Unidad! Unidad!

Unidad, Unidad! Mehrfach beschwor Hugo Chávez in seiner dreistündigen Rede auf der Abschlusskundgebung des „3. Gipfels der Völker Amerikas“ am 2. November 2005 im argentinischen Mar del Plata die Einheit Lateinamerikas. Vor circa 45.000 Menschen war der Präsident der Bolivarianischen Republik Venezuela der einzige Redner. Die Einigkeit, die zwischen den 34 Staatschefs beim Gipfel der amerikanischen Staaten nicht herzustellen war, wurde zumindest im Fußballstadion des Badeortes für wenige Stunden zelebriert. Das alleine ist bei der traditionell zersplitterten argentinischen Linken und den teilweise verfeindeten Piquetero-Fraktionen im Land schon ein beachtliches Ereignis.
Neben Chávez war aber noch ein anderer dafür verantwortlich: Die Anwesenheit von George W. Bush in Argentinien wurde nicht nur von den DemonstrantInnen in Mar del Plata, sondern von der übergroßen Mehrheit der ArgentinierInnen abgelehnt. Chávez gelang es bei seiner mit kleinen Geschichten gespickten, frei gehaltenen Rede, seinen Hauptfeind mehrfach mit einzubeziehen. Dabei musste er ihn gar nicht beim Namen nennen, es reichte schon, den „Mister“ nur indirekt zu erwähnen. Und die Menge skandierte minutenlang „Bush-Faschist! Du bist der Terrorist“. Chávez lehnte sich am Rednerpult zurück und genoss sichtlich diesen Augenblick. Und als der begnadete Rhetoriker mehrfach „Viva Perón! Viva Evita!“ in seine Rede einstreute, waren die Zehntausenden von ArgentinierInnen, die in der Tiefe ihres Herzens fast alle Peronisten sind, endgültig glücklich.
Dabei ist das Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und Chávez bei weitem nicht ungetrübt. Nicht wenige machen sich Sorgen über die fehlende Distanz zum Volkstribun Chávez. Die geballte venezolanisch-kubanische Präsenz vor allem während der Schlussveranstaltung (der nicht zum offiziellen Gipfel eingeladene Inselstaat hatte eine 300 Personen starke kubanische Delegation zum Gegebgipfel nach Mar del Plata geschickt) stellte für viele der Teilnehmenden eine Herausforderung dar. Zwischen den Regierungen, gerade auch den linken, und den sozialen Bewegungen gibt es erhebliche Unterschiede. Wie beide Seiten sich in diesem Spannungsfeld bewegen, wurde auf der Ebene der Sozialforen zum ersten Mal in Mar del Plata deutlich. Waren beim Weltsozialforum die Reden von Lula (2003 und 2005) und Chávez (2005) zwar wichtige Großereignisse, so waren sie doch nur Veranstaltungen unter tausenden anderen. In Mar del Plata hingegen avancierte ein Präsident zum Hauptredner des Gegengipfels.

Prominente Gäste

Beim Gipfel der Völker zumindest herrschte zu großen Teilen dennoch Einigkeit. Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel hatte es, zusammen mit einigen linken Abgeordneten wie Miguel Bonasso von der Revolutionären Demokratischen Partei, fertig gebracht, die zersplitterte argentinische Politlandschaft zumindest für einige wenige Tage unter einen Hut zu bringen. Mit zu den Protesten aufgerufen hatte auch die „Hand Gottes“ persönlich. Diego Armando Maradona, der nur wenige Tage vor dem Gipfel den nicht eingeladenen Fidel Castro in Cuba interviewt hatte, war auf Bitte seines Idols Fidel mit dem „ALBA-Zug“ über Nacht von Buenos Aires gekommen, um sich am Protest gegen Bush und gegen das von den USA und seinen Verbündeten forcierte Freihandelsabkommen ALCA zu beteiligen. Am Gipfel der Völker, der für sich in Anspruch nahm, der wahre Gipfel zu sein, nahmen insgesamt 12.000 Personen teil. In 150 Arbeitsgruppen und zehn thematischen Großseminaren diskutierten GewerkschafterInnen, UmweltschützerInnen, VertreterInnen von Indígenas, GlobalisierungskritikerInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, StudentInnen, Piqueteros/as, VertreterInnen von Stadtteilgruppen und weitere Akteure über Mittel und Wege hin zu einem anderen Amerika. In der zehn Punkte umfassenden Abschlusserklärung wurde der sofortige Abbruch der ALCA-Verhandlungen gefordert, ebenso wie die Auflösung aller bilateralen Handelsabkommen mit den USA, die Annullierung der Auslandsschulden und die Entmilitarisierung Lateinamerikas.

Kein eitel Sonnenschein

Trotz des standhaften Blocks der vier Mercosur-Präsidenten plus Chávez (die fünf Musketiere, wie Chávez Kirchner, Lula, Vázquez, Duarte und sich selbst bezeichnete) gegen die restlichen 29 Staaten wurde in den Arbeitsgruppen des Gegengipfels nicht mit Kritik auch an diesen Regierungen gespart. Einmal mehr wurden die Agrarexportmodelle und die massive Ausbreitung von Monokulturen – zunehmend mit gentechnisch verändertem Saatgut – im südlichen Teil Amerikas als aktuelle Form von Kolonialismus in einer von multinationalen Unternehmen neugeordneten Welt verurteilt. Kritik wurde auch an den gigantischen Infrastrukturprojekten wie den geplanten Erdgasleitungen und Amazonasstraßen laut. Am vehementesten widersetzen sich dem die VertreterInnen von indigenen Völkern. In ihrem Forum setzten sie eigene Akzente und in ihrer Schlusserklärung lehnten sie alle Entwicklungsprojekte schlichtweg ab. Sie forderten Autonomie und Unabhängigkeit, um ihre Zukunft und die ihrer Territorien zu gestalten.
Zum Abschluss des Gipfels der Völker (der einen Tag vor dem offiziellen Gipfel zu Ende ging) kam es dann doch noch zu der befürchteten (und teilweise auch herbeigeredeten und –geschriebenen) Gewalt. Mehrere Piquetero-Organisationen und ein Teil des linksradikalen Parteienspektrums hatten zu einer Art Nachdemonstration vom Stadion hin zur Sperrzone aufgerufen. Die relativ defensiv orientierte Polizei setzte Tränengas ein und eine kleine Gruppe von AktivistInnen begann Scheiben einzuschlagen und Geschäfte zu plündern, wobei mehrheitlich Filialen von multinationalen Konzernen angegriffen wurden. Eine Bank ging in Flammen auf. Ein Rätsel bleibt, weshalb die Banco de Galicia im Gegensatz zu allen anderen Bankfilialen in der Stadt nicht geschützt war. So machten denn die gleichzeitig gezeigten Bilder der brennenden Bankfiliale und des obligatorischen Familienfotos der 34 Präsidenten klar, dass die Stimmung in Mar del Plata nicht von „eitel Sonnenschein“ geprägt war. Das kam einigen Präsidenten vielleicht gar nicht so ungelegen.

Die Schule der Mörder

Enrique, Magdalena, Pedro. Auf den Kreuzen stehen die Namen der Opfer. Zehntausende DemonstrantInnen werden sie vom 19. bis zum 21. November vor dem US-amerikanischen Militärcamp Fort Benning in Columbus, Georgia, in die Höhe halten. Sie fordern die Schließung der „School of the Americas (SOA)“. Lateinamerikanische Militärs, die später zu Diktatoren, Folterern und Mördern wurden, sind hier ausgebildet worden.

Patriotische Stadt
Bill hält nicht viel von den Protesten. Wie die meisten der knapp 200.000 Einwohner von Columbus. Er ist stolz auf seine Heimatstadt. Schließlich wurde hier das Geheimrezept von Coca-Cola erfunden. Und hier ist das Militär zu Hause. Der 58-jährige sitzt in einer Ecke des Fastfood-Restaurants, schlürft die braune Limonade und zeigt auf das Plastikschild über ihm: God bless our troops! „Hier in Columbus sind wir Patrioten!“ murmelt er in seinen Vollbart. Die Kleinstadt ist quasi die Versorgungsmeile des drittgrößten Militärausbildungslagers der Welt. Nachtbars reihen sich an der Straße zu Fort Benning aneinander.
Nur einmal im Jahr wird der Protest gegen die militärische Dauerpräsenz laut. Dann sind ausnahmsweise alle Hotels ausgebucht. MenschenrechtsaktivistInnen aus aller Welt kommen jeden November in die Stadt südlich von Atlanta, um gegen ein „Symbol US-hegemonialer Macht“ zu protestieren.

Lexikon des Terrors
In Fort Benning steht das rosafarbene Gebäude der „School of the Americas (SOA)“. Seit 1946 wurden an dieser Schule mit US-Steuergeldern – zunächst in Panama und seit 1984 in Georgia – knapp 60.000 Soldaten und Offiziere aus Mittel- und Südamerika ausgebildet. Die Absolventenliste liest sich wie ein Lexikon des Terrors. Darunter befinden sich die argentinischen Diktatoren Leopoldo Galtieri und Roberto Viola, mitverantwortlich für das Verschwinden von rund 30.000 Menschen. Und Roberto D’Aubuisson, Anführer von El Salvadors Todesschwadronen.Der bolivianische Diktator Hugo Banzer Suarez hat es sogar bis in die Hall of Fame der Schule gebracht. Zehn der zwölf Offiziere, die für das Massaker an 900 Zivilisten im salvadorianischen Dorf El Mozote verantwortlich waren, haben einen Kurs der SOA besucht. Ebenso zwei der drei Offiziere, die an der Ermordung von Oscar Romero beteiligt waren. Und in Chile befehligten SOA-Schüler Pinochets Geheimpolizei DINA.
Rund 500 Schwerverbrecher sind nach Angaben der Menschenrechtsbewegung „SOA Watch“ aus der Schule hervorgegangen. 500 von 60.000 Studenten – das seien doch nur „a few bad apples“ – „ein paar schlechte Äpfel“ argumentiert die Akademie.
Nach offiziellen Angaben sollten die Soldaten und Offiziere den Umgang mit US-amerikanischen Waffen und den Respekt für US-amerikanische Werte erlernen. Im Dezember 2000 war damit zunächst Schluss. Lehrbücher der SOA waren an die Öffentlichkeit gelangt, in denen die Anwendung von „Schwarzen Listen, Spionage in Gewerkschaften und Studentenvereinigungen, von Isolationshaft, Hypnose und elektrischen Verhörhilfen“ empfohlen wurde. Die Proteste von Menschenrechtsorganisationen führten schließlich dazu, dass der Kongress für die Schließung der SOA stimmte. Doch nicht einmal einen Monat nach der Schließung öffnete die Akademie im Januar 2001 erneut ihre Pforten. Unter anderem Namen. Mit denselben Inhalten. Mit denselben Ausbildern. „Western Hemisphere Institute for Security Cooperation (WHINSEC)“ steht jetzt auf dem Schild am Eingang. Und das Militär übt sich in Menschenrechtserziehung.
Transparenz, Vertrauen und Offenheit: Das ist die neue Strategie des WHINSEC gegen jegliche Kritik. Jeder, der sich informieren oder an einem Kurs teilnehmen möchte, ist herzlich willkommen. „Wir haben nichts zu verbergen“, lacht WHINSEC-Pressesprecher Lee Rials. Er erzählt gerne von seiner Zeit als Soldat in West-Berlin und holt bereitwillig ein Werbevideo aus der Schreibtischschublade. Zu emotionsbeladener Latinomusik sind darin mehr lachende Kinder als Gewehre zu sehen. Der Off-Text spricht von der Verteidigung der Menschenrechte. Für die Zukunft der Kinder. Eigentlich war der Film dazu gedacht, die Kritik von Menschenrechtsorganisationen über die Ausbildung von Folterern und Diktatoren auszuräumen. Doch die Bilder von glücklichen Soldaten in indigenen Gemeinden waren dann doch zuviel des Guten. „Wir sind hier schließlich keine Kinderkrippe“, sagt Rials und schaltet den Fernseher aus. Das gut 15minütige Video wurde niemals veröffentlicht.
„Die Behauptung, dass wir hier Leute zum Töten ausbilden, ist nicht ganz korrekt“, sagt Pressesprecher Rials. „Wir haben zum Beispiel auch medizinische Kurse. Dort lernen sie, wie man Kinder auf die Welt holt. Natürlich gibt es auch militärische Lehrgänge. Aber es geht mehr darum, wie das Militär professionell und im Sinne seiner Verfassung arbeiten soll. Dennoch können wir keine Verantwortung dafür übernehmen, was einige später in ihren Ländern mit diesem Wissen machen.“ Glaubt man dem Pressesprecher, sollen die Studenten in den USA Toleranz und Respekt erlernen. „Militärs aus verschiedenen Länder müssen hier miteinander auskommen. So lernen sie, dass die Leute im Nachbarland auch nur Menschen sind. Und wir sehen es als unsere Aufgabe, diese Freundschaften zu entwickeln“, so Rials. Auf dem Stundenplan stehen deshalb neben Kursen in Aufstands- und Terrorismusbekämpfung auch Ausflüge in die Museen der Altstadt von Columbus. Und in das Werk von Coca-Cola.

Crossing the Line
Freundschaften unter lateinamerikanischen Militärs für mehr Demokratie und Wahrung der Menschenrechte. Darüber kann Reverend Roy Bourgeois nur den Kopf schütteln. „Wie lehrt man Demokratie in einer undemokratischen Einrichtung?“ Der Vietnam-Veteran und Gründer von „SOA Watch“ organisiert seit 1990 den Widerstand gegen die „Schule der Mörder“, wie er sie nennt. Bourgeois wohnt in einem kleinen Ein-Zimmer-Apartment, keine zehn Meter vom Eingang des riesigen Fort Benning entfernt. Den Feind stets im Blickfeld. Sein Wohnzimmer ist gefüllt mit sauber geordneten Akten voll Zeitschriften, Artikeln, Fotos, handgeschriebenen Notizen.
Der Protest gegen die „School of the Americas“ ist sein Lebensinhalt. Roy Bourgeois hat deshalb insgesamt über vier Jahre in US-amerikanischen Gefängnissen gesessen. Wie mehr als 170 andere, die es gewagt hatten, die weiße Begrenzungslinie von Fort Benning während des alljährlich stattfindenden Marsches zu überqueren. „Wir werden zurückkommen. Jedes Jahr. Bis diese Schule endgültig geschlossen wird“, sagt Bourgeois sicher. „Denn die Foltermethoden, die im Irak von US-AmerikanerInnen angewendet wurden, sie sind kein Einzelfall, sondern Methode. Es gibt eine direkte Verbindung von Folter und US-Außenpolitik, wie zum Beispiel im Fall von El Salvador oder Argentinien.“
Für WHINSEC-Pressesprecher Rials stehen die Proteste gegen seine Institution stellvertretend für eine Ablehnung der US-Außenpolitik. „Die brauchen ein Symbol und wir müssen dafür herhalten, obwohl wir nur ein kleines Rad im Getriebe sind.“
Man könne die Schule nicht für ihre Absolventen verantwortlich machen, so der offizielle Standpunkt des WHINSEC. „Galtieri hat 1949 als Leutnant einen Ingenieurkurs in der SOA belegt. Was hat das damit zu tun, was er 1981/82 in Argentinien getan hat?“ gibt Pressesprecher Rials zu bedenken. Und folgt man seiner Argumentation, dann wäre die Situation der Menschenrechte in Lateinamerika ohne SOA/WHINSEC sogar noch um einiges schlimmer: „Wir versuchen, unseren Studenten den Respekt vor der Zivilbevölkerung beizubringen. Ich denke schon, dass wir dadurch einen positiven Einfluss auf das Militär ausüben können.“ Mindestens acht Stunden Menschenrechtserziehung sind Pflicht für jeden WHINSEC-Neuankömmling. Inhalte: Demokratische Werte, die Genfer Menschenrechtskonvention und ein „Verhaltenskodex für Soldaten“. Soweit die offizielle Seite. Wer mehr erfahren will, braucht im Hörsaal nur ein wenig zwischen den Zeilen zu lesen.
Die 14 Studenten an diesem Donnerstag sehen noch ein wenig mitgenommen aus. Erst am Tag zuvor sind sie aus Chile, Argentinien, Honduras, El Salvador und Guatemala angereist. Der Pflichtkurs in Sachen Menschenrechte wird stets zu Beginn eines Lehrganges abgehalten. Kaum haben die Militärstudenten richtig verstanden, wo sie sich befinden, ist er auch schon zu Ende. Viel wird davon nicht hängen bleiben. „Das hier sitze ich nur ab“, kommentiert ein 32-jähriger aus Honduras. „Danach wird es interessant.“ Zwei Wochen lang werden sie in Fort Benning trainiert, „ländliche Konflikte“ zu lösen.

Militär der Menschenrechte
Einen Vorgeschmack darauf bekommt man bereits im Menschenrechtskurs. Anhand der Genfer Menschenrechtskonvention wird erklärt, wie mit Gefangenen umzugehen ist. In erster Linie geht es dabei nicht darum, welche Pflichten die Soldaten haben, sondern welche Rechte sie bei einer Festnahme haben. „Ist ja schön und gut, das alles hier“, meldet sich gelangweilt ein junger Offizier aus El Salvador zu Wort. „Aber wenn ich vor denen stehe, dann überlege ich mir nicht, ob ich Artikel 1 oder Artikel 2 der Genfer Menschenrechtskonvention anwenden soll.“ Ein Mitstudent möchte besonders witzig sein und antwortet ihm: „Ist ganz einfach, wenn du eine weiße Fahne siehst, dann schießt du nicht!“ Brüllendes Gelächter.
Ausgiebig wird über den Unterschied zwischen Terroristen, Guerilla-Kämpfern und gewöhnlichen Verbrechern diskutiert. Auch die Kategorie „subversiv“ ist immer noch aktuell. „Subversiv kann schon jemand mit einem Stift in der Hand sein“, erläutert ein argentinischer Teilnehmer in der Kaffeepause. Vieles erinnert noch an die alten Zeiten der „School of the Americas“ und der Doktrin der Nationalen Sicherheit. Doch einiges hat sich geändert seit dem Zusammenbruch des alten Feindbildes „Kommunismus“ und seit dem 11. September 2001. „In den 70er Jahren reichte es in Lateinamerika schon aus, in Besitz eines verbotenen Buches zu sein, um politische Gefangenschaft und Verschwinden zu riskieren“, beschreibt Menschenrechtsaktivist Bourgeois. „Heute wird dagegen versucht, politisch motivierte Handlungen als kriminelle Verbrechen oder terroristische Anschläge darzustellen. Und das Militär muss dementsprechend für Ruhe und Ordnung sorgen.“

Venezuela sendet keine Schüler mehr
Bourgeois gibt nicht auf. Er versucht weiter, Einfluss auf den Kongress zu nehmen. Doch seit Beginn des Kampfes gegen den Terrorismus hat er dort wenige Verbündete. „SOA Watch“ versuche daher verstärkt, direkten Einfluss auf die Regierungen in Lateinamerika zu nehmen. In Venezuela hatte die Menschenrechtsorganisation erste Erfolge. Denn zwei Absolventen der School of the Americas waren es, die im April 2002 den Putschversuch gegen Hugo Chávez anführten. „Wir haben Chávez Anfang 2004 in Caracas getroffen. Er versprach uns, keine weiteren Schüler zur SOA zu schicken“, erzählt Bourgeois. Bislang hat der Präsident der bolivarianischen Republik sein Versprechen gehalten. Knapp 1000 Absolventen haben 2004 das WHINSEC verlassen. Die meisten kommen aus Kolumbien, gefolgt von Honduras und Bolivien. Aber kein einziger Venezolaner.

Weitere Infos: www.soaw.org;
www.benning.army.mil/whinsec

Vom Vorbild zum Vormund

Am 2. Dezember 1823 erklärte der US-Präsident James Monroe vor dem Kongress, “dass die amerikanischen Kontinente (…) fortan nicht mehr als Gegenstand zukünftiger Kolonisation durch irgendwelche Mächte zu betrachten sind.” Es galt US-amerikanischen Besitz zu schützen oder “Schlimmeres” zu verhindern, etwa eine Invasion einer europäischen Macht, die das gleiche Ziel hegt: Schulden einzutreiben.
Doch dass die USA einmal zu solchen Mitteln greifen würden, konnte Präsident Monroe noch nicht ahnen. Ihm ging es noch hauptsächlich darum, die eigene junge Unabhängigkeit zu wahren. Zu dieser Zeit waren die lateinamerikanischen Länder gerade im Begriff zu entstehen. Mexiko (das damals noch ganz Zentralamerika umfasste) und Brasilien waren 1821 und 1822 gerade unabhängig geworden und Simón Bolívar hatte 1819 das Vizekönigreich Granada als Großkolumbien (das noch die Gebiete des heutigen Venezuela, Panama und Ecuador beinhaltete) in die Freiheit geführt. Eine europäische Invasion schien zumindest sehr gut möglich und war sicherlich auch nicht im Interesse der jungen USA. Noch galt dieser Staat als Experiment, das durchaus hätte widerrufen werden können.
Doch der Staat blieb, und innerhalb der nächsten 60 Jahre wurde die Monroe-Doktrin zunächst nicht umgesetzt. Als zum Beispiel 1861 Spanien, Großbritannien und Frankreich aufgrund nicht eingehaltener Verpflichtungen ein Expeditionskorps nach Mexiko schickten, waren die USA zu sehr mit ihrem eigenen Bürgerkrieg beschäftigt, um in irgendeiner Form einschreiten zu können. Und auch späteren Invasionen europäischer Mächte in lateinamerikanische Länder um Schulden einzutreiben, hatten die USA nur diplomatische Protestnoten entgegenzusetzen.
Dennoch gingen die USA im Vergleich zu den Europäern in Lateinamerika vorerst noch ruppiger vor: Die USA kolonisierten nicht, sie annektierten. Nach dem Mexikanisch-US-Amerikanischen Krieg von 1846 bis 1848 verlor Mexiko die (wenig besiedelte) Hälfte seines Territoriums an die USA, wo diese ihren nicht enden wollenden Durst nach neuen Siedlungsgebieten stillen konnten. Die indigene Bevölkerung wurde vertrieben oder ermordet, so sie nicht an den eingeschleppten Krankheiten starb.

