteten, denn wir waren ja schon in den USA. Der coyote bat nun um das Geld, das unsere Verwandten für unsere Reise bezahlen sollten. Sie haben das Geld geschickt. Weiter konnten wir aber noch nicht.

Im Land der Träume ist es bitterkalt

Ich hatte immer noch Angst, weil wir noch die Wüste La Quilena durchqueren mußten. Nach vierzehn Tagen Warten haben sie uns abgeholt, wieder mit dem Auto. Diesmal war es ein Auto von einem Unternehmen. Sie haben uns unter dem Werkzeug versteckt, damit niemand den Verdacht schöpfen könnte, daß das Auto Menschen transportierte. Es war für alle unbequem, einer lag auf dem anderen, und so fuhren wir im Glauben an Gott, daß alles gut ginge. Als wir an den Ort kamen, wo wir wieder zu Fuß gehen mußten, sind wir alle schnell vom Auto runter. Wir mußten über einen sehr hohen Zaun klettern und fingen wieder an zu wandern. Der Führer, der diese Wege kannte, ging voraus. Alles war voller Wasser. Weil es am Vortag Eis geregnet hatte, war das Wasser sehr kalt, so daß die Füße wehtaten.
Am frühen Morgen konnte ich nicht mehr. Ich glaube, daß meine Füße gefroren waren. Meine Hose hatte mir die Beine wundgeschürft. Ich war völlig erschöpft und müde. Wir alle konnten nicht mehr, aber wir wanderten, bis es hell wurde. Dann versteckten sie uns in einem Wald, wo wir den ganzen Tag blieben. Ich schlief fest. Als ich aufwachte, wollte ich aufstehen, aber ich konnte nicht. Ich spürte meine schweren Füße und mein ganzer Körper tat weh. Ich konnte meine Füße nicht bewegen. So blieb ich auf derselben Stelle liegen. Alle schliefen. Nach diesem Tag, den wir zum Ausruhen hatten, waren wir alle wieder bereit zum Weitergehen.
Als es dunkel war, brachen wir auf. In der Nacht wurde es wieder sehr kalt, und wieder war es kaum auszuhalten. Wir gingen über Sand und ich fiel weit zurück, weil ich nur mit Schwierigkeiten gehen konnte. Ich konnte nicht mehr. Die anderen gingen weiter. Dann aber wurden es immer mehr, die nicht mehr konnten. Ich habe Gott um Kraft gebeten und er hat sie mir gegeben. Ich hatte zwei Geschwulste an der Leiste, meine Knie taten weh und mit meinen Füßen war es noch schlimmer. Gegen 4 Uhr kamen wir an den Ort, wo auf uns gewartet wurde. Wir überquerten Straßen, und wir mußten rennen, und ich sagte dem coyote, daß ich nicht mehr konnte. Er nahm mich an der Hand und half mir beim Gehen. Wir mußten an einer Bahnlinie entlang laufen. Ich humpelte. Aber ich lief, und schließlich kamen wir an. Es kam mir vor, als ob es Jahre gedauert habe.
Um 5 Uhr morgens kam ein Auto, das uns abholte. Zu elft stiegen wir ein. Die anderen mußten auf das nächste warten. Es war unbequem, aber ich fühlte mich besser, weil wir nicht mehr wandern mußten. Nach zehn Minuten sagte der Fahrer plötzlich: Mein Gott, die Polizei ist hinter uns. Ich spürte mein Herz schlagen und hatte große Angst. Der Fahrer sagte: Betet, daß sie uns nicht anhalten. Ich würde nur schlecht laufen können, wenn es darauf ankäme und dachte, daß sie mich festnehmen würden, weil ich nicht mehr konnte. Ich betete, aber es war umsonst.
Nachdem die Polizei sechs Minuten hinter uns her gefahren war, machte sie die Warnlichter an. Der coyote sagte, daß wir alle herausspringen und laufen sollten. Ich war eine der ersten, die es wagte, aber beim Herausspringen stürzte ich. Ich stand schnell wieder auf und lief so schnell ich konnte. Als der Polizist Halt! rief, lief ich noch schneller. Der Führer lief voraus und wir folgten ihm. Wir liefen lange Zeit, dann versteckten wir uns. Aber vielleicht hat uns die Polizei nicht richtig verfolgt. Sie nahmen allerdings drei Frauen fest, die einfach nicht mehr laufen konnten. Dann ging der Führer mit dem coyote los, um nach einem Weg zu suchen. Sie sagten uns, sie wollten uns in der Nacht abholen.
Wir blieben also allein und hatten Angst, daß man uns finden würde. Aber Gott sei Dank kam den ganzen Tag niemand. In der Nacht kehrte der coyote zurück, um uns abzuholen. Weil es dunkel war, erinnerte er sich nicht an den Weg, aber dann kamen wir an einen Ort mit einem Haus, das nur noch aus Teilen der Wände bestand – alles alt und kaputt. Dort versteckten wir uns. Der Fahrer war noch nicht da, er kam erst, als es schon fast hell wurde. Wir stiegen ein und beteten zu Gott, daß uns nichts passieren möge, und so kamen wir zu einem Hotel in Corpus Christi.
Wir aßen, tranken Wasser und wuschen uns. Wir hatten uns seit fünf Tagen nicht geduscht. Ich genoß es und fühlte mich sehr gut nach der Dusche. Danach legten wir uns in ein großes Bett. Aber weil ich schon so viele Tage nicht mehr in einem Bett geschlafen hatte, kam es mir sehr unbequem vor. Als ich wieder aufwachte, spürte ich ich meinen Körper überall. Es war ein Gefühl, als ob Dutzende von Stockschlägen auf ihn geprasselt wären. Er war voller dunkler Flecke. Aber ich war glücklich, weil ich einen Teil der Gefahr hinter mir hatte. Wir blieben noch einen weiteren Tag an diesem Ort.

