In revolutionärer Mission

In dem Prozess wegen des Überfalls auf die Kaserne von Moncada, äußerte der spätere Revolutionsführer Fidel Castro in seiner Verteidigungsrede erstmals öffentlich seine Vorstellungen über die Beziehungen eines revolutionären Kubas zum Rest der Welt: “Die Unterdrückten und Verfolgten dieser Erde sollen im Land Martís immer Asyl, Brüderlichkeit und Brot finden.“ Nach Übernahme der Macht im Jahr 1959 hatten die barbudos die Chance, den Worten Taten folgen zu lassen. Und so geschah es: angetrieben und inspiriert durch den leidenschaftlichen Internationalisten Che Guevara wurde die Solidarität mit der Dritten Welt Leitmotiv der kubanischen Außenpolitik. In den sechziger Jahren begann eine Epoche, in der revolutionäre Bewegungen und Regierungen in Asien, Afrika und Lateinamerika mit massiver Unterstützung aus Havanna rechnen konnten. Afrika, das sich im Prozess der Entkolonialisierung befand, wurde dabei als zentrales Schlachtfeld im Kampf für einen internationalen Sozialismus und gegen den Imperialismus ausgemacht.
Im Dezember 1964 hielt der damalige kubanische Industrieminister Guevara in New York eine Rede vor der UNO-Vollversammlung. Umfassend ging er auf die neokoloniale Intervention im Kongo und die Ermordung des Ministerpräsidenten und Revolutionärs Patrice Lumumba ein. „Alle freien Menschen auf der Welt müssen dazu beitragen, das Verbrechen im Kongo zu rächen“, apellierte er an die UN-Delegierten aus aller Welt.

Das wichtigste Schlachtfeld

Nach seiner Rede reiste er nach Algerien, wo zwei Jahre zuvor die Nationale Befreiungsfront FLN unter Ben Bella die Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht erkämpft hatte. Algerien war das erste afrikanische Land, welches von der Solidarität der neuen Machthaber in Kuba profitieren konnte. Bereits im Jahr 1960 war eine Hilfssendung mit Waffen und Medizin bei den Nordafrikanern eingegangen. In Algier traf sich Che mit der Witwe von Frantz Fanon, der mit seinem Buch Die Verdammten dieser Erde eine der theoretischen Grundlagen für den Befreiungskampf der Dritten Welt geschaffen hatte und bei afrikanischen Revolutionären großen Einfluss genoss. Während ihrer Unterhaltung ließ Che eine Bemerkung fallen, die auf seine geheimen „Pläne“ hindeutete. „Afrika stellt ein, wenn nicht sogar das wichtigste Schlachtfeld dar. Es liegen große Erfolgsmöglichkeiten in Afrika, aber auch viele Gefahren.“ In den darauffolgenden drei Monaten besuchte Che verschiedene Länder Afrikas. Dort traf er mit den führenden Vertretern der afrikanischen Befreiungsbewegungen zusammen, die teilweise bereits an die Macht gelangt waren, so wie Ben Bella in Algerien, Alphonse Massemba Debat in der Volksrepublik Kongo, Kwame Nkrumah in Ghana und Julius Nyerere in Tansania. Bei den Gesprächen ging es hauptsächlich um Möglichkeiten für die Unterstützung der jungen, unabhängigen Staaten durch Kuba. Die Reise ermöglichte ihm auch ein Treffen mit dem Führer der angolanischen Revolution, Agostinho Neto. Im Auftrag Castros bot er ihm die Entsendung kubanischer Guerilla-Ausbilder an und überreichte eine handsignierte Ausgabe seines Buches Der Guerilla-Krieg.
Während seines Aufenthaltes in Tansania traf er auch Laurent Kabila, der als Anführer der kongolesischen Volksbefreiungsarmee (Armeé Populaire de Libération) das Marionettenregime von Tchombé stürzen wollte, um so den Kampf des ermordeten Lumumba fortzusetzen.

Das afrikanische Vietnam

Als Che Guevara nach Kuba zurückkehrte, stand sein Entschluss bereits fest. Er wollte unbedingt in den Kongo zurückkehren, um den Aufbau einer Guerilla zu unterstützen. Da die politische Situation in seinem Heimatland Argentinien, wo die Diktatur durch eine zivile Regierung abgelöst worden war, und auch in anderen Ländern Lateinamerikas zu dieser Zeit keinerlei Anhaltspunkte für die Schaffung eines „revolutionären Fokus“ boten, fiel seine Wahl auf Afrika. Castro unterstützte ihn bei diesem Vorhaben. Nicht etwa weil er so begeistert von Ches revolutionärem Elan war, sondern weil er verhindern wollte, dass die Situation durch ein unbedachtes Abenteuer in Lateinamerika außer Kontrolle geraten würde. Che, der sich nicht unbedingt durch seine Fähigkeit zur rationalen Abschätzung von Gefahren und Erfolgsaussichten einer militärischen Operation auszeichnete, war nicht der Einzige, dem das damalige Zaire als eine günstige Wahl erschien. Die linke Regierung der benachbarten Volksrepublik Kongo in Brazzaville hatte Kuba um Hilfe gegen das reaktionäre Regime in Kinshasa gebeten. Es existierte bereits ein ausgedehntes Gebiet, das von der Guerilla kontrolliert wurde, Waffen waren durch massive chinesische und sowjetische Lieferungen keine Mangelware und die strategische Lage im Zentrum Afrikas hätte besser nicht sein können. Die Vorrausetzungen für ein „afrikanisches Vietnam“, wie es Che gerne nannte, waren scheinbar gegeben. Auch auf die Warnung des ägyptischen Präsidenten Nasser, als Weißer einen schwarzen Befreiungskampf anführen zu wollen, versuchte Che einzugehen. Der schwarze Revolutionsveteran Víctor Dreke wurde damit beauftragt, eine afrokubanische Kampftruppe zusammenzustellen und auszubilden. Dreke wurde auf Ches Wunsch auch der Anführer der hochgeheimen Operation, während sich der Initiator derselben mit dem dritten Rang in der Hierarchie begnügte. Daher rührte auch der Deckname von Che in Afrika: „Tatu” bedeutet „Drei“ auf Suaheli. Am 2. April 1965 begann die erste internationalistische Mission, die von Kuba ausging. Schnell mussten die Kubaner feststellen, dass die kongolesische Befreiungsbewegung sehr zerstritten war und es keine besondere Kampfbereitschaft seitens der einheimischen Bevölkerung gab. Zudem bekam es die Truppe, nachdem ihre Anwesenheit in Afrika bekannt geworden war, mit einer massiven Intervention der US-Regierung zu tun.

Hauptquartier der Rebellion

Nach der missglückten Operation im Kongo nahm Fidel Castro etwas Abstand von allzu waghalsigen militärischen Interventionen in anderen Ländern. Nichtsdestotrotz wurden in derselben Zeit tausende kubanische Freiwillige nach Guinea-Bissau geschickt, um dort die Befreiungsbewegung PAIGC (Partido Africano da Independência da Guiné e de Cabo Verde) durch Militär- und Zivilberatung zu unterstützen. Durch maßgebliches kubanisches Engagement konnte die PAIGC unter Amílcar Cabral große Teile des Landes erobern. Cabral wurde 1973 ermordet, der Sieg über die Kolonialmacht Portugal, das zu dieser Zeit vom faschistischen Diktator Salazar regiert wurde, war jedoch nicht mehr aufzuhalten: im Jahr 1974 wurde Guinea-Bissau unabhängig.
Kurz nach Ches Rückkehr aus Afrika tat Kuba einen weiteren entscheidenden Schritt hin zu einem Hauptquartier der internationalen Rebellion. Im Januar 1966 wurde in Havanna die „Erste Konferenz der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Völker“ eröffnet, die allgemein als die Trikontinentale bekannt ist. An der Konferenz nahmen 83 Delegationen aus den meisten Ländern der Dritten Welt teil, die als gemeinsamen Nenner die Opposition zum „Yankee-Imperialismus“ verband. Nicht ganz zu Unrecht wurde die Konferenz in einer US-Studie als „größtes Zusammentreffen pro-kommunistischer und anti-amerikanischer Kräfte in der Geschichte der westlichen Hemisphäre“ eingestuft. Die Passivität der Moskau-orientierten Kommunistischen Internationale wurde beklagt und für eine aktive Unterstützung aller Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt votiert. In der Abschlussresolution wurde mit breiter Mehrheit eine massive und sofortige Intensivierung der Guerillaaktivitäten in Asien, Afrika und Lateinamerika beschlossen. Die anwesenden Delegationen verpflichteten sich, den Kampf gegen jede Form von Diskriminierung und des Rassismus voranzutreiben und dementsprechend alle Aktionen gegen Apartheid und Segregation in Afrika und den USA zu unterstützen. Revolutionäre Gewalt wurde als Mittel zur Durchsetzung der gesteckten Ziele explizit befürwortet. Man setzte viele Hoffnungen in die radikale Schwarzenbewegung, die sich in den USA formierte, da man sich von ihr eine Destabilisierung des US-Imperialismus von innen versprach. Die Black Panther Party bezog sich neben Malcolm X auch auf Frantz Fanon und Che Guevara und ihre Thesen zur Revolution der kolonialisierten Völker. Die African Americans wurden als innere Kolonie definiert. So wurde der Bezug zu den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt geschaffen. Nach einem wahren Vernichtungsfeldzug des FBI stellte Kuba neben den unabhängigen Staaten Afrikas einen wichtigen Rückzugsort des Black Liberation Movement dar.
Während der schwarze Widerstand in den USA Anfang der siebziger Jahre gebrochen wurde, hatte Kuba die Phase, in der es um das Überleben der Revolution ging, überstanden und sich stabilisiert. Dies hatte zur Folge, dass man sich wieder verstärkt in Afrika engagierte. Man griff nun auf die von Che geknüpften Kontakte mit den afrikanischen Revolutionären zurück. Das Hauptaugenmerk Kubas verlagerte sich auf das südliche Afrika, denn dort befanden sich mit Rhodesien (das spätere Simbabwe), Mosambik, Angola, Südwest-Afrika (später Namibia) und dem Apartheid-Staat Südafrika die letzten Bastionen weißer Vorherrschaft auf dem Kontinent. Konkreter Anlass für die größte militärische Intervention in der Geschichte der kubanischen Fuerzas Armadas Revolucionarias (FAR) war ein Hilferuf Agostinho Netos, des Vorsitzenden der Volksbewegung für die Befreiung Angolas (MPLA). Im Januar 1975 hatte Neto ein Abkommen mit den beiden anderen Konfliktparteien in Angola verabschiedet: der Nationalen Befreiungsfront von Angola (FNLA), die vom Norden aus agierte, und vom Mobutu-Regime und den USA unterstützt wurde, und der UNITA (Nationalunion für die totale Unabhängigkeit Angolas), die ebenfalls durch die USA, sowie Südafrika massive Unterstützung erhielt. In dem Friedensabkommen von Alvor wurde ein Fahrplan bis zur Unabhängigkeit des Landes festgelegt, die Ende des selben Jahres begangen werden sollte. Kurz nach Ende der Verhandlungen starteten FNLA und UNITA eine gemeinsame Initiative, um die absehbare Machtübernahme der sozialistischen MPLA zu verhindern. Kuba sagte der marxistischen MPLA direkte Hilfe zu, da es Netos Ansicht teilte, dass es sich beim Kampf um Angola um eine entscheidende Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus handelte. Die Sowjetunion, über deren mangelnde Unterstützung sich Neto bitter beklagt hatte, betrachtete die MPLA und das kubanische Engagement mit unverhohlenem Misstrauen.
Im Oktober 1975, ein Monat vor der geplanten Machtübernahme der angolanischen Unabhängigkeitsbewegung griff die Armee des rassistischen Apartheidregimes Südafrika direkt in den Konflikt ein. Gemeinsam mit den Truppen der UNITA wurde vom Süden aus eine militärische Großoffensive gestartet, der die MPLA wenig entgegenzusetzen hatte. Das war der Moment, in dem Castro sich entschied, die Unterstützung der MPLA, die sich bis dahin auf Militärberater, Waffen und Ausbilder beschränkt hatte, um die massive Entsendung kubanischer Truppen zu erweitern. US-Präsident Ford und sein damaliger Staatssekretär Henry Kissinger, hatten stets behauptet, dass die kubanischen Truppen bereits vor der südafrikanischen Invasion in Angola gelandet seien.

Henrys Masterplan

Der US-Forscher Piero Gleijese hat nachgewiesen, dass beide bei der entsprechenden Befragung im Kongress gelogen hatten. In seinem neuesten Buch Conflicting Missions. Havanna, Washington, and Africa, 1959-1976, das auf kürzlich deklassifizierten Geheimdaten der CIA basiert, beweist Gleijese, dass Kissinger lange vor der südafrikanischen Invasion die entsprechenden Pläne kannte und diese finanziell und militärisch unterstützte. Kissinger hatte bereits ein Jahr zuvor eine seiner „covert actions“ in Angola gestartet, um eine Machtübernahme der MPLA zu verhindern. Die UNITA fungierte in Kissingers Masterplan als angolanische Befreiungsbewegung, die der Operation den Anstrich politischer Legitimation geben sollte. Die Machtübernahme einer komplett weißen Armee wäre wohl doch etwas schwer vermittelbar gewesen.
Doch was waren die Gründe für die militärische Intervention eines kleinen Inselstaates, der sich nicht unbedingt in der günstigsten Position befand, um sich in die Auseinandersetzung zweier Supermächte um die Weltherrschaft einzumischen? Die offizielle Version ist klar: proletarischer Internationalismus, Vereinigung der Welt unter dem Sozialismus, die selbstlose und bedingungslose Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen und progressiven Regierungen, wie es Che immer gefordert hatte.
Es gab aber auch weitaus pragmatischere Gründe für ein internationales Engagement Kubas. Kuba strebte eine Führungsrolle in der Dritten Welt an und wollte das Ende der totalen Moskau-Abhängigkeit einleiten. Man erhoffte sich eine Aufwertung zum gleichberechtigten Partner der Sowjetunion. Es ging also auch um globalen Einfluss und Autonomie. Innenpolitisch sollte die heroische Afrika-Mission das Nationalgefühl der Kubaner stärken und so interne Probleme vergessen machen. Was auch immer den Ausschlag für die Entscheidung Castros zur Entsendung der kubanischen Streitkräfte gegeben hat, wirtschaftliche Vorteile für Kuba ergaben sich daraus nicht. Ganz im Gegenteil, unter anderem als Folge des langen militärischen Engagements sank das wirtschaftliche Wachstum der Insel von 16,3 Prozent im Jahr 1976 auf 4,1 Prozent im Jahr 1980.
Die Motivation der Kubaner sich massenweise freiwillig für den Einsatz in Afrika zu melden ist vielschichtig. Öfter als von so manchem Skeptiker erwartet, werden „die revolutionäre Verpflichtung“ und der „Stolz auf die Rolle Kubas als Befreier des südlichen Afrika“ als Gründe angeführt. Andere, nicht weniger triftige Motivationen waren die „einmalige Chance, Kuba für einige Zeit zu verlassen“ und „die Aussicht auf gute Bezahlung und bevorzugte Behandlung nach der Rückkehr“.
Ein großer Verdienst des bereits erwähnten Buches Conflicting Missions ist es, mehr Licht auf die entscheidende Rolle geworfen zu haben, die Kuba bei der Befreiung des südlichen Afrika gespielt hat. Eine der großen Propagandalügen Washingtons bestand darin, Kuba als den verlängerten Arm Moskaus darzustellen. Gleijese zeigt anhand von kubanischen Dokumenten, dass die Unterstützung für die MPLA auf eigenes Risiko geschah. Erst nach der Unabhängigkeitserklärung und Machtergreifung der MPLA, die nur auf Grund der massiven militärischen Präsenz kubanischer Freiwilliger stattfinden konnte, begannen sich die Sowjetunion und andere Länder des sozialistischen Blocks verstärkt in Angola zu engagieren. Die DDR sandte 5000 Lkw´s und technisches Personal, um diese in Stand zu halten und Angolaner auszubilden.

Sieg in Cuito Canvale

Am 27. März 1976 konnten die vereinigten Truppen der MPLA und der FAR den Invasoren eine empfindliche Niederlage zufügen, die sie zum vorübergehenden Rückzug aus Angola zwang. In seiner Rede zum 15. Jahrestag der erfolgreichen Zurückschlagung der Schweinebucht-Invasion konnte Castro ein zweites, ein „afrikanisches Girón“ feiern. Und er zog eine weitere Verbindung: „Die, die vor 400 Jahren die Afrikaner versklavten, hätten wohl nie erwartet, dass eines der Völker, das zum großen Teil aus den Nachfahren dieser Sklaven besteht, nun seine Kämpfer nach Afrika schickt, damit sie dort für die Befreiung kämpfen.“ In dieser Zeit herrschte ununterbrochen Krieg, da die UNITA mit US-amerikanischer und südafrikanischer Unterstützung einen zermürbenden und blutigen Guerillakrieg gegen die sozialistische Regierung und die Zivilbevölkerung führte. Insgesamt kämpften in den 16 Jahren kubanischer Präsenz 300.000 Kubaner in Angola, von denen mehrere Tausend ihr Leben ließen. Eine genaue Zahl wurde von der kubanischen Regierung nie preisgegeben. Castro hatte den Abzug der Truppen an ein Ende der Apartheid in Südafrika und Unabhängigkeit für das völkerrechtswidrig von Südafrika besetzte Namibia, geknüpft. Ende 1987 bot sich die Chance, durch einen entscheidenden Sieg die Vorrausetzung für einen Rückzug ohne Gesichtsverlust zu schaffen. In der südangolanischen Stadt Cuito Canvale lieferten sich die vereinigten Streitkräfte der MPLA, der namibischen Befreiungsbewegung South Western People´s Organization (SWAPO) und der Kubaner eine monatelange Schlacht mit der südafrikanischen Armee und der UNITA. Zumindest politisch konnte die afrokubanische Allianz einen überwältigenden Sieg feiern, denn Südafrika musste sich erneut aus Angola zurückziehen.