Das Schicksal der USA

Zu dieser Zeit begannen von der Union enttäuschte Sklavokraten von der Eroberung eines “karibischen Imperiums” zu träumen. William Walker war wohl der berühmteste dieser Filibuster. Sie versuchten, in den Südstaaten als Helden gefeiert, mit privaten Armeen eigene Staaten in Zentralamerika zu erobern: Pflanzerimperien, in denen die Sklaverei weiter bestehen sollte, weit weg von den an Einfluss gewinnenden Abolitionisten der Nordstaaten. Sie stürzten die zentralamerikanischen Republiken, die ohnehin ständig unter den blutigen Konflikten der herrschenden Klasse zu leiden hatten, in immer größeres Chaos.
Der US-amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 verhinderte die Fortsetzung derartiger Abenteuer. Und auch die Zeit danach stand im Zeichen des Wiederaufbaus. Die USA blieben vorerst mit sich selbst beschäftigt. Doch gerade in dieser Zeit entstanden die Voraussetzungen für den späteren Imperialismus. Durch hohe Einfuhrzölle geschützt, industrialisierten sich die USA rasant, während sich in Lateinamerika die konservativen Eliten – paradoxerweise ganz im Sinne des Liberalismus von Adam Smith – darauf beschränkten, Rohstoffe zu produzieren und industriell gefertigte Waren von europäischen Ländern, vor allem Großbritannien, zu importieren.
Doch die expansionistischen Strömungen waren nicht ausgestorben. Weite Verbreitung hatte der Glaube an ein manifest destiny, ein vorgeschriebenes Schicksal, nach dem die angelsächsichen USA die “schwächeren Rassen” in das scheinbare Paradies von Kapitalismus, Demokratie und puritanischen Protestantismus zu führen hätten – oder auszurotten, wie die indigene Bevölkerung der USA. Früh engagierte sich der spätere Präsident Theodore Roosevelt in solchen imperialistischen und rassistischen Zirkeln. “Ich werde beinahe jeden Krieg willkommen heißen,” erklärte er einmal, “denn ich denke, dieses Land braucht einen!”

Die Ideale Jeffersons

Dies waren zweifelsohne nicht die Ideale Thomas Jeffersons, derentwegen die USA einst auch von den kreolischen Eliten Lateinamerikas bewundert wurden: die Wertschätzung des Individuums, die Gleichheit aller Menschen und die Freiheit eines jeden, sein Glück zu suchen. Die Verfassung garantiert aber auch die Unverletzlichkeit des Eigentums und das Recht auf Waffenbesitz. Überhaupt war das mit der Gleichheit offenbar nicht so gemeint, wie es auf dem Papier stand. So war das Wahlrecht an Landbesitz gebunden und galt anfangs höchstens für zehn Prozent der Bevölkerung. Und die Freiheit, das persönliche Glück zu suchen, bezog sich vor allem auf wirtschaftliche Aktivitäten. Die Freiheit der wirtschaftlich Starken endete keineswegs dort, wo sich Arme davon bedrängt fühlten. Zudem fand selbst der Idealist Jefferson, dass diese Gleichheit nicht für die indigene Bevölkerung galt. Er drohte den „wilden Tieren“ einen „unaufhörlichen Krieg“ an, „solange noch einer von ihnen übrig ist, jenseits des Mississippi“. Trotzdem finden sich in den USA immer wieder Menschen, die von diesen Idealen ausgehend, die aktuelle Politik kritisieren und ihre Erfüllung einfordern.
Zur Geschichte des US-Mexikanischen Kriegs gehört eben auch die von Henry David Thoreau, der sich lieber einsperren ließ, als Steuern für diesen Krieg zu bezahlen.
Und so fand auch der imperialistische Roosevelt seine Gegenspieler in einer starken Friedensbewegung. Während er im Zuge des Spanisch-Amerikanischen Kriegs 1898 mit seinen “Rough Riders” den St. Juan Hügel in Cuba stürmte (vielleicht aus Freude, seinen Krieg gefunden zu haben?), schrieb Mark Twain Artikel für pazifistische Zeitungen, in denen er beispielsweise vorschlug, die Sterne in der US-Flagge gegen einen Totenkopf mit gekreuzten Knochen auszutauschen. Doch die jingoists, wie man die Anhänger einer aggressiven Außenpolitik damals nannte, behielten die Oberhand.
Und in deren Argumentation wurde auch die Monroe-Doktrin wieder wichtiger. Im Jahre 1895 konnten die USA die Doktrin zum ersten Mal gegenüber Großbritannien durchsetzten. Anlass war ein Grenzkonflikt zwischen Venezuela und Britisch-Guyana: Die USA drohten mit Krieg, sollten sich die Briten nicht zurückziehen, woraufhin diese von ihren Plänen absahen.

Keine Kolonien für die USA

Vom Erfolg dieser Haltung offenbar überwältigt, behauptete der damalige Staatssekretär Olney, dass die USA nun “praktisch der Souverän der Hemisphäre” seien. Dieser als Olney Corollary in die Geschichte eingegangene Zusatz zur Monroe-Doktrin beunruhigte und empörte natürlich die meisten LateinamerikanerInnen.
Noch beunruhigender und empörender war allerdings, dass die USA nach dem Krieg mit Spanien Kuba und Puerto Rico vorerst nicht in die Unabhängigkeit entließen, sondern besetzt hielten (das Wort Kolonie wurde natürlich peinlich vermieden). Als Verteidiger kubanischer Freiheit in den Kampf gezogen, beschränkten die USA nun ihrerseits die Souveränität des neuen Staates mittels des Platt Amendments, ein Einschub in die kubanische Verfassung, der ihnen das Recht zusprach, zu intervenieren, wenn sie es für nötig erachteten. Puerto Rico dagegen bleibt bis heute ein “assoziierter Freistaat”, was sich natürlich viel netter als “Kolonie” anhört.
Der neue Held dieses Krieges, Theodore Roosevelt, wurde schließlich 1901 Präsident. Und auch er formulierte einen Zusatz zur Monroe-Doktrin: Dass nämlich die USA seiner Meinung nach das Recht hätten zu intervenieren, wenn “unverantwortliche Regierungen” in Lateinamerika durch Überschuldung die Intervention europäischer Mächte provozierten. Damit beanspruchten die USA Lateinamerika eindeutig als ihre Einflusssphäre, aus der sich konkurrierende imperialistische Mächte herauszuhalten hätten. So wurde in seiner Regierungszeit mit Panama ein neuer Staat im Hinterhof geschaffen, dessen einziger Zweck die Befriedigung des US-Interesses nach einem Kanal war. Und auch Haiti und Nicaragua bekamen zu spüren, was “Teddy” Roosevelt für “unverantwortlich” hielt.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges war aber die Gefahr für die USA, dass ein anderes Land ihnen den Einfluss in der Hemisphäre streitig machen könnte, ohnehin gebannt. Das noch überall in Lateinamerika reichlich vorhandene europäische Kapital wurde abgezogen und durch US-amerikanisches ersetzt. Nach dem Krieg war der Einfluss der USA in der Region noch unangefochtener als vorher.

Gemäßigte Politik in der Zwischenkriegszeit

So konnten es sich die USA leisten, in der Zwischenkriegszeit weniger aggressiv in Lateinamerika vorzugehen: Die wirtschaftliche Abhängigkeit war ohnehin gegeben. Und ab Ende der 20er Jahre waren durch die Weltwirtschaftskrise auch immer weniger US-BürgerInnen bereit, für außenpolitische Abenteuer Steuergelder zu verschwenden.
So konnte Franklin D. Roosevelt eine Politik der guten Nachbarschaft formulieren und die panamerikanische Freundschaft beschwören. In dieser Zeit konnten sich auch viele lateinamerikanische Länder nach europäischem Vorbild modernisieren und industrialisieren: Da die Exporte aus Europa und den USA ohnehin nicht mehr zuverlässig waren, setzte sich auch eine stärker auf Importsubstitution orientierte Wirtschaftspolitik durch, vorangetrieben von populistischen Führern, die sich auch auf die entstehende industrielle Arbeiterklasse stützen konnten.

Gegen die rote Flut

Der Zweite Weltkrieg stellte in dieser Beziehung keinen großen Einschnitt dar. Aber der darauf folgende Ost-Westkonflikt beherrschte von nun an die Beziehungen zu den lateinamerikanischen Länder.
Von nun an war klar, was im Rooseveltschen Sinne als “unverantwortliche” Politik zu gelten hätte: Alles, was irgendwie nach Sozialismus roch. Über jeder noch so bescheidenen politischen Reform in Lateinamerika hing das Damoklesschwert, dass es vom State Department als Vorbote einer kommunistischen Flutwelle bewertet werden könnte.
Nur Kuba konnte sich durch die Revolution von 1959 der direkten Einflussnahme Washingtons entziehen. Dafür konnte dieses kleine Land in der US-Propaganda die Rolle der Angstmaschine erfüllen: “Rote Flut” hieß ein Propagandafilm der Reagan-Zeit, in dem kubanische und sandinistische Guerillas (mit sowjetischer Unterstüzung) den Kommunismus einführen. Der Film hat ein hohes realsatirisches Potenzial.
So hat jedes lateinamerikanische Land in irgendeiner Form den “großen Stock” der USA gespürt, den Roosevelt immer bei sich tragen wollte: Blutrünstigste Generäle von Pinochet bis Rios Montt waren sich der Unterstützung der USA sicher, solange sie die “Roten” bekämpften. In Einzelfällen, wie in Grenada, intervenierten die USA auch direkt. Und an die kubanische Schweinebucht oder nach Nicaragua schickten sie von der CIA ausgebildete Söldner. Aktuell rüsten die USA die kolumbianische Armee gegen die Guerillas FARC und ELN auf.

Eine wunderbare Freundschaft

1846 Mexiko: Die USA führen einen zweijährigen Krieg gegen ihren südlichen Nachbarn. Am Ende annektieren sie Texas, Kalifornien, Arizona, New Mexico, Nevada und Utah.

1898 Puerto Rico: US-Präsident William McKinley annektiert die Karibikinsel.

1898 Kuba: Die Insel wird nach Ende des Krieges der USA mit Spanien besetzt. Im Jahre 1902 wird das Platt Amendment in die kubanische Verfassung aufgenommen. Kuba wird damit zu einem Protektorat mit US-amerikanischem Interventionsrecht.

1903 Kolumbien: US-Präsident Teddy Roosevelt (Friedensnobelpreisträger!) schickt US-Marines, um Panama abzutrennen, nachdem Verhandlungen mit der kolumbianischen Regierung über den Bau eines Kanals in der Panama-Zone gescheitert sind. Die USA annektieren 1400 Quadratkilometer panamaischen Territoriums in der Kanalzone.

1903 Kuba: Mit einem unbefristeten Pachtvertrag sichern sich die USA die Bucht von Guantánamo als Militärstützpunkt.

1912 Nicaragua: Invasion von US-Marineinfanteristen. Sie bleiben 13 Jahre.

1914 Mexiko: US-Präsident Woodrow Wilson lässt die Hafenstadt Veracruz besetzen.

1915 Haiti: Invasion der USA und Errichtung eines 19 Jahre andauernden Protektorats. Heftiger Widerstand der Bevölkerung.

1916 Dominikanische Republik: Die USA besetzen die Insel und bleiben bis 1924.

1925 Nicaragua: Rückkehr der US-Truppen nach einjähriger Abwesenheit. Der Rückzug erfolgt 1933 nach erbittertem Widerstand gegen die Besatzung unter Führung von Augusto César Sandino. Sandino wird ein Jahr später ermordet. Danach beginnt die von den USA unterstützte Somoza-Diktatur.

1928 Kolumbien: 3000 Bananenarbeiter des US-Konzerns United Fruit werden nach einem Streik von der kolumbianischen Armee massakriert.

1954 Guatemala: US-Piloten bombardieren Guatemala-Stadt, Puerto Barrios und San José. Damit tragen sie zum erfolgreichen Militärputsch gegen die demokratisch gewählte Regierung Jacobo Arbenz bei. Die guatemaltekische Regierung wollte ungenutzte Ländereien des US-Multis United Fruit enteignen, dessen Anwalt Allen Dulles war, der Bruder des US-Außenministers John Foster Dulles.

1960 Kuba: Im März organisieren CIA-Leute einen Bombenanschlag auf das französische Frachtschiff “Coubre” im Hafen von Havanna, bei dem 81 Menschen getötet werden.

1961 Kuba: Schweinebucht-Invasion. 1.500 exilkubanische Söldner, von der CIA in Guatemala ausgebildet, landen an der Playa Girón. US-Präsident John F. Kennedy schickt Flugzeuge vom Typ B-26, die zur Unterstützung kubanische Flughäfen bombardieren.

1964 Brasilien: Glückwunschtelegramm des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson an die Putschisten, die soeben die demokratisch legitimierte Regierung João Goularts gestürzt haben. Laut Auskunft des damaligen US-Botschafters Lincoln Gordon lag vor der brasilianischen Küste einer der größten US-Flugzeugträger für den Fall, dass die Putschisten um Hilfe gerufen hätten.

1965 Dominikanische Republik: Invasion von 40.000 US-Marines nach Aufständen gegen die Militärdiktatur. Die Diktatur wurde gesichert. Bilanz: 4.000 Tote.

1973 Chile: General Augosto Pinochet putscht gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes. Die CIA und US-Außenminister Henry Kissinger (Friedensnobelpreisträger!) hatten seit 1970 den Sturz Allendes vorbereitet: Millionen von Dollar wurden an Regimegegner verteilt. Damit konnten die Lastwagenfahrer ihren Streik aufrecht erhalten, der einen großen Teil der Wirtschaft lahm legte.

1976 Argentinien: Die CIA ist am Militärputsch in Argentinien beteiligt, der Jorge Videla an die Macht bringt. Tausende werden umgebracht.

1981 Nicaragua: Nachdem sich die nicaraguanische Bevölkerung 1979 von der Somoza-Diktatur befreit hatte, lässt US-Präsident Ronald Reagan in Florida eine Söldnerbande ausbilden, die von Honduras aus Zehntausende Nicaraguaner ermordet. Die Finanzierung erfolgt durch illegale Waffenverkäufe an den Iran. 1984 verminen die USA nicaraguanische Häfen und verhängen ein Handelsembargo.
1981 El Salvador: Reagan rettet im Namen der Freiheit mit einer milliardenschweren Militärhilfe das Überleben eines Regimes, das Todesschwadronen auf die Bevölkerung hetzt. Resultat: 70.000 politische Morde und ein zehnjähriger Bürgerkrieg.

1983 Grenada: Sechs Tage nach der Ermordung des marxistischen Ministerpräsidenten Maurice Bishop lässt Reagan die Insel durch seine Truppen besetzen.

1991 Panama: Die US-Luftwaffe bombardiert Panama-Stadt, um den panamaischen Präsidenten Noriega festzusetzen. US-Angaben zufolge gab es 500 Tote, wahrscheinlich sind etwa 3000 Menschen gestorben.

2000 Kolumbien: US-Präsident George W. Bush legt den milliardenschweren Plan Colombia auf. Die kolumbianische Armee wird drastisch aufgerüstet, obwohl sie nachweislich mit paramilitärischen Todesschwadronen zusammenarbeitet.

Lateinamerika in der zweiten Reihe

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gab es kein Land auf dem amerikanischen Kontinent, das sich nicht mit dem „großen Bruder“ solidarisch erklärt hätte. „Individuell und kollektiv werden wir terroristischen Gruppen die Möglichkeit nehmen, in dieser Hemisphäre zu operieren“, hieß es beispielhaft in einer Erklärung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), denn „die amerikanische Familie steht vereint zusammen“. Von Chile über Kuba bis Mexiko – Latein- und Zentralamerika sowie die Karibik stellten sich ostentativ hinter die USA.

Latin@s als Wählerpotenzial

Eine halbe Woche vor dem elften September war der mexikanische Präsident Vicente Fox nach Washington gereist, um für die bilateralen Beziehungen zu werben. Bush hatte zuvor Mexiko den ersten Auslandsbesuch seiner Amtszeit abgestattet – und nicht etwa dem nördlichen Nachbarn Kanada oder einem westeuropäischen Verbündeten. Fox sprach von „offenen Grenzen“, Bush von einer Regulierung des Arbeitskräftestroms. Es scheint lange her: Bush hatte unter anderem die schnell wachsenden hispanischen Gemeinden als Wählerpotenzial für die Republikaner im Blick. Dann kam der 11. September 2001.
Als einen Trend zur „Vernachlässigung“ bezeichnen PolitikwissenschaftlerInnen die Entwicklung der Beziehungen Washingtons zu Lateinamerika nach dem 11. September. Bezeichnend für die US-amerikanische Außenpolitik gegenüber Lateinamerika waren die Reaktionen der Bush-Regierung auf die argentinischen Massenproteste im Dezember 2001, die die Regierung De la Rúa zu Fall brachten. US-Finanzminister Paul O’Neill sagte herablassend, die Argentinier sollten ihren „Stall“ in Ordnung bringen. Nicht einmal der Überraschungssieg Carlos Menems in der ersten Wahlrunde veranlasste außenpolitische US-Strategen, Interesse an den Vorgängen in Argentinien zu bekunden. Washington lockerte seine Kontakte mit den lateinamerikanischen Verbündeten langsam durch schlichtes Ignorieren, durch Liegenlassen regionaler Verträge und Umgehen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).
Andererseits wurde der Druck auf die strategischen regionalen Gegner, die „Drogen-Terroristen“ Kolumbiens, Kubas Fidel Castro und Venezuelas Hugo Chávez, erheblich verschärft. Kritiker sagten, die USA hätten sich in Lateinamerika mit den drei Staaten eine zweite „Achse des Bösen“ zur Bekämpfung ausgesucht. Mit dem Wahlsieg von Luiz Inácio „Lula“ da Silva in Brasilien, der die Beseitigung des Hungerproblems versprochen hatte, stieß aus dieser Sicht ein viertes Land zur lateinamerikanischen „Achse des Bösen“.

Durch die Brille des „Antiterrorkriegs“

Dass diese Ansichten nicht nur pauschal den US-Konservativen in den Mund gelegt werden, bewies Henry Hyde, Vorsitzender des Ausschusses für internationale Beziehungen im Repräsentantenhaus, mit Blick auf Kuba: „Einen Dreistundenflug von Miami entfernt stehen wir einem potenziellen Nährboden für internationalen Terror gegenüber, der vielleicht nur durch Afghanistan übertroffen wird. Die Bedrohung der US-amerikanischen nationalen Sicherheit ist unmittelbar und unübersehbar“. Nicht nur hochrangige Parlamentarier, auch Regierungsspitzen und Militärs begannen, die südliche Hemisphäre durch die Brille des „Antiterrorkriegs“ zu sehen. Dabei hatte das Länderdreieck Argentinien, Brasilien und Paraguay schon lange vor dem elften September Argwohn erweckt. Seit den schweren Bombenanschlägen in Argentinien von 1992 und 1994, die mutmaßlich von der libanesischen Hisbollah geplant und durchgeführt worden waren, galt die Region als logistischer und finanzieller Nährboden für arabische Terroristen – in den jährlichen Terrorberichten des US-Außenministeriums der Jahre 2001 und 2002 wurde sie ausdrücklich erwähnt. Eine weitere „Terrorbedrohung“ geht aus Washingtoner Sicht von Kuba aus. Schon die Ernennung des Hardliners Otto Reich, der wärmste Beziehungen zu Rechtsaußen-KubanerInnen in Miami pflegt, zu Bushs wichtigstem Beauftragten für Lateinamerika versprach nichts Gutes. Aus einer Reform der US-amerikanischen Beziehungen zu Kuba, wie sie im Kongress angemahnt worden war, wurde nichts. John Bolton, Unterstaatssekretär für Waffenkontrolle und internationale Beziehungen, setzte dem Ganzen die Krone auf, als er im Mai 2002 in einer Rede sagte: „Die USA glauben, dass Kuba mindestens begrenzte Forschung und Entwicklung von biologischen Angriffswaffen betreibt. Kuba hat anderen Schurkenstaaten Biotechnologie zur ‘dualen Verwendung’ geliefert“. Kuba und Iran, dem Fidel Castro einen Besuch abgestattet hatte, könnten „Amerika in die Knie zwingen“, echote es aus Washington. Die Folge waren noch schärfere Reise-, Geldtransfer- und Handelsbeschränkungen. Die „demokratische Opposition und Zivilgesellschaft“ Kubas erhält weitere 29 Millionen US-Dollar, für US-Propaganda in Kuba sind 59 Millionen veranschlagt.
In Bezug auf Venezuela erlebte Washington dagegen ein Debakel. Die Bush-Regierung hatte den Militärcoup gegen Präsident Chávez im April 2002 mit der unmittelbaren Anerkennung des Putschisten Pedro Carmona für gut geheißen und Chávez für seinen Fall selbst verantwortlich gemacht. Doch Chávez war innerhalb von zwei Tagen zurück im Amt. Auch das Referendum im August dieses Jahres bestätigte zum Ärger von Bush-Regierung und venezolanischer Oppositon den venezolanischen Präsidenten.