Ein letzter Schreck vor dem Ziel

In der Nacht fuhren wir mit dem gleichen Auto Richtung Houston/Texas. Das Auto war ständig kaputt, aber wir kamen an, und ich war sehr glücklich und dankte Gott. In Houston blieben wir zwei Tage. Am dritten Tag ging das Gerücht um, die Polizei wisse, daß wir in diesem Haus waren. Der Führer wollte uns deshalb zu einem anderen Ort bringen. Zuerst die Frauen, dann wollte er zurückkommen, um die Männer zu holen. Aber wegen des Gerüchtes, die Polizei komme, wollten sie nicht bleiben, und so sind die Männer auch eingestiegen, so daß wir elf Leute und der Fahrer waren. Nach kurzer Zeit machte das Auto ein sehr häßliches Geräusch. Es war völlig überladen, weil es nur für fünf Personen gebaut war. Das Auto fing nun auch an zu rauchen. Wir sprangen alle heraus und rannten. Ich habe nicht einmal zurückgeschaut. Man hörte schon eine Sirene. Der Fahrer versteckte uns in dem Garten eines Hauses in der Nähe. Dann ging er, um sich umzusehen, kam aber plötzlich zurück und rief: Wir müssen abhauen! Er bildete zwei Gruppen, zu jeder Seite eine. Wir sahen das Auto, das wir brennend zurückgelassen hatten, daneben Polizei und Feuerwehr. Wir kamen zu einer Tankstelle. Von dort holten sie uns ab und brachten uns zu einem Hotel, wo wir die Nacht über blieben. Am nächsten Morgen ging es zu einem, Haus, in dem wir dann fünf Tage waren. Dann kam ein Benz und brachte uns nach Nueva York. Das hat zwei Nächte und zwei Tage gedauert. Es war das erste Mal, daß ich die große Stadt Nueva York sehen konnte, von der ich so geträumt hatte. Und trotz der Alpträume, die ich durchgemacht habe, bin ich schließlich angekommen und habe meinen Freund getroffen, den Mann, den ich liebe.
Das war die große Geschichte, die ich erlebt habe, während der großen Reise. Ich bin stolz, daß ich erfolgreich gewesen bin, denn schließlich bin ich angekommen, am 22. Dezember 1997.

Übersetzung: Bernd Kappes

PS: Margarita wohnt nun zusammen mit ihrem Freund in New York bei der Familie dessen Patenonkels, der auch das Geld für den coyote vorgestreckt hatte. Sie putzt die Wohnungen reicher, weißer US-Amerikaner. Einen anderen Job könnte sie wegen ihres Status als Illegale auch gar nicht ausüben. Margarita ist zufrieden und betont, daß sie höchstens vier oder fünf Jahre mit ihrem Freund in den USA bleiben will. Dann soll es mit dem gesparten Geld nach El Salvador zurückgehen, um dort ein gutes Leben zu beginnen.
Die Theatergruppe des Weltladen Marburg hat den Text als Körpertheater inszeniert. Die Aufführung findet am 5. Juli, 17.00 Uhr, in der Waggon-Halle Marburg statt.