Castro macht´s möglich

Für Kuba bedeutete der Sieg in Cuito Convale die Möglichkeit zum ehrvollen Abgang, der im Jahr 1991 nach einem Friedensvertrag mit dem Abzug der letzten verbliebenen Truppen vollendet wurde. In der Dritten Welt erreichte die Popularität Kubas auf Grund seines aufopferungsvollen Engagements ungekannte Ausmaße. Die Insel hatte in der internationalen Politik ein politisches Gewicht gewonnen, welches in keinem Verhältnis zu ihrer wahren Größe stand. Nach 1991 hatte Kuba Botschaften in 30 afrikanischen Ländern, mehr als jedes andere lateinamerikanische Land.
Die Niederlage der südafrikanischen Armee gilt als entscheidender Wendepunkt im Befreiungskampf des südlichen Afrika. Cuito Canvale erlaubte die Konsolidierung der MPLA in Angola, führte zur Unabhängigkeit Namibias von südafrikanischer Kolonialherrschaft und hatte weit reichende Auswirkungen auf die soziale Situation innerhalb Südafrikas. Das Apartheidregime wurde in seinen Grundfesten erschüttert, da die Niederlage gegen eine farbige Dritt-Welt-Armee das Selbstverständnis der white supremacists durcheinanderbrachte und die schwarze Bevölkerungsmehrheit ermutigte, die Unterdrücker herauszufordern. Die kurze Zeit später folgende Legalisierung des ANC, die Freilassung Nelson Mandelas im Jahr 1990 aus jahrzehntelanger Haft, und letztendlich das Ende der Apartheid nach den ersten freien Wahlen im Jahr 1994 werden von den meisten südafrikanischen Freiheitskämpfern als direkte Folgen des Sieges der antikolonialen Armee in Cuito Canvale angesehen. Bei der Amtseinführung des ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas wurde Fidel Castro von den versammelten Veteranen der afrikanischen Revolution überschwenglich gefeiert. Während Al Gore, der in Vertretung des „leider verhinderten“ Bill Clinton der Zeremonie beiwohnte, etwas verlassen in der Ecke stand, musste er zähneknirschend beobachten, wie Castro vom neuen Präsidenten Mandela innig umarmt wurde. Laut genug, so dass es alle im Raum verstehen konnten, flüsterte er dem Kubaner ins Ohr: „Du hast das möglich gemacht.“

Che Guevara im Kongo

Am Anfang stand die Dawa

Es ist fünf oder sechs Uhr morgens, als sie im Kongo an Land gehen, in der Nähe eines kleinen Dorfes namens Kibamba. Es gibt keine Anlegestelle, das Boot läuft auf Grund. Dreke erzählt: „Wir ließen nicht zu, dass Che als Erster ausstieg. Wir sprangen ins Wasser und schwammen ein paar Meter, bis wir festen Grund erreichten. Es nieselte. Wir mussten abwarten, was passierte. Es herrschten Unsicherheit und Spannung, wir hatten über die mögliche Gefahr eines Verrats gesprochen: Leute, die uns nicht kannten, eine Sprache, die wir nicht beherrschten, Angst vor einer versehentlichen Schießerei. Einer von ihnen rief von der Küste her nach uns. Chamaleso sagte: ‘Das Lager ist dort oben. ‘Timbea mindi mindi (es ist weit).’“
Die Kubaner beginnen den Bergrücken hinaufzusteigen, der sich 500 Meter vom Strand entfernt erhebt. Sie hören Kommandos. Endlich, im Halbdunkel des nahenden Morgengrauens, erscheint eine Gruppe von Kongolesen in gelben, von den Chinesen geliehenen Uniformen, und empfängt sie mit Parolen und Gesängen. Es wird das einzige Mal bleiben, dass die Kubaner in der kongolesischen Volksbefreiungsarmee (Armée Populaire de Libération) eine gewisse kriegerische Haltung vorfinden. Che notiert: Seltsame Soldaten mit einer guten Infanterieausrüstung, die sehr feierlich eine kleine Ehrengarde für uns abhielten.
Die Guerilla stellt Wachen außerhalb des Lagers auf, das sich mitten in einem dichten Urwald befindet. Sofort brechen zwei Expeditionen auf, die einen Umkreis von drei Kilometern erforschen. Che erleidet einen kleinen Asthma-Anfall. Es ist Zeit fürs Frühstück: Die Kongolesen bringen Maniok-Mehl, das sie in Wasser gekocht haben, Fleisch und Pfeffer; die Kubaner machen Dosen auf. Es kommt zum ersten gastronomischen Austausch, auch Zigaretten werden herumgereicht.
Mit Chamaleso, der von den Kubanern „Tremendo Punto“ getauft wurde, als Übersetzer von Französisch in Suaheli werden die Leute vorgestellt: Moja (Dreke), der Chef; Tatu (Che), Arzt und Übersetzer; M’bili (Martínez Tamayo), Adjutant und Sanitäter. Die Namen lösen ein Gelächter aus, es sind schließlich auf Suaheli Zahlen. (…)
Che berichtet von einem überraschenden Gespräch mit einem der kongolesischen Offfiziere: Oberstleutnant Lambert, sympathisch, in festlicher Stimmung, erklärte mir, dass die Flugzeuge für sie keine Bedeutung hätten, weil sie die Dawa besäßen, ein Heilmittel, das gegen Kugeln unverwundbar mache. „Auf mich haben sie mehrmals geschossen und die Kugeln fielen kraftlos auf die Erde.“
Bald wurde mir klar, dass dies ernst gemeint war. Diese Dawa richtete ziemlich viel Schaden bei der militärischen Ausbildung an. Das Prinzip ist folgendes: Der Kämpfer wird mit einer Flüssigkeit, in der Kräutersäfte und andere Zauberstoffe aufgelöst wurden, übergossen. Dann werden einige kabbalistische Zeichen über ihm und fast immer eine Kohlemarkierung auf seine Stirn gemacht; nun ist er gegen jede Art feindlicher Waffen geschützt (wenn dies auch von der Macht des Medizinmanns abhängt), aber er darf keinen Gegenstand anfassen, der ihm nicht gehört, auch keine Frau, und keine Angst verspüren, weil er sonst den Schutz verliert. Die Lösung für jedes Versagen ist einfach: Ein toter Mann ist ein Mann, der Angst hatte, ein Mann, der gestohlen hatte oder ein Mann, der mit einer Frau schlief; ein verletzter Mann ist ein Mann, der Angst hatte. Da Angst die Kriegsaktionen begleitet, war es für die Kämpfer sehr einfach, die Verwundung der Angst zuzuschreiben, das heißt dem mangelden Glauben. Und die Toten können nicht reden; man kann sie aller drei Vergehen beschuldigen.
Der Glaube ist so stark, dass niemand in den Kampf geht, ohne sich der Dawa zu unterziehen. Ich habe immer befürchtet, dass sich dieser Aberglaube gegen uns richten wird und dass sie uns die Schuld für jede verlorene Schlacht geben werden, in der es viele Tote gibt. Ich habe mehrmals mit verschiedenen Verantwortlichen das Gespräch gesucht, um zu versuchen, Überzeugungsarbeit dagegen zu leisten. Es war unmöglich; die Dawa ist eine Äußerung des Glaubens. Die politisch am weitesten Entwickelten sagen, dass dies eine natürliche, materielle Kraft sei und dass sie als dialektische Materialisten die Kraft der Dawa anerkennen, deren Geheimnisse die Medizinmänner des Urwalds beherrschen. (…)

Zweifel an der Mission

Am 12. August 1965 schreibt Che eine „Botschaft an die Kämpfer“, in der er unter anderem anführt: Wir können nicht sagen, dass die Situation gut ist: Die Führer der Bewegung verbringen die meiste Zeit außerhalb des Landes (…), die Organisationsarbeit ist gleich Null, da die mittleren Kader nicht arbeiten, vielmehr gar nicht wissen, wie das geht, und alle misstrauen ihnen (…). Die Disziplinlosigkeit und die mangelnde Opferbereitschaft sind die herrschenden Merkmale dieser Guerilla. Natürlich lässt sich mit diesen Truppen kein Krieg gewinnen.
Che fragt sich, ob die Anwesenheit der kubanischen Kolonne positiv ist, was er bejaht, da die Schwierigkeiten von den großen Unterschieden herrühren. Dies muss in etwas Nützliches verwandelt werden.
Er wiederholt: Unser Auftrag ist es, den Krieg gewinnen zu helfen. Wir müssen mit unserem Beispiel die Unterschiede aufzeigen, aber ohne uns bei den Kadern verhasst zu machen (…). Revolutionäre Kameradschaft in der Basis (…). Im Allgemeinen haben wir mehr Kleidung und mehr Essen als die hiesigen Kameraden; wir müssen sie so weit wie möglich teilen, und zwar gezielt mit den Kameraden, die ihren revolutionären Charakter zeigen.
In uns muss der Wille vorherrschen, etwas zu vermitteln, aber nicht pedantisch von oben herab auf die Unwissenden, sondern mit menschlicher Wärme, die in den Unterricht einfließt. Die revolutionäre Bescheidenheit muss der Leitfaden unserer politischen Arbeit und zusammen mit der Opferbereitschaft eine unserer Hauptwaffen sein, nicht nur als Beispiel für die kongolesischen Kameraden, sondern auch für die schwächsten von uns. (…)

Die Niederlage als Zwischenschritt zum nächsten Kampf

Während sie warten, trifft sich Che noch einmal mit Masengo, um die Evakuierung zu organisieren. In der Nacht nimmt eine Barkasse die ersten Kongolesen mit. Für mich war es eine entscheidene Situation; zwei Männer (…) würden wir zurücklassen müssen, wenn sie nicht innerhalb weniger Stunden auftauchten; sobald wir gegangen wären, würde sich eine Flut von Verleumdungen innerhalb und außerhalb des Kongos über uns ergießen. Meine Truppe war ein heterogenes Konglomerat, nach meinen Erkundungen konnte ich bis zu zwanzig Leute auswählen, die mir, so wie die Dinge lagen, mit mürrischem Blick folgen würden. Und was sollte ich dann tun? Alle Führer zogen sich zurück und die Bauern waren uns zunehmend feindlich gesinnt. Aber es schmerzte mich zutiefst, das Feld komplett zu räumen und wegzugehen, wie wir gekommen waren, die Bauern dort ohne Verteidigung zurückzulassen, genauso wie die zwar bewaffneten, aber aufgrund ihrer geringen Kampfkraft hilflosen Männer, die besiegt waren und sich verraten gefühlt hätten.
Für mich war es kein Opfer, im Kongo zu bleiben, nicht ein Jahr und auch nicht die fünf Jahre, mit denen wir unsere Leute in Schrecken versetzt hatten. Es war Teil einer Vorstellung vom Kampf, die völlig in meinem Kopf verwurzelt war. Ich konnte bestenfalls damit rechnen, dass mich sechs bis acht Männer ohne finstere Miene begleiteten, der Rest würde es aus Pflichtgefühl tun, einige aus persönlicher Verpflichtung mir gegenüber, andere aus moralischer Verpflichtung gegenüber der Revolution, und ich würde Leute opfern, die nicht mit voller Begeisterung kämpfen könnten.
In Wirklichkeit ging mir der Gedanke hier zu bleiben bis in die letzten Stunden dieser Nacht durch den Kopf, und vielleicht habe ich auch nie eine Entscheidung getroffen, sondern bin wie die anderen auch einfach geflohen.
Fernández Mell erinnert sich, dass Che darauf bestand dazubleiben, und wenn ihn die von der Kongolesischen Befreiungsbewegung nicht gezwungen hätten zu gehen, wäre er auch geblieben.(…)
Unser Rückzug war eine reine Flucht und, schlimmer noch, wir waren mitschuldig am Betrug, durch den die Leute am Ufer zurückblieben. Andererseits, wer war ich jetzt? Ich hatte den Eindruck, dass meine Kameraden mich nach meinem Abschiedsbrief an Fidel als einen Mann aus anderen Breiten ansahen, als jemanden, der von den konkreten Problemen Kubas weit entfernt war, und ich wagte es daher nicht, von ihnen das letzte Opfer zu fordern, hier zu bleiben. So verbrachte ich die letzten Stunden einsam und ratlos.
Gegen 2 Uhr morgens tauchen die drei Boote von Lawton auf, angekündigt durch bengalische Feuer und ein Bombardement. Als Erstes wird auf einem der Boote eine Kanone montiert. Ich legte die Abfahrtszeit auf 3 Uhr fest; um halb sechs würde es hell sein und wir hätten schon die Hälfte des Sees hinter uns gebracht. Die Evakuierung begann; zuerst gingen die Kranken an Bord, dann der gesamte Generalstab von Masengo, vierzig Leute, die er ausgesucht hatte, schließlich alle Kubaner und dann begann eine schmerzhafte, klägliche und unrühmliche Szene. Ich musste Menschen zurückweisen, die flehentlich darum baten, mitgenommen zu werden. Dieser Rückzug hatte nichts Erhabenes, nichts Rebellisches. (…)
In diesen letzten Stunden im Kongo fühlte ich mich so einsam, wie ich es nie zuvor gewesen war, weder in Kuba noch an irgendeinem anderen Ort meiner Pilgerfahrt durch die Welt.
Gegen 7 Uhr morgens, als schon die Häuser von Kigoma zu sehen sind, nähert sich ein kleines Boot. Che spricht von dort aus zu den Kubanern. Nach Darstellung Drekes sagt er: Kameraden, aus Gründen, die euch bekannt sind, ist der Augenblick der Trennung gekommen. Ich werde nicht mit euch an Land gehen. Wir müssen jede Art von Provokation vermeiden. Dieser Kampf, den wir geführt haben, war eine große Erfahrung. Ich hoffe trotz aller Schwierigkeiten, die wir überwinden mussten, dass, wenn eines Tages Fidel euch eine weitere Mission dieser Art vorschlägt, einige von euch „Hier“ sagen werden. Ich hoffe auch, dass, wenn ihr rechtzeitig zum 24. zurückkommt und das von einigen so herbeigesehnte Spanferkel essen werdet, ihr euch an dieses einfache Volk und an die Kameraden erinnern werdet, die wir im Kongo zurückgelassen haben. Man ist nur Revolutionär, wenn man bereit ist, alle Bequemlichkeiten hinter sich zu lassen, um in ein anderes Land zum Kampf zu gehen. Vielleicht sehen wir uns in Kuba oder anderswo auf der Welt.

Aus: Paco Ignacio Taibo II: Che. Die Biographie des Ernesto Guevara. Edition Nautilus, Hamburg 1997, 701 Seiten, 34,80 Euro.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus.

Respekt statt Mitleid!

Wie ist die Situation der AfrouruguayerInnen heute und wie war sie in der Vergangenheit?

Wir glauben, dass zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit keine klare Trennlinie gezogen werden kann. Der Anspruch Uruguays, eine egalitäre Gesellschaft zu sein, wird von uns in Frage gestellt. Heute ist durch unsere Arbeit allgemein bekannt, dass es in Uruguay Rassismus gibt. Dies äußert sich vor allem in der mangelnden Beteiligung der schwarzen Gemeinde an politischen Entscheidungsprozessen. Es gibt jedoch gegenwärtig politische Strömungen, die die afrouruguayische Gemeinde unterstützen und im sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich andere Impulse setzen. Das ist ein Ergebnis unserer Anstrengungen für eine neue Wahrnehmung in der uruguayischen Gesellschaft.
Mundo Afro hat inzwischen zahlreiche Anzeigen eingereicht, in denen rassistische Vorfälle denunziert wurden. Ausgehend von diesen Anzeigen werden Studien, Forschungen und Berichte für internationale Organisationen erarbeitet. Das Internationale Komitee der UNO gegen Diskriminierung, das im August 1999 unseren Bericht erhielt, bestätigte kurz darauf, dass in Uruguay eine eindeutige Situation des Rassismus und der Diskriminierung im Hinblick auf die afrikanischen und indigenen Gemeinden herrscht. Dabei wurde dem uruguayischen Staat empfohlen, geeignete Mittel für die Beseitigung dieses Zustandes in Angriff zu nehmen. In dem Bericht werden besonders Verbesserungen im Bildungsbereich und bezüglich der doppelten Diskriminierung der Frauen angemahnt

Wie entstand die Organisation Mundo Afro?