Schlappe in Venezuela

Von Erfolg gekrönt war allerdings die indirekte US-Intervention in Haiti. Am 29. Februar dieses Jahres wurde der erste demokratisch gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide zum zweiten Mal innerhalb von 13 Jahren gestürzt. Oppositionsmilizen hatten mit US-Waffen operiert, ihre politische Führung war von den Republikanern finanziert worden. Es war der 33ste Coup in Haiti, die USA hatten nicht zum ersten Mal ihre Hände mit im Spiel.
Ein neuer Trend der Regionalstrategie der USA lautet Militarisierung unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung. Betrug die Militärhilfe selbst zu Hochzeiten des Kalten Krieges nie mehr als ein Drittel der Wirtschaftshilfe, so erreichte sie 2003 einen Umfang von 860 Millionen Dollar und lag nur knapp unter den 921 Millionen Dollar für humanitäre und Wirtschaftshilfe. Immer stärker bestimme das finanziell besser als das US-Außenministerium ausgestattete „Kommando Süd“ die Rolle Washingtons in Lateinamerika, hieß es vor kurzem in einer Studie von Nichtregierungsorganisationen (NRO). US-Militärprogramme würden die lateinamerikanischen Streitkräfte bestärken, Funktionen wie Verbrechensbekämpfung, Straßenbau und Umweltschutz zu übernehmen. „Kommando Süd“-Chef James Hill machte in seinem letzten Jahresbericht unter anderem einen „radikalen Populismus“ als Bedrohung aus. Noch vor der Polizei und zivilen Einrichtungen seien die Streitkräfte als Bewahrer der Sicherheit gefragt. Neu ist die Doktrin Hills allerdings nicht. Sie stelle eine „Rückkehr zur US-Militärdoktrin der nationalen Sicherheit“ dar, schlussfolgerten die NRO-Autoren. Unter ihr hatten die Militärs in den 60er und 70er Jahren systematisch linke und populistische Volksbewegungen bekämpft.
Da stellt sich kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen die Frage, ob eine Kerry-Administration in Lateinamerika nur dieselbe Leier weiterspielen, oder einen weniger konfrontativen Kurs fahren würde. Einer Umfrage von GlobeScan in Toronto und der University in Maryland zufolge wollen 42,5 Prozent der Befragten in neun lateinamerikanischen Ländern Kerry als neuen US-Präsidenten sehen. 19 Prozent stimmten für Bush. Kubas Sprecher der Nationalen Versammlung, Ricardo Alarcón, wiederum sagte, eine Veränderung der US-Politik gegenüber dem Land sei auch von Kerry nicht zu erwarten. Tatsächlich teilen beide Kandidaten die Auffassung, das Embargo müsse bis zum Fall Castros aufrechterhalten werden. Die spärlichen Aussagen, die Kerry über seine Lateinamerikapolitik traf, bezogen sich in erster Linie auf den Handel. Er würde die getroffenen Handelsvereinbarungen einer Revision unterziehen, sagte er, und das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua ebenso wie die „Free Trade Area of the Americas“ (FTAA) neu verhandeln wollen. Kerry verspricht die Einrichtung eines „Council for Democracy“, das der OAS als Instrument des Krisenmanagements unter die Arme greifen soll. Kerrys „Vizekandidat“ John Edwards hatte sich als scharfer Gegner von Freihandelsabkommen zu profilieren versucht. Sie seien nicht „nachhaltig“ und würden zur Arbeitsplatzvernichtung in den USA führen.
Was unter einer demokratisch geführten Regierung zu erwarten wäre, bleibt zum einen den Kräfteverhältnissen zwischen Weißem Haus, Senat und Repräsentantenhaus überlassen. Zum anderen kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch eine Kerry-Regierung Latein-, Zentral- und Südamerika sowie die Karibik als ihren Hinterhof ansehen wird. Zu einer Reform oder Umkehr der Beziehungen kann es kurz- oder mittelfristig allein schon deshalb nicht kommen, weil Kerry/Edwards den Irak-Krieg als Hauptproblem erben, und sich alle außenpolitischen Anstrengungen auf eine „Abzugsmöglichkeit“ konzentrieren werden.

Demokratie made in USA

Hugo Chávez eckt an in den USA. Vor allem mit seiner unabhängigen Außen- und Ölpolitik. Der venezolanische Präsident verweigert der US-Luftwaffe die Überflugrechte und lehnt eine militärische Einkreisung Kolumbiens ab. Er beteiligte sich nicht an Bushs „Antiterrorallianz“ und erklärte anlässlich des Afghanistankrieges, man könne „Terrorismus nicht mit Terrorismus bekämpfen“. Darüber hinaus wendet sich Chávez gegen das ökonomische Prestigeprojekt der USA in Lateinamerika, das geplante gesamtamerikanische Freihandelsabkommen ALCA, und setzt auf eine Stärkung einer kontinentalen Allianz sowie auf die Zusammenarbeit mit anderen Ländern des Südens. Er hat die OPEC, deren Vorsitz Venezuela lange Zeit innehatte, geeint und führte wieder verbindliche Förderquoten ein. Und schließlich leitete Chávez, ein persönlicher Freund Fidel Castros, eine weitreichende Kooperation mit Kuba in die Wege. Am wenigsten schmeckt den USA die Ausstrahlung des venezolanischen Projektes auf andere Länder in Lateinamerika.
Die US-Regierung kam trotz ihrer Abneigung gegen Chávez nicht umhin, dessen deutlichen Sieg im Referendum über seine Abberufung am 15. August diesen Jahres anzuerkennen. Danach hofften viele BeobachterInnen, es würde zu einer Entspannung des Verhältnisses beider Länder kommen. Doch die US-Regierung setzt weiterhin alles daran, den Transformationsprozess unter der Regierung Chávez in Venezuela zu blockieren, zu sabotieren und letztlich zu stoppen. Egal, mit welchen Mitteln.

Putschversuch und Softwarestreik

Bereits in den Putschversuch gegen Hugo Chávez im April 2002 waren die USA maßgeblich verwickelt. Nach Angaben des US-Magazins Newsweek pflegten die Putschisten bereits zwei Monate vor dem 11. April regelmäßige Kontakte zur US-Botschaft in Venezuela. Die New York Times berichtet sogar von zahlreichen Treffen hochrangiger Funktionäre der Bush-Regierung mit Anführern der Putschisten. Die Zeitung beruft sich dabei auf nicht genannte offizielle Quellen und weist darauf hin, dass die Äußerungen der USA zum Putsch nie klar gewesen seien, weil es dazu unterschiedliche Ansichten innerhalb der US-Regierung gegeben hätte. Über die Notwendigkeit, Chávez aus dem Amt zu entfernen, sei man sich jedoch einig gewesen.
Die Verwicklung der USA in den Putsch ist jedoch noch weit reichender. Als US-Botschafter residierte damals Charles Shapiro in Caracas. Shapiro war 1999 der Verantwortliche für die Kuba-Politik im Außenministerium. Während des salvadorianischen Bürgerkrieges arbeitete er von 1983 bis 1988 als CIA-Verbindungsmann in der US-Botschaft in San Salvador. Damals unterstützten der venezolanische Militärgeheimdienst DISIP und Exilkubaner der CIA salvadorianische Todesschwadronen. Am 12. April 2002 besuchte Shapiro Pedro Carmona, der sich nach dem Putsch zu Chávez´ Nachfolger ernannt hatte, im Präsidentenpalast. In der Militärkaserne Fuerte Tiuna, die Chavez´ Gefängnis beherbergte, hielten sich zu Beginn des Putsches auch zwei ranghohe US-Militärs auf. Einer der beiden, US-Oberstleutnant James Rodgers, stand in ständigem Kontakt zu den Putschisten. Zeitgleich wurden auch die US-Streitkräfte in Kolumbien und in der Karibik in Einsatzbereitschaft versetzt.
Ein besonders brisanter Fall für US-Aktivitäten gegen Chávez ist das Unternehmen INTESA (Informática, Negocios y Tecnología, S.A.), das als Subunternehmen des staatlichen Erdölbetriebs PDVSA seit 1999 für die Software und Steuerung in PDVSA zuständig war. So auch während des oft als Streik bezeichneten Protestes der UnternehmerInnen im Dezember 2002 und Januar 2003, der den Sturz der Chávez-Regierung zum Ziel hatte. Der schwerste Schlag für die venezolanische Wirtschaft war damals die Lahmlegung von PDVSA. Verantwortlich dafür waren die Managementebenen. Die Software des computergesteuerten Unternehmens wurde sabotiert. ArbeiterInnen und viele IngenieurInnen, die sich nicht am „Streik“ beteiligten, brachten die Produktion schließlich manuell wieder in Gang, nachdem sie die einzelnen Bereiche vom Computernetz isoliert hatten. Für die computerisierten Steuerungssysteme zeichnete INTESA verantwortlich, die das gesamte Informationssystem von PDVSA kontrollierte.INTESA wurde offiziell mit einer Beteiligung von 40Prozent von PDVSA und von 60 Prozent des US-Unternehmens Science Applications International Corporation (SAIC) gegründet, obwohl PDVSA das gesamte Kapital beisteuerte. Der damalige PDVSA-Vorsitzende Luis Giusti ist heute Berater des US-Präsidenten Bush in Erdölangelegenheiten. Die Unternehmensleitung von SAIC in den USA ist prominent besetzt: neben den Ex-US-Verteidigungsministern William Perry und Melvin Laird sitzen dort die ehemaligen CIA-Leiter John Deutsch und Robert Gates sowie Max Thurman, der Kommandeur der Panamainvasion.
Ein weiterer Baustein der Destabilisierungsstrategiedurch die US-Regierung ist der Versuch ständiger Diskreditierung und Verleumdung Venezuelas. Die Vorgehensweise könnte aus einem Handbuch psychologischer Kriegführung entstammen und wiederholt sich seit Jahren: Ein Sprecher der US-Regierung erhebt den Vorwurf der „Unterstützung terroristischer Gruppen“ an die venezolanische Regierung unter Hugo Chávez. Diese beschwert sich öffentlich, da für den Vorwurf keinerlei Beweise vorliegen und ein anderer US-Repräsentant macht einen öffentlichen Rückzieher.

Strategie der Verleumdung

Meisterhaft inszeniert war beispielsweise eine Kampagne im September 2004, als das US-State Department verlauten ließ, die Regierung Venezuelas habe die kolumbianische Guerilla, vor allem die FARC, mit mindestens einer Million US-Dollar finanziell unterstützt, zudem verschiebe sie Waffen für die Guerilla durch venezolanisches Territorium. Die Meldung wurde sogleich von der venezolanischen oppositionellen Presse, allen voran den Tageszeitungen El Universal und El Nacional aufgegriffen. Ein näherer Blick zeigt, wie einfach solche vermeintlichen Wahrheiten produziert werden: Das US-State Department berief sich in der schriftlichen Erklärung auf einen Artikel der stramm rechten Tageszeitung El Nacional. Diese wiederum zitierte in einem erneuten Aufguss der Meldung einige Tage später wieder das State Department.
Schon während seiner Wahlkampagne 1998 wurde Hugo Chávez vorgeworfen, mit der kolumbianischen Guerilla zusammen zu arbeiten. Chávez stellte sich damals überraschend in Bogotá der kolumbianischen Staatsanwaltschaft, die ihn nur mit großen Augen ansah, da nichts gegen ihn vorlag. Auch die in den vergangenen Jahren erhobenen Vorwürfe, Venezuela sei eine Operationsbasis von Al Kaida, erwiesen sich als völlig haltlos, und die angebliche Nähe Chávez zu Saddam Hussein und Muammar al-Gadaffi fußte nur auf dem Antrittsbesuch Chávez in allen OPEC-Ländern, nachdem Venezuela die Präsidentschaft der Organisation Erdöl fördernder Staaten übernommen hatte. Doch die US-Regierung arbeitet weiter daran, Venezuela medial für die Einreihung in die „Achse des Bösen“ vorzubereiten. Zuletzt wies sie auf die angebliche Anwesenheit kubanischer Geheimdienstangehöriger in Venezuela hin. Beweise wurden dafür freilich nicht vorgelegt.

Chávez als Dritter

Die Strategie der Opposition, die sich in Venezuela selbst wenig Hoffnungen auf eine breite Unterstützung machen kann, zielt darauf, Entscheidungen der Regierung als Willkür einer Diktatur zu präsentieren. Sie versucht durch Rücktritte, die Behinderung verwaltungstechnischer Vorgänge und das Anstacheln von gewalttätigen Zusammenstößen auf den Straßen, ein Bild weitgehender Instabilität und Unregierbarkeit zu erzeugen, um so den internationalen Druck auf Venezuela zu erhöhen. Die führenden Sektoren der Opposition hoffen dadurch einen erneuten Militärputsch oder eine US-Intervention hervorzurufen. Dafür demonstrierten sie auch vor der US-Botschaft in Caracas mit Schildern wie „1. Hussein; 2. Aristide; 3. Chávez“.
Beides scheint allerdings im Augenblick recht unwahrscheinlich. Vor allem die Option der US-Militärintervention. Bei aller Polemik und Propaganda dürfte sich auch Washington über immense Unterstützung der tiefgreifenden politischen und sozialen Transformationen unter Chávez bewusst sein. Doch das die US-Regierung eine bedeutende Rolle im Drehbuch der Destabilisierung Venezuelas einnimmt ist nicht zu übersehen. Jenseits der direkten Verwicklung in den Putsch von 2002, finanziert die US-Regierung über das National Endownment for Democracy (NED) verschiedene Oppositionsorganisationen.
Die venezolanisch-US-amerikanische Anwältin Eva Gollinger erreichte kürzlich die Freigabe einiger Unterlagen des State Department, die belegen, dass die US-amerikanische Behörde für internationale Entwicklung USAID seit geraumer Zeit fünf Millionen US-Dollar jährlich an Oppositionsgruppen in Venezuela verteilt. An der Spitze steht das Privatunternehmen Sumate, das während der Unterschriftensammlung gegen Chávez Druck auf ArbeitnehmerInnen ausübte, Falschmeldungen verbreitete und sich bis heute weigert, das Ergebnis der Volksabstimmung anzuerkennen.
USAID finanzierte über die US-Entwicklungsorganisation DAI auch Clips für das venezolanische Fernsehen, in denen im Dezember 2002 zum Streik aufgerufen wurde. Dabei kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem Putschisten und Ex-Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Carlos Fernández.

Fragliche Förderung

Andere Projekte sind auf arme Stadtteile ausgerichtet, um dort „demokratische Werte“ der USA und den Gedanken der Privatisierung zu fördern. 200.000 Dollar flossen nach Petare, ein als chavistische Hochburg bekannter Stadtteil von Caracas.
Viel deutet weiterhin daraufhin, dass die venezolanische Opposition, mit Unterstützung aus Kolumbien und wohl auch aus den USA, am Aufbau von paramilitärischen Strukturen in Venezuela arbeiten. Anfang Oktober 2004 äußerten venezolanische Regierungsangehörige öffentlich Besorgnis darüber, dass sie Informationen besäßen, wonach US-Militärangehörige in Kolumbien auch Paramilitärs ausbilden würden. Die US-Behörden dementierten die Meldung nicht. Von den kolumbianischen Paramilitärs (AUC) wiederum führt eine klare Verbindung zur venezolanischen Opposition. Die AUC hatten bereits vor etwa zwei Jahren angekündigt den Aufbau venezolanischer Paramilitärs (AUV) zu unterstützen.
Erst im Mai 2004 wurden etwa 130 kolumbianische Paramilitärs auf dem Gut eines Exilkubaners am Rande von Caracas mit venezolanischen Armeeuniformen verhaftet. Mit dabei war auch ihr Anführer, der als José Ernesto Ayala Amado, alias „Comandante Lucas“ identifiziert wurde und Paramilitärführer des „Bloque Norte de Santander“ vom kolumbianischen Paramilitärdachverband AUC ist.
Die kolumbianischen Paramilitärs, gab Lucas zu, seien von venezolanischen Ex-Polizisten im Umgang mit dem leichten Sturmgewehr FAL ausgebildet worden und hätten vorgehabt, in einem Überfall eine größere Anzahl der Gewehre zu rauben. Auf einem von der Geheimpolizei Disip am 31. Juli vorgelegten Video erklärt einer der verhafteten Paramilitärs, sie hätten den Auftrag gehabt, in den Präsidentenpalast einzudringen und Chávez zu „köpfen“.
Als venezolanische Soldaten gekleidet, sei das Ziel der Paramilitärs gewesen, bewaffnete Auseinandersetzung innerhalb der Armee zu provozieren, Regierungsziele anzugreifen und Mitglieder radikaler Basisgruppen im Armenstadtteil „23 de Enero“ in Caracas zu ermorden. Die Strategie zielt nicht auf einen militärischen Sieg, sondern auf Destabilisierung – so wie in den 1980er Jahren die Contra-Aktivitäten gegen die sandinistische Revolution in Nicaragua. Ein militärischer Sieg ist wohl weder möglich noch notwendig, gespielt wird auf Zeit.

Spiel auf Zeit

Eine Zermürbungsstrategie, die die Transformation der Gesellschaft behindern und die Fragestellung für die venezolanische Bevölkerung bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2006 verändern soll. Sie sollen sich nicht zwischen einem neoliberalen kapitalistischen System und einem transformatorischen Projekt entscheiden, sondern zwischen dem Neoliberalismus einerseits und Angst, Krieg sowie Unsicherheit andererseits.
Venezuela ist allerdings nicht Nicaragua. Venezuela kann auf viel mehr Ressourcen zurückgreifen, die Verteidigung des Projektes wird also wesentlich an der Frage hängen, ob es gelingt, es weiter zu vertiefen. Und bisher ist es auch nicht gelungen, Unterschicht gegen Unterschicht aufzubringen, die Bedingung für „bürgerkriegsähnliche Zustände“, wie sie so oft heraufbeschworen werden.
Die Mittelschicht mag zwar lauthals lamentieren, aber Träger einer bewaffneten Auseinandersetzung ist sie historisch nie gewesen und auch in Venezuela war sie in den vergangenen Jahren nicht bereit, den eigenen Kopf hinzuhalten.

Antiterrorkrieg im Hinterhof

Nur wenige Tage nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York beklagte ein Pentagon-Funktionär das Fehlen geeigneter Ziele in Afghanistan. Als Ersatz schlug er US-Militärangriffe in Südamerika oder Südostasien vor. Seine Begründung: Mit einem Angriff auf Ziele außerhalb des Mittleren Ostens könnten während einer Anfangsoffensive Terroristen unvorbereitet getroffen werden, während sie einen Angriff in Afghanistan erwarteten. Das Magazin Newsweek zitierte diese Aussagen im August diesen Jahres aus einem kürzlich erschienenen Bericht der Untersuchungskommission des US-Kongresses zum 11. September 2001. Der Autor des Berichts, US-Verteidigungssekretär Douglas Feith, berichtet darin von einer Geheimdiensteinheit des Pentagons, die sich für einen Angriff auf Terroristen in Südamerika stark machte, beispielsweise auf Zentren der Hisbollah in der entlegenen Grenzregion von Paraguay, Argentinien und Brasilien. Die argentinische Zeitung Página 12 bestätigte ebenfalls im August diesen Jahres Gespräche zwischen der CIA und dem argentinischen Geheimdienst SIDE, in denen eine Woche nach den Anschlägen auf das World Trade Center geklärt wurde, dass terroristische Aktivitäten in der sogenannten Triple-Frontera-Zone schon lange nicht mehr aktuell, und die ehemals dort mit Spendensammlungen betrauten Islamisten nach Chile oder Brasilien verzogen seien. Entsprechend sieht Dieter Drüssel in der Schweizer Zeitschrift Correos de las Américas handfeste Interessen der USA in der Grenzregion, in der sich das größte Trinkwasserreservoir auf dem Kontinent, wenn nicht sogar weltweit, befindet. Für Drüssel ist die Bekämpfung des Terrorismus nur ein Vorwand für die zunehmende Militarisierung der Region.