“Es lebe die internationale Solidarität“

Die Akte DDR wurde vor acht Jahren geschlossen und seither verstaubt sie im Archiv der Geschichte. Hin und wieder wird sie nochmal aufgeschlagen, um darin zu lesen und Rechtfertigungen für ihre restlose Einäscherung zu suchen. In dieser Ausgabe soll ein relativ kleiner und ganz spezieller Ausschnitt der DDR-Geschichte aus der Versenkung geholt, entstaubt und mit dem Licht der fast ein Jahrzehnt alten Distanz beleuchtet werden. Es geht nicht um Geschichtsbewältigung oder -aufarbeitung. Auch soll es kein Ostalgietrip in eine Vergangenheit ohne Zukunft werden. Der Anspruch liegt einzig darin, Momentaufnahmen aus der DDR-Beziehungskiste aufzuzeichnen und dabei persönliche Erfahrungen ebenso wie offiziell verordnete Richtlinien einzubeziehen.
In der Tat war Lateinamerika, von Kuba und Nicaragua abgesehen, für die DDR politisch eher zweitrangig, in wirtschaftlicher Hinsicht sogar drittrangig. Beim näheren Hinsehen aber fördert das Thema sowohl spannungsgeladene Ost-West und deutsch-deutsche Konflikte als auch Konflikte innerhalb der DDR zutage und blendet Teile (gelebter) DDR-Geschichte ein. Und gerade für jene, die die 40 Jahre westlich der „großen Mauer“ verbrachten, enthalten die anschließenden Beiträge einiges Unbekanntes, aber durchaus Erfahrenswertes.
Wie kann man die jüngste Geschichte Lateinamerikas entschlüsseln, wenn man den Ost-West-Konflikt – den die DDR mitprägte – ausklammert? Wenn wir uns bezüglich lateinamerikanischer Außenbeziehungen immer nur auf die USA oder die Bundesrepublik stürzen, unterschlagen wir den wichtigen Einfluß, den ein untergegangenes System über Jahrzehnte hinweg in Lateinamerika ausübte, ein Einfluß, der noch immer nachwirkt.
Die acht Beiträge zeigen ein komplexes Gebilde ostdeutscher Beziehungen zu Lateinamerika. Bis auf die Analyse der 40jährigen Story der DDR Außenpolitik aus der Sicht von Raimund Krämer, eines ehemaligen Mitarbeiters der kubanischen Botschaft, spiegeln die Artikel eher kurze, aber prägnante Momente dieses Kapitels der DDR-Geschichte wieder.
So wirft Sabine Zimmermann einen Blick auf und hinter die Kulisse des Prestige-Entwicklungsprojekts Krankenhaus „Carlos Marx“ in Managua. Erfahrungen vor Ort, gepaart mit SED-Rhetorik, malen ein sehr differenziertes Bild von offizieller Entwicklungshilfe. Von „unten,“ aus der Perspektive inoffizieller Solidaritätsarbeit in Kirchengruppen, erzählt Willi Volks die Geschichte unabhängigen Engagements und der Schwierigkeiten in einem von Kontrolle besessenen Staat eigene Projekte, übers „Päckchenpacken“ hinaus, zu entwickeln. Christoph Links beschreibt seine ganz persönlichen Erinnerungen an die Vor- und Nachwendezeit – und wie diese sich auf sein Interesse für Lateinamerika auswirkten.
„Tania – la guerrillera“ zeichnet das Porträt der berühmten Nachkriegspartisanin, die nach Lateinamerika ging, „um den unterdrückten Völkern den Sozialismus zu bringen“ und wie Che Guevara zur Märtyrerin wurde. Daran anschließend schwenkt die Kamera vom letzten Schauplatz DDR-Politbüro nur einige Meter weiter in die Friedrichstraße. Dort überquerten zwischen 1973 und 1975 hunderte politische Flüchtlinge aus Chile die Westberliner Grenze Richtung Osten, um sich in der DDR – so gut es ging – erstmal ein neues zu Hause einzurichten. Der Artikel beleuchtet Ängste, Freude und Alltagsprobleme des Exils aus Perspektive der ChilenInnen und das Funktionieren staatlicher Solidaritätspolitik in diesem speziellen Fall.
Wer hat schon einmal von der Existenz eines Lateinamerikainstituts im Osten gehört? Nun, mittlerweile ist es mitsamt der DDR und mit der energischen Hilfe einiger Politiker eingeäschert worden. „Lichter aus!“ beschreibt Aufstieg und Fall des Lateinamerika-Instituts in Rostock. Und für Literaturfreunde, die wissen wollen, welche lateinamerikanischen Bücher die staatliche Zensur passierten und in der DDR gelesen werden durften, bringt der Beitrag von Hans Otto Dill abschließend das eine oder andere Licht ins Dunkel.

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