1988 gründeten wir eine Zeitschrift mit dem Namen Mundo Afro. Bald darauf entstand eine Nichtregierungsorganisation mit dem selben Namen. Mundo Afro ist die erste Organisation von AfroamerikanerInnen in Uruguay. Wir wollten nicht das Mitleid, sondern den Respekt der uruguayischen Gesellschaft. Wir haben ein Entwicklungsprogramm entworfen, dessen verschiedene Bereiche bis heute miteinander verknüpft werden. Vor allem beschäftigen wir uns mit den Themen Gender, Jugendliche, Ausbildung und Forschung, erarbeiten Publikationen und Berichte, und nehmen an nationalen, regionalen und internationalen Konferenzen und Aktionen teil. Durch diese Aktivitäten möchten wir die Gemeinde von Menschen afrikanischer Herkunft in der Gesellschaft sichtbar machen. Außerdem findet ein Austausch mit den verschiedenen schwarzen Organisationen Lateinamerikas und der Karibik statt.

Worin besteht die Arbeit der Organisation ?

Eigentlich wird in verschiedenen Bereichen gearbeitet, die sich gegenseitig stützen. Das dringendste Problem ist natürlich der Rassismus, der in Uruguay genauso wie in anderen sogenannten „multirassischen Gesellschaften“ existiert. Rassistische Diskriminierung findet unter anderem im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz statt. Der brutalste Rassismus besteht aber unserer Ansicht nach darin, in einer Gesellschaft aufgewachsen zu sein, die immer so tat, als wären wir alle gleich und als gäbe es keine Unterschiede zwischen den Ethnien. Die schwierigste Aufgabe war, das Gegenteil zu beweisen und ein Problembewusstsein zu schaffen.
Momentan ist das Projekt SOS RACISMO für uns von großer Bedeutung. Diese Arbeit hat zum Ziel, antidiskriminatorische und antirassistische Gesetze zu erarbeiten, um sie in die Gesetzgebung einzubringen oder im Fall, dass sie schon existieren, auf ihre richtige Anwendung zu prüfen. Wir koordinieren uns auch mit den verschiedenen Gruppen von SOS RACISMO der Region (Brasilien, Paraguay, Argentinien). Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Annahme von Anzeigen wegen rassistischer und diskriminierender Handlungen. Heute trauen sich viel mehr Menschen Anzeige zu erstatten, da sie wissen, dass es einen Ort gibt, wo sie beraten werden und von dem aus rechtliche Schritte eingeleitet werden. Es gab Anzeigen wegen rassistischer Erfahrungen in öffentlichen Transportmitteln, auf öffentlichen Plätzen, am Arbeitsplatz und anderswo. Dieser Dienst wurde auch damit beauftragt, AfrikanerInnen, die in letzter Zeit verstärkt nach Uruguay kommen, Schutz und Unterstützung zu bieten, da diese unter schlimmen Bedingungen leiden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Arbeit ist der Dialog mit staatlichen Institutionen, wie zum Beispiel mit dem Nationalen Institut für Statistik. Mit großem Aufwand haben wir erreicht, dass die Kategorie ‘Ethnie’ in die regelmäßig stattfindenden Haushaltsbefragungen mit einbezogen wurde, was sehr aufschlussreiche Zahlen für die Erarbeitung unserer Forderungen im Bereich Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheit ergab. In all diesen Bereichen ist klar eine Benachteiligung unserer Gemeinde gegenüber der weißen Bevölkerung zu konstatieren. Die Zahlen bestätigten unsere Untersuchungen, nach denen die AfrouruguayerInnen knapp sechs Prozent (184.000 Personen) der Gesamtbevölkerung ausmachen. 50 Prozent der schwarzen Frauen arbeiten in häuslichen Diensten. 1977 wurde auf Initiative der Grupo de Apoyo a la Mujer Afro – eine Gruppe, die inzwischen Teil von Mundo Afro ist – eine Untersuchung der sozioökonomischen Situation der Frauen gemacht. Die Veröffentlichung der Ergebnisse stellte einen weitereren Durchbruch für einen Dialog mit den staatlichen Behörden dar. Darüber hinaus gehört das Thema Ausbildung zu einem wichtigen Bestandteil der Organisation in der afrouruguayischen Gemeinde. Seit März 2000 arbeitet in diesem Sinne das Instituto Superior de Formación Afro und bringt einmal im Jahr mehr als 60 schwarze Jugendliche aus ganz Lateinamerika zusammen, um neue Führungskräfte zu formen und Beiträge für die lateinamerikanischen und karibischen Organisationen zu leisten.

Worin besteht die Arbeit des Projektes UFAMA AL SUR?

Neben unserem Abkommen mit der Stadtverwaltung von Montevideo, durch das wir aktiv die Kulturpolitik mitgestalten können, ist das Projekt UFAMA AL SUR einer unser großen Erfolge. Die Organisation Grupo de Apoyo a la Mujer Afro kritisierte öffentlich die prekäre Wohnsituation vieler schwarzer UruguayerInnen, um ein entsprechendes Programm zur Verbesserung der Lage in Gang zu bringen. So begannen 1997 die Verhandlungen mit dem Ministerium für Wohnungsbau, Infrastruktur und Umwelt. Nach der Zusage des Ministeriums für eine Unterstützung des Projektes, begannen die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung von Montevideo. Es ging darum, ein Grundstück im Barrio Sur zu finden, dem Viertel der Hauptstadt, in dem ein Großteil der AfrouruguayerInnen lebt. Nach vielen Verhandlungen kam mit der Unterstützung des Ministers für Wohnungsbau ein Programm zustande, welches die Sanierung und Finanzierung von 36 Wohnungen für weibliche Familienoberhäupter vorsieht. Die Stadtverwaltung übergab das vorgesehene Grundstück zu einem symbolischen Kaufpreis.
Abgesehen vom sozialen Wohnungsbau hat das Projekt die Förderung der sozialen Entwicklung im Barrio Sur zum Ziel. Dabei geht es auch darum, einen Raum zurück zu erobern, in dem traditionell viele AfrouruguayerInnen lebten und aus dem während der Militärdiktatur ein bedeutender Teil von uns vertrieben wurde.

Wie war die Situation der AfrouruguayerInnen unter der Militärdiktatur ?

Die ohnehin prekäre Situation der AfrouruguayerInnen verschlimmerte sich während der Diktatur. Viele Mitglieder der schwarzen Gemeinde emigrierten nach Argentinien, wo sie ähnlich schwierige Umstände vorfanden. Die bereits erwähnte massive Vertreibung aus dem Ansina-Viertel war einer der schwersten Schläge gegen die afrouruguayische Kultur und das kommunale Leben, denn damit begann die Umsiedlung der BewohnerInnen in sehr unwirtliche Orte, in denen unmenschliche Bedingungen herrschten. Der Widerstand gegen die Vertreibung in Ansina, der zwei Tage anhielt und an dem sich das ganze Viertel beteiligte, war ein wichtiger Wegweiser für den Kampf der AfrouruguayerInnen. Leider wurden die Ereignisse in Ansina vom Rest der Gesellschaft überhaupt nicht wahrgenommen. Mundo Afro engagiert sich übrigens auch in den Initiativen zur Aufarbeitung der Militärdiktatur.

Besteht eine besondere Nähe zur linken Partei Frente Amplio?

Es gibt im Zusammenhang mit der Unterbreitung unserer Vorschläge einen Dialog mit der Frente Amplio, der aber auch mit den anderen Parteien existiert. So hat sich in der Vorphase zu der internationalen Konferenz gegen Rassismus in Durban eine ad hoc-Kommission gebildet, in der Parlamentsabgeordnete und Repräsentanten von Mundo Afro vertreten waren. Dort brachten wir Vorschläge ein, durch die der Versuch unternommen wurde, alle vier Parteien zum Handeln zu verpflichten. Mundo Afro als Organisation greift zwar generell nicht aktiv in den Parteienwettstreit ein, aber die meisten unserer Mitglieder sind aktive Unterstützer des Frente Amplio.

Was kannst du mir zum Netzwerk der afroamerikanischen Organisationen und zum Austausch mit den anderen lateinamerikanischen Ländern im allgemeinen sagen?

Das Organisationsnetzwerk ist Ergebnis des ersten Treffens zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung – ein Entwicklungsprogramm für Menschen afrikanischer Herkunft. Zu diesem Treffen kamen im Dezember 1994 mehr als 80 Delegierte Lateinamerikas und der Karibik in Uruguay zusammen. Der Aufbau des Netzwerkes bedeutete einen großen Fortschritt für den Informationsaustausch der verschiedenen Organisationen. Der Aufbau des Instituto Superior de Formación Afro war eine der Errungenschaften dieses Treffens.
Seit Oktober 2000 wurde als Teil des Netzwerkes die so genannte Alianza Estratégica de las Organizaciones Afrodescendientes de las Américas y el Caribe gegründet, die die Arbeit vor und nach der Konferenz von Durban koordinieren sollte. Die Allianz konnte sich auf der amerikanischen Vorkonferenz zu Durban in Chile im Jahr 2000 artikulieren. Dort brachte sie Anträge ein, die im Aktionsplan enthalten sind und in die abschließende Deklaration aufgenommen wurden. Außerdem fand eine Koordination mit den verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft in den einzelnen Ländern statt. Nun geht es darum, für die Umsetzung einer Politik zu kämpfen, die die afroamerikanische Gemeinschaft fördert.

Bestehen Kontakte nach Afrika ?

Mit dem Programm SUR-SUR sollte der Austausch von Informationen, Erfahrungen und im kulturellen Bereich verbessert werden. Auf Grund mangelnder Mittel konnte das aber leider nicht intensiviert werden. In der Vorkonferenz zu Durban, die im Mai 2001 in Genf stattfand und in Durban selbst konnten jedoch neue Kontakte geknüpft werden.

Interview: Matti Steinitz
Übersetzung: Tanja Rother

Der Geschmack des schwarzen Salzes

Einer von ihnen, eine Unaufmerksamkeit der Galeerensträflinge ausnutzend, wendet seine Seele zum Meer, er springt hinein. Ein anderer ist abgestumpft, sein Leib hat Wiese Fluss Feuer verloren. Einer stirbt in seinem Dung, den er im allgemeinen Gestank verzehrte. Einer hier weiss, dass seine Frau in der Nähe angekettet ist: er sieht sie nicht, hört nur wie sie schwächer wird. Und Einer weiss, seine Frau ist dort drüben an das Holz eines Sklavenschiffs gefesselt – er sieht sie nicht, hört aber, wie es ablegt. Einem anderen hat der Gurt eine Rippe gebrochen, aber der Matrose wird bestraft, dass er nicht sorgsamer mit der Beute umging. Und Einer wird auf die Brücke geführt, einmal pro Woche, damit die Beine nicht verfaulen. Einer will nicht laufen, schon unbeweglich in seinem Tod, sie lassen ihn auf dem Feuerblech tanzen. Einer wartet, bis er vergeht, er weigert sich das in Salzwasser getauchte Brot zu essen: aber sie bieten ihm dieses Brot oder rotglühendes Eisen an, er kann wählen. Einer endlich verschluckt schließlich seine Zunge, erstickt reglos in seinem roten Geifer. All das wird mit einem gelehrten Namen benannt, den ich nicht mehr erinnere, aber von dem die Tiefen des Meers seit jener Zeit Kenntnis haben, ohne Zweifel.“ (Aus: „Der Sklavenhandel“)
So beschreibt der Dichter und Romancier Édouard Glissant die Überfahrt der gefangenen afrikanischen Sklaven auf dem Schiff nach Amerika. Die Erfahrung der sogenannten Middle Passage ist grundlegend für weite Teile der Bevölkerung Lateinamerikas und in besonderem Maße für den karibischen Raum, wo Édouard Glissants 1928 auf der Insel Martinique geboren wurde.
Schwarzes Salz heißt die Auswahl aus seinen poetischen Werken von 1947 bis 1991, die kürzlich im Wunderhorn Verlag in einer zweisprachigen Ausgabe auf französisch und deutsch erschien.

Wirkliches Land

Schon der Titel deutet auf die Thematik hin: in dem Oxymoron schwingt das schwarze Drama der Afrikaner mit, die in die Diaspora verschleppt wurden. Ein weiteres Thema ist die creolité, das Zusammentreffen verschiedener Kulturen, die Kontaktzone, in der diese Kulturen aufeinander prallen, sich vermischen, und trotzdem niemals ganz zu einer Einheit werden.
Vor allem in seinen frühen Gedichten konzentriert sich Glissant auf seine Heimat Martinique, die als Teil der Karibik zu einem geographischen Raum gehört, der seit Jahrhunderten fremd bestimmt ist.
Im Laufe der Kolonialisierung durch Frankreich wurde die ursprüngliche indigene Bevölkerung auf Martinique fast vollständig vernichtet. Um Zuckerrohr in großem Stil anzubauen, importierte Frankreich im 17. Jahrhundert afrikanische Sklaven, die dann in Plantagenwirtschaft für die weiße Pflanzeraristokratie arbeiteten. Auf den karibischen Inseln war das System der Sklaverei besonders hart. Die aufgebrochene Inselkette war leicht zu beherrschendes Gebiet, und es gab für die Sklaven kaum Möglichkeiten, außerhalb der Plantagen zu überleben oder den Inseln zu entfliehen. Man konnte nur als Herr oder als Diener existieren.
Die heutige Gesellschaft von Martinique setzt sich aus den Nachkommen afrikanischer Sklaven zusammen. Glissant beschreibt den charakteristischen Raum seiner Insel, mit ihren Vulkanen, der tropischen Pflanzenwelt und dem alles umgebenden Meer. Literarisch erforscht er die Geschichte des Landes und der Menschen von Martinique. Immer wieder taucht in seiner Poesie das Motiv der Frau auf, der Gewalt angetan wird. Sie erscheint als Sinnbild für die kolonisierte Insel und für eine Zivilisation von Ausgesiedelten.

Geträumtes Land

Durch die Verschleppung und Sklaverei wurde die entwurzelte Gesellschaft praktisch ihrer Geschichte beraubt. Alles was von der ursprünglichen Kultur übrig blieb, sind die oralen Überlieferungen von Afrika. Glissant bearbeitet diese Mythen, allerdings immer im karibischen Kontext. Er erfindet sie neu, auf der Suche nach einer kreolischen, oder noch genauer, einer antillischen Identität. In seinen Gedichten ist Afrika niemals der Kontinent, zu dem man eventuell zurückkehren könnte. „Ich sah die ferne Erde, mein Licht.“, schreibt er. „aber sie gehört nur denen, die sie fruchtbar machen; in mir, nicht mich in ihr.“ Der Kontinent gleicht einer wunderbaren Frau, begehrt und verehrt, aber niemals erreichbar. Afrika ist Teil einer traumhafte Erinnerung an die Vergangenheit und mythisches Herkunftsland der Kulturwelt und des Imaginären der Antillen.