Weniger Transparenz, mehr Militärhilfe

Mit der Frage nach den Auswirkungen des 11. September auf die Lateinamerikapolitik der USA beschäftigen sich auch die US-amerikanischen Organisationen Latin America Working Group Education Fund, das Center for International Policy und das Washington Office on Latin America. In einem gemeinsam herausgegeben Bericht vom August 2003 weisen sie auf die Schwierigkeiten hin, nach dem 11. September 2001 überhaupt noch an Zahlen über die US-Militärstrategie für Lateinamerika heranzukommen, weil die Bush-Regierung verstärkt vom Kongress veröffentlichte Daten über Militärprogramme zurückhält. Die Organisationen vermuten, dass damit die Transparenz von riskanten und kontrovers diskutierten Aktivitäten der US-Regierung im Ausland reduziert werden soll.
Das Center for International Policy in Washington veröffentlichte überdies im Februar 2004 eine Studie, in der es die beantragten Finanzierungshilfen der Bush-Regierung für Lateinamerika für das Jahr 2005 analysiert. Demnach sind die US-Militärhilfen für lateinamerikanische Länder von 826 Millionen US-Dollar im Jahre 2003 auf 889 Millionen US-Dollar im Jahr 2004 gestiegen. Im gleichen Zeitraum fielen die Wirtschaftshilfen von 937 Millionen auf 921 Millionen US-Dollar. Damit sind die Ausgaben für Wirtschafts- und Militärhilfen zum ersten Mal seit 2001 wieder fast deckungsgleich. Spitzenreiter auf der Empfängerliste für US-Militär- und Polizeihilfen ist mit großem Abstand Kolumbien, das im Jahr 2004 546,6 Millionen US-Dollar erhielt. Es folgen Peru, Bolivien, Mexiko und Ecuador, bei denen sich die Militärhilfe in einem Rahmen zwischen 75 und 45 Millionen US-Dollar bewegt.
Die beantragten Gelder sollen einerseits „traditionellen“ Trainingsprogrammen wie dem 1976 gegründeten International Military Education and Training (IMET) zugute kommen. Die ständig steigenden Zuwendungen für IMET in den vergangenen Jahren wurden mit einem gestiegenen Interesse der US-Politik an militärischen Allianzen und Koalitionen der Willigen für den Kampf gegen den Terrorismus begründet. Andererseits zielen die Finanzhilfen auch auf den Aufbau neuer Militär- und Polizeieinheiten. Das Budget von 2005 des State Departments beinhaltet beispielsweise unter der Rubrik „ausländische Operationen“ die Ausrüstung und Ausbildung von Boliviens neuer Antiterroreinheit. Weiterhin sind ausgemusterte Boote, Fahrzeuge und Helikopter der US-Streitkräfte für die neu zu schaffende, kombinierte Militär-Polizei-Einheit in Honduras oder neue Trainings- und Logistikcenter für Peru und Kolumbien vorgesehen. Kolumbien führt weltweit die Liste der Empfängerländer für US-amerikanisches Militärtraining an. 6477 kolumbianische Soldaten erhielten allein 2002 eine von der USA finanzierte Militärschulung im eigenen Land. Insgesamt trainiert die USA in keiner anderen Region der Welt so viele Soldaten wie in Lateinamerika. Hinzu kommen lateinamerikanische Militärs, die in der ehemaligen School of the Americas ihre Ausbildung erhalten. Auch staatliche Polizeieinheiten Lateinamerikas kommen in den Genuss eines US-Militärtrainings. Beispiele dafür sind Länder wie Panama oder Costa Rica, die über keine eigene Armee verfügen.

Unbekannte Terrororganisationen

Bemerkenswert an den für 2004 und 2005 beantragten Geldern ist, dass das Wort ´Terrorismus´ in der Begründung der Anträge auf US-Finanzierungshilfen für Militär und Polizei der einzelnen Länder auffällig häufig vorkommt. Und das obwohl die offizielle Liste ausländischer Terrororganisationen nur die kolumbianischen Guerillagruppen FARC und ELN, die dortigen Paramilitärs und den Leuchtenden Pfad aus Peru enthält. Das US-amerikanische Engagement wird tatsächlich aber nicht nur in diesen beiden Staaten, sondern auch in Argentinien, Bolivien, Brasilien, der Dominikanischen Republik, Ecuador, Nicaragua, den Ostkaribischen Staaten, Panama, Paraguay, Surinam, Trinidad und Tobago, Venezuela sowie auf den Bahamas mit der Notwendigkeit des Antiterrorkampfes in Verbindung gebracht.
In einem Bericht des US-Außenministeriums heißt es zum Beispiel, dass Argentinien die Wichtigkeit der Zusammenarbeit gegen den Terrorismus verstanden habe und argentinische Militärs auf Einladung zu einer Antiterrorausbildung in die USA reisten. Im Falle Boliviens wird es als notwendig erachtet, die Kooperation mit der dortigen Armee, der Polizei, den Migrationsbehörden, Finanzinstitutionen und anderen Organisationen auszubauen, um sicherzustellen, dass sich das Land nicht zu einer aktiven Transitstelle für den Internationalen Terrorismus entwickelt. Die langen, nur spärlich bewohnten Grenzen Boliviens müssten besser bewacht werden, heißt es. Beachtenswert ist auch die Einschätzung, die vorrangigen US-Interessen in Paraguay bestünden in der Konsolidierung und Kräftigung der Demokratie sowie im Ausbau der liberalen Märkte zusammen mit einer Antikorruptions- und Antiterrorstrategie. Um welche Terrororganisationen es dabei konkret gehen soll, verrät der Bericht weder im Falle Paraguays noch einem der anderen Länder.
Die mexikanische Tageszeitung La Jornada veröffentlichte bereits im Dezember 2000 auszugsweise den CIA-Bericht Globale Tendenzen 2015. Darin sieht die CIA eine neue Bedrohung für Lateinamerika: die indigenen Widerstandsbewegungen. Es wird festgestellt, dass diese einen großen Zuwachs verzeichnen und durch transnationale Netzwerke von AktivistInnen und von internationalen, teilweise sogar finanzstarken Menschenrechts- und Ökologiegruppen unterstützt werden. Thomas P. Barnett, der gegenwärtig einflussreichste Vordenker US-amerikanischer Militärplanung, liefert in seinem Buch The Pentagon´s New Map eine Antwort auf die Frage, welchen US-amerikanischen Strategien (indigene) Widerstandsgruppen und globalisierungskritische soziale Bewegungen des Südens entgegen stehen könnten: Sollte sich ein Land gegen die Globalisierung stemmen, ist ihm zufolge die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Vereinigten Staaten irgendwann Truppen entsenden werden. Wenn sich aber umgekehrt ein Land der Globalisierung unterordnet, dann sieht Barnett in der Regel keine Veranlassung, US-Truppen zu schicken, um für Ordnung zu sorgen oder eine Bedrohung zu beseitigen.

Die „neue Bedrohung“

Gemäß Barnetts Zweiteilung der Welt gibt es einen „funktionierenden Kern“ von angepassten Ländern sowie eine „nicht-integrierte Lücke“, in der die Wahrscheinlichkeit für eine militärische Intervention der USA besonders hoch ist. In Lateinamerika besteht diese aus einem Gürtel von der Karibik über Zentralamerika und die Andenkette (Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien) bis nach Paraguay. Nicht zufällig sind in Ecuador und vor Venezuela zwei der drei Militärbasen, so genannte Forward Operation Locations (FOL), für das US-Militärkommando für Südamerika installiert. Nach dem Abzug aus Panama 1999 führten US-Militärs die ersten Verhandlungen zur Nutzung bereits existierender Luftwaffenstützpunkte in Lateinamerika für den Einsatz beim Antidrogenkampf. Die drei FOLs, Comalapa in El Salvador, Curaçao und Aruba in der Karibik und Manta in Ecuador, ziehen sich wie eine Kette rund um das Amazonasbecken und seinen noch auszubeutenden Erdölreserven. Die Militärbasis Manta, auch „Auge und Ohr“ des Plan Colombia genannt, spielt eine besondere Rolle für den Kampf der USA gegen die neuerdings als „Narcoterroristen“ bezeichneten linken Guerilla-Gruppen Kolumbiens. Diese wurde für 80 Millionen US-Dollar zu einem der modernsten High-Tech-Landeplätze Südamerikas ausgebaut. Dass es dabei nur vordergründig um einen Antidrogenkampf geht, geben selbst ranghohe ecuadorianische Militärs wie Major Jorge Brito zu.

Kerry auf der rechten Überholspur

Ebenso wie der ehemalige Professor für Strategie und Taktik an der US-amerikanischen Militärschule School of the Americas rechnet auch General Vargas Pazzos, früherer Oberbefehlshaber der ecuadorianischen Streitkräfte, bei einer Eskalatation des Konflikts in Kolumbien mit einem militärischen Eingreifen der USA. Um die Legitimation einer solchen Intervention provisorisch abzusichern, begannen die US-Strategen in den Monaten nach dem 11. September die bewaffneten Gruppen Kolumbiens als internationale Terrororganisationen mit globaler Reichweite, entsprechend der Al Kaida, zu bezeichnen. Ein hoher US-Beamter gab der spanischsprachigen Zeitung El Nuevo Herald wenige Tage nach den Anschlägen auf das World Trade Center die Auskunft, die FARC handele wie internationale Terrororganisationen. Sie sei wie Al Kaida in kleinen Zellen organisiert, die untereinander keinen Kontakt hätten und einem zentralen Kommando unterstünden, um Angriffe zu organisieren. In der aktuellen Lateinamerikapolitik der USA wird einerseits der Zusammenhang von neoliberaler Wirtschaftspolitik und US-Militärhilfen, anderseits ein Zusammentreffen vom „Krieg gegen Drogen“ mit dem „Krieg gegen Terror“ deutlich.
Auch von einem neuen US-Präsidenten Kerry ist keine strategische Änderung der militärlastigen Lateinamerikapolitik zu erwarten. Im Gegenteil: Kerry kritisierte in einer Erklärung am 19. März diesen Jahres die Regierung Bush, nicht energisch genug die „demokratische Opposition“ in Venezuela unterstützt zu haben. Die Passivität der Bush-Administration bei der Förderung der rechten Opposition ist für Kerry ein zweifelhaftes Signal für die Unterstützung undemokratischer Prozesse in der eigenen Hemisphäre. Auch das völkerrechtswidrige Embargo gegen Kuba soll weitergeführt werden. Kerry droht mit seiner Lateinamerikapolitik die amtierende neokonservative Regierung rechts zu überholen. Sein Top-Berater für „Nationale Sicherheit“ und tatkräftiger Wahlkampfunterstützer ist kein geringerer als Rand Beers. Bevor dieser seinen Job als Berater von Präsident Bush im Antiterrorkampf kündigte, war er schon in der Clinton-Ära einer der Chef-Architekten für die harte US-Politik in Lateinamerika. So verwundert es kaum, gerade von ihm zu hören, dass auch Guerrilleras und Guerilleros der kolumbianischen FARC in afghanischen Al Kaida-Lagern ausgebildet worden sein sollen.

Mehr Infos bei: www.imi-online.de
(Infostelle Militarisierung Tübingen)

Das neue kolumbianische Kriegsmodell

Im Schatten des Afghanistankrieges drohten die USA, auch die kolumbianischen Guerillas ins Visier zu nehmen. Dabei hatten die USA die Weichen zur Bekämpfung der Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und des Nationalen Befreiungsheeres (ELN) schon ein Jahr zuvor gestellt. Der gemeinsam mit der Regierung Pastrana im Jahr 2000 initiierte Plan Colombia sollte das immer weiter zu Gunsten der Guerillaorganisationen und sozialen Bewegungen kippende Gleichgewicht wieder umkehren. Das Gesamtvolumen des Plan Colombia betrug 7,6 Milliarden US-Dollar, etwa vier Milliarden davon soll Kolumbien selbst aufbringen. Damit stieg die Militär- und Polizeihilfe der USA für Kolumbien, die sich 1997 noch auf 89 Millionen US-Dollar belief, auf 765 Millionen im Jahr 2000. Für das Jahr 2005 wird sie auf 574 Millionen US-Dollar geschätzt.
Die USA haben sich mit dem Plan Colombia offen in einen grausamen Konflikt eingemischt. Denn Kolumbien gehört zu den Ländern mit den weltweit schwersten Menschenrechtsverletzungen. Allein im Jahr 2001 wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Codhes 350.000 Menschen vertrieben. Insgesamt gibt es im Land über 2,5 Millionen interne Flüchtlinge. Dem Terror fallen jährlich mehr Menschen zum Opfer als während der gesamten chilenischen Militärdiktatur. Nur der geringste Teil davon ist Folge direkter Kriegshandlungen zwischen Guerilla und Militär oder Paramilitärs. Codhes registrierte 2002 über 500 Massaker mit 2.500 Toten, 4.500 politische Morde, über 700 Verschwundene und ebenso viele willkürliche Verhaftungen. Für den größten Teil der schweren Menschenrechtsverletzungen und Massaker werden heute nicht mehr, wie noch in den 80er Jahren, Armee und staatliche Repressionsorgane verantwortlich gemacht, sondern die Paramilitärs.

Kriegsfaktoren und US-Interessen

Dem Konflikt liegen drei wesentliche Faktoren zu Grunde. Zwei davon erklären das massive Interesse der USA an Kolumbien. Da ist zunächst die herausragende geostrategische Lage des Landes. Kolumbien ist der einzige südamerikanische Staat mit einem Zugang zum Atlantik und Pazifik. Mit fünf Außengrenzen ausgestattet, gilt das Land als Handelsknoten. Daher bestehen sowohl Pläne für einen Weiterbau der Panamericana wie auch für eine Verbindung, die dem völlig ausgelasteten Panamakanal die Funktion als bedeutendste interozeanische Handelsroute streitig machen soll. Auch im Hinblick auf die geplante gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA ist die Verfügungsgewalt über das kolumbianische Territorium für die USA von großer Bedeutung.
Zweitens ist Kolumbien reich. Das Land ist weltweit größter Exporteur von Qualitätskaffee und Smaragden, zweitwichtigster Schnittblumen- und Bananenexporteur, drittgrößter lateinamerikanischer Erdölproduzent, und es verfügt über große Rohstoffvorkommen, wie Kohle oder Gold. Nicht zufällig investieren 400 der 500 größten US-amerikanischen Unternehmen in dem Land, das für die USA als Erdöllieferant an fünfter Stelle steht. Im Widerspruch dazu leben heute 55 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung in Armut, 20 Prozent in absolutem Elend. Doch die kolumbianische Oberschicht hat seit über 180 Jahren konsequent mit Repressionen und blankem Terror auf die sozialen Widersprüche reagiert.
Deshalb ist der dritte grundlegende Faktor im kolumbianischen Konflikt in der Geschichte zu suchen. Das Land hat ein extrem hohes Gewaltniveau und mit über 70 Toten pro 10.000 EinwohnerInnen die höchste Mordrate.

Der Kampf gegen die „Narcoguerilla“

Die USA versuchen dagegen den kolumbianischen Konflikt mit dem Drogenhandel in Verbindung zu bringen. Tatsächlich jedoch spielt die Drogenökonomie nur bei den Paramilitärs eine zentrale Rolle. Seitens der beiden großen Guerillas besteht ein unterschiedlicher Umgang mit dem Drogenanbau und -handel. Die FARC besteuert in den Gebieten unter ihrer Kontrolle die Geschäfte der Händler, schützt die Landbevölkerung vor den „Narcos“ und garantiert ihnen Verkaufspreise. Der Drogenhandel ist nur eine von vielen Einnahmequellen. Die ELN hingegen lehnt den Koka-Anbau insgesamt ab und erhebt keine Steuern auf Drogenhandel. Sie fördert sogar sozio-ökonomische Maßnahmen zur Substitution des Drogenanbaus.
Mit der These von der „Narcoguerilla“ geht es den USA eher darum, die FARC und die ELN zum Angriffsziel zu machen. Während die USA und die kolumbianische Regierung vorgaben, mit dem Plan Colombia das Drogenproblem lösen zu wollen, deutet dessen Umsetzung auf etwas anderes hin: Von den 1,6 Milliarden US-Dollar, die die USA bisher beisteuerten, sind nur 145 Millionen für alternative sozio-ökonomische Projekte – wie die Umstellung von Drogenanbau auf andere landwirtschaftliche Produkte – und bescheidene 93 Millionen für „die Verbesserung der Menschenrechtssituation und der Justiz, sowie für die Stärkung demokratischer Institutionen“ vorgesehen. Der Rest kam in Form von Waffen und Kriegsgerät. Als effektives Mittel gegen das Kokabusiness ist der Plan Colombia also denkbar ungeeignet. Eine militärische Zerschlagung des Drogengeschäfts ist ohnehin unmöglich. So zielt der Plan Colombia auf die massive Aufrüstung der Armee ab. Kolumbien musste nicht einmal eine Pro-Forma-Erklärung unterschreiben, dass die mit Nachtsichtgeräten und hoch entwickelten Waffen ausgestatteten 30 Blackhawk- und 33 Bell-Hubschrauber, Bestandteile der Unterstützung aus den USA, ausschließlich zur Bekämpfung des Drogenhandels eingesetzt werden. Und so kommen die Hubschrauber auch bereits in der „Aufstandsbekämpfung“ zum Einsatz. Sie bombardieren Dörfer und besprühen weiträumig Anbaugebiete.
Der Plan Colombia vervielfachte die Zahl der Berufssoldaten und verzwanzigfachte die der Armeehubschrauber, Überwachungsflugzeuge und Militärberater. Zugleich stieg die Anzahl der hauptsächlich in den „Vereinten Selbstverteidigungskräften Kolumbiens“ (AUC) organisierten „Paramilitärs“ von 5.000 auf 13.000. Das primäre Ziel der in den 1950er Jahren entstandenen, formell illegalen Todesschwadronen ist die Verteidigung des herrschenden Machtgefüges und privatwirtschaftlicher Interessen durch physische Vernichtung jeglicher Opposition. Direkten Gefechten mit der Guerilla gehen die AUC aus dem Weg, ihre Angriffe gelten unbewaffneten Zivilisten, den Bäuerinnen und Bauern, GewerkschafterInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, linken Parteien und Organisationen. Mit dem schrecklichen Begriff „soziale Säuberungen“ geben sie Ihren Morden an Kleinkriminellen, Obdachlosen, Straßenkindern, Homosexuellen, Sex-Arbeiterinnen oder StraßenkünstlerInnen einen Namen. Dabei gehen sie mit äußerster Gewalt vor, foltern ihre Opfer aufs Grausamste. Mittlerweile haben sich die AUC den Großteil des Drogenbusiness angeeignet, kontrollieren die Schlüsselrouten des Drogenhandels, die Geldwäsche und etwa 70 Prozent der Drogenexporte.

Die Intensivierung des Krieges

Die Ausbeutung der Naturressourcen und Arbeitskräfte wird schon seit Jahrzehnten mittels eines Krieges gegen die Bevölkerung sicher gestellt. Mit Àlvaro Uribe kam faktisch der Kandidat der Paramilitärs und damit der blutigste Flügel der rechtsextremen Oligarchie an die Macht. Der neue Präsident setzte mit Unterstützung der USA von Beginn an auf eine Intensivierung des Krieges, verhängte fünf Tage nach Amtsübernahme den Ausnahmezustand und stellte 26 Bezirke im Norden und drei in Arauca als Sonderzonen unter die direkte Kontrolle der Armee. Zugleich begann die Regierung mit dem Aufbau eines landesweiten Spitzelnetzes, das eine Million zum Teil mit Kriegswaffen ausgerüstete Menschen in die Informationsstrukturen der Armee einbinden soll. Darüber hinaus ist geplant die 168.000 Mann starke Armee um 30.000 Berufssoldaten aufzustocken und in Schnellkursen weitere 20.000 „Bauernsoldaten“ auszubilden: legale Paramilitärs, die als „Dorfschützer“ in ihren Herkunftsgemeinden leben. Die Wehrpflicht wurde um sechs Monate verlängert und 10.000 Armeereservisten und 20.000 pensionierte Polizisten wurden wieder in die Verteidigungsstrukturen integriert.
Die enorme Aufrüstung, vor allem die durch den Plan Colombia erlangte Lufthoheit, macht der FARC das Agieren in großen Verbänden nahezu unmöglich. Damit wird das bisherige Paramilitärmodell zunehmend überflüssig. Zugleich verändert sich das kolumbianische Herrschaftsmuster zunehmend in Richtung einer Enklavenökonomie. Ökonomisch interessante Regionen werden gezielt militärisch geschützt, während der Rest des Landes nur noch mit Bombardements oder massiven, aber zeitlich beschränkten Militäraktionen überzogen wird. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Niedrigen Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts Ende der 90er Jahre folgte eine deutliche Expansion der Wirtschaftsaktivität. Zu Beginn des Jahres 2003 reihte die New York Times Kolumbien unter den „aufstrebenden Märkten“ sogar als einen der sechs interessantesten ein.