Sprache als Widerstand

Glissants Gedichte sind nicht leicht zu lesen. Der Martiniquaner steht in der Tradition mündlicher Berichte und erzählter Poesie, wie sie auch heute noch auf den Antillen gebräuchlich ist. Seine Sprache ist voller Metaphern, oft paradox und mysteriös. Seinen konnotativen, symbolbeladenen Stil nennt Glissant selbst sehr treffend „barock“ oder „opaque“ (dunkel). Frantz Fanon, Autor von Peau noire masques blancs (Schwarze Haut Weiße Masken), der 1925 ebenfalls auf Martinique geboren wurde, stellte fest, dass die Kolonisierung auch die Denkstrukturen und damit die Sprache der Kolonisierten unterwerfe, ein System, das selbst nach der Entkolonisierung weiter wirke. Obwohl die befreiten Menschen versuchen, sich von ihrer kolonialen Vergangenheit zu lösen, werden sie doch immer wieder auf diesen Bezugspunkt zurückgeworfen. Sich eben von dieser kolonisierenden Sprache zu befreien, ist das Anliegen Glissants. Er benutzt das kontinentale Französisch der ehemaligen Herren, weitet es aber aus und verändert es, in dem Versuch eine neue Sprache zu erfinden, um die Welt zu benennen. Die Sprache wird umdefiniert, Normen und Regeln werden gesprengt, Worte werden in einen anderen Zusammenhang gestellt, mit neuen, eigenen Bedeutungen gefüllt. Gerade deshalb wird er als charakterisiert er sich zum postkolonialen Dichter, und so erklärt sich seine vielfältige Rezeption unter den KulturwissenschaftlerInnen.
Als charakteristisch für die Karibik sieht Glissant eine „Abwesenheit von Essenz“ verursacht durch die frühe Ausrottung der Indigenen, durch den kompletten Austausch der Bevölkerung in der Welt des Plantagensystems und die daraus entstehende kreolische Kultur. Diese Konstellation prädestinierte den karibischen Raum als Projektionsfläche und Fantasietheater für Sehnsüchte und Abenteuerlust der alten Welt. So entstanden Klischees wie zum Beispiel das der paradiesischen Inseln mit unzivilisierten und deshalb unschuldigen BewohnerInnen oder die Vorstellung vom lasziven Leben in einer wilden Naturlandschaft, die man heute noch in jedem Reiseprospekt wiederfindet. Andererseits entstanden auch Stereotypen wie der Wilde, dem Kultur und Religion zu seinem eigenen Besten erst nahe gebracht werden müssen, wie beispielsweise dem armen Feitag aus Defoes Robinson Crusoe. Solchen, dem karibischen Raum aufgesetzten Bildern, versucht Edouard Glissant etwas entgegenzusetzen, wie auch viele andere Schriftsteller aus der ehemals kolonisierten Welt. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand, aus einem Land heraus zu schreiben, dessen Bevölkerung praktisch ihrer kollektiven Erinnerung, ihrer Geschichte beraubt wurde, und zudem bis heute von Frankreich abhängig ist. Und so zieht sich als Thema das Ringen um die Rede und die Möglichkeit des Sprechens durch Glissants Werk. Immer wieder geht es um die Suche nach Sprache als Träger von Identität

Négritude und antillanité

Aimé Césaire, der große Dichter und Politiker, ebenfalls auf Martinique geboren, beschrieb in seiner Poesie schwarzes Selbstbewusstsein. Mit der négritude entwickelte er einen Weg, die eigene schwarze Identität zu definieren und vor allem zu schätzen. In einer Neu- und Aufwertung der afrikanischen Kultur, stellte er das gemeinsame Erbe der Schwarzen auf der ganzen Welt heraus, sowohl der Nachkommen der Sklaven in der Diaspora, als auch der kolonisierten und ausgebeuteten AfrikanerInnen. Die négritude war sehr prägend für viele martiniquanische DichterInnen und SchriftstellerInnen. Doch Édouard Glissant ging schon recht früh einen eigenen Weg. Zwar unterstützte er als Student noch aktiv den politischen Wahlkampf Cesairs, doch als sich dieser in den 40er Jahren für den Anschluss Martiniques als Department an Frankreich aussprach, distanzierte sich Glissant von ihm. Fast wie ein Gegenkonzept zur négritude, die sich stark auf die Hautfarbe konzentrierte, entwickelte er in seiner Poesie, wie auch in seinen Romanen und theoretischen Essays eine antillanité, indem er versuchte eine kreolische Identität zu konstruieren, die sich speziell auf die Antillen bezieht.

Das große Chaos

Die letzten Seiten von Schwarzes Salz sind nicht mehr nur Martinique sondern, im Vergleich dazu, der Welt im Zeitalter der Globalisierung gewidmet. Unter den heutigen Lebensbedingungen, mit ständig steigendem Chaosgrad, sieht Glissant eine Wiederhohlung des Chaos aus der Welt der Plantage. Glissant thematisiert die ökonomisch bedingten Migrationen und den daraus folgenden Zusammenprall der Kulturen und der „auf Irrfahrten gesammelten Wörter“. Die Helden seiner letzten Gedichte sind die Obdachlosen aus den Peripherien, die ausgestoßen an den Rändern der Metropolen leben, und gezwungen sind, sich an stetig verschlechternde Lebensbedingungen anzupassen. Im kleinen Zusammenhang der Insel, wie im globalen Ausblick untersucht Glissant chaotische Entwicklungen und Splitterwelten.
Selbst seine Rolle als Dichter definiert Glissant über das Chaos, was dem Leser seiner Gedichte auch durchaus nicht verborgen bleibt: „Was ich feststellen möchte, ist nachgerade eine Notwendigkeit des Chaos beim Schreiben in einer Zeit, in der Chaos das Sein ganz ist.“

Édouard Glissant: Schwarzes Salz, Wunderhorn Verlag, Heidelberg, 2002, 135 Seiten, 19,90 Euro

Die Schattenseiten des Lichts

Am späten Nachmittag haben es die BesucherInnen der Documenta11 geschafft: Erschöpft und mit angestrengten Gesichtern lassen sie sich nach der Besichtigung der Ausstellung auf dem Rasen der Orangerie nieder. „Viel zu viel Video“, sagt eine junge Frau. Die anderen stimmen zu. Doch bekommt man den Eindruck, die BesucherInnen der Documenta hätten diese Videolastigkeit vorausgeahnt. Sie kontern mit ebenso modernen Waffen: Statt Fotoapparaten haben viele von ihnen Digitalkameras dabei. Damit filmen sie die zahlreichen Leinwände, Computermonitore und Projektionen ab und versuchen die ausufernden Rauminstallationen in wackligen Kameraschwenks zu erfassen.
Medien-Kunstwerke werden so mit einem weiteren Medium abgebildet. Es findet keine Übersetzung, eher ein Überspielen, ein digitaler Scannvorgang statt, um die Kluft zwischen Betrachter und künstlerischen Artefakten zu überwinden. Der Pekinger Künstler Feng Mengbo greift dem vor, indem er sich selbst digitalisiert. In einem von ihm programmierten „Ballerspiel“ schwebt er für alle Ewigkeit im virtuellen Raum und pariert die Angriffe der interagierenden BetrachterInnen.
Die meisten Installationen der Documenta11 enthalten Videoelemente. In der Malerei setzen sich die KünstlerInnen selten direkt mit einem Gegenstand, sondern mit Fotovorlagen auseinander und bedienen sich fotografischer Techniken. Der argentinische Maler Fabián Marcaccio generiert am Computer riesige Collagen aus Mustern, abstrakten Malereien und Fotos von Kriegs- und Fluchtszenen. Er spannt sie wie eine Fototapete auf, übermalt und überklebt sie. So entsteht der Eindruck einer doppelten Collage, einer digitalen und analogen Schichtung heterogener Materialien.

Das Zeitalter des Lichts

Auch wenn auf den ersten Blick die Medien Video und Fotografie dominieren, steht das Medium Licht im Zentrum der Ausstellung. Aber was sind Fotografien anderes, als durch Licht gezeichnete Bilder, Filme anderes, als eine Abfolge dieser Lichtbilder in der Zeit. Licht kann also als Konstruktionsprinzip der meisten gezeigten Kunstwerke verstanden werden. Gleichzeitig funktioniert das Licht als Metapher: Viele Werke versuchen Umstände „zu erhellen“, „Licht ins Dunkel zu bringen“, aber auch „ein Licht auf etwas zu werfen“ oder sogar zu „blenden“.
Damit knüpft die Documenta11 formal an die Weltausstellung von 1937 in Paris an, bei der ebenfalls Licht im Zentrum stand. Die meisten Aussteller, allen voran Deutschland, verwendeten das Licht damals dazu, die BetrachterInnen zu blenden. Der spanische Künstler Pablo Picasso jedoch verfolgte damit einen aufklärerischen Anspruch. Sein Bild Guernica wollte Licht in die Ereignisse vom 26. April 1937 bringen, als die deutsche Legion Condor die baskische Stadt Guernica völlig zerstörte. In Picassos Bild hängt dazu inmitten des Chaos aus Flammen, Bombensplittern und Körperteilen eine Glühbirne.
Im Gegensatz zu 1937 ist die Verbindung von Aufklärung und künstlerischer Praxis ein formulierter Anspruch der Documenta11. Dazu wurden vier transkontinentale Diskussions-Foren in Berlin/ Wien, Neu Dehli, St. Lucia und Lagos eingerichtet. LiteraturwissenschaftlerInnen, SoziologInnen, AnthropologInnen, AutorInnen und StädtplanerInnen wie Ernesto Laclau, Derek Walcott, Homi K. Bhabha, Wole Soyinka und Ginette Ramassamy untersuchten die politischen und sozialen Veränderungen in der postkolonialen Weltordnung, Demokratiedefizite, Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung und Transformationen von Großstädten. Die Ergebnisse dieser Foren wurden inzwischen veröffentlicht.
Die Ausstellung in Kassel ist zwar das Herzstück der Documenta aber gleichzeitig nur eine weitere Plattform. Hier finden die vorab mit wissenschaftlichen Methoden untersuchten Prozesse und Zustände ihren künstlerischen Ausdruck. So geht es wie in den Diskussionsforen in einigen Kunstwerken um die Möglichkeit der Repräsentation des Schreckens: „We can make you disappear“ steht in Stempeldruckbuchstaben auf den Gemälden des US-Amerikaners Leon Golub. Damit stellt er die grenzenlose Macht der Folterer dar, die in der Lage sind, ihre Opfer physisch und psychisch auszulöschen. Die Bilder Golubs sind skizzenhafte Darstellungen von Folterszenen. Nach dem eigentlichen Malvorgang hat er die Leinwände mit Lösungsmitteln traktiert und stellenweise mit Spachtelhieben verwundet. So manifestiert sich in der Materialität der Bilder ihr „gewalttätiger“ Inhalt. Der Uruguayer Luis Camnitzer geht noch einen Schritt weiter: Er kreierte Räume, die an Folterkammern erinnern. Eine einzelne Glühbirne über dem Gestell eines Krankenhausbetts beleuchtet die kurzen Regenerationsphasen zwischen den Foltersitzungen, die in einer anderen Kammer stattfinden. Auch dort ein Interieur, welches den Schrecken andeutet. Ein Handtuch hängt über einem gespannten Draht, in der Ecke steht ein winziger Ventilator, ein Foto von unerreichbaren Wolken hängt an der Wand.
Ähnlich erschüttert wird der Betrachter in der Klang- und Lichtinstallation der Kubanerin Tania Bruguera. Man betritt einen Raum mit gedämpftem Licht und hört, wie Gewehre zerlegt und Patronen eingelegt werden. Plötzlich drehen die Scheinwerfer auf und blenden. Gleichzeitig knallen trockene Schüsse: eine Scheinerschießung – nur stehen statt Folteropfern die BetrachterInnen im Fadenkreuz. Die Künstlerin spielt damit nicht nur auf lateinamerikanische Folterregime an, sondern auch auf die Geschichte des Ortes Kassel. Während des Zweiten Weltkriegs war die Stadt ein prominenter Produktionsstandort der Rüstungsindustrie und im Kalten Krieg wegen ihrer Grenznähe ein wahrscheinliches Ziel eines sowjetischen Angriffs.

Ambivalenz des Lichts

In seiner ins Extreme gesteigerten Intensität führt Licht zur Verblendung, zum „Whiten-out“ wie Alfredo Jaars Installation „Lament of the Images“ (2002) zeigt. Der in New York lebende Chilene stellt seinen Lichträumen drei Texte voran: Im ersten beschreibt er den Aufenthalt Nelson Mandelas im Gefängnis auf Robben Island. Tagsüber mussten die schwarzen Gefangenen Kalk abbauen, ihre Körper wurden weiß vom Staub und ihre Augen ständig geblendet durch die Reflexion des gleißenden Sonnenlichts im Kalk. Im zweiten Text schildert Jaar das Schicksal der weltgrößten Sammlung zeitgeschichtlicher Fotos: Bill Gates hat sie 1995 käuflich erworben und ist gerade dabei, die Originale in einer ehemaligen Kalksteingrube einzulagern. In Zukunft will er digitale Scans verkaufen. Allerdings sind bisher erst zwei Prozent der Bilder verfügbar, bei der bisherigen Geschwindigkeit würde die Digitalisierung 452 Jahre dauern. Gates habe das Recht, so Jaar, geschätzte 65 Millionen Bilder zu zeigen oder zu begraben (darunter die Bilder von Mandelas Haftentlassung). Der dritte Text bezieht sich auf den Krieg in Afghanistan. Das US-Verteidigungsministerium erwarb kurz vor dem Beginn der Luftangriffe 2001 die Exklusivrechte an allen verfügbaren Bilder von Afghanistan und den benachbarten Ländern. Damit konnten die Angaben der US-Amerikaner zum Kriegsverlauf von unabhängigen Medien nicht verifiziert werden. Die bildermächtigen Kriegsherren wurden zu den Besitzern der Wahrheit. „White-out“ – Weißblende. Eine Erfahrung, die auch die BetrachterInnen von Jaars Werk machen: Nach dem Raum mit den Texten kommt man durch einen vollständig abgedunkelten Winkelgang in einen Raum mit gleißendem Licht. Man wird geblendet, der ausgeschaltete Gesichtssinn steht als Metapher für unser vom Exzess der Medienbilder benebeltes Bewusstsein.

Wider den eurozentristischen Blick

Der aufklärerische Anspruch der Documenta11 darf jedoch nicht als Aufklärung nach europäischem Modell missverstanden werden. Jahrhundertelang maßen sich Europa an, das Licht der Aufklärung in die Welt zu tragen. Dass es dabei zur Zerstörung indigener Kulturen und der Ausrottung ganzer Völker kam, hat die Künstlerin Tania Bruguera in ihrer Performance „El peso de la culpa/ Die Bürde der Schuld“ eindrücklich dargestellt: Die Kubanerin trägt ein geschlachtetes Lamm als Schutzschild und isst kleine Bällchen aus mit Salzwasser vermischter Erde. Damit erinnert sie an die Ureinwohner der Insel, die bei ihrem verzweifelten Widerstand gegen die spanischen Eindringlinge beschlossen, solange Erde zu essen, bis sie starben.
Aber nicht nur die physische Ausrottung sondern auch der Verlust des kulturellen Gedächtnisses und damit der Identität der kolonisierten Völker wird in der Documenta11 thematisiert. In seiner Analyse greift Kurator Okwui Enwezor das Denken Frantz Fanons auf, der in Schwarze Haut, weiße Masken neben der politischen und wirtschaftlichen auch eine „Kolonisierung des Bewusstseins“ feststellte. Wenn also „die lokale kulturelle Eigenheit [eines Volkes] zu Grabe getragen“ wird, übernimmt dieses schließlich auch den eurozentristischen Blick der Kolonisatoren auf die eigene Kultur. Mit der Präsentation der Werke von Künstlern aus der kolonisierten Welt will die Documenta eine Rekonstruktion des kulturellen Gedächtnisses der kolonisierten Völker vorantreiben und damit das eurozentristische Blickregime aufbrechen.
Die lateinamerikanischen KünstlerInnen nehmen innerhalb der zeitgenössischen Kunst auf der Achse Europa-Dritte Welt eine Hybridstellung ein: Sind sie meistens europäischer Abstammung und auch ihre Länder stark europäisiert, so stellte Amerika doch Jahrhundertelang die Neue Welt dar, den Ort paradiesischer Projektionen. So schöpfen Künstlerinnen wie Bruguera und die Kolumbianerin Doris Salcedo zum einen aus dem Fundus lateinamerikanischer Mythen und Legenden, zum anderen aus dem Erbe der europäischen Tradition. Salcedo hat im Erdgeschoss des Fridericianums Objekte aufgestellt, amputierte und verschmolzene silbergraue Stühle, die zum einen Tendenzen zeitgenössischer Plastik aufgreifen, zum anderen auf ein historisches Ereignis verweisen: Die Besetzung des Justizpalastes in Bogotá 1985 durch eine Guerillagruppe. Die verstümmelten Stühle zeugen von der gegen Menschen gerichteten Gewalt. Die angestrebte Rekonstruktion des kulturellen Gedächtnisses führt in diesen Fällen zu einer Repolitisierung der Kunst.

Angriff auf die Institutionen

Die gestalterischen Mittel, derer sich die Künstler bedienen, sind äußerst vielfältig. Sie beziehen sich zum einen auf die Tradition der europäischen Avantgardebewegungen, deren erklärtes Ziel es war, die Kunst zu entinstitutionalisieren und wieder ins Leben zurückzuführen, zum anderen greifen sie Elemente der traditionellen Kunst ihrer Herkunftsländer auf. In einer kritischen Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe beider Welten umgehen sie sowohl das Risiko, die Kunst der Metropolen zu kopieren, als auch, exotische Folklore-Kunst zu schaffen.

Hybride Zwischenräume

Statt dessen entsteht etwas Drittes, Hybrides, ein Zwischenraum als qualitativer Sprung zu etwas Neuem hin, wie dies Homi K. Bhabha in seinem Vortrag im Rahmen der 1. Plattform der Documenta eindrucksvoll beschrieben hat. Somit wird Kunst wieder als der Raum erfahren, in dem Veränderungen nicht nur fiktiv durchgespielt werden, sondern sich auch konkret manifestieren: Die Verknüpfung heterogener Materialen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kontexten eröffnet den BetrachterInnen neue Zugänge zur immer komplexer werdenden Welt. Auch Georges Adéagbo aus Benin versucht sich daran, einen Ausschnitt der Welt im Spannungsfeld von Ex-Kolonien und Ex-Kolonialländern darzustellen. In einer Rauminstallation versammelt er verschiedenste dokumentarische, illustrative und dekorative Materialien, Zeitschriften, Zeitungsausschnitte, Bilder, Fotografien, Fundstücke, Skulpturen, um das Thema Afrika und Documenta. Adéagbo will, dass seine Arbeiten als Hinterfragung des Begriffes Kunst und der Institution KünstlerIn gelesen werden. Nicht das Werk zählt hier, sondern der assoziative Prozess, der verschiedene Materialien verbindet.
Aber auch die Institutionen, die der Kunst ihren Platz in der Gesellschaft sichern, werden angegriffen. So arbeitet Adéagbos Landsmann Meschac Gaba bereits an einem Museum für zeitgenössische afrikanische Kunst. Dieses Museum bleibt aber in seinen Arbeiten, die immer nur einzelne Räume präsentieren, nur Fragment, utopische Projektion, welche die museologischen Konzepte europäischer Prägung einer radikalen Kritik unterzieht. Für die Documenta hat Gaba Restaurant, Bibliothek und Museumsladen konzipiert, die sowohl als Kunstwerke, als auch als reale Museumsräume fungieren.
Einen ähnlichen Angriff unternimmt auch der Aktionskünstler Arturo Barrio. In dem von ihm gestalteten Raum in der Binding-Brauerei handelt es sich vordergründig um eine Assamblage verwendeter Objekte aus vergangenen Performances: Da aber der Fußboden zentimetertief mit Kaffeepulver bedeckt ist, löst die Besichtigung dieses Raums eine neue Aktion aus. Mit den BesucherInnen wird der an ihren Schuhe haftende Kaffee in die Flure und übrigen Räume der Ausstellung befördert. Überall breiten sich schwarzbraune Schlieren aus, verweisen zum einen zurück auf das Werk Barrios, zum anderen wird die Kaffeespur durch die Ausstellung zum Bild für die Unterhöhlung eurozentristischer Institutionen durch KünstlerInnen aus Afrika, Lateinamerika und Asien.

Verstehen Sie Wolof?

Während man sich hier zu Lande noch verwundert die Ohren rieb als 1998 Khaleds Erfolgssong Aicha in einer Salsacoverversion aus den Lautsprechern drang, bastelten die Urheber dieses Treibens bereits an ihrem nächsten Coup. Mit dem Album BETECE stürmte die Gruppe Africando im Dezember 2000 von Null auf Eins der europäischen World Music Charts. Mit ihrem Salsasound lag die Band voll im Trend, denn spätestens seit Wim Wenders Film Buena Vista Social Club lauschte und schaute nicht mehr nur die bis dahin überschaubare Fangemeinde der Latino-Rhythmen nach Kuba. Was sie von Africando zu hören bekamen klang zwar kubanisch, kam ihnen aber gar nicht spanisch vor. Wie denn auch. Gesungen wird auf BETECE überwiegend in Wolof, der Sprache des Volkes der Wolof aus dem Senegal. Der Name Africando ist auch keine Wortschöpfung aus dem Spanischen, sondern heißt in der Sprache der Wolof ‘Vereintes Afrika’.

Quer über den Atlantik

Die Idee zu Africando hatten Anfang der 90er Jahre der Musiker Bocana Maïga aus Mali und der senegalesische Produzent Ibrahim Sylla. Doch es dauerte eine Weile bis sich die Wege der beiden kreuzen sollten. Maïga packte 1963 in Mali seine Flöte ein und ging nach Kuba. Zehn Jahre blieb er auf der Insel, entdeckte seine Liebe für die afrokubanische Musik, spielte zusammen mit namhaften Musikern und hatte am Ende mit Las Maravillas de Mali seine eigene Salsaband. 1973 kehrte er mit ihr nach Afrika zurück. Afrokubanische Rhythmen waren zu dieser Zeit sehr populär, nicht zuletzt durch die triumphale Afrika-Tournee der Fania All Stars, jener Salsa-Legende der späten 60er und 70er Jahre aus New York. Mit von der Party war Bocana Maïga.
In den 80ern schwand die Popularität der afrokubanischen Rhythmen. Soul, Funk und Rock dominierten die Szene. Maïga teilte seinen Frust darüber mit Ibrahim Sylla. Sylla, einer der namhaftesten Musikproduzenten aus dem Senegal, bastelte bereits Ende der 70er an einer Fusion aus Salsa und m’balax. M’balax ist der im Senegal beliebteste Tanzstil. Anfang der 90er schütteten sich beide ihr Herz aus und die Idee von Africando nahm Gestalt an. Mit drei wolofsprachigen Sängern aus dem Senegal flogen sie nach New York und gingen mit handverlesenen Musikern aus dem Umfeld der ehemaligen Fania All Stars ins Studio. 1993 erschien mit Trovador das erste Album, 1994 mit Sabador das Zweite. Gesungen wird darauf nicht nur in wolof, auch andere afrikanische Sprachen wie mandingue oder sérère sind zu hören, und: wolofspañol.

Spanisch ein Kauderwelsch?

Kam damit über den Umweg New York nach Afrika zurück, was zu Kolonialzeiten mit den versklavten Menschen der westafrikanischen Küste in die Karibik verschleppt wurde? Wohl kaum. Der Clave, jener typische 3/2 Rhythmus, der allen wichtigen kubanischen Tanzmusikstilen von traditionellem Son bis heutiger Salsa zu Grunde liegt, ist ein Nachfahre des Trommel- und Schellenrhythmus, der die Maskenparaden in Benin, Togo oder Nigeria seit jeher begleitet. Ähnliches findet sich im Kongo, der Elfenbeinküste, in Mali und auch im Senegal. Als in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts kubanische Matrosen den Clave an die afrikanische Westküste brachten, war darin nichts Fremdes zu sehen. Wendo, der alte Mann der kongolesischen Rumba sagt darüber: „Wir wussten nichts von der kubanischen Geschichte. Viele von uns glaubten, dass es eine afrikanische Musik war und, dass das Spanisch ein Kauderwelsch sei, das wir einfach nicht verstanden.“
Africando steht denn auch auf den Schultern anderer Bands. Mit Pape Seck und Nicholas Menheim kamen zwei der drei senegalesischen Sänger aus der legendären Star Band of Daca. Dagegen kam Medoune Diallo vom Orchestra Baobab.
Das Orchestra Baobab wurde 1970 in Dakar unter Mitwirkung von höchsten Regierungspolitikern gegründet, die sich in einem gleichnamigen Club eine intime Atmosphäre schafften. Der Baobab Club lag nur einen Steinwurf entfernt vom Palast des Präsidenten. Da das Orchester multiethnisch besetzt war, spielten sie querbeet von Blues bis Tango, afrikanische Stile, aber auch Son und Salsa. 1979 schloss das Baobab seine Pforten, die Band zog in ein neues Domizil.
1982 erschien der 23-jährige Youssou N’Dour auf der Bühne und mit ihm feierte der m’balax seinen Siegeszug. M’balax beruht auf dem Sound der traditionellen Sabartrommel und wurde jetzt tanzbar gemacht. Das Orchestra Baobab schwenkte zwar noch auf m’balax ein, aber so richtig wollte es nicht klappen. 1987 löste sich die Band auf. Medoune Diallo ging zu Africando, bei denen er heute noch singt.

Orchestra Baobab

Doch damit ist die Geschichte des Orchestra Baobab noch nicht zu Ende. Sorgte Anfang der 80er Youssou N’Dour mit für das Aus der Band, so bemühte sich eben jener das Orchester im Jahr 2002 wieder zu vereinen und trat als Produzent einer Comeback-CD auf. Nun geht das Orchestra auf Tournee und wird am 2., 3. und 4. August bei den HeimatKlängen 2002 im Berliner Tempodrom auftreten. Treibende Kraft hinter dem Ganzen ist das britische Label World Circuit Records. Die Firma hat bereits große Erfahrung bei der Vermarktung vergangener Zeiten, hat sie doch fast die komplette Altmusikerriege aus Kuba in ihrem Repertoire. Dennoch darf man gespannt auf Baobab sein, zumal es sich hier nicht um eine in die Jahre gekommene Rentnercombo handelt.
Africando ging hingegen ihren Weg. 1996 brachten sie mit Gombo Salsa ihr drittes Album heraus. Nicht mehr dabei war die markante Stimme von Pape Seck, der ein Jahr zuvor gestorben war. Musiker aus Benin, Guinea und Haiti erweiterten jetzt die Gruppe. Die schaffte spätestens mit ihrer vierten CD Baloba auch international den Durchbruch, nicht zuletzt wegen der erwähnten Khaled-Coverversion. Als dann Ende 2000 BETECE erschien hatte sich Africando mit einem All Star-Ensemble Verstärkung geholt, darunter klangvolle Namen wie Salif Keïta, Lukoa Kanza, Ray Martinez oder Chino Nuñez. Und wie heißt es im letzten, vielsprachigen Lied Doni Doni: „…petit à petit l’oiseau fait son nit, après le parti unique, et malgré la corruption et le tribalisme, le multipartisme finira par ouvrir une ère de vrai démocratie!“ („Stück für Stück baut der Vogel sein Nest, nach der Einheitspartei und trotz der Korruption und der Stammesfehden wird das Mehrparteiensystem eine Ära der wahren Demokratie einläuten!“)

www.exilmusik.de
www.madminutemusic.com

Springende Tiger und Bettvorleger

Wie würdest du den asiatischen Raum mit seinen politischen und ökonomischen Verflechtungen beschreiben?

Asien ist eine durch politische Spannungen und unterentwickelte regionale Kooperationsmechanismen gekennzeichnete Region. Das in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts viel diskutierte asiatische 21. Jahrhundert scheint sich nicht einzustellen. Die Asienkrise von 1997, mit ihren massiven Währungsturbulenzen, und die nun schon ein Jahrzehnt andauernde Stagnation in Japan haben den Erdteil auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Japan und China verstehen sich als regionale Hegemonialmächte, das Verhältnis zwischen den beiden potenziellen ökonomischen und politischen Riesen aber ist unterkühlt. Weder Japan, noch China haben in der Phase der Bewältigung der Asienkrise eine entscheidende Rolle gespielt. Hier zeigte sich, dass die führenden Länder der Region noch nicht einmal in der Lage waren, regionales Krisenmanagement zu organisieren, von globaler Führung also ganz zu schweigen. Die Reaktionen auf die Krise wurden aus Washington, von der US-Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gesteuert.
Angespannt ist auch das Verhältnis zwischen Japan und Südkorea, die zwar ökonomisch eng verflochten sind, aber politisch noch immer nicht die kriegerischen Auseinandersetzungen der 40er Jahre bewältigt haben. Chronisch ist und bleibt der Konflikt zwischen Taiwan und China. Dennoch verfügt die Region über ein großes ökonomisches Potenzial. China wird schon wegen seiner schieren Größe ein weltwirtschaftliches Schwergewicht werden, auch wenn sein bisheriges Bruttosozialprodukt (BSP) noch weit unter dem des Mercosur in Südamerika liegt. Die neuen Industrieländer Südkorea, Taiwan, Singapur, und eingeschränkt auch Thailand, befinden sich nach dem Einbruch 1997/98 bereits wieder auf ökonomischem Wachstumskurs.
Weltpolitisch betrachtet bleibt die asiatische Region gegenüber der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA und der Europäischen Union zweitrangig. Die neuen Weichenstellungen zur Gestaltung der Globalisierung, wie die Weltbankreform, die Debatten um die Reform des IWF, die Weiterentwicklung der Welthandelsorganisation WTO, der internationale Menschenrechtsschutz und humanitäre Interventionen sowie die globale Klimapolitik werden von den asiatischen Ländern nicht nachhaltig beeinflusst. Die Asienkrise und die führende Rolle „des Westens“ in der akuten Phase der Krisenbekämpfung führen dazu, dass sich Asien auf sich selbst als Region zu besinnen beginnt. Rasche Ergebnisse sind auf Grund der politischen Spannungen in der Region nicht wahrscheinlich, und die Erwartung, dass die Asienkrise den Prozess der Verwestlichung der Region bescheunigt, wird nicht erfüllt. In den 80er und 90er Jahren haben Heerscharen westlicher BeobachterInnen zu verstehen versucht, worin das Erfolgsgeheimnis Japans und der Tigerstaaten bestehen könnte. In den asiatischen Newly Industrializing Countries galten die westlichen Ökonomien als „Old Declining Economies“.
Nach den Ernüchterungen der Asienkrise sind nun auch die asiatischen Länder auf der Suche nach ihrem „Dritten“ oder besser „Vierten Weg“ zwischen angelsächsischem Wirtschaftsliberalismus, kontinentaleuropäischer Marktwirtschaft und ihrem aus der Mode gekommenen Modell der staatlich gelenkten Marktökonomie. Die Region ist auf der Suche nach dem, was unter den Bedingungen der Globalisierung des 21. Jahrhunderts ein eigenständiges asiatisches Projekt ausmachen könnte.

Welche Rolle spielt in diesem Szenario Lateinamerika für den asiatischen Raum?

Lateinamerika ist vor allem eine Rohstoff- und Agrarexportregion. Dies gilt auch im Handel mit Asien. Holz, Holzchips für die Papierproduktion, Eisenerze und Nahrungsmittel werden insbesondere nach Japan und in die Schwellenländer geliefert. Aus japanischer Perspektive ist es opportuner, Holz aus Lateinamerika zu importieren, als die heimischen Wälder gegen den Widerstand der nationalen Umweltbewegung abzuholzen. Japan und die Tigerstaaten hingegen exportieren Technologien und Konsumgüter nach Lateinamerika. Aus lateinamerikanischer Perspektive sind jedoch die Technologieimporte aus den USA bedeutender als die aus Asien. In Zentralamerika sind japanische und südkoreanische Unternehmen in vielen Exportsonderzonen engagiert, in denen vor allem arbeitsintensive Produkte wie Textilien gefertigt werden.

Warum boomten in den so genannten Tigerstaaten wie Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur und Hongkong die Ökonomien, während sich viele Länder Lateinamerikas in der Spirale der Verschuldung wiederfanden?

Die Mehrzahl der lateinamerikanischen Ökonomien haben bis Ende der 80er Jahre das Konzept der binnenmarktorientierten Industrialisierung verfolgt. Abkopplung vom Weltmarkt war die Devise. Es bestand die Hoffnung, sich in geschützten Industrien langsam an das Produktivitäts- und Effizienzniveau in der Weltwirtschaft heranzuarbeiten. Nationale, vernetzte Industrien sollten hinter hohen Zollmauern entstehen. Die notwendigen Importe von Maschinen und Technologie wurden durch den Export der in Lateinamerika reichlich vorhandenen Rohstoffe und Agrargüter finanziert.
Die Industralisierung gelang in den meisten Ländern durchaus. Jedoch wurde die Produktivitätslücke zwischen der lateinamerikanischen Industrie und dem Weltniveau immer größer statt kleiner. Die lateinamerikanischen Industrien hatten sich, ähnlich wie die sozialistischen Ökonomien, von den globalen technologischen Lernprozessen abgekoppelt. Die Finanzierung der Industrialisierung durch Agrar- und Ressourcenexporte wurde immer schwieriger, zumal die Rohstoffpreise in der Weltwirtschaft schon seit vielen Jahren kontinuierlich sanken. Die binnenmarktorientierte Entwicklungsstrategie mündete deshalb in der Verschuldungs- und Stagnationsfalle.
Die ostasiatischen Schwellenländer Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur dagegen setzten seit den 60er Jahren auf Strategien selektiver Weltmarktintegration, unterstützt durch aktive Technologie- und Industriepolitiken. Zugleich schützten sie ihre Binnenmärkte vor übermächtiger Konkurrenz. Exportorientierung und Importsubstitution wurden also miteinander verkoppelt. Nicht die freie Marktwirtschaft und der Freihandel, sondern der gezielte Aufbau nationaler Wettbewerbsvorteile und eine strategische Handelspolitik waren entscheidend. So gelang es den Ländern, von arbeitsintensiven Industrien sukzessive in immer technologie- und wertschöpfungsintensivere Segmente vorzudringen. Das zeigt die Entwicklung des Bruttosozialprodukts pro Kopf der Bevölkerung. Ende der 50er Jahre betrug in Südkorea das BSP pro Kopf etwa 500 US-Dollar. In Argentinien war es gut 4000 US-Dollar und das Land gehörte damit zu den reichsten Ökonomien der Welt. Bis Ende der 80er Jahre stieg das BSP pro Kopf in Südkorea auf etwa 6000 US-Dollar, in Argentinien nur auf 4500 US-Dollar.
Die ökonomische Entwicklung der asiatischen Schwellenländer zeigt zweierlei: Die These des Ökonomen André Gunder Frank, nach der die Integration in die Weltwirtschaft a priori der entscheidende Motor der Unterentwicklung sei, hat sich nicht bewahrheitet. Die neoliberale Lehre von der unsichtbaren Hand des Marktes aber lässt sich am Beispiel Ostasiens ebenso wenig belegen.

Aber die ostasiatischen Staaten nahmen für ihre Industrialisierung ebenfalls große Kredite in Anspruch. Warum saßen sie letztlich nicht in der Verschuldungsfalle?