Recycling für Paramilitärs

Für die USA war die formale Entwaffnung der Paramilitärs wichtig, die sie zusammen mit der FARC und der ELN auf die Liste terroristischer Organisationen in Kolumbien gesetzt haben. So können sie die Militärhilfe für Kolumbien weiter erhöhen, ohne sich Kritiken auf Grund der Zusammenarbeit von Armee und Paramilitärs ausgesetzt zu sehen. Entsprechend konnten die AUC Mitte 2002 formell aufgelöst und, angeblich ohne Beteiligung der in Drogengeschäfte und schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelten Verbände, reorganisiert werden. Die „neue“ AUC kündigte Ende 2002 einen einseitigen Waffenstillstand an. Doch die Paramilitärs agieren bis heute militärisch, und es kommt nach wie vor zu Massakern an der Zivilbevölkerung. In den vergangenen 23 Monaten vermeintlichen Waffenstillstandes hat sogar die staatliche „Defensoría del Pueblo“ 342 einseitige Verstöße seitens der AUC gezählt.
Die meisten Paramilitärs wollen nach einer Übereinkunft mit der Regierung ihre Waffen bis Ende 2005 vollständig abgeben. Wie das funktionieren soll, zeigte sich, als am 25. November 2003 bei einer als Propagandashow inszenierten Veranstaltung in Medellín 855 Angehörige der AUC vermeintlich demobilisiert wurden. Alle zusammen gaben gerade mal 110 Kalaschnikov-Schnellfeuergewehre, einige automatische Pistolen, Revolver, Jagdgewehre und selbst gefertigte Waffen ab. Nur drei Wochen später kehrten sie mit Krediten und Jobs in die Stadtteile zurück, die sie zuvor noch terrorisiert hatten. Etwa 700 von ihnen bekamen eine Stelle in kommunalen Behörden, 200 sogar in einem kommunalen Wachunternehmen, das in den Stadtteilen patrouilliert. Bereits zehn Tage vor der „Demobilisierung“ meldete Amnesty International, dass Paramilitärs zunehmend von privaten Wachdiensten „recycelt“ würden, während andere im Rahmen des „Bauernsoldaten“-Programms der Armee Waffen und Uniformen bekämen.

Bezahlter Urlaub für US-Militärs in Kolumbien

Zugleich werden militärische Aufgaben zunehmend von Privaten Sicherheitsdiensten (Private Military Contractors, PMC) übernommen. PMC-Angestellte sind als Ausbilder, Überwachungsexperten, Flugzeugmechaniker, Piloten und Spezialteams für Polizei und Militär Kolumbiens tätig. Es sind ehemalige Angehörige von US-Eliteeinheiten und Ex-Militärs aus anderen Ländern, Veteranen aus Einsätzen in Vietnam, dem Persischen Golf und El Salvador. Teilweise verbringen auch aktive Mitglieder der verschiedenen US-Militäreinheiten ihren Urlaub als gut bezahlte Militär-Dienstleister in Kolumbien. Die Gesamtzahl der in Kolumbien allein für US-Firmen tätigen PMCs wird auf 1.000 bis 2.000 geschätzt. Auftraggeber sind das Pentagon, die Drogenbehörde DEA oder die Geheimdienste. Die Kontrolle der Operationen liegt direkt bei den USA, allerdings gibt es eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem kolumbianischen Militär und gewissen Kreisen der Herrschaftseliten. Die vom US-amerikanischen Kongress für Kolumbien festgelegte Obergrenze von 400 US-amerikanischen Zivilisten und 400 Militärs kann leicht umgangen werden, indem die Unternehmen Personal aus anderen Ländern einstellen. PMCs dienen in Kolumbien faktisch versteckten Counterinsurgency-Einsätzen. Kommt ein PMC-Mitarbeiter bei einem Einsatz ums Leben, verursacht dies weit weniger Aufsehen, als der Tod eines US-Soldaten.
Am 9. Oktober diesen Jahres genehmigte der US-Kongress weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit eine Verdopplung des in Kolumbien tätigen US-Militärpersonals von 400 auf 800 und die des für Private Militärunternehmen tätige US-Personal von 400 auf 600. Zusätzlich wurden auch US-Militäroperationen im Zusammenhang mit der Suche nach entführten US-BürgerInnen genehmigt. Bisher waren militärische Operationen der angeblich zur Ausbildung kolumbianischer Militärs entsandten US-Soldaten nur im Falle der Selbstverteidigung erlaubt.

Ein patriotischer Plan

Die Entscheidung des US-Kongresses das Limit zu erhöhen sind ein klarer Erfolg für US-Präsident Bush und den kolumbianischen Präsidenten Uribe, die in den vergangenen Monaten alles daran gesetzt hatten das US-Engagement in Kolumbien zu intensivieren. So hat Präsident Uribe einen Plan Patriota aufgelegt, der eine umfangreiche Militäroffensive im Süden des Landes vorsieht, aus dem direkt nach Beginn der Militäroperationen tausende Menschen flohen. Die Aufstockung der US-Truppen ist zur Unterstützung des Plan Patriota gedacht. Darüber hinaus sollen dieses Jahr mindestens zusätzliche 110 Millionen US-Dollar aus den USA nach Kolumbien fließen. Sie sollen für Ausbildung, Waffen, Nachtsichtgeräte und Kommunikationstechnik für Eliteeinheiten der kolumbianischen Armee dienen, welche die Operation anführen. Zusätzlich werden die USA zwei AC-47 Kampfflugzeuge und vier C-130 Truppentransportflugzeuge für die kolumbianische Armee kaufen. 2005 sollen es weitere 110 Millionen US-Dollar sein, die aber noch vom Kongress genehmigt werden müssen. Auch wollen die USA in Kolumbien eine neue Militärschule errichten. Dafür wäre eine weitere Erhöhung der US-Truppenpräsenz notwendig.
Die US-Streitkräfte selbst übernehmen derweil eine immer aktivere Rolle. Von der US-Luftwaffenbasis Manta in Ecuador starten AWACS-Aufklärer der US-Air Force um laut ursprünglicher Vereinbarung „den Drogenhandel“ in der Region zu überwachen. Doch im März 1999 verfügte die US-Regierung, Informationen über Guerilla-Bewegungen ebenfalls weiter zu leiten und seit Ende 2001 dient die Überwachung ganz offiziell auch der „Terrorbekämpfung“. Das gleiche gilt für die 17 US-Radarstationen in Peru und Kolumbien. Gleichzeitig wurde die bis dato geltende Beschränkung der Nutzung von US-Kriegsgerät auf den Antidrogenkampf aufgehoben. Nun können alle Waffen und Militärgeräte gegen „illegale bewaffnete Gruppen“ eingesetzt werden.
Damit schlittern die USA immer tiefer in den Kolumbien-Krieg hinein. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten US-Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Guerilla geraten werden. Das wird womöglich als Vorwand für ein direkteres Engagement der US-Truppen in Kolumbien dienen. Dabei geht es eher um den Erhalt des lukrativen Wirtschaftsstandorts, als um einen militärischen Sieg gegen die Guerilla. Selbst der scheidende General James Hill, Kommandeur des Kommando Süd der US-Armee, erklärte am 13. Oktober diesen Jahres in einem Interview mit der ecuadorianischen Tageszeitung El Comercio, es werde „niemals eine militärische Lösung für das interne kolumbianische Problem geben“.

Wer nicht will, der wird schon

Chiles Präsident Ricardo Lagos blieb standhaft: Nein im UNO-Sicherheitsrat zu einer etwaigen Kriegsresolution gegen den Irak. Das war durchaus mutig. Denn Washingtons Chefunterhändler Otto Reich hatte Lagos im März 2003 eine klare Botschaft überbracht: Sollte Chile im Sicherheitsrat mit Nein stimmen, würde die US-Regierung das geplante Handelsabkommen mit Chile blockieren. Auch wenn die USA als Handelspartner für Chile längst nicht die überragende Bedeutung, wie insbesondere für Mexiko, haben, gehen doch rund 20 Prozent aller chilenischen Exporte in die USA. Und von einem Freihandelsabkommen erhoffte sich Chile eine weitere Steigerung dieser Quote. Schon im Januar 2003 hätte das Abkommen unter Dach und Fach sein sollen, nun standen neun Jahre Verhandlungen für die chilenische Regierung auf dem Spiel. 19 Monate später hat sich der Rauch in Chile, im Gegensatz zum Irak, verzogen. Der Irak-Krieg fand ohne eine Resolution statt, und das Freihandelsabkommen gab es für Chile obendrein. Schon am 2.Juni 2003 schlossen die USA mit dem südamerikanischen Land den Vertrag. Im Rekordtempo gaben die beiden Parlamente ihre Zustimmung und seit dem 1. Januar diesen Jahres ist das Abkommen in Kraft. Schließlich haben auch die USA ein Interesse an einer Ausdehnung ihrer Handelsbeziehungen mit Chile, um nicht an Boden gegenüber der Europäischen Union zu verlieren, die bereits seit Februar 2003 ein noch weitgehenderes Abkommen mit Chile am Laufen hat.

Druck auf Mexiko

Gegenüber Mexiko, dem zweiten damaligen nicht ständigen Mitglied Lateinamerikas im UNO-Sicherheitsrat, konnten die USA das Handelsschwert nicht schwenken, weil das Land durch das seit 1994 gültige Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA bereits an die USA gekettet ist und dafür bevorzugten Marktzugang genießt – abgesehen von der Ware Arbeitskraft. Rund drei Millionen MexikanerInnen leben derzeit illegal in den USA. Schon vor Jahren hatte Bush der mexikanischen Regierung Aufenthaltserleichterungen versprochen, um eine Massenabschiebung zu vermeiden, die Mexiko vor große Probleme stellen würde. Somit lautete die Drohung hier anders: Bei einem Nein im Sicherheitsrat würden alle US-Gesetze, die Mexiko betreffen, blockiert werden – keine Reform des Immigrationsgesetzes und keine Amnestie für die Illegalen. Fox blieb dennoch standhaft und muss weiter auf ein Entgegenkommen der USA warten.
Mit dem Chile-Abkommen wollten die USA nicht zuletzt auch ein Zeichen gegenüber den Staaten setzen, die sich dem Projekt der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA widersetzen: Brasilien, Venezuela und Argentinien. Ein Signal nach dem Motto: Viele Wege führen zum Freihandel, wobei Freihandel immer interessengeleitet interpretiert wird – handelsverzerrende US-amerikanische Agrarsubventionen stehen beispielsweise ebenso wenig zur Disposition wie die Freizügigkeit der Arbeitskraft.

ALCA à la carte

Die Wirkung des Chile-USA-Abkommens blieb freilich vorerst aus. Das letzte Treffen der Handelsminister der am Verhandlungsprozess zur Schaffung der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA beteiligten 34 Staaten im November 2003 hatte sich der Handelsbeauftragte der Bush-Administration, Robert B. Zoellick, sicher anders vorgestellt. US-Diplomaten hatten sich vor dem entscheidenden Treffen in Miami bemüht, die Regierungen der lateinamerikanischen Staaten mit wenigen Versprechungen, aber umso mehr Drohungen, weich zu kochen. Vor allem drohten sie, in bilateralen Verhandlungen gegenüber einem Verhandlungspartner das durchzudrücken, was auf kontinentaler Ebene auf Widerstand anderer stößt. Dennoch gelang es nicht, die US-amerikanischen Vorstellungen für eine gesamtamerikanische Freihandelszone durchzusetzen: Beispielsweise soll der Investitionsschutz für Unternehmen, nach Vorbild von Kapitel 11 des NAFTA-Abkommens, über die gesetzgeberischen Rechte der Nationalstaaten gestellt werden. Unternehmen sind demnach schadensersatzberechtigt, wenn sich durch Gesetzesänderungen Profiteinbußen ergeben. Des Weiteren sollen die Bestimmungen über geistiges Eigentum verschärft werden und im öffentlichen Beschaffungswesen sollen die lateinamerikanischen Staaten nicht mehr nationale Unternehmen bevorzugt behandeln dürfen. Nichts von letzteren Punkten findet sich im ausgehandelten Rahmenabkommen. Jeder Staat kann vielmehr im Januar 2005 selbst entscheiden, welche Vertragsbestandteile er unterzeichnet und welche nicht. Einige Spötter sprechen schon von einer ALCA à la carte.

Trend zum Bilateralismus

Die USA machen derweil ihre Drohung wahr, mit den weniger widerstandsfähigen oder -willigen Ländern Abkommen zu schließen. Bereits abgeschlossen ist das zentralamerikanische Freihandelsabkommen mit Honduras, El Salvador, Guatemala, Nicaragua und Costa Rica (siehe LN 357), das nach Ratifizierung durch die Parlamente ab Januar 2005 in Kraft treten soll.
Die Strategie der USA hat Robert Zoellick in seinem Bericht gegenüber dem Kongress offen benannt: „Tagein und tagaus arbeitet die US-Regierung aggressiv daran, abzusichern, dass Handelshindernisse für US-amerikanische Güter und Dienstleistungen beseitigt werden (…) Die Durchsetzung existierender Freihandelsabkommen ist ein vitaler Beitrag dazu, neue Freihandelsabkommen zu schaffen.“ Die von den USA vorangetriebene Deregulierung dient letztlich der Durchsetzung eines Wirtschaftsprogrammes für den ganzen Kontinent, das US-Konzerne begünstigt. Das zeigen auch die Freihandelsverhandlungen mit Peru und Ecuador. Peru soll beispielsweise die Vergabe von Patenten über einheimische Tiere und Pflanzen akzeptieren – quasi den Ausverkauf der heimischen Biodiversität an transnationale Konzerne. Zudem soll das Andenland seinen Markt für Second-Hand-Textilien und gebrauchte Computer öffnen. Der krönende Höhepunkt: Textilien aus den peruanischen Maquilas sollen erst in den USA mit Markennamen und „made in USA“ etikettiert werden, um sie als teure US-Exportware verkaufen zu können – unter anderem sogar in Peru, kritisiert der peruanische Abgeordnete Javier Diez Canseco. Ecuador wird unverhohlen gesagt, dass ein Freihandelsabkommen nur dann zu Stande käme, wenn zuvor das Verfahren gegen Texaco abgeschlossen werden würde. Gegen den US-Konzern ist eine Schadensersatzklage für Umweltschäden im Zusammenhang mit der Erdölförderung im Land anhängig.
Alles andere als ein Freispruch für Texaco wäre für die USA selbstredend inakzeptabel. Denn für alle Freihandelsabkommen gilt aus US-Sicht schließlich das ominöse Kapitel 11 aus dem NAFTA-Abkommen als Vorbild. Auf dieser Grundlage wurde die mexikanische Regierung im Jahr 2000 vom NAFTA-Schiedsgericht zur Zahlung einer Entschädigung von 16,7 Millionen US-Dollar verurteilt. Der Verstoß: Der Gouverneur von San Luis Potosi hatte ein Gebiet zum Naturschutzgebiet erklärt, in dem der kalifornische Konzern Metalclad zuvor ohne Baugenehmigung eine Sondermülldeponie gebaut hatte. Nach NAFTA-Recht wurde der Konzern durch das Naturschutzgebiet entschädigungslos enteignet. Freihandel à la USA und nicht à la carte.

Raus aus der Ethno-Nische

Bis in die siebziger Jahre war Lateinamerika in US-Filmen vorwiegend als Projektionsfläche folkloristischer oder rassistischer Stereotype präsent. Das Alltagsleben der in den USA lebenden Hispanics führte abseits von Spotlights und Starrummel ein Schattendasein. Was die Rollenpalette anging, waren – abgesehen von spektakulären Ausnahmen wie Anthony Quinn oder Rita Hayworth – die meisten Hispanic-KünstlerInnen auf klischeehafte Rollen festgelegt. So klagt die Schauspielerin Dyana Ortelli in dem 1991 erschienenen Buch Hollywood Hispanic von George Hadly-García: „Ich bin die Stereotype leid, diese Drehbücher über arme Leute und heldenhafte Kämpferinnen in den Chicano-Stadtteilen. Einige meinen, ich hätte Glück, weil ich viel zu tun habe. Ich habe Drogenhändlerinnen gespielt und eine arme Mutter aus einem barrio; dann die anständige, aber arme Verlobte eines armen Chicano-Boxers, eine Prostituierte in Tijuana, eine arme mexikanische Bäuerin, eine obdachlose Bettlerin in den Straßen von Tijuana und die leidende Mutter eines kriminellen Mitglieds einer Gang im Chicano-Viertel… Alle arm, alle ungebildet, und die Mehrzahl von ihnen hieß María.“

Licht- und Schattenseiten des „American Dreams“

Seit den achtziger Jahren sind Hispanics dabei, sich in Hollywood als RegisseurInnen Raum zu schaffen. Sie taten dies zunächst häufig mit Filmen, die etwas mit ihrem eigenen Background zu tun haben. So erzählt 1995 der Chicano Gregory Nava mit Mi familia ein Jahrzehnte umspannendes Epos vom langsamen und bescheidenen Aufstieg einer mexikanischen Immigrantenfamilie. Aus einem progressiven, gesellschaftskritischen Blickwinkel heraus werden Facetten der Alltagskultur beleuchtet: das Milieu der unteren Mittelklasse, in denen Barbecue-Idyll und Bandenkriminalität nebeneinander existieren. Der Kampf junger Frauen um eine eigenständige Rolle. Die Situation der Flüchtlinge aus Mittelamerika, die in den Siebzigern und Achtzigern zu den neuen Parias der US-Gesellschaft werden. Und last but not least die fortbestehende Fremdheit zwischen Anglos und Hispanics im angeblichen Schmelztiegel USA.
Ähnlich wie zuvor Italoamerikaner wie Francis Ford Coppola oder Afroamerikaner wie Spike Lee, fangen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Mexikaner an, ihre Variationen des „American Dreams“ mit all seinen Licht- und Schattenseiten auf die Leinwand zu bringen. So meint der mexikanische Regisseur Alfonso Arau, der nach dem Erfolg seines Films Como agua para chocolate nach Hollywood kommt, um mit A walk in the clouds (1995) die Saga einer kalifornischen Weinbauernfamilie zu inszenieren: „Die mexikanische Community in den USA wird immer mächtiger. Wir werden in Zukunft viele derartige Filme sehen.“
Fast zeitgleich mit Arau bekommt der junge, in den USA geborene Regisseur Robert Rodríguez den Auftrag, mit einem Riesenetat in Hollywood eine Fortsetzung seines Low-Budget-Überraschungserfolges El Mariachi zu drehen. Das Ergebnis, der Film Desperado (1995), ist eine poppige Gewaltballade, ein lustvolles Geklimper auf der Klaviatur populärer Mythen. Zu letzteren gehören auch rassistische Klischees über Mexiko, die zwar mit schriller Ironie präsentiert, aber gleichzeitig genussvoll ausgewalzt werden. Im Gegensatz zum politischen Engagement der Regisseure des Ende der sechziger Jahre entstandenen Chicano Cinema, das sich eher als Gegenprojekt zum Hollywood-Mainstream konstituierte, möchte ein Regisseur wie Rodríguez primär unterhalten und Kassenerfolge landen. Stilistisch und inhaltlich orientiert er sich eher an Regisseuren wie seinem Freund Quentin Tarantino.
Der – wenn auch für Hollywood-Verhältnisse recht bescheidene – Aufschwung der Hispanic-Themen bringt ab Ende der Achtziger unter anderem eine Reihe von Musikfilmen recht unterschiedlicher Qualität hervor (La Bamba, Mambo Kings, Salsa). Ein weiterer Trend sind Filme über die Jugendkultur in den Städten, wie etwa Mi vida loca (1993) von Alison Anders, der die Geschichte einer Mädchengang im Latino-Stadtteil Echo Park von Los Angeles erzählt. Bei etlichen dieser Filme führen allerdings keine Hispanics, sondern Anglos bzw. FilmemacherInnen mit einem vollkommen anderen kulturellen Hintergrund Regie, wie etwa die gebürtige Inderin Mira Nair, deren Film The Perez Familiy“ (1995) unter kubanischen Emigranten in Florida spielt.
Auch progressiv engagierte Regisseure wie Robert Redford (Milagro, 1988) oder John Sayles (Lone Star, 1996) produzieren Filme, bei denen Hispanics im Vordergrund stehen. Beim erstgenannten Film geht es um den fantasievollen Kampf von DorfbewohnerInnen gegen Grundstücksspekulanten, beim zweiten um die komplexen Verflechtungen und das Verwischen kultureller Grenzen der BewohnerInnen der Grenzregion zwischen den USA und Mexiko. Steven Soderberghs eindrucksvoller Film Traffic (2000) entwirft eine Landkarte des Drogenhandels und der wechselseitigen Abhängigkeiten auf beiden Seiten der Grenze.