Schuld an der zunehmenden Verschuldung Lateinamerikas in den 80er Jahren war der Versuch, die Industrialisierung über Agrar- und Ressourcenexporte zu finanzieren. Langfristig konnte das nicht gut gehen. Je rascher die Industrie wuchs, desto größer wurde der Bedarf an Devisen, um Maschinen- und Technologieimporte zu finanzieren. Da die Industrie selbst kaum exportierte, blieb sie auf die Exporte des Agrarsektors angewiesen. Doch die Terms of Trade für Ressourcen- und Agrarprodukte verschlechterten sich kontinuierlich, so dass ein Preisverfall bei den Exporten mit steigenden Importpreisen bei den Industriegütern zusammenfiel.
Das Ergebnis dieser strukturellen Abhängigkeit der nationalen Industrien Lateinamerikas von den Primärgüterexporten führte jedoch nicht nur in die Verschuldungskrise, sondern verfestigte auch die politische Vorherrschaft der alten Agraroligarchien. Die Importsubstitution scheiterte nicht nur ökonomisch, sie blockierte auch die politische Modernisierung und Demokratisierung.
Die ostasiatischen Schwellenländer verschuldeten sich in den 70er und 80er Jahren ebenfalls. Doch die externen Kredite wurden erfolgreich zum Aufbau exportorientierter Industrien genutzt. So konnten die Devisen erwirtschaftet werden, um Zinsen und Tilgung zu finanzieren. Zugleich schwächte die Entstehung einer leistungsfähigen Industrie die Macht der Landbesitzer. Dieser Trend wurde in Taiwan und Südkorea noch durch Landreformen verstärkt. In der Asienkrise Ende der 90er Jahre gerieten auch die asiatischen Schwellenländer kurzfristig in Finanz- und Währungskrisen. Eine Ursache war, dass beispielsweise Südkorea sein Banken- und Finanzsystem zu rasch liberalisiert hatte, ohne entsprechende Regulierungssysteme aufzubauen. Die südkoreanische Krise führte zu einem massiven Kapitalabfluss aus allen ostasiatischen Schwellenländern, Währungskrisen waren die Folge.

Chile gilt als Musterschüler des Neoliberalismus. Warum wurde dort nach dem Putsch 1973 ein neues Wirtschaftsmodell derart brutal und autoritär durchgesetzt?

Als die Militärs1973 in Chile putschten, bestand nicht nur in den Denkfabriken und meisten Gesellschaften der Entwicklungsregionen Afrikas und Lateinamerikas, sondern selbst bei der Weltbank noch ein breiter Konsens hinsichtlich der Erfolgsträchtigkeit des Modells der Importsubstitution und der industriellen Binnenmarktorientierung. Ein neoliberales Modell konnte in dieser Phase nur autoritär durchgesetzt werden. Der chilenische Umbruch von einer stark staatlich gesteuerten Ökonomie zur Marktwirtschaft war brutal. Innerhalb weniger Monate wurden die dreistelligen Einfuhrzölle auf nahezu Null reduziert. Die gesamte Industrie kollabierte, mit all den sozialen Folgeerscheinungen. Eine solch radikale Öffnung ist wohl nur in einem autoritären Regime möglich, oder wenn riesige finanzielle Transfers die sozialen Folgen radikaler Deregulierung, Liberalisierung, Außenöffnung und drastischer Deindustrialisierung abfedern, wie im Fall der neuen Bundesländer in Deutschland. Die Einstellung gegenüber dem neoliberalen Modell änderte sich in Lateinamerika aber in den 90er Jahren. Die Verschuldungskrise und das offensichtliche Scheitern der protektionistischen Binnenmarktorientierung machten nun neoliberale Konzepte gesellschaftsfähig. Viele Menschen glaubten, der rücksichtslose Wirtschaftsliberalismus könne einen Ausweg aus der Krise weisen. Menem in Argentinien und Fujimori in Peru wurden trotz oder wegen ihres neoliberalen Kurses in den 90er Jahren in Wahlen bestätigt. Übrigens wird auch in Russland viel über den chilenischen Weg diskutiert.

Wie steht es um die Attraktivität der Mischung aus Neoliberalismus und Autoritarismus in Asien?

Man könnte den chinesischen Weg in die Weltwirtschaft in diese Richtung deuten. Die Vertiefung der Marktwirtschaft wird zunächst ohne Infragestellung der Einparteienherrschaft versucht. Doch es gibt gewichtige Unterschiede. In China finden zwar gewaltige ökonomische Veränderungsprozesse statt, aber nicht in der Geschwindigkeit, in der das unter dem Pinochet-Regime in Chile passierte.
Die asiatischen Tigerstaaten befinden sich nicht auf dem chilenischen Weg. In Südkorea und Taiwan haben wir es mit sich konsolidierenden parlamentarischen Demokratien zu tun, in denen sich sukzessive auch Zivilgesellschaften entwickeln. Singapur ist ein eher autoritärer Staat, aber sicher nicht zu vergleichen mit dem Terrorregime Pinochets. In Thailand stehen die Chancen für eine langsame politische Liberalisierung nicht schlecht. Indonesien hat demgegenüber mit großen internen Spannungen und den Folgen der Korruption des alten Regimes zu kämpfen, doch hier geht es nicht um eine Verfolgung des chilenischen Modells der 70er Jahre, sondern um ein chaotisches Krisenmanagement ohne wirtschaftspolitische Linie.

Die politischen und ökonomischen Eliten in Lateinamerika haben ihre Länder weitgehend geplündert oder ruiniert. Wie kann es weitergehen und welche markanten Unterschiede lassen sich zu den asiatischen Eliten feststellen?

Ein Zurück zum alten Nationalismus der Vergangenheit kann es nicht geben. Und wenn doch, dann nur um den Preis politischer und ökonomischer Regression. Die Krise des alten Nationalismus erschwert den ökonomischen und politischen Eliten ihr Geschäft, denn der Appell an die Nation und das Projekt des „Aufbaus nationaler Wirtschaften“ waren die Klammern, die über die enormen sozialen Ungleichheiten hinwegtäuschen sollten. In Lateinamerika zeigt sich durch die neue Wirschaftskrise seit Ende der 90er Jahre, dass die Demokratien weniger gefestigt sind, als viele in den wenigen Jahren ökonomischen Wachstums meinten. In Venezuela regiert ein Populist, der zugleich rassistische Kampagnen gegen die Nachbarstaaten anführt. In Argentinien werden in der Wirtschaftskrise die alten „lateinamerikanischen Krankheiten“ erneut sichtbar: die Korruption, die Missachtung parlamentarischer Regeln und die Instrumentalisierung der Justiz in der politischen Auseinandersetzung. In Peru lässt sich noch nicht absehen, ob der neue Präsident einen Weg findet, die Korruption, das desolate Justizsystem („para mis amigos todo, para mis enemigos la ley“ – „für meine Freunde Alles, für meine Feinde das Gesetz“) und die maroden öffentlichen Institutionen in den Griff zu bekommen. In fast allen Ländern Lateinamerikas gilt: die ökonomischen und politischen Eliten sind kleine Gruppen, oft abgekoppelt von den Problemen und Lebenswelten der Bevölkerung. Die soziale Mobilität ist gering. Die soziale Ungleichheit auf dem Kontinent wächst und damit die politische Instabilität. Entwicklungsorientierte Eliten sucht man in den meisten Ländern vergeblich.
In einigen Ländern Asiens waren wirtschaftsnationalistische, aber zugleich auf die Weltwirtschaft orientierte Elitenprojekte erfolgreich: dies gilt für Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur und seit geraumer Zeit auch für China. Für die Eliten dieser Länder besteht die Herausforderung darin, mit zunehmend differenzierten, heterogenen und artikulationsfähigen Gesellschaften umgehen zu lernen. Das ist vor allem eine Folge der wirtschaftlichen Prosperität, der zunehmenden sozialen Mobilität und des steigenden Bildungsstandards. Es geht um den Übergang von stark hierarchisch geordneten zu sich pluralisierenden Gesellschaften. Dieser Prozess scheint in Südkorea und Taiwan zu glücken, beide Länder haben den Umbruch zur Demokratie in den 90er Jahren trotz Asienkrise erstaunlich gut gemeistert. Wie der politische Umbau oder Umbruch in China ausgeht, ist völlig offen. ExpertInnen bieten weit auseinander gehende Szenarien an: vom sukzessiven Übergang zur politischen Liberalisierung bis zum Auseinanderfall des Riesenreiches infolge zunehmender sozialer Ungleichheit und politischer Machtkämpfe zwischen reichen Küstenregionen und armen Regionen im Hinterland.

Welche Chancen hat Lateinamerika, in der Globalisierung eine eigenständige Rolle zu finden

Der Mercosur ist ein Zukunftsprojekt und ein Hoffnungsschimmer für Lateinamerika, der hoffentlich nicht an den Wirren der argentinischen Wirtschaftskrise zerbricht. Hier geht es um die Überwindung nationalstaatlicher Engstirnigkeit, alter Konflikte zwischen den Eliten der Länder und vor allem um den Aufbau einer Region, die Aussicht hätte, ihre Position in Weltwirtschaft und -politik sukzessive zu verbessern. Es könnte sich die Einsicht durchsetzen, dass die Globalisierung nur durch starke regionale Projekte gemeistert und mitgestaltet werden kann.

Interview: Jürgen Vogt

KASTEN:
Zur Person:

Dirk Messner, Dr. rer. pol.; Studium der Politikwissenschaft und der Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin; 1989-1995 Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Berlin; seit 1995 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg.

KASTEN:
Ökonomische Verflechtung durch Handel

Ende der 90er Jahre hatten die Staaten des asiatisch-pazifischen Raums (AP) einen Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt von rund 26 Prozent. Der Anteil der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (LAK) lag bei 6 Prozent. Das Handelsvolumen zwischen beiden Regionen belief sich 1999 auf 50 Milliarden US-Dollar, was weniger als ein Prozent am Welthandel ausmacht. LAK exportierte in erster Linie Rohstoffe und Nahrungsmittel im Wert von 17 Milliarden US-Dollar nach AP. Die Exporte kamen im Wesentlichen aus Brasilien (38 Prozent), Chile (23 Prozent), Mexiko (11 Prozent) und Argentinien (11 Prozent). Die Importe von LAK aus AP lagen bei 34 Milliarden US-Dollar. Sie konzentrierten sich auf die beiden Mercosurstaaten Brasilien und Argentinien, sowie Mexiko (zusammen 65 Prozent). Chile spielte hier keine große Rolle. Japan liegt als Handelspartner mit LAK an der Spitze, 45 Prozent des interregionalen Handels geht auf Nippons Konto. Zusammen mit der Volksrepublik China und Südkorea wickelte in der 90er Jahren Japan zwei Drittel der Exporte aus LAK ab.
Quelle: Mikio Kuwayama / CEPAL

Partner oder Notreserve?

Als einziger Industriestaat des ostpazifischen Raums leistet sich Japan eine teure weltweite Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit und in der so genannten Dritten Welt. Japanische EntwicklungshelferInnen finden sich weit verstreut über den ganzen lateinamerikanischen Kontinent. In 22 Büros koordinieren und steuern sie Projekte, die meist im ländlichen Raum angesiedelt sind. Von einer Verbesserung des Fischfangs bis hin zur Ertragssteigerung bei Kulturpflanzen waren die primären Förderinteressen bisher im – wörtlich zu verstehen! – land-wirtschaftlichen Bereich. Das Ei-Land der roten Sonne ist seit 1990 noch vor den USA der größte Einzelgeber von Entwicklungsgeldern. Gemessen am Bruttosozialprodukt handelt es sich jedoch um weniger als 0,4 Prozent.
China, traditionell erstes Empfängerland japanischer bilateraler Hilfe, wurde inzwischen von Indonesien, Thailand und den Philippinen vom Spitzenplatz verdrängt. Ein halbes Jahrhundert lang konzentrierte sich die zur eigenen Stabilisierung als Industrienation begonnene Entwicklungshilfe auf Wirtschaftsförderung, technische Infrastruktur und den Agrarbereich. Japan will jedoch in den kommenden Jahren einen Wechsel versuchen, denn ein „Übergang von quantitativer zu qualitativer Entwicklungshilfe“ wird von der Regierung gewünscht. Mehr Finanzmittel sollen in die soziale und nicht mehr in die ökonomische Infrastruktur fließen. Dabei bleibt die Region Ostasien als Empfängerin von etwa 60 Prozent der bilateralen Hilfe ganz vorn, denn die Stabilität der Nachbarn ist für den Inselstaat von zentraler Bedeutung. Für Lateinamerika bleiben immerhin noch mehr als 10 Prozent, von ehemals weniger als 6 Prozent vor den neunziger Jahren.
Ausführende in Sachen EZ ist die japanische Agentur für Internationale Zusammenarbeit, JICA, die sowohl die technische Kooperation als auch die Vergabe von Entwicklungsgeldern organisiert. Ähnlich der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, GTZ, ist die JICA Auftragnehmerin der Regierung. Allerdings ist sie staatlich und direkt dem Außenministerium unterstellt, nicht wie in Deutschland über den Umweg eines Entwicklungshilfeministeriums. Das vereinfacht die Weisungsmöglichkeiten der Regierung und legt nahe, dass JICA´s Entwicklungszusammenarbeit auch zur Verfolgung eigener außenpolitischer Interessen stattfindet.

Fische für Autos

Japanische Interessen liegen in Lateinamerika vorwiegend im Import-Export-Geschäft. Rohstoffe werden nach Japan eingeführt, technische Produkte, vor allem Autos, sollen ausgeführt werden. Die Präsenz auf dem benachbarten Kontinent ist allgegenwärtig und wird oft durch gezielte Interventionen gestärkt.
Da die Beziehungen zu den meisten lateinamerikanischen Staaten unbelastet sind und sich die japanische Regierung in Fragen der Innenpolitik, beispielsweise der Einhaltung der Menschenrechte, mit Kritik eher zurückhält, sind die Regierungen gegenüber der japanischen EZ entgegenkommend oder zumindest aufgeschlossen.
Gern wird mit den wirtschaftlich starken Ländern kooperiert, in die auch ein großer Teil der Entwicklungsgelder fließt. Mit dem Mercosur sind Brasilien und Argentinien zentrale Ziele der japanischen Außenhandelsorganisation JETRO, des zweiten japanischen Arms, der über den westlichen großen Teich greift.
Die relativ einfache Erreichbarkeit der Pazifik-Anrainer ist es auch, die diese interessant macht. Das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA hat die Handelsbeziehungen zu Mexiko verschlechtert; einen Kandidaten gezielter Förderung stellt Chile dar. Dort ist Japan bereits – zusammen mit Deutschland – der größte bilaterale Geber im Entwicklungsbereich.

Rohstoffe aus Chile

Ein im Juni 2001 erstellter Bericht zur Vorbereitung eines Freihandelsvertrags zeigt die japanischen und chilenischen Interessen eng nebeneinander. Chile ist Japans Hauptlieferant für Kupfer und Fischmehl, Zweiter für tiefgefrorene Forelle und Lachs und immerhin Dritter in Sachen Holz. Es erhält Nachhilfe in Sachen Bergbau, Fischerei und Waldschutz, und vor allem könnte Chile Maschinen und Mittel zur „Transportausstattung“ bekommen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Japans Importe aus Chile mehr als das Doppelte seiner Exporte ausmachen und Chile den zweitgrößten lateinamerikanischen Absatzmarkt darstellt, der noch ausbaubar wäre.
Ein ganzes Paket wurde von JICA geschnürt, aber es sind bei weitem nicht alle Vorhaben in den genannten Bereichen oder nur in der Wirtschaftsförderung angesiedelt.
Die Unterstützung indigener Initiativen beispielsweise erscheint eher als ein Feigenblatt der EZ, das dazu dienen soll, die dicken Fische aus der wirtschaftlichen Kooperation zu verstecken. Zumindest die HelferInnen vor Ort versuchen offensichtlich, mit ihren Projekten den indigenen ChilenInnen zu helfen. Doch ist nicht zu erwarten, dass Japan, am Willen der Landesregierung vorbei, auch deren Selbstbestimmungsrechte fördern würde. Zudem haben japanische Firmen quadratkilometerweise chilenischen Wald gekauft. Eine tatsächliche Schonung und nachhaltige Bewirtschaftung dieser Bestände wird nicht in deren Interesse liegen, obwohl Japan, auch hier gemeinsam mit Deutschland, Waldschutzprojekte fördert.

Pendeln zwischen den Kulturen

Absolute Stille. Wer wochentags das „Tal der Tempel“ Kinkaku-Ji aufsucht, eine waldähnliche Parkanlage 40 Kilometer südwestlich von São Paulos Stadtzentrum, merkt erst, was in der Megametropole nicht mehr zu haben ist. Über einen Teich hinweg kann man vortrefflich meditieren, den buddhistischen Goldenen Tempel im Blick, der dem Original in Kyoto nachempfunden ist. Das ökumenische Friedhofszentrum bietet ab 350 Mark einen Stellplatz für die Urne an.
Asiatisches Flair. Die Praça da Liberdade in São Paulo ist zur gleichen Zeit einer der Knotenpunkte pulsierenden urbanen Lebens. StraßenverkäuferInnen aus dem Nordosten bieten Billigsnacks oder eisgekühltes Kokoswasser an. Doch die chinesischen und japanischen Schriftzüge, auf die selbst der unvermeidliche McDonalds hier nicht verzichtet, und der Vielvölkermix unter den PassantInnen erinnern an San Franciscos Chinatown oder Soho in London. Die Straßen werden von roten Säulengängen gesäumt. In Plattenläden hören sich cool gestyle Jugendliche frisch aus Japan importierte CD-Singles an.
Der erste Haiku. Die 190.000 JapanerInnen, die zwischen 1908 und 1941 nach Brasilien kamen, arbeiteten fast ausschließlich in der Landwirtschaft – zuerst auf den Kaffeeplantagen im Hinterland von São Paulo. Es war für die Meisten eine extrem harte Zeit, wie der wohl erste in Brasilien verfasste Haiku bezeugt:
Am Spätnachmittag
Wein´ ich im Schatten des Baums
Beim Kaffeepflücken.
Autor dieser Zeilen ist der Agent der Kaiserlichen Kolonisierungsgesellschaft Shuhei Uetsuka, der von den ersten EinwanderInnen für ihre missliche Lage verantwortlich gemacht wurde – von einigen erhielt er sogar Morddrohungen.