Von der Dienstmädchen-Darstellerin zum Superstar

In dem bereits erwähnten Film Mi familia von Gregory Nava (1995) ist in der Rolle einer jungen Einwanderin namens María, die sich in Los Angeles als Kindermädchen verdingt, eine gewisse Jennifer López zu sehen. Allerdings hat deren Auftritt in La familia – ungeschminkt und mit geflochtenen Zöpfen – rein gar nichts mit dem Image der Jennifer López von heute zu tun. Diese darf nämlich mittlerweile in Hollywood von der Polizistin bis zur Event-Managerin so ziemlich alles spielen. Die wenigsten Hispanics machen so steil Karriere in der US-Unterhaltungsindustrie wie „die López“. Allerdings ist, wenn man Interviews mit KollegInnen von ihr liest, offenkundig, dass sich die meisten danach sehnen, ebenfalls aus der „Ethno“-Nische auszubrechen und, wie ihre angelsächsischen KollegInnen auch, eine breitgefächerte Rollenpalette verkörpern zu dürfen.
Auch die meisten FilmemacherInnen wollen nicht immer nur Filme über ihre Community drehen. Etlichen Hispanics ist es mittlerweile auch tatsächlich gelungen, sich innerhalb des Hollywood-Mainstreams zu etablieren, siehe Robert Rodríguez. Ein anderer Vertreter des schrillen Horrors ist der Mexikaner Guillermo de Toro. Dessen Filme stecken allerdings – auch wenn sie, wie sein jüngstes Werk Hellboy, in den USA inszeniert sind – voller chiffrierter Anspielungen auf die Kultur seines Heimatlandes.
Der Mexikaner Alfonso Cuarón hatte 2001 in Mexiko mit Y tu mamá también einen sehr originellen, schamlos offenen Film über Jugendliche, Sex und Tod gedreht. Nach dem internationalen Überraschungserfolg dieses Films ging Cuarón in die USA, wo er bereits zuvor mehrfach gearbeitete hatte, und drehte als Auftragsarbeit die – von vielen KritikerInnnen überschwänglich gelobte – dritte Folge von Harry Potter.

Mit 21 Gramm zu den Yankees

Auch Alejandro González Iñárritu, der Regisseur von Amores Perros, folgte nach dem Welterfolg dieses Films dem Lockruf Hollywoods und inszenierte seinen nächsten Film auf Englisch und in den USA. Das Melodram 21 Gramm wurde im letzten Jahr als einer der großen Erfolge des US-Independent-Kinos gefeiert und für mehrere Oscars nominiert.
Ursprünglich hatte González Iñárritu das Drehbuch auf Spanisch geschrieben und wollte den Film in Mexiko drehen. Doch die Sirenenklänge aus dem Norden waren stärker. In einem Interview mit der spanischen Zeitung El País verwehrte sich González Iñárritu trotzig gegen Kritik an seiner Entscheidung: „Denjenigen in Mexiko, die mir vorwerfen, ich hätte meine Seele an die Yankees verkauft, weil ich nach Hollywood gegangen bin, kann ich nur sagen: Wenn dies Korruption ist, so gefällt sie mir. Ich habe mich noch nie so frei und unabhängig gefühlt“.
Die Abwanderung vieler mexikanischer Filmleute Richtung USA wird in der öffentlichen Meinung nicht gern gesehen. Für besondere Polemik sorgte 2003 der Film, mit dem sich die seit Jahren in Hollywood ansässige mexikanische Schauspielerin Salma Hayek (Desperado) ihren Lebenstraum erfüllte: Sie verkörperte Frida Kahlo auf der Leinwand.
Der Film, bei dem Hayek zudem als Koproduzentin agierte, wurde von der US-Regisseurin Juliet Taymour größtenteils mit nordamerikanischen SchauspielerInnen besetzt und auf Englisch gedreht. Frida brachte Hayek in Hollywood eine Oscar-Nominierung als beste Hauptdarstellerin, in ihrem Heimatland Mexiko jedoch viel Protest und Empörung ein. Schließlich handelt es sich bei Frida Kahlo nicht um irgendwen, sondern um die Ikone des progressiven, kreativen und mestizischen Mexikos. Laut El País bezeichnete der Direktor des Movimiento México, Olin Tezcatlipoca, den Film als „Beleidigung“ für sämtliche MexikanerInnen, weil Salma Hayek „zwei Europäer unter Vertrag genommen“ habe, um die mexikanischen Wandmaler Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros darzustellen.

MexikanerInnen zieht es nach Hollywood

Wenn in diesem Artikel fortlaufend von mexikanischen Filmleuten die Rede ist und kaum von solchen aus anderen lateinamerikanischen Ländern, so liegt dies schlicht und einfach daran, dass diese im Hollywood-Kino ungleich präsenter sind als ihre KollegInnen. Zwar gibt es auch etliche südamerikanische RegisseurInnen in den USA, wie beispielsweise die gebürtige Kolumbianerin Patricia Cardoso, deren Film Echte Frauen haben Kurven im Frühjahr 2004 in den deutschen Kinos startete. Auch etliche argentinische oder brasilianische Regisseure wie Luis Puenzo (Old Gringo), Hector Babenco (Der Kuß der Spinnenfrau) oder Bruno Barreto haben immer wieder Abstecher in die USA unternommen. Gerade startet mit dem Che-Guevara-Film Diarios de motocicleta, bei dem der Brasilianer Walter Salles Regie geführt hat und der US-amerikanische Schauspieler Robert Redford als treibende Kraft agierte, eine „trans-amerikanische“ Produktion in den Kinos. Diese zahlreichen Beispiele ändern allerdings nichts daran, dass die südamerikanische Kinoproduktion viel stärker Richtung Europa ausgerichtet ist, während die mexikanischen FilmemacherInnen, wie Millionen ihrer Landsleute, bevorzugt Richtung Norden abwandern.
Zur Zeit wirbelt eine filmerische Satire zum Thema Latinos in den USA viel Staub auf beiden Seiten des Tortilla-Vorhanges auf. Un día sin mexicanos (Ein Tag ohne Mexikaner) heißt das Erstlingswerk des mexikanischen Regisseurs Sergio Arau, der seit sechs Jahren in Los Angeles lebt. In dem Film sind von einem Tag auf den anderen sämtliche der 14 Millionen in Kalifornien lebenden Hispanics auf mysteriöse Weise vom Erdboden verschwunden. Unter den Gringos macht sich Panik breit. Wie sollen sie überleben, so ganz ohne Kindermädchen, Gärtner, Taxifahrer, KellnerInnen? Die Rückkehr der Latinos wird zum obersten Staatsziel erklärt. „Kehrt zurück, Freunde“, flehen Spruchbänder. – Bleibt zu hoffen, dass der eine oder andere US-Politiker trotz Wahlkampf die Zeit findet, sich den Film zu Gemüte zu führen. Die mexikanische NGO Foro Tijuana Tercera Nación hat jedenfalls Un día sin mexicanos am Strand von Tijuana auf riesigen Leinwänden aufgeführt, in Sicht- und Hörweite zu den Grenzbefestigungen der USA.

Weiteres zu Hispanics und dem Bild von Lateinamerika im US-Kino ist nachzulesen in Bettina Bremmes Buch MOVIE-mientos. Der lateinamerikanische Film: Streiflichter von unterwegs (318 Seiten, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2000).

“In jeder Hütte sitzt ein Kapitalist“

Als Sohn peruanischer Diplomaten wuchs de Soto in der Schweiz auf, absolvierte ein wirtschaftswissenschaftliches Studium und machte dort schnell Karriere. Erst als Volkswirt beim GATT, dann als Präsident der CIPEC, einem Interessenverband der kupferexportierenden Staaten, und von 1973 bis 1979 als Präsident eines der führenden Ingenieurberatungsunternehmen der Schweiz. Danach kehrte er nach Peru zurück als Manager eines Bergbauunternehmens, wechselte jedoch nach kurzer Zeit auf den Posten des Gouverneurs der peruanischen Zentralbank.
Verärgert über die katastrophalen Zustände in der peruanischen Wirtschaft, die durch Überregulierung, eine ausufernde Bürokratie und Korruption geprägt ist, startete er erste Untersuchungen. Zuerst noch auf die Vielzahl der Gesetze und Vorschriften bezogen, richtete er seine Untersuchungen später auf den informellen Sektor.
Dieser Begriff umschreibt den Teil der Gesellschaft, der nicht in der Lage ist, nach den formalen Gesetzen und Vorschriften zu leben und zu handeln, also zu informellem Handeln gezwungen ist. Es folgte die Gründung eines Instituts, des ILD (Instituto Libertad y Democracia) und eine intensive Feldforschung im informellen Sektor Limas.
Das Leben der Menschen im informellen Sektor wurde nach einer clever inszenierten PR-Kampagne schnell landesweit zum Thema. Auf Drängen des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, ebenfalls ein Verfechter marktliberaler Wirtschaftspolitik und späterer Präsidentschaftskandidat, verfasste de Soto 1986 sein erstes Buch „El Otro Sendero“ (Der andere Pfad). Darin beschreibt er detailliert die Situation der informellen Ökonomie und des informellen Wohnungsbaus im Lima der 80er Jahre. Grundtenor des Buches: Über die Abschaffung von bürokratischen Hürden und ausufernden Gesetzen und eine Legalisierung des informellen Landbesitzes seien ein wirtschaftlicher Schub und damit eine umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen möglich.

Wirtschaftguerilla im informellen Sektor

Der Titel bezieht sich auf die in den achtziger Jahren sehr präsente Guerillagruppe „Sendero Luminoso“ und spielt mit dem illegalen Status der Guerillagruppe, den de Soto für vergleichbar hält mit den Millionen Informellen in Lima, die sich ebenfalls mit einer Art Guerillataktik durch den Alltag schlagen.
Das Buch verfehlte seine Wirkung nicht. In den Zeiten des „verlorenen Jahrzehnts“, wie die wirtschaftliche Talfahrt Lateinamerikas in den achtziger Jahren auch bezeichnet wird, und des neoliberalen Umbaus in den westlichen Staaten wurde das Buch euphorisch aufgenommen. Die peruanische Regierung unter Fernando Belaúnde Terry bot de Soto an, an verschiedenen Reformprojekten in Peru mitzuwirken. Angeblich soll ihm auch mehrmals die Vizepräsidentschaft angetragen worden sein.

Der Glaube an den Markt
Ein Zeichen für den heute nur noch schwer verständlichen Glauben an die Allheilwirkung des Marktes ist, dass seine These nicht nur in den Führungsetagen von IWF und Weltbank breiten Anklang gefunden hat sondern auch bei vielen Nichtregierungsorganisationen ein zunehmender Marktoptimismus zu beobachten war.
Auf der Welle des Erfolges seines Buches mitgerissen, arbeitete de Soto im Folgenden an den verschiedensten Deregulierungsprojekten in Peru und Lateinamerika mit, und er ist mitverantwortlich für den Beginn eines umfassenden Legalisierungsprozesses von informellen Siedlungen in Peru. Mit Fujimoris Amtsantritt 1990 avancierte er zum wirtschaftlichen Berater und besonderen Vertreter des Präsidenten. 1992, nach dem „inszenierten“ Putsch von Fujimori, trennten sich jedoch ihre Wege.

Die Legalisierung informellen Landbesitzes

De Soto ist ein Vertreter des neoliberalen Diskurses. Die gängigen Schlagwörter wie Deregulierung und Bürokratieabbau tauchen bei ihm immer wieder auf. Das Neue bei de Soto aber ist, dass er neben den bekannten Forderungen noch eine weitere Forderung stellt: die Legalisierung von informellem Landbesitz. Er verknüpft mit dieser Forderung die Hoffnung, dadurch die mittellosen, vom Markt ausgeschlossenen BewohnerInnen der illegal errichteten Siedlungen der großen Städte in den Markt einzubinden. Und zwar mit der Annahme, durch die Legalisierung des Eigentums ergäben sich Möglichkeiten der Kreditaufnahme für Millionen Menschen, die vorher vom Kapitalmarkt ausgeschlossen waren. Die These erscheint brillant: Arme BewohnerInnen runtergekommener Elendssiedlungen verwandeln sich in Geschäftsleute, die mit Hilfe der Hypothek, mit der ihre Hütte belastet ist, den Weg aus der Misere antreten.
Die Politik nahm die These dankbar auf. Was wäre einfacher gewesen als all den Menschen Eigentumstitel zu geben und alles andere dem Markt zu überlassen? Einige lateinamerikanische Regierungen setzten immense Legalisierungsprogramme in Gang, so unter anderem in Chile, wo unter Pinochet allein über 500.000 solche Titel ausgestellt wurden. Oder in Peru, wo unter Fujimori bis zum Jahr 2000 ebenfalls weit über 500.000 Titel übergeben wurden. Insbesondere die peruanischen Aktivitäten wurden durch die Weltbank finanziell in erheblichen Umfang unterstützt. Nur: Von deutlicher Verringerung der Armutszahlen in all den Ländern war im Zusammenhang mit diesen Programmen eher weniger zu hören, ganz im Gegenteil. Die Praxis zeigt warum. Was veränderte sich denn für die Bewohner nach dem Erhalt eines Titels? Sind sie wirklich alle zu Kleinkapitalisten geworden?
Sie sind es nicht! Die Situation in den informellen Siedlungen stellt sich doch um einiges komplexer dar, als es sich bei de Soto vermuten lässt. Natürlich haben die BewohnerInnen ein starkes Interesse am Erhalt eines Titels, ohne Frage. Doch sind sie zu dem von de Soto propagierten Folgeschritt, den Titel mit der Aufnahme einer Hypothek zu gefährden, meist nicht bereit. Für viele bedeutet das eigene Heim einen jahrelangen, kräftezehrenden Kampf mit dem Staat und den Behörden. Meist in prekären sozialen Verhältnissen lebend, hatten sie sich einst zusammengeschlossen und in einer Nacht- und Nebelaktion ein Terrain besetzt. So die übliche Entstehung von informellen Siedlungen in Lateinamerika. Es folgte ein zähes Ringen mit der Staatsmacht, um einerseits die sofortige Räumung zu verhindern und andererseits die infrastrukturelle Ausstattung der neuen Siedlung mit Wasser, Abwasser und Strom voranzutreiben. Einige der Siedlungen, insbesondere die älteren, haben sich zu ganz normalen Stadtvierteln gemausert, mit zwei-, teilweise sogar dreigeschossigen Häusern. Das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die soziale Lage der Menschen kaum verändert hat. Insofern ist es verständlich, wenn den meisten das Risiko zu hoch erscheint, ihren einzig verwertbaren Besitz leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Wählerstimmen aus den informellen Siedlungen

Daran ändert auch de Sotos Argument nichts, wonach ein Titel Schutz bietet gegen eine Räumung der Siedlung durch die Polizei. Bei genauerer Betrachtung der Entwicklung der informellen Siedlungen in den letzten Jahren fällt auf, dass die Räumungen seltener geworden sind. Solange das Gelände nicht gerade auf teurem Spekulationsland oder in Sichtweite eines Villenviertels gelegen ist und entsprechend einflussreiche Gruppen die Polizei zum Handeln drängen, gibt es für die Polizei kaum einen Grund zum Einschreiten. Für die Politik wohl noch weniger, denn die hat längst erkannt, welches Potenzial sich in den informellen Siedlungen verbirgt. Wählerstimmen sind auch in Lateinamerika eine interessante Ware. Und nichts ist einfacher für einen Politiker, als sich als Schutzpatron für eine informelle Siedlung zu gebärden. Die Wählerstimmen jedenfalls sind ihm sicher. Insofern spielen Titel für die Sicherheit der Siedlungen eine untergeordnete Rolle.
Ein weiteres Argument gegen die Vorstellungen de Sotos ist die Tatsache, dass nicht alle informellen Siedlungen über eine Besetzung entstehen. So ist in den Städten des andinen Hochlandes in Kolumbien die illegale Parzellierung von Baugrund viel verbreiteter. Dabei wird Land illegal aufgeteilt, welches durchaus einen rechtmäßigen Besitzer hat. Die Illegalität bezieht sich dabei auf das Umgehen von Bauordnungen und Baugesetzen, nicht aber auf den Eigentumsstatus des Grundstückes. Die Ausgabe von Titeln wäre hier fehl am Platze.
Ähnlich die Situation in Medellín, wo ein Großteil der informellen Bebauung nie einen Anspruch auf einen Titel hätte, weil die Hütten in so genanntem Risikogebiet stehen. In Gebieten, die auf Grund ihrer Lage an steilen Hängen oder in Überschwemmungsgebieten von der Bebauung freigehalten werden müssten.
Soll mit Immobilien gehandelt werden, muss auch ein Markt dafür existieren. Die Akkumulation von Kapital ohne einen entsprechenden Markt funktioniert nicht. Dieses Problem sehen auch die Banken in Lateinamerika und sind nicht unbedingt davon begeistert, Grundstücke und Immobilien als Sicherheit zu akzeptieren, die sie später gar nicht wieder los werden könnten. Das Nichtvorhandensein eines entsprechenden Immobilienmarktes für Wellblechhütten liegt vor allem daran, dass die meisten Immobilien, die eigentlich den Markt ausmachen könnten, von den EigentümerInnen selbst bewohnt werden und damit für den Verkauf uninteressant sind. Interessant sind auch die Beobachtungen in informellen Siedlungen in Venezuela, wo es regelrecht Angst vor Vermietung gibt. Angst davor, dass der Mieter zur Legalisierungsbehörde geht und dort einen Anspruch auf die Hütte vorweist. Sicherlich, die Stärkung des Rechtes auf Eigentum ist eine zentrale Forderung de Sotos. Aber sie vollzieht sich nicht allein durch die Einrichtung von Kataster- und Grundbuchämtern. Dieses Gesetz müsste auch geschützt werden. Nur von wem?
Die Attraktivität der Legalisierungspolitik für die Regierungen in Lateinamerika liegt auf der Hand. Auch wenn die Räumungsgefahr längst nicht mehr so akut ist wie in der Vergangenheit, ist das Gefühl von Sicherheit – und sei es auch nur eine scheinbare Sicherheit – wichtig für die Menschen. Dass sich mit diesem Gefühl auch Wahlen gewinnen lassen, hat Fujimori im Wahlkampf für seine dritte Wiederwahl im Jahr 2000 eindrucksvoll bewiesen. Erst wurde den Kommunen die Verantwortung für die Titulierung entzogen – und zwar genau in dem Moment, in dem die Opposition in Lima drauf und dran war, mit diesem Thema den wichtigen Bürgermeisterposten der Metropole zu erringen. Mit Unterstützung der Weltbank wurde dann eine nationale Titulierungsbehörde (COFOPRI) gegründet, die direkt dem Ministerium des Präsidenten unterstellt war, und in den acht größten Städten des Landes mit der Ausstellung der Titel begonnen.
Fujimori wurde nicht müde zu verkünden, was er sich bis zum Jahr 2000 vorgenommen hatte: Eine Million Titel sollten bis dahin ausgestellt werden. Spätestens jetzt wurde vielen PeruanerInnen klar, dass die Ausgabe von Titeln nur die eine Seite der Medaille war. Die vielleicht wichtigere war der ausgezeichnete Wahlkampfeffekt der Kampagne. Legalisiert wurde nach dem Rasenmäherprinzip, eine ordentliche Prüfung der zu legalisierenden Territorien war da nicht mehr möglich. Die Qualität musste sich der Quantität beugen, zu Lasten einer zukunftsorientierten Stadtentwicklung.
Die Politik der Titulierung ist nicht nur populär, sondern auch finanziell sehr attraktiv gegenüber anderen Strategien, wie etwa dem öffentlich finanzierten Wohnungsbau oder großen infrastrukturellen Investitionen in die Siedlungen. Die Kosten für die Schaffung einer Agentur zur Ausgabe von Titeln sind gering. Zumal, wenn die BewohnerInnen verpflichtet sind, einen Teil der Kosten über Gebühren mitzutragen.
Genau hier liegt einer der großen Knackpunkte an de Sotos Theorie. Er suggeriert bei den Regierungen die Annahme, dass sie nichts weiter tun müssten, als massiv Titel im Land zu verteilen, um sich dann zurücklehnen zu können und den Volkskapitalismus wachsen zu sehen.
So entpuppt sich die Theorie als rein neoliberale Strategie mit einer Prise Populismus. Da kann de Soto noch so wettern gegen Strukturanpassung und Stabilisierungspolitik seitens des IWF, er fährt auf dieser Schiene mit. Er muss sich zudem fragen lassen, wer hier eigentlich von wem profitiert. Schließlich sind gerade auf dem Immobilienmarkt die Ärmsten selten die Hauptnutznießer, sondern meistens genau die Schichten, die von de Soto eigentlich für die Unfähigkeit verantwortlich gemacht worden sind, den informellen Sektor zu integrieren: die Mittel- und Oberschichten Lateinamerikas.

Mythos Volkskapitalismus

Die angestrebte Integration der untersten Einkommensschichten in den Kapitalmarkt könnte für diese ein weiteres unabsehbares Risiko bedeuten, galten doch gerade sie während der letzten großen Finanzkrisen Lateinamerikas – nach einem freilich zynischen Argument – als eher resistent. Nun könnten sie das Schicksal jener teilen, die nach den turbulenten Finanzkrisen Lateinamerikas als KreditnehmerInnen in die Knie gezwungen worden sind.
Der Gedanke vom florierenden Volkskapitalismus erscheint bei genauerer Betrachtung als Mythos. Doch de Soto besitzt Einfluss. In den Kommentare auf dem Cover seines neuesten Werkes feiert das Who is Who der neoliberalen Szene ein Buch, das sich eigentlich an die ärmsten Schichten der Gesellschaft richtet. Ein Widerspruch?
Richtig brisant ist allerdings die Tatsache, dass de Soto mit seiner These um die Welt tingelt, in der Annahme, den weltweiten Lösungsschlüssel für das Ende der Armut in Händen zu halten. Die Liste der Stationen seiner Reiseroute ist lang. Putin träumt vom Volkskapitalismus, der thailändische Ministerpräsident auch. Und dank seines immensen Einflusses in Washington werden die entsprechenden Programme auch weiterhin von der Weltbank finanziert.

Wem nützt das?

Man kann von de Sotos Thesen halten was man will, doch sollte man der verwirrenden Aufmachung seiner Werke nicht auf den Leim gehen. Er ist zwar aufgrund seiner jahrelangen Feldforschung ein Kenner der informellen Ökonomie, aber seine Lösungsvorschläge sind beim besten Willen nicht zielgruppenorientiert. Im Gegenteil. Sie nützen eher denjenigen, die von der miserablen Lage der vielen Menschen im informellen Sektor Lateinamerikas profitieren und traditionell nicht an einer Änderung der Situation interessiert sind – den Oberschichten und politischen Eliten Lateinamerikas. Ein wirklicher Veränderungswille an der Situation der Informellen ist auch in Washington, trotz gegenteiliger Behauptungen, nicht vorhanden. Es wundert nicht, wenn auch weiterhin, entgegen allen Analysen und Untersuchungen, am Projekt der Legalisierung festgehalten wird.

Kapitalistische Apartheid

Herr de Soto, Ihr neuestes Werk ist in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt worden, alle haben den Titel „Das Geheimnis des Kapitals“, nur die deutsche Ausgabe heißt „Freiheit für das Kapital“. Warum?

Also, der deutsche Titel gefällt mir eigentlich gar nicht. Verstehen sie mich bloß nicht falsch, mir geht es nicht um „Freiheit für das Kapital“, mir geht es um mehr Freiheit für die Menschen, endlich an Kapital zu gelangen. Aber ich ließ mich von meinem deutschen Verleger überzeugen. Ihm ging es im Wesentlichen darum, Neugierde zu wecken, zu provozieren.

Also mehr Freiheit für die Menschen?

Genau, in einem gewissen Sinne. In den Entwicklungsländern und in den ehemaligen kommunistischen Staaten haben wir einen ganz wesentlichen Faktor für wirtschaftlichen Fortschritt verkannt: der freie Zugang aller zu Kapital.
Sehen Sie, in den Ländern der Dritten Welt wimmelt es nur so von Kleinstunternehmern. Auf den Straßen flitzen Kleinbusse, die den Personennahverkehr organisieren, an den Straßen stehen Händler, die allerlei Waren anbieten, und überall entstehen neue Siedlungen. Wer immer behauptet, es fehle an Unternehmergeist und Marktorientierung in der Dritten Welt, der irrt sich ganz gewaltig.
Was diesen Menschen fehlt, ist die Möglichkeit, Kapital zu erzeugen. Dazu fehlen formale Eigentumsrechte, Instanzen, die verbindliche Antworten zu Besitztümern geben. Ich nenne das kapitalistische Apartheid. Den Menschen, die neu in die Großstädte kamen und kommen, bleibt es verwehrt, legal eine Wohnung zu bekommen, formell unternehmerisch tätig zu sein oder einer legalen Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Und so landeten sie in der Extralegalität, aus der Sie sie jetzt – so ist in Ihrem Buch zu lesen – innerhalb weniger Jahre wieder herausholen wollen.

Genau. Mein Forscherteam und ich haben uns einmal ganz genau den Wohnungsbau in fünf Großstädten der Dritten Welt angesehen, in Lima, Port-au-Prince, Mexiko-Stadt, Kairo und Manila. Um dem Erwerb eines privaten Grundstücks Rechtsgültigkeit zu verschaffen, bedarf es in Ägypten 77 bürokratischer Schritte bei 31 öffentlichen und privaten Stellen, auf Haiti sogar 176 bürokratischer Schritte. Das dauert länger und kostet mehr, als die Mehrheit der Menschen sich leisten kann.

Sie greifen die Kritik des ehemaligen Präsidenten der Weltbank Josef Stiglitz auf, der den Internationalen Währungsfonds auffordert, sich mehr über die tatsächliche Situation in den Ländern der Dritten Welt zu informieren und damit zur Pflichtlektüre der Globalisierungskritiker geworden ist. De Soto – Neumitglied der internationalen Globalisierungskritikerszene?

Im Gegensatz zu den meisten Experten, die die Welt von ihren Bürotürmen aus betrachten oder bei Vor-Ort-Besuchen in den Hotels bleiben, gehen wir auf die Straßen, unter die Menschen. Das hat nichts mit Globalisierungskritik zu tun.
Wir haben uns die illegal gebauten Häuser in Lima, Manila, Port-au-Prince, Mexiko Stadt und Kairo angesehen, eine Bestandsaufnahme vor Ort gemacht und den Wert geschätzt. Und dann haben wir – verkürzt gesagt – hochgerechnet.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass in Lateinamerika Reformen, die das Ziel hatten, kapitalistische Systeme zu errichten, mindestens vier mal gescheitert seien. Derzeit gehe die Sympathie der Menschen für die freie Marktwirtschaft wieder deutlich zurück und der Kapitalismus nützte nur einer Minderheit. Die Nachahmung des Kapitalismus durch Import von McDonald´s und Blockbuster reiche nicht aus. Sozialer Frieden, Entwicklung und Fortschritt durch Kapitalisierung. Das Allheilmittel?

Es geht mir nicht um ein Allheilmittel. Unser Konzept hat in Peru große Früchte getragen: wir haben über 380.000 Unternehmen formalisiert. Darüber hinaus haben wir es geschafft, dass mehr als 6,3 Millionen PeruanerInnen unter der Armutsgrenze jetzt auch formell gehört, was sie schon lange besaßen. Das schuf bis zu 560.000 neue Arbeitsplätze, die Steuereinnahmen des Staates sind massiv gestiegen.

Wie wollen Sie trotz Steuererklärungen, Buchführung, Qualitäts- und Sicherheitsstandards die Menschen im informellen Sektor für eine Formalisierung gewinnen?

Man muss den Leuten klar machen, welche Nachteile der informelle Sektor mit sich bringt. Er macht es unmöglich, Investoren zu gewinnen, Werbung zu machen, Versicherungen abzuschließen, Risiken zu minimieren. Und es entstehen immense Kosten durch Erpressung, Bestechung und Schutzgeldzahlungen. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass in den meisten Ländern die Befreiung von diesen Kosten und Mühen des extralegalen Sektors für das Zahlen von Steuern entschädigt.

In Ihrem Buch skizzieren Sie eine Strategie des Kapitalisierungsprozesses. Auf die Entwicklung eines Finanzsystems, neben der Formalisierung eines der entscheidenden Themen, gehen Sie aber gar nicht weiter ein. Woher sollen denn die Kredite kommen, wer kann überzeugt werden, in brasilianischen Favelas zu investieren?

Weil Sie Favelas nennen, will ich beim Beispiel Brasiliens bleiben. Gerade im April begannen die öffentlichen Diskussionen um die sogenannten Sem-Bancos in Brasilien, d.h. die meist aus dem informellen Sektor stammenden Klein- und Mikrounternehmen, die keinen Zugang zu Krediten haben.
Die Gespräche laufen sehr gut, der Staat hat Initiative ergriffen, die Banco do Brasil will ihren Kundenstamm um 5 Millionen erweitern. Ziel sind vor allem Unternehmer, die nicht im formellen System registriert sind. Finanzinstitutionen und Markt signalisieren großen Zuspruch. Derzeit wird diskutiert, unter welchen Umständen Kleinkredite vergeben werden sollen.

Es wurde auch kritisiert, dass Ihre Strategie, eine Brücke zwischen legalem und extralegalem Recht zu schlagen, nicht realisierbar wäre und Sie die mafia-ähnlichen Strukturen in den Slums der Großstädte übersähen. Außerdem hätten durch eine Integration wieder einmal die Ärmsten und Langsamsten das Nachsehen, weil diese gar nicht die betriebswirtschaftliche Kompetenz besitzen.

Mich wundern diese Kritikpunkte. Das sind Details. Und für mich und für die meisten Experten in der Dritten Welt bedeuten Detailprobleme nicht, dass das gesamte Konzept falsch ist! Ganz im Gegenteil. Ich möchte die Probleme nicht leugnen, obwohl sie sich bei genauerem Hinsehen meist als gering erweisen.
Einige Favelas in Brasilien sind bestimmt in der Hand der Mafia. Aber meiner Meinung nach weitaus weniger als immer angenommen wird. Und selbst dort werden die Menschen mehr Interesse an einer Integration haben, als an bewaffneten Gangkommandanten. Nur ist es die Herausforderung des Staates, ihnen diese Integration verständlich, leicht und günstig zu machen.

Hernado de Soto: Freiheit für das Kapital. Warum der Kapitalismus nicht welteit funktioniert. Rowohlt-Verlag, Berlin. 19,90 Euro.

Gegen den Gleichheitsmythos

Verblüfft hörte der brasilianische Präsident letzten Mai anlässlich eines offiziellen USA-Besuches die Frage seines Kollegen George W. Bush: „Do you have blacks, too?“ Die Frage Bushs ermöglichte allerdings keine Ja-Nein-Antwort für den Soziologen Cardoso, der seine eigene Mestizität gerne verkündet. Andererseits durfte der perplexe F. H. Cardoso des Protokolls halber Bush über die moderne Kolonialgeschichte nicht belehren. Glücklicherweise kam Condolezza Rice zur Hilfe und klärte Mr. President auf, dass Brasilien das Land außerhalb Afrikas mit dem größten Bevölkerungsanteil von Schwarzen ist.
Bush’s Amtsvorgänger wussten über die ethnische Zusammensetzung Brasiliens besser Bescheid, so schrieb etwa Theodore Roosevelt bis 1914 eine Reihe von Zeitungsartikeln zum Thema „Brazil and the Negro“, in der er bedauerte, dass es das brasilianische friedliche Zusammenleben aller demographischen Gruppen in den USA nicht gebe. Auch die US-amerikanische „Zivilgesellschaft“ weist eine historische Verbindung zu Brasilien auf. So kamen bis in die 40er Jahre Delegationen von US-amerikanischen schwarzen AktivistInnen nach Brasilien, um den angeblichen Erfolg Brasiliens bei der Beseitigung ethnischer Spaltungen näher zu betrachten.
In den 50er Jahren gab die UNESCO eine umfassende Studie über die ethnischen Beziehungen in Brasilien in Auftrag, in der Hoffnung, dass daraus positive Impulse hervorgehen könnten, um dem Westen bei der Überwindung der Tragödie des Holocausts zu helfen. Die Absicht der UNESCO scheiterte allerdings an der von dieser Studie tatsächlich erfassten sozialen Kluft zwischen weißen und schwarzen Brasilianern.
Seit den 1970er Jahren wurden die Kontakte zwischen den anti-rassistischen Bewegungen in beiden Ländern intensiviert, wobei man sich nun auf die Bekämpfung des Rassismus in Brasilien konzentrierte. Inzwischen hat sich ein dichtes Netwerk herausgebildet, das US-amerikanische und brasilianische Nichtregierungsorganisationen, SozialwissenschaftlerInnen, anti-rassistische AktivistInnen und US-amerikanische Stiftungen unter Führung der Ford Foundation zusammenschließt. Es ist ein neuer Anti-Rassismus, der von einem in Brasilien bereits etablierten historischen Anti-Rassismus abweicht. Im Rahmen der US-amerikanischen-brasilianischen Kooperation sind zunächst mehrere Untersuchungen entstanden, die zeigen, dass eine deutliche Chancenungleichheit zugunsten der weißen BrasilianerInnen herrscht und dass diese Disparitäten historisch nicht nachlassen sondern steigen.

Strukturelle Benachteiligung der Nicht-Weißen

Aus der strukturellen Benachteiligung der Nicht-Weißen (pretos (Schwarze) und prados (Braune)) zogen die AktivistInnen politische Konsequenzen. Wenn die Polarisierung zwischen Weißen und Nicht-Weißen die sozialen Chancen mit strukturiert, sollten die sozialen Identitäten dadurch ebenfalls geprägt werden. Demgegenüber existiert ein Gleichheitsmythos, der die bestehenden Missverhältnisse ideologisch verbirgt. Deshalb müsse der Anti-Rassismus die Entstehung eines Bewusstseins über die „rassische“ (bras.: racial) Ungleichberechtigung fördern. Politisch wurde dafür plädiert, dass der brasilianische Staat durch eine differenzierte Politik die Entstehung einer schwarzen Identität zu unterstützen habe. Kulturell sollte sich der Anti-Rassismus in Brasilien an die Demonstrationen der afrikanischen Diaspora anschließen, die sich im Kulturraum des so genannten Black Atlantic abspielen, wobei zum Beispiel das US-amerikanische Civil Rights Movement, die kulturelle Renaissance der Karibik, der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika und so weiter gemeint waren.

240 Hautfarben

Im Lager des historischen Anti-Rassimus wird die Betonung der rassischen Identität abgelehnt. Danach ist die Chancengleichheit in Brasilien „eine ritualisierte Bestätigung von Prinzipien, die für die Sozialordnung einen konstituierenden Wert aufweisen“, wie der in Rio lebende britische Anthropologe Peter Fry sagt. Daraus gehen individuelle und kollektive Identitätsmuster hervor. Eine anti-rassistische Politik müsste also dazu führen, dass die Etablierung einer Chancengleichheit mit der Würdigung zahlreicher selbstkonstruierter Zwischenkategorien einhergeht – in einer 1999 in Brasilien durchgeführten Befragung kamen 240 Bezeichnungen der eigenen Hautfarbe zum Vorschein. Der historische Anti-Rassismus beschreibt Brasilien im Gegensatz zu den USA als eine Gesellschaft, die die kulturelle Erbschaft aller vorhandenen Ethnien in eine „hybride“ brasilianische Kultur absorbiert hat. Das nationale Selbstverständnis integriert also alle demographischen Gruppen. Man befürchtet, dass antirassistische Maßnahmen, die zu einer expliziten Differenzierung zwischen Schwarzen und Weißen führen (Quotenregelung, affirmative action usw.), das vorhandene interethnische Zusammenleben zerstören könnten.
In der Innenpolitik Brasiliens kommen sowohl der historischen als auch der neuen Form des Anti-Rassismus eine wachsenden Bedeutung zu. Die radikale Politik der Identität wird zwar von einer gewissen international vernetzten Elite von AktivistInne befürwortet, findet aber kein großes Echo bei der Basis der Schwarzenbewegung und bei der schwarzen Bevölkerung selbst. Die antirassistische Botschaft wird wahrgenommen aber reinterpretiert und umformuliert, so dass sie den lokalen Bedürfnissen und Ansprüchen angepasst wird. Im Grunde erkennt man die Notwendigkeit, die auf der Hautfarbe basierenden sozialen Ungleichheiten zu bekämpfen, wobei ein Selbstverständnis, welches Schwarze und Weiße polarisieren würde, abgelehnt wird.

Neue Regierungsmaßnahmen gegen Rassismus

Die brasilianische Regierung zeigte sich für die Botschaft der antirassistischen Bewegungen empfänglich und erkennt immer mehr die strukturelle Benachteiligung der Schwarzen. Jüngst wurden sogar kompensatorische Maßnahmen eingeführt, die afro-descendentes (Afrostammige) begünstigen sollen. Erwähnenswert ist hier das kürzlich eingeführte Programm des Außenministeriums, das den Zugang der afro-descendentes zu diplomatischen Karrieren erleichtern soll. Eine rechtliche Bestimmung der Kategorie afro-descendentes riskiert die Regierung allerdings nicht: Das entscheidende Kriterium bleibt also die Selbstdefinition der BewerberInnen.
Im Rahmen der internationalen Vernetzung der Anti-Rassismus-Bewegung wurden durchaus neue Erkenntnisse über die ungleiche Behandlung der schwarzen BrasilianerInnen sowie politische Fortschritte erreicht. Die internationale Unterstützung hat dem Anti-Rassismus eine neue politische Legitimation verliehen und dazu verholfen, die Bekämpfung des Rassismus in die politische Agenda zu integrieren. Bislang hat der historische Anti-Rassismus nur wenige greifbare Ergebnisse erzielt, dennoch darf man seine Rolle nicht unterschätzen: Er trägt dazu bei, die antirassistische Politik der Regierung den lokalen Anerkennungsansprüchen anzupassen.

Eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft

Gleichgültig in welcher Prägung er erscheint, stellt die zunehmende Bedeutung des Anti-Rassismus in Brasilien eine wichtige politische Errungenschaft dar. Immer mehr BrasilianerInnen erkennen, dass der strukturellen Benachteiligung der Schwarzen eine Begünstigung der Weißen innewohnt. Infolgedessen reicht es für eineN weißeN BrasilianerIn nicht mehr, sich als Nicht-RassistIn zu bekennen. Solange er/sie sich nicht aktiv am Anti-Rassismus beteiligt, profitiert er/sie von der rassistischen sozialen Ordnung. Auf der politisch-moralischen Ebene ist die Beseitigung aller Formen des Rassismus also eine Aufgabe der gesamten brasilianischen Gesellschaft.

Der Autor ist promovierter Soziologe am Lateinamerika-Institut der FU Berlin

Buchveröffentlichung: Dimensionen der Demokratisierung, Frankfurt, 1997.

Am Anfang war die Sklaverei

Unrühmlich begannen vor annähernd 500 Jahren die Beziehung zwischen Afrika und Lateinamerika. Mit der Einführung der Lizenz zum „Import“ afrikanischer Sklaven in die Neue Welt 1517 läutete der spanische Regent und Kolonialherr Karl V einen Menschenraub ein, der seinesgleichen sucht. Allein in die spanischen und portugiesischen Kolonien Amerikas wurden bis zur Abschaffung der Sklaverei über acht Millionen meist männliche Bewohner Afrikas verschleppt, nicht eingeschlossen die Zahl der beim „Einfangen“ und der Überfahrt Umgekommenen.
In der Terra Incognita angekommen mussten die Sklaven, aus ihrem sozialen Zusammenhang gerissen, größtenteils unter brutalsten Bedingungen auf Zuckerrohr- oder Tabakplantagen arbeiten. Dabei war zu schlimmsten Zeiten die „Wirtschaftlichkeit“ eines durchschnittlichen Feldsklavens etwa fünf Jahre. Im Klartext heißt das, dass ein Sklave der auszehrenden Plantagenarbeit nachgehen musste, bis sein Körper nicht mehr überlebensfähig war. Dann wurde ein neuer Sklave angeschafft.

Erste Schritte in die Freiheit

Die ersten AfrikanerInnen, die ihre Kultur mehr oder weniger frei auf lateinamerikanischen Territorium entfalten konnten, waren diejenigen, die es schafften, der Sklaverei zu entfliehen und sich außerhalb der Reichweite spanischer und portugiesischer Sklavenjäger zu organisieren. Auf brasilianischem Gebiet taten sie dies ab Mitte des 17. Jahrhunderts beispielsweise in quilombos, nach afrikanischem Muster gebauten Wehrdörfern, die sich in Wäldern weit ab von weißen Siedlungen befanden. Dort schufen die aus den verschiedensten afrikanischen Regionen stammenden entflohenen Sklaven ihre eigenen Gemeinschaften, die sich durch Ackerbau und Jagd weitgehend selbst versorgten. Der bekannteste quilombo war wohl der von Palmares, aus dem Zumbi von Alagoas stammt, einer der ersten bekannten schwarzen Widerstandskämpfer, der noch heute eine Symbolfigur der afro-brasilianischen Bewegung ist. Bis zu seiner Ermordung 1695 versetzte er die Portugiesen in Angst und Schrecken, indem er erstmalig versuchte, die Befreiung offensiv militärisch durchzusetzen.
Die Entstehung der weltweit ersten schwarzen Republik Haiti sticht aus der Geschichte afrikanischer Widerrstandsbewegungen in Lateinamerika hervor. Wie auf anderen Karibikinseln wurde hier in Plantagenwirtschaft Zuckerrohr mit einer immensen Zahl afrikanischer Sklaven angebaut. Im Unterschied zu anderen Inseln handelte es sich bei Haiti um eine französische Kolonie, die im ausgehenden 18. Jahrhundert von den Auswirkungen der französischen Revolution betroffen war. Menschenrechte wurden eingeführt, die Sklaverei wurde abgeschafft und der Kolonialstatus aufgehoben. Dies führte zu einer unüberschaubaren, labilen Situation. Die Autorität der bis dato Herrschenden weißen Kreolen war untergraben, es entbrannte ein Kampf um die neue Vorherrschaft. Zwischen 1790 und 1820 kam es so unter der Anführung von Toussaint de L´ouverture zu Sklavenaufständen, blutigen Bürgerkriegen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen und sogar zur Ausrufung eines Kaiserreichs im Norden des Landes durch den „schwarzen Napoleon“ Jean-Jacques Dessaline. Schließlich ordnete sich das Chaos wieder und Haiti wurde 1825 als Präsidialrepublik mit einem farbigen Präsidenten unabhängig von Frankreich. In der Verfassung wurde festgeschrieben, dass jeder Schwarze, der Haiti betritt, automatisch frei und Bürger Haitis ist. In den anderen karibischen und lateinamerikanischen Ländern erfolgte die Abschaffung der Sklaverei erst zwischen 1836 und 1888. Dies geschah aus wirtschaftlichen Gründen: es war billiger, einen Lohnarbeiter einzustellen, als einen Sklaven ein Leben lang zu versorgen.
Mit der Abschaffung der Sklaverei erlangten die schwarzen Bevölkerungsgruppen in den nun meist unabhängigen lateinamerikanischen Ländern jedoch noch lange nicht die gleichen Rechte wie Weiße oder Mestizen, ganz zu schweigen von der Möglichkeit politischer Beteiligung. Sie waren noch immer Opfer von Rassismus und die Ausübung ihrer Kultur wurde teilweise sogar verboten.