„Geist Nippons“ verklärt

Durchhaltevermögen. Die Geisteshaltung des gambarê half über die Durststrecken in der unwirtlichen Fremde hinweg: Das demütige Akzeptieren aller Härten als Schicksal, die Ausdauer und der unbedingte Siegeswille der ImmigrantInnen werden in den Romanen über die Pionierzeit hervorgehoben und zum „Geist Nippons“ verklärt.
Schmutzige Herzen. Auf den ersten Kulturschock folgte die traumatische Erfahrung des ultranationalistischen Regimes Estado Novo (ab 1937) und des Zweiten Weltkriegs, als die nikkeis ähnlich wie Deutsche und ItalienerInnen zu internen StaatsfeindInnen deklariert wurden. Ein Teil der Kolonie war unfähig, sich die Niederlage Japans vorzustellen, und verfolgte alle Andersdenkenden bis aufs Messer. Ein dankbarer Stoff für den aktuellen Bestseller Corações Sujos „Schmutzige Herzen“ von Fernando Morais.
Lockruf der Stadt. Die EinwanderInnen der ersten Jahrzehnte mussten sich zwangsweise als KontraktarbeiterInnen in der Landwirtschaft betätigen. Dort führten sie zahlreiche Obst- und Gemüsesorten ein. 1945 zerschlug sich für viele von ihnen endgültig der Traum von der Rückkehr nach Japan. Um ihren Kindern den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, zogen in der Folgezeit viele in die Städte.
Identitäten. Die BrasilianerInnen japanischer Herkunft – heute schätzt man sie auf anderthalb Millionen – bezeichnen sich selbst als nikkei-Kolonie. Issei ist der (oder die) japanische ImmigrantIn. Deren Kinder heißen nisei. In der dritten Generation folgen die sansei, in der vierten die yonsei. Und aus Mischheiraten gehen die não sei (portugiesisch: “weiß nicht”) hervor.
Heimliche Hauptstadt. „Liberdade ist das Herz der nikkei-Gemeinschaft“, sagt Célia Oi, die Direktorin des „Museums der japanischen Einwanderung“. Geschäftsleute japanischer, später auch chinesischer und koreanischer Herkunft hätten den Stadtteil im Zentrum São Paulos erst seit den Sechzigerjahren zu einem „orientalischen Viertel“ entwickelt – mit Geschäften, Dienstleistungsbetrieben und Lokalen aller Art. Doch wichtigste Anlaufstelle für die Neuankömmlinge aus Übersee war Liberdade spätestens seit der zweiten Einwanderungswelle, die von 1953 bis 1973 anhielt.
Brasilianisierung. Heute gibt es keine arrangierten Hochzeiten mehr. Für die allermeisten nikkei-Jugendlichen ist Japanisch eine Fremdsprache. Doch von Außenstehenden werden sie regelmäßig als „JapanerInnen“ angesprochen, was sie zu einer ständigen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität zwingt. Da das moderne Japan in Brasilien einen sehr guten Ruf genießt, ist das weniger schmerzhaft als etwa für Migrantenkinder in Nordamerika oder Europa. Übrigens: 2000 hieß der Sieger des Internationalen Rodeoturniers von Barretos, einem Symbol der brasilianischen Binnenlandkultur, Márcio Suzuki.
Gegenbewegung. „Eine Zukunft in Japan“ – in Liberdade werben solche Schilder unübersehbar für die Auswanderung in das Industrieland auf der gegenüberliegenden Seite des Erdballs. Seit 1985 fließt der MigrantInnenstrom von Brasilien nach Japan. Rund 250.000 dekasseguis („GastarbeiterInnen“) leben bereits dort. Für einen festen Job verschulden sich die jungen Ausreisewilligen bei ArbeitsvermittlerInnen mit über 6.000 bis 9.000 Mark – und arbeiten dann monatelang nur, um aus den roten Zahlen zu kommen. 12-Stunden-Tage in der Industrie sind keine Seltenheit. Nach sieben Jahren Schufterei in Japan hat sich Ilísia Teruko Kavagouth eine Drei-Zimmer-Wohnung in São Paulo gekauft. Die 49-Jährige plant noch einen mehrjährigen Arbeitseinsatz in Tokyo, denn: „Zum Leben ist Brasilien gut, aber Geld verdient man besser in Japan.“

Die japanische Mauer

Das Jahr 1873 war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Zu dieser Überzeugung gelangt, wer auf der Internetseite des japanischen Außenministeriums die Geschichte der peruanisch-japanischen Beziehungen nachliest. Diese begannen in jenem Jahr mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Kurze Zeit später, 1899, betraten die ersten 790 japanischen EinwanderInnen auf der Suche nach Arbeit in der peruanischen Hafenstadt Callao lateinamerikanischen Boden.
Heute ist die japanische Kolonie in Peru mit 80.000 Menschen die zweitgrößte in Lateinamerika. Das japanische Außenministerium erwähnt stolz, dass es mit Alberto Fujimori ein nisei, ein Sohn japanischer Einwanderer, bis zum Präsidenten gebracht habe. Es lobt außerdem die exzellenten Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern, und es zitiert eine peruanische Meinungsumfrage: Nach ihr hielten im Jahre 1995 über 70 Prozent der peruanischen Bevölkerung Japan für die vertrauenswürdigste Nation der Welt.
Dabei unterscheiden die PeruanerInnen ihre MitbürgerInnen japanischer Herkunft nicht einmal von jenen, die aus China oder Korea stammen: alle OstasiatInnen werden unter dem Oberbegriff chinos, Chinesen, zusammengefasst. Das liegt wohl daran, dass die chinesischen EinwanderInnen noch vor den ersten JapanerInnen peruanischen Boden betraten und deren Gemeinde, zählt man die Abkömmlinge aus Mischehen mit, inzwischen auf über eine Millionen Menschen zur größten chinesischen Kolonie in ganz Lateinamerika angewachsen ist. Die aktuelle Erfolgsbilanz der chinesisch- und japanischstämmigen PeruanerInnen liest sich nicht schlecht: zahlreiche Ministerposten und Abgeordnetensitze in den letzten zehn Jahren sowie Bilderbuchkarrieren in Wirtschaft und Behörden. UnternehmerInnen chinesischer Herkunft besitzen etwa 40 Prozent der peruanischen Lebensmittelgeschäfte und stellen den mächtigsten Supermarktbetreiber des Landes; über 70 Prozent der japanischstämmigen PeruanerInnen ist im Handel tätig.

Der Ex-Präsident im japanischen Exil

Nach dem ruhmlosen Abtritt Präsident Fujimoris ist allerdings der Einfluss der beiden Kolonien auf die Politik wieder spürbar zurückgegangen. Kein Wunder: Die Regierung Fujimori stellte sich als das korrupteste Regime der peruanischen Geschichte heraus. Überdies hob das peruanische Parlament erst Ende August einstimmig Fujimoris Immunität auf, die ihm als Ex-Präsident zustand. Damit kann er wegen mehrfachen Mordes angeklagt werden. Denn Fujimori steht unter dringendem Verdacht, zwei Massaker angeordnet zu haben, bei denen über 25 ZivilistInnen von Paramilitärs hingerichtet wurden.
Die Beziehungen zwischen Peru und Japan sind inzwischen auf einem Tiefpunkt angelangt, weil die japanische Regierung sich beharrlich weigert, den in das Land seiner Vorfahren geflüchteten Ex-Präsidenten auszuliefern. Nicht nur das: Neben Fujimori wurde auch seiner Schwester Rosa und deren Mann Victor Artomi die japanische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Artomi war bis Ende letzten Jahres peruanischer Botschafter in Tokio und wird zusammen mit seiner Frau von der peruanischen Justiz beschuldigt, Dollarbeträge in Millionenhöhe veruntreut zu haben.
Die japanische Kolonie in Peru ist über diese Entwicklung nicht glücklich. Seit einigen Monaten versammeln sich in steter Regelmäßigkeit DemonstrantInnen – zuweilen Tausende – vor der japanischen Botschaft in Lima und fordern die sofortige Auslieferung Fujimoris und Artomis.

Abriss der Botschaftsmauer

Sogar vor dem japanischen Kulturinstitut, einer Einrichtung, die hauptsächlich von japanischstämmigen PeruanerInnen genutzt wird, werden Protestaktionen organisiert. Die Bürgermeisterin des Hauptstadtbezirks Lince ließ kürzlich ohne Vorwarnung eine Sicherheitsmauer niederreißen, die die japanische Botschaft umschloss, worüber sich die japanische Regierung verstimmt zeigte. Als Begründung für den Abriss wurde angegeben, die Mauer sei vor über zehn Jahren ohne Genehmigung der zuständigen Behörden errichtet worden. Der anschließende Applaus der peruanischen Medien zeigte deutlich: Die zehnjährige Regierungszeit Fujimoris hat das Ansehen der JapanerInnen nur vorübergehend gehoben. Würde die vom japanischen Außenministerium auf seiner Internet-Seite zitierte Umfrage heute wiederholt, sähen die Ergebnisse sicher völlig anders aus.
Auch die chinesische Gemeinde in Lima musste Federn lassen. Zu sehr hatte Präsident Fujimori neben seinen japanischstämmigen FreundInnen auch Angehörige der chinesischen Minderheit mit guten Posten versorgt. Deren oberster politischer Repräsentant Victor Joy Way, unter Fujimori Parlamentspräsident und Industrieminister, steht seit einigen Wochen unter Hausarrest. Er soll unter anderem Staatsgelder aus der Privatisierung öffentlicher Unternehmen in großem Rahmen für illegale Waffenkäufe abgezwackt haben, für die er Provisionen in Millionenhöhe kassierte. Etlichen PolitikerInnen japanischer oder chinesischer Herkunft gelang es Anfang der 90er Jahre auch deshalb Karriere zu machen, weil ihnen weniger der Stallgeruch der Korruption anhaftete als der zuvor herrschenden politischen Klasse. Dieser Vertrauensvorschuss ist endgültig dahin.

Die Mär von der Freundschaft

Das japanische Außenministerium müsste seine Internetseite über die Beziehungen zur Republik Peru aber nicht nur dringend aktualisieren, sondern auch völlig neu gestalten. Denn die Mär von der peruanisch-japanischen Freundschaft war schon immer falsch. Ein Blick zurück auf die Geschichte der japanischen EinwanderInnen: Zwischen 1899 und 1924 kamen etwa 18.000 Arbeit suchende JapanerInnen im Hafen von Callao an.
Die große Mehrheit waren landlose BäuerInnen oder ehemalige Soldaten, die nach dem Ende des japanisch-russischen Krieges keinen Sold mehr bezogen. Sie heuerten als LandarbeiterInnen an, betrieben nach kurzer Zeit Restaurants, Bäckereien, Frisörläden, Bazare, Schneidereien oder widmeten sich Export- und Importgeschäften. Ab 1924 zogen nur noch FreundInnen und Verwandte der bereits in Peru ansässigen JapanerInnen nach. Nicht zuletzt den Handelsaktivitäten der japanischen SiedlerInnen war es zu verdanken, dass ihr altes Mutterland bereits Anfang der 30er Jahre den zweiten Platz bei den peruanischen Importen einnahm. Dabei war in Peru der Billigimport von Textilien nicht gern gesehen. Verschiedene peruanische Medien starteten damals eine Hetzkampagne gegen japanische Textilimporteure, von denen sie die heimische Fertigung bedroht sahen. In der Folge kam es im Mai 1940 zu einer Plünderung japanischer Geschäfte, die 620 japanische EinwanderInnen obdachlos werden ließ.
Der zweite Weltkrieg brachte weiteres Unheil für die japanische Gemeinde in Peru. Im Jahre 1942 brach die peruanische Regierung die diplomatischen Beziehungen zu Japan ab, suspendierte sämtliche kommerziellen und finanziellen Beziehungen und ließ 1500 ansässige JapanerInnen auf Druck der US-Regierung in Konzentrationslager der Vereinigten Staaten deportieren. Im Februar 1945 erklärte die peruanische Regierung Japan den Krieg und beschlagnahmte japanische Besitztümer, unter anderem allein in Lima fünf Schulen. Nicht zuletzt diese Ereignisse trugen dazu bei, dass sich die japanische Gemeinde in Peru stark zusammenschloss und weitgehend isolierte.

Chinesische Zwangsarbeiter

Die Geschichte der chinesischen Einwanderung stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Sie begann 1849 mit einem Gesetz der peruanischen Regierung, das jedem Menschenhändler, der 50 Arbeitskräfte im Alter zwischen zehn und fünfzig Jahren nach Callao beförderte, eine stattliche Prämie zusicherte. Hintergrund war der Guanoboom, der inzwischen das Land erfasst hatte. Die Exkremente, von riesigen Vogelschwärmen auf den peruanischen Felsen der Pazifikküste hinterlassen wurden, sorgten damals in Europa als Düngemittel für eine Agrarrevolution. Die auf den Plan gerufenen Menschenhändler wurden vor allem in China fündig und schafften bis 1875 knapp hunderttausend Männer heran, insbesondere aus der Provinz Kanton und der portugiesischen Kolonie Macao. Schon auf den Transportschiffen wurden die Chinesen wie Tiere zusammengepfercht. Über zehn Prozent der Passagiere bezahlte die Überquerung des Pazifiks mit dem Leben.
Einmal in Peru angekommen, wurden sie an Plantagenbesitzer oder Guanoexporteure verkauft. Der Form halber – es handelte sich formal schließlich nicht um SklavInnen – bekamen die frischen Arbeitskräfte einen Kontrakt für die Zeit von acht Jahren. Doch da sie fast ausschließlich Analfabeten waren, konnten sie ihre Verträge ohnehin nicht lesen. Fakt war: Während der acht Jahre durften sie ihren Arbeitsplatz nicht ohne Zustimmung ihres Patrons verlassen, und die meisten konnten es auch anschließend nicht, weil ihr Patron dafür sorgte, dass sie anstelle von Ersparnissen Schulden bei ihm anhäuften. Sie lebten zum großen Teil unter den gleichen Verhältnissen wie die schwarzen Sklaven auf den Baumwollfeldern und Zuckerrohrplantagen an der peruanischen Pazifikküste. Bis zu 10.000 Chinesen wurden zum Bau der Eisenbahnlinien herangezogen, auf denen peruanische Erze und Mineralien aus dem Andenhochland zu den Häfen der Pazifikküste transportiert werden sollten. Deren Landsleute hatten sich schon zuvor als prächtige Zwangsarbeiter beim Bau der US-Eisenbahn über die Rocky Mountains erwiesen.
Tausende chinesischer Arbeitssklaven verendeten unter der Obhut ihres Patrons elendig. Meutereien oder Massensuizide verbesserten die Arbeitsbedingungen nicht. Die Diskriminierung der Chinesen erreichte ihren Höhepunkt, als im peruanisch-chilenischen Salpeterkrieg die auf peruanisches Territorium vorgerückte chilenische Armee chinesische Zwangsarbeiter aus ihren menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen befreite und diese wiederum als Dank in chilenischer Uniform gen Lima marschierten. Als Folge kam es 1881 zur Plünderung chinesischer Geschäfte in Lima und zu einer Reihe weiterer Übergriffe gegenüber der chinesischen Bevölkerung. Noch 1936 verabschiedete die peruanische Regierung ein Gesetz, das sich explizit gegen japanische und chinesische BürgerInnen richtete. Danach wurde die Einwanderung auf 16.000 Personen einer Nationalität begrenzt, eine Ziffer, die bis dato nur von den ImmigrantInnen dieser beiden Länder erreicht worden war.

Kochkunst aus Kanton

Die Integration in die ohnehin multikulturelle peruanische Gesellschaft ist den ChinesInnen dennoch besser gelungen als den JapanerInnen. Sie waren schließlich von Anfang an gezwungen gemischte Ehen einzugehen, weil die Menschenhändler damals für chinesische Frauen keine Prämien erhielten. Ein Großteil der chinesischen Bevölkerung hat sich taufen lassen. Viele Nachkommen der ersten Einwanderer beherrschen die chinesische Sprache heute weder in Wort noch Schrift. Doch der Einfluss der chinesischen Kultur in Peru nicht zu übersehen. In Lima gibt es immer noch zwei chinesischsprachige Zeitungen, und das direkt hinter dem peruanischen Kongress gelegene chinesische Viertel der Hauptstadt wird restauriert. Fest zur peruanischen Kultur gehören vor allem die vielen chifas, die chinesischen Restaurants, von denen es allein in Lima über tausend gibt. Die dort angebotenen Gerichte sind Produkt der kantonesischen Kochkunst und werden von den PeruanerInnen inzwischen sogar als Nationalgerichte akzeptiert.
Die japanische Kolonie in Peru hat sich dagegen bis heute weitgehend abgesondert und ebenso wie die Botschaft ihres Mutterlandes eine Mauer um sich errichtet. Das ist vor allem immer noch den schlechten Erfahrungen während der Kriegszeit geschuldet. Zwar sind auch von den Nachfahren der japanischen EinwanderInnen viele zum christlichen Glauben übergetreten, doch eine ganze Reihe PeruanerInnen japanischer Abstammung hat sich auch in der vierten Generation noch nicht auf eine Mischehe eingelassen. In der japanischen Gemeinde wird weiterhin der Gebrauch der Muttersprache gepflegt, obwohl sie teilweise nicht mehr korrekt gesprochen wird. Nur ist es nach den Erfahrungen mit der Regierung Fujimori äußerst unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft nochmals einem chino gelingt, peruanischer Präsident zu werden.

Von alten Männern und falschen Zöpfen

Die Sonne steht hoch am Himmel über Havannas Chinatown. Unbarmherzig brennt sie auf die Marktstände am Rande der Altstadt nieder. Seit den frühen Morgenstunden steht Luis Chang in einem der weißlackierten Blechcontainer und verkauft Obst und Gemüse. Der Duft von reifen Früchten hängt in der Luft. Fliegen tummeln sich auf einer aufgeschnittenen Orange, spazieren über frische Paprika und lassen sich auf einer Papaya nieder – bis Luis sie mit einem Palmwedel verscheucht. Der kleine Mann schaut auf seine silberne Armbanduhr. Es ist kurz vor zwölf, Zeit zum Mittagessen.
Er nimmt sich einige Peso aus der Kasse, zieht einen kleinen Beutel aus den adrett aufgeschichteten Auslagen hervor und lässt ihn in einer Tasche seines Hemdes verschwinden. Mit einem freundlichen Kopfnicken verabschiedet er sich von den Kollegen im Container in die Mittagspause.
Er hat es nicht eilig, denn es sind nur wenige Meter bis zur Residencia China, seinem Zuhause, wo er gemeinsam mit elf anderen gebürtigen Chinesen wohnt. Vor zwei Jahren ist er in das Altenheim eingezogen. In der eigenen Wohnung wurde es dem 69-Jährigen mit dem pechschwarzen, sauber gestutzten Haarschopf zu einsam. Familie hat Luis genauso wenig wie sein Freund Rafael Chang, der in der Küche der Residencia den Kochlöffel schwingt.
Lächelnd zieht Luis das Beutelchen aus der Tasche seiner Guayabera, dem kubanischen Nationalgewand, und überreicht es dem weißhaarigen schlacksigen Koch mit der fleckigen Schürze. Mit seinen 85 Jahren steht Rafael immer noch gern am Herd und mit großen Augen öffnet er den Beutel. „Jengibre“ – Ingwer ruft er freudig und täschelt dem Freund dankbar die Schulter.
Gewürze sind rar in Kuba und Rafael fehlen oft die Zutaten, um so zu kochen, wie er es von früher her gewohnt ist. „Es wird kaum etwas aus China importiert“, klagt er, „und fast alles wird nur gegen Dollar verkauft.“ Dollar besitzt der alte Koch, der aus Foshan, einer Stadt in der Nähe Hongkongs stammt, jedoch nicht. Umso mehr freut er sich, wenn ihm Luis etwas vom Markt mitbringt.

Waschechte Chinesen im barrio chino

1929, mit dreizehn Jahren, hat Rafael China gemeinsam mit seinen Eltern verlassen, die in Kuba ihr Glück suchen wollten und sich in Villa Clara ansiedelten. „Zeitlebens haben sie davon geträumt zurückzukehren, aber irgendwann waren sie zu alt für die Reise“, erzählt Rafael, der bei ihnen blieb und vor fünf Jahren nach Havanna übersiedelte. Geheiratet hat er genauso wenig wie Luis, der aus der gleichen Provinz stammt, jedoch fast sein ganzes Leben in Havannas Chinesenviertel verbracht hat.
Die beiden gehören zu den rund 300 waschechten Chinesen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einwanderten und heute noch in Kuba leben. „Damals gab es eine große chinesische Gemeinde in Kuba, und Havannas barrio chino war das lebendigste Lateinamerikas“, sagt Luis. Zahlreiche Vereine, sozialer, kultureller und geschäftlicher Natur, überzogen das Viertel wie ein Netz und waren Anlaufstelle nicht nur für Neuankömmlinge. Dort gab es Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und Vertrautes fernab der Heimat. Einige dieser Vereine haben bis heute überlebt. So zum Beispiel das Casino Chung Wah, das älteste und wichtigste Zentrum der chinesischen Gemeinde in Kuba. Hier treffen sich die Alten wie Luis und Rafael, um über längst vergangene Zeiten zu plaudern, die chinesischen Feiertage zusammen zu begehen oder der zweiten und dritten in Kuba aufgewachsenen Generation zu erklären, was sie beziehungsweise ihre Eltern nach Kuba geführt hat.

Zuckerrohrschneiden für 4 Pesos im Monat

Die Ersten von insgesamt rund 150.000 Chinesen setzten 1847 ihren Fuß auf die Insel: 206 Bauern waren es, die für die Zuckerrohrernte angeworben wurden. Acht Jahre sollten sie auf den Plantagen für 4 Peso im Monat schwitzen. Wer die Tortur überstand, musste sich eingestehen, dass mit den wenigen Peso, die am Ende übrig blieben, der Weg nach Hause verbaut war. Also siedelten sie sich unter elenden Bedingungen rund um Havannas Abwasserkanal, die Zanja, an. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wuchs auch das Chinesenviertel. Neuankömmlinge aus den Nachbarländern, vor allem den USA, investierten: Eine Importgesellschaft entstand, genauso wie Theater, Kinos, Apotheken, Opiumhöhlen oder das Casino. Nicht nur im Handel spielten die Chinesen eine Rolle, auch an den kubanischen Unabhängigkeitskriegen nahmen sie teil. Bekanntestes Beispiel ist der Teniente Tankredo, der es bis zum General im zweiten Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien brachte. Nach der kubanischen Revolution von 1959, die von den Chinesen mit einem eigenen Milizbataillon unterstützt wurde, verblassten die Zeugnisse des chinesischen Einflusses, die im Casino lebendig gehalten werden, zusehends.
Dem Untergang des barrio chino und dem Vergessen der chinesischen Kultur wird seit einigen Jahren allerdings nicht mehr tatenlos zugesehen. Einige engagierte Nachkommen chinesischer Einwanderer haben sich 1992 zusammengefunden, um zu retten, was zu retten ist. An die eigene Tradition will man anknüpfen, das Viertel wiederbeleben und zu neuer Größe aufpäppeln, erklärt Elisa León, Mitglied der „Gruppe der Förderer des Chinesenviertels“. Die 49-jährige chinesischstämmige Biologin, arbeitet seit 1993 in der Organisation. Aus der Suche nach der eigenen Identität, mit der für sie alles begann, ist längst ein neuer Beruf geworden. Ihre Arbeit an einem Forschungsinstitut hat sie aufgegeben, was kaum möglich gewesen wäre ohne die Hilfe der Regierung, die sich dazu entschied, die Arbeit der Gruppe zu unterstützen. Sie wurde zur Regierungsorganisation befördert und erhielt recht weit gehende Autonomie, erinnert sich die viel beschäftigte Frau.

Das Viertel lebt wieder auf

Sämtliche Steuereinnahmen, die in den Straßen mit so klangvollen Namen wie Dragones, Rayo oder Sol y Villages erwirtschaftet werden, fließen in die Kasse der Organisation. Die kulturelle Arbeit, mit der die Gruppe begann, ist zu Gunsten der Kommerzialisierung des Viertels in den Hintergrund getreten. Sprachkurse und Seminare zur Geschichte der Gemeinde werden zwar nach wie vor organisiert, aber im Fokus der Gruppe steht der Aufbau einer leistungsfähigen Dienstleistungsstruktur im barrio chino. Für die Eröffnung von Restaurants, die Gründung kleiner Familienbetriebe, aber auch für die Planung von Hotels und Pensionen zeichnet die Gruppe verantwortlich. Das Angebot soll, so Elisa León alias Mayei Kui, kontinuierlich erweitert werden.
Die Handschrift der Gruppe ist in den noch vor wenigen Jahren durch Apathie und Verfall gekennzeichneten Häuserschluchten rund um die Zanja deutlich zu erkennen. Was 1968 während der zweiten kubanischen Verstaatlichungswelle enteignet wurde, scheint über dreißig Jahre später wieder aufzuerstehen. Alte Geschäftsschilder erstrahlen in neuem Glanz, Rollläden werden hochgezogen, Türen öffnen sich, hinter denen kleine Geschäfte, wie die Wäscherei an der Ecke Manrique, zum Vorschein kommen. Grundlage für den bescheidenen Boom ist die Legalisierung der „Arbeit auf eigene Rechnung“, der im September 1993 verabschiedeten gesetzlichen Grundlage für die Selbständigkeit in Kuba. Damit war es erstmals seit 1968 wieder möglich Handel zu treiben, wenn auch in engen Grenzen, was von der chinesischstämmigen Bevölkerung schnell genutzt wurde. Ständig entstehen neue Betriebe, von denen die meisten von chinesischen Familien betrieben und von der Gruppe der Förderer verwaltet werden.
Die Residencia China gehört ebenfalls dazu, die auch Miguel Barnet schon besucht hat. Er arbeitet an einem neuen ethnologischen Roman über die Geschichte und die Einflüsse der chinesischen Gemeinde in Kuba. Luis hat ihn schon gesprochen und ist begeistert, dass den alten Chinesen auf einmal Aufmerksamkeit geschenkt wird. Symbolisiert wird das Erwachen des Chinesenviertels durch ein überdimensioniertes Eingangstor, welches einer chinesischen Seifenoper entstammen könnte. Das 13 Meter hohe Kitschungetüm markiert den Eingang zur kleinen Meile chinesischer Restaurants und Garküchen, die das Herz des ehemals bekanntesten Chinesenviertels Lateinamerikas bilden.

Kein Karneval ohne chinesische Trompete

Die Einflüsse chinesischer Kultur sind jedoch auch abseits des Viertels sichtbar. So darf die Corneta China, die chinesische Trompete, auf keinem Karneval fehlen, und sowohl der Reis als auch die zahlreichen Gemüsesorten sind aus der kubanischen Küche kaum mehr wegzudenken. Besondere Aufmerksamkeit wird auch der traditionellen chinesischen Medizin zuteil. Die Akupunktur, aber auch die Verwendung traditioneller Heilkräuter sind in Kuba angesichts der chronischen Engpässe bei der Medikamentenversorgung zu einer echten Alternative geworden.
Für Luis kommen die vielfältigen Aktivitäten im barrio chino jedoch recht spät. „Zwar ist es schön, dass endlich etwas passiert, aber wir Alten werden davon nichts mehr haben. Unser Viertel wird zum Chinesenviertel ohne Chinesen.“

“Wir sind alle eins, im positiven Sinn”

In Deutschland gilt Trinidad und Tobago als afrokaribisches Land, bekannt durch den Karneval und den Calypso. Fast niemand weiß, dass rund 40 Prozent der Bevölkerung indisch-asiatischer Herkunft sind. Wie läuft es auf Trinidad zwischen den Ethnien, macht jede Community ihr Ding oder gibt es ein multikulturelles Miteinander?

Ich glaube Trinidad ist ein gutes Beispiel für eine multikulturelle Gesellschaft. Selbstverständlich machen die Afrokariben ihr Ding und die Inder machen Ihres. Aber trotzdem verstehen wir uns als eine Gesellschaft – trotz aller Versuche der Politiker, besonders vor Wahlen, die Rassen-Karte auszuspielen. Aber im Alltag leben Afrokariben zusammen mit Indern, mit Europäern. Wir alle sind eins im positiven Sinne, es ist ein gutes Beispiel für die Welt.
Unsere Probleme rühren woanders her, sie kommen direkt aus dem Kolonialismus. Wir sind zwar eine unabhängige Nation, aber das Gespenst des Kolonialismus wirkt weiter. Es wirkt im Erziehungswesen, es ist präsent in den kulturellen Werten, die dem Land übergestülpt wurden, es steckt im Rechtssystem. Ebenso wirkt die US-amerikanische Kultur über das Fernsehen, ich denke dabei zum Beispiel an MTV, und sie erschwert, dass sich eine starke trinidadische Identität herausbildet.

Trinidad und Tobago war bis 1962 britische Kolonie. Welche Geschichte wird in der Schule vermittelt, die englische oder die trinidadische?

Es ist ein zentrales Problem, dass wir keinen Geschichtsuntericht haben, der sich direkt auf unsere Wurzeln bezieht. Das hat Folgen für das (Selbst)Bewusstsein der ganzen Gesellschaft. Das ist eine Sache, die angegangen und geändert werden muss. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass wir es geschafft haben, über alle Rassengrenzen hinweg ein gutes Verhältnis zu entwickeln.

Nach der Abschaffung der Sklaverei 1834 wurden indische Arbeiter auf die Insel geholt. Führte das nicht zu Konflikten?

Wenn die Arbeiter streiken und die Fabrikbesitzer andere Arbeitskräfte ins Land schaffen und sie als Streikbrecher einsetzen, dann schafft das selbstverständlich Feindseligkeiten. Die gab es auch damals zwischen den Afrikanern und der herbeigeholten indisch-asiatischen Bevölkerung. Trotzdem ist über die Jahre hinweg eine gemeinsame Grundlage entwickelt worden, kulturell, musikalisch und so weiter. Das hat alles zu einer trinidadischen Gesellschaft und Identität beigetragen.

Es heißt, die Afrokariben leben überwiegend in den Städten und die Inder mehr auf dem Land…

Das stimmt so nicht. Die Inder leben in der Stadt und auf dem Land, ebenso die Afrokariben…

Aber die Africans haben es wegen ihrer Vergangenheit als Sklaven weniger mit der Landwirtschaft?

Das ist richtig, aber dazu muss man wissen, dass den indisch-asiatischen Arbeitskräften in ihrem Arbeitsvertrag eine kostenlose Rückfahrt versprochen wurde. Oder an Stelle einer Rückkehr nach Indien ein Stück Land. Für die afrikanische Bevölkerung hat es nie eine Entschädigung für die gewaltsame Verschleppung aus ihren Herkunftsländern gegeben. Das ist eines der wesentlichen Probleme, warum es für Afrikaner schwierig war, nach der Abschaffung der Sklaverei an Land zu kommen. Deshalb zog es die meisten in die Städte, um der Situation auf den Plantagen zu entkommen.

Welcher ist der bedeutendste Einfluss der indischen Kultur auf die afrokaribische?

Das ist schwer zu beantworten. Sicherlich die Musik, die Kunst, aber in erster Linie die Küche, das Essen, das hat den größten Einfluss entfaltet.

Und in Bezug auf die Gebräuche und Sitten. Nehmen die Inder am Karneval teil?

In der indischen Community findet man die Hindus, die größtenteils als religiöse Gemeinde für sich leben, aber im Allgemeinen mischt sich das Leben, gibt es gegenseitige Einflüsse bei der Kleidung, dem Essen und alle nehmen am Karneval teil.

Aber der Karneval ist von Africans dominiert?

Es ist ein afrikanischer Karneval, in dem Sinne, dass er dort seinen Ursprung hat und sein Charakter afrikanisch ist. Er spiegelt die afrikanischen Traditionen, die traditionellen Masken und Zeremonien wider. Da liegt sein Ursprung. Gleichzeitig ist er aber die Feier der Emanzipation von der Sklaverei. So ist er direkt mit der Erfahrung der afrikanischen Bevölkerung verbunden. Aber mit der Zeit hat er sich zu einem trinidadischen Festival entwickelt, an dem alle teilnehmen: Africans, Inder, Europäer, andere Nationen. Es ist eine offene Kultur.

In den siebziger Jahren erlebte die Black-Power- Bewegung ihren Aufschwung. Hatte die indisch-asiatische Community nicht die Befürchtung, dass sich diese Bewegung auch gegen sie richtet?

Nicht generell. Das war eher eine Frage der Klasse, ob jemand zur oberen Gesellschaftsschicht gehörte. Dieser Teil der Community, der Geld hatte oder hohe Positionen in der Gesellschaft besetzte, war sicher besorgt. Aber einer der zentralen Grundsätze der Black-Power-Bewegung war: “Africans and Indians unite – Afrikaner und Inder schließt euch zusammen!“ Das war nicht nur ein Slogan, das war ein Kernsatz der Bewegung. Der Betonung des Schwarzen lag eine politische Definition zu Grunde: wenn du nicht weiß bist, bist du automatisch schwarz