Intellektuelle Freiräume im 20. Jahrhundert

Mehr Freiraum gab es seit dem 20. Jahrhundert, sich auf intellektueller Ebene mit „schwarzem Bewusstsein“ und dem eigenen afrikanischen Ursprung zu beschäftigen. So entstand beispielsweise Mitte der 1930er Jahre auf Jamaica die Rastafari-Bewegung. Hervorgegangen aus dem Glauben der Sklaven, dass ihre Seele nach dem Tod nach Afrika heimkehrt, bezogen sich die Rastafaris kulturell zurück auf ihr afrikanisches Erbe und speziell auf das von ihrem Gott „verheißene“ Land Äthiopien. Daher auch ihr Name, der vom 1930 gekrönten letzten äthiopischen Kaiser Ras Tafari (nach der Krönung: Haile Selassie) stammt.
Weitere Strömungen, die sich im 20. Jahrhundert mit dem kulturellen schwarzen Erbe und schwarzer Befreiung beschäftigten waren die Négritude Aimé Cesaire und Leopold Senghors und das Denken Frantz Fanons. Darauf beziehen sich seit den 1960er Jahren auch viele Black-Power-Bewegungen.
Heutzutage ist die afrostämmige Bevölkerung in vielen Ländern Lateinamerikas zu weiten Teilen integriert, auch wenn sie in vielen gesellschaftlichen Feldern noch diskriminiert wird. Teilweise haben sich in manchen Ländern auch weiterentwickelte afrikanische Kulturelemente durchgesetzt und sind zur Populärkultur geworden – in der Musik zum Beispiel der Samba-Rhythmus in Brasilien, der Son oder die Rumba auf Kuba.
In Lateinamerika entwickeln immer mehr schwarze Bewegungen, die sich explizit auf Afrika zurückbeziehen. Am Eindrucksvollsten geschieht dies in der „schwarzen Stadt“ Salvador de Bahia im Nordosten Brasiliens, von der aus seit Beginn der 80er Jahre der weltweite Vormarsch afro-brasilianischer Kultur begann. Afrika und Lateinamerika verbindet aber nicht nur die lange Geschichte der Sklaverei.

Unter dem Diktat von IWF und Weltbank

Beide Kontinente waren einst komplett kolonisiert und sind heute Teil der so genannten Dritten Welt. Das macht sich vor allem daran fest, dass die meisten Länder „Entwicklungslandstatus“ haben. Die ärmsten lateinamerikanischen Länder wie Haiti (BSP pro Kopf 220 US-Dollar) oder Nicaragua (330 US-Dollar) stehen dabei nicht sehr viel besser da als die ärmsten afrikanischen Länder Burundi (150 US-Dollar) oder Äthiopien (130 US-Dollar). Da die ärmsten Länder der Welt sich nicht durch gegenseitige Kooperation helfen können, sind sie auf Wohl und Wehe der „Hilfe“ reicher Länder, dem IWF und der Weltbank ausgesetzt. Länder beider Kontinente müssen sich so immer wieder Strukturanpassungsprogrammen unterwerfen, zu denen sie bei Neu- und Umverschuldung gezwungen werden.
Weitere Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen Afrika und Lateinamerika soll unser Schwerpunkt beleuchten, in dem wir die folgenden Themen aufgreifen: Ulrich Fleischmann berichtet in einem Interview über die Entstehung und Entwicklung afrikanischer Kultur in Lateinamerika. Sergio Costa vergleicht die gesellschaftliche Stellung und politischen Organisierung von Schwarzen in den USA und in Brasilien. Anschließend folgt ein Überblick über die Beziehungen des revolutionären Kubas mit afrikanischen Befreiungsbewegungen von Matti Steinitz, an die sich Auszüge aus der Che-Biographie von Paco Ignacio Taibo II anschließen, in denen es um Ches Zeit im Kongo geht. In einem weiteren Interview geht es um die uruguayische Organisation Mundo Afro und ihren Beitrag zum Kampf gegen Rassismus. Der kulturelle Teil beginnt mit einem Blick auf die lateinamerikanischen und afrikanischen KünstlerInnen bei der derzeit stattfindenden Documenta in Kassel, die Timo Berger besucht hat. Jürgen Vogt berichtet über die Musik der senegalesischen Salsa-Band Africando und Anja Witte stellt den Dichter Edouard Glissant aus Martinique vor.

„Revolutionen fanden aus Verzweiflung statt“

Die verschiedenen Kolonialmächte betrieben in Lateinamerika unterschiedliche Formen der Sklaverei. Wie würden sie diese Formen charakterisieren und welche Auswirkungen hatten sie auf die afroamerikanischen Kulturen?

Die afroamerikanische Kultur nimmt ihren Anfang mit der Middle Passage. So bezeichnet man die Verschiffung von gefangenen afrikanischen Sklaven nach Amerika. Man kann drei Ursprünge afroamerikanischer Kultur unterscheiden, nämlich den iberischen Sklavereitypus, den Plantagentypus, und den Typus, der auf Sklaven beruht, die niemals Sklaven waren, also beispielsweise vom Schiff entflohen. Das Wesentliche an einer Unterscheidung zwischen einem iberischen und einem nichtiberischen Typus ist der historische Stellenwert der Sklaverei in den jeweiligen Gesellschaften. In Spanien war die Sklaverei außerordentlich etabliert und durch Gesetze geregelt. In England und Frankreich dagegen fällt die Sklaverei in die Zeit der Aufklärung. In einer aufgeklärten Gesellschaft war es eigentlich unmöglich, die Sklaverei zu akzeptieren. Also wurde sie zunächst außerhalb jeder Gesetzmäßigkeit angesiedelt.
Beim Sklavereitypus der Spanier handelt es sich um eine geschichtliche Verlängerung der Leibeigenschaft. Davon ist sie gar nicht richtig abgrenzbar. König Alfons der Weise legte im 13. Jahrhundert in einem Gesetz die Sklaverei als einen unnormalen Zustand fest. Normalerweise war der Mensch frei, aber er konnte auf Grund historischer Umstände in die Sklaverei geraten. Es sollte angestrebt werden, dass jeder Mensch noch im Laufe seines Lebens wieder aus der Sklaverei entlassen wird. Der Sklavenstatus war nicht ethnisch, also nur auf Schwarze festgelegt. Auch Spanier konnten Sklaven werden, wenn sie sich verschuldeten. Der iberische Sklavereitypus charakterisiert sich auch durch eine relativ starke Anpassungskapazität. In Kolumbien oder in Peru zum Beispiel war die Zahl der Sklaven nicht besonders hoch und sie wurden nicht auf Plantagen eingesetzt, sondern als Handwerker oder Bedienstete. Spanien entwickelte in seinen Kolonien nur sehr geringfügig Plantagenwirtschaft. Mit den ersten Seefahrern gelangten nach der „Entdeckung“ Amerikas nicht nur schwarze Sklaven, sondern auch die spanische Form der Sklaverei nach Amerika. Bis 1789 erlaubten die Spanier zwar die Sklaverei, aber nicht den Sklavenhandel. Wer Sklaven wollte, musste diese bei den Portugiesen einkaufen.

Portugal war schon relativ früh stark auf Handel ausgerichtet. Ab dem 15. Jahrhundert hatten die Portugiesen den Sklavenhandel total in der Hand. Portugal lässt sich schlecht in einen der beiden Sklavereitypen einordnen. Das zeigt sich zum Beispiel in Brasilien, das eine Art Zwischenstellung einnimmt. Auf der einen Seite gab es im ganzen Nordosten Brasiliens riesige Plantagenkolonien. Dort wurde das Freilassen von Sklaven hoch besteuert, denn die Kolonialregierungen wollten verhindern, dass Sklaven freigelassen wurden. Andererseits war der Südosten des Landes stark iberisch geprägt und das Freilassen von Sklaven wurde unterstützt. Dadurch ergab sich eine relativ starke Vermischung mit der herrschenden weißen Bevölkerung und eine breite Schicht von Mulatten entstand. Überall wo solch eine Vermischung stattfand, gab es weniger Diskriminierung als in den Kolonien, in denen ganz deutlich getrennt wurde, wie beispielsweise in der Karibik oder auch in den USA. Dort wurde die color-line ganz deutlich gezogen. Die strikte Trennung begründete man mit der Minderwertigkeit der Afrikaner.

Worauf beruht nun der nichtiberische Sklavereitypus?

Der nichtiberische Sklavereitypus geht eigentlich auf die meisten der westeuropäischen Nationen zurück. Auf die Franzosen, Engländer, Holländer, Dänen und Schweden. Sogar die Brandenburger hatten eine ganz kleine Kolonie auf einer Insel bei Saint Croix mit einem eigenen Stützpunkt in Westafrika, von dem aus sie Sklaven nach Amerika schafften. In den Kolonien wurden systematisch Kolonialprodukte angebaut, für die eine Nachfrage in Europa entstanden war: Tabak, Indigo, Kakao, vor allem aber Zucker. Spanien hatte sich Amerika fast vollständig unter den Nagel gerissen. Aber gleichzeitig blieb das Land feudalistisch und entwickelte sich nicht weiter. Die westeuropäischen Nationen dagegen modernisierten sich und bauten einen quasi kapitalistischen Handel auf, der auf den Zuckerrohrplantagen basierte. Auf São Tomé und in Brasilien errichtete man die ersten großen Zuckerrohrplantagen. Und die Portugiesen beschafften die Sklaven für deren Bewirtschaftung, deren Handel sie ohnehin in der Hand hielten. Anbau in kleinerem Stil lohnte sich nicht, weil die Errichtung von Zuckermühlen sehr teuer war. Mit großen Investitionen erzielte man große Gewinne.

Das Zuckerrohr setzte sich durch, der kapitalistische Sklavenhandel entwickelte sich und die Lebenserwartung der Sklaven sank drastisch. Normalerweise überlebte ein Sklave in der Kolonie keine fünf Jahre. Das hatte kulturelle Folgen. Die Sklaven konnten sich, selbst wenn sie gewollt hätten, gar nicht assimilieren. Sie starben vorher und wurden durch neue Sklaven ersetzt, die aus Afrika gebracht wurden. Es entstand eine deutliche Trennung zwischen den so genannten kreolischen Sklaven, also denen die in der Kolonie geboren wurden und stärker an die Kultur der Kolonialherren angepasst waren, da sie deren Sprache sprachen. Und den Feldsklaven, die eine geringere Lebenserwartung hatten und sich fast nie auf die kulturellen Verhältnisse der Kolonie einlassen konnten. Die katastrophalen Umstände und die menschenunwürdigen Bedingungen auf den Plantagen trieben viele der Sklaven in den Selbstmord oder die Sklaven brachten sich gegenseitig um. Diese geringe Lebenserwartung der Sklaven war ganz charakteristisch für die Sklaverei der Engländer und Franzosen in der Karibik, zum Teil auch in Nordamerika und für die Sklaverei in Brasilien. Außerdem gab es ein großes Ungleichgewicht von Männern und Frauen, weil kein Interesse daran bestand, Sklaven aufzuziehen. Das war zu teuer. In den Kolonien gab es zahlenmäßig eine ganz große Disproportion zwischen freier weißer Bevölkerung und versklavter schwarzer Bevölkerung. Je größer diese Disproportion war, um so gefährlicher wurde die Situation für die Kolonialherren, da von der Überzahl der Sklaven die ständige Gefahr von Aufständen ausging. Es gab viele Aufstände, vor allem auf Jamaica. Schließlich kam die Revolution auf Haiti im Jahre 1789, in deren Verlauf die erste schwarze Republik ausgerufen wurde. Dieser Sklavereitypus, der gleichzeitig der bekannteste ist, war also letztlich auch für die „Herrenbevölkerung“ zu gefährlich.
Desweiteren gab es viele Fälle der Flucht von den Plantagen. Die Lebensform der cimarronaje entwickelte sich zu einer organisierten Flucht der Sklaven (cimarrones) von den Plantagen in entlegene, unzugängliche Berg- oder Urwaldgebiete. Dort bildeten die ehemaligen Sklaven eigene Gemeinschaften, die strikt hierarchisch organisiert waren, eigene Gesetze hatten und in die immer weitere Sklaven „nachflüchten“ konnten oder aus den Plantagen entführt wurden. Sie gründeten Familien und versuchten sich ein „normales“ Leben aufzubauen.

Und wie sah der dritte Typus aus?

Die dritte Gruppe von afroamerikanischer Bevölkerung, waren Menschen, die zur Sklaverei nach Amerika verschleppt wurden, aber letztlich nie oder nur zeitweise in die Sklaverei gerieten. Das waren zum Beispiel die cimarrones oder geflüchtete Sklaven von untergegangenen Sklavenschiffen. Die sich an Land rettenden Sklaven gründeten in unzugänglichen Gebieten ihre eigenen Gemeinden. Zum Beispiel in Ecuador die Gemeinde Esmeraldas. Ein weiteres Beispiel ist die schwarze Bevölkerung, die von der Karibik aus an die Atlantikküste Mittelamerikas gebracht wurde, um etwa den Panama-Kanal zu bauen. Von dort gab es dann eine Ausbreitung der schwarzen Bevölkerung, die nichts mehr mit der Sklaverei zu tun hatte. Ein anderer Fall sind die „Buschneger“ in Surinam. Oder die Garífuna, Sklaven die sich nach St. Vincent und Grenada flüchteten und sich dort mit den Kariben vermischt haben. Die Miskito in Nicaragua gehören auch dazu. Beim dritten Typus haben die Afroamerikaner ihre eigenen Gesellschaften aufgebaut, entweder mit stark afrikanischer Prägung oder es wurden indianische Kulturen übernommen. In jedem Fall entwickelte sich eine ethnische Kultur.

Sie haben bereits den Begriff der Kreolisierung genannt. Was genau versteht man darunter?

Der Begriff wird zunächst ganz konkret verwendet auf Sprachen und Kultur. Kreolisierung bedeutet immer ein Kontaktphänomen. Zwei Kulturen kommen miteinander in Kontakt und eine Vermischung findet statt. In Bezug auf die Afrikaner, die als Sklaven nach Amerika gebracht wurden, ist Kreolisierung eine Kulturmischung aus afrikanischen und europäischen Bestandteilen . Indianische Elemente spielen eine relativ geringe Rolle, da die indigene Bevölkerung in den Plantagengebieten schon früh vernichtet worden war. Kreolisierung im Fall der Afroamerikaner ist ein Ausbalancieren zwischen zwei auffälligen Kulturschwerpunkten. Auf der einen Seite die afrikanischen Kulturen und auf der anderen Seite die dominante weiße Kolonialkultur. In einer großen Plantagenkolonie war die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung versklavt und nur ein ganz kleiner Teil europäisch und frei. Von der Assimilierung der Sklaven zu sprechen ist also problematisch, denn sie konnten sich gar nicht assimilieren, weil sie kaum Zugang zu den Lebensbereichen der Weißen hatten. In den Kolonien versuchten die Sklaven sich in irgendeiner Form zu reorganisieren. Und zwar nicht über die dominante Kolonialkultur, sondern in den alten afrikanischen Kulturmustern. Zum großen Teil lief das über die synkretistischen Kulte, sowie über die afrikanischen Religionen und Ahnenkulte ab.

In diesen spannungsreichen Gesellschaften entstand ein ganz komplexes Wechselspiel von Anpassung und Widerstand. Angepasst waren zum Beispiel die Haussklaven, denn diese hatten die Chance aufzusteigen, indem sie zum Beispiel die Sprache der Kolonialherren erlernten. Bei der großen Mehrheit jedoch fand keine ausschließliche Anpassung statt. Die Sklaven schätzten in jedem Moment ihres Lebens neu ab, ob sie sich anpassen oder Widerstand leisten sollten. Sich zu widersetzen war lebensgefährlich, aber in manchen Situationen konnte man nicht anders, als Widerstand zu leisten. Eine Form war zum Beispiel Capoeira. Widerstand stand immer in engem Zusammenhang mit der afrikanischen Kultur. Die Alternative dazu war die Übernahme europäischer Kulturmuster.

Das Besondere an der Kreolisierung ist, das beide Möglichkeiten nebeneinander herlaufen. Man könnte das als eine institutionalisierte Ambivalenz bezeichnen. Die Sklaven sind doppelt orientiert, sie sind in der Lage, sich angepasst zu zeigen und fünf Minuten später verhalten sie sich vollkommen anders. Das spiegelt sich auch in den synkretistischen Kulten wider, wo die Götter, Riten und Heiligen sowohl einen europäischen als auch einen afrikanischen Namen tragen. Der Gläubige oder der Priester ist in der Lage zwischen beidem hin- und her zu wechseln. In den Kulten gibt es dann je nach Bedarf katholische oder aber afrikanische Elemente. Die Priester haben zum Beispiel zwei Hände, eine katholische und eine magisch-afrikanische. Auch die Altäre haben zwei Seiten, mit katholischen und afrikanischen Elementen direkt nebeneinander. Diese Ambivalenz ist eine Form des Überlebens. Nicht zu verwechseln ist die Kreolisierung mit mestizaje. Mestizaje bedeutet, dass sich eine neue ethnische Gruppe konstituiert. Man kann das an einem Vergleich verdeutlichen. Wenn man Wasser und Wein zusammengießt, vermischen sie sich und ergeben eine neue Flüssigkeit. Wasser und Öl dagegen kann man zwar schütteln, aber es trennt sich sofort wieder. Das ist Kreolisierung.

Im Gegensatz zu den Völkern, die aus der Völkerwanderung hervorgegangen sind, mit all ihren Gründungsmythen, können die Afroamerikaner eigentlich nie sagen, sie seien ein Volk. Im Grunde sind sie Teil einer Nation, an deren Gründung sie keinen Anteil hatten. Sie sind immer entweder aufstiegsorientiert oder nachbarschafts- bzw. solidaritätsorientiert. Entweder nehmen sie die Mainstreamkultur an und distanzieren sich von ihren eigenen Leuten. Oder sie ziehen sich zurück in eine Subkultur, die sich deutlich von der Mainstreamkultur absetzt. Auch in den kreolischen Sprachen findet man diese doppelte Orientierung. Einerseits die Orientierung an der dominanten Kolonialsprache, auf der anderen Seite an einem undefinierbaren afrikanischen Substrat.

Afroamerikaner, die kreolisch sprechen, sprechen es immer mehr oder weniger. Entweder absichtlich „weniger“ kreolisch, wenn es angesichts der dominanten Gesellschaft ratsam ist. Das ist wichtig, wenn die Menschen zum Beispiel zum Arzt gehen, denn eine Kreolsprache zu sprechen ist sozial stigmatisiert. Oder es wird andererseits bei bestimmten Gelegenheiten das afrikanische Element stärker betont. Wenn sich zum Beispiel Freunde treffen oder bei bestimmten Festen.

Im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitskämpfen in den Kolonien entstand die Négritude-Bewegung. Was versteht man unter Négritude und worin unterscheiden sich die karibische und die afrikanische Variante?

Um 1930 gab es eine große Migration farbiger Studenten in die europäischen Metropolen. Das war eine geplante und gezielte Bewegung. Man wollte eine schwarze, gebildete Oberschicht für die Kolonien heranziehen. So trafen sich in Paris afrikanische und karibische Studenten und bildeten zunächst einmal eine Schicksalsgemeinschaft, in dem Sinne, dass sie sich gleichermaßen diskriminiert fühlten. Wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft wurden sie als Franzosen zweiter Klasse behandelt. Hinzu kam die Frage der Unabhängigkeit der Kolonien. Diskutiert wurden diese Fragen in einer Zeitschrift, die von Aimé Césaire aus Martinique und Leopold Senghor aus dem Senegal herausgegeben wurde. Dabei vertrat der Afrikaner Senghor eine Form der Négritude, die eher auf die Bewahrung afrikanischer Identität und Unabhängigkeit abzielte. Man spricht deshalb auch von der „Négritude der Wurzel“. Im Grunde war das ein essenzialistischer Ansatz, der das Afrikanische mit dem Gefühl verband und sich von der europäischen Ratio abgrenzte.

Césaire hingegen war bezogen auf die Karibik der Ansicht, die Menschen in den Kolonien hätten ihre Identität bereits durch die Sklaverei verloren. Somit war die Möglichkeit einer Rückbesinnung auf die Wurzeln obsolet. Césaires Négritude war auf die Zukunft gerichtet und äußerte sich in einer Bewegung die Veränderung anstrebte und war somit deutlich revolutionärer. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Senghor die Unabhängigkeit des Senegals erringen konnte, während Césaires Martinique französische Kolonie geblieben ist.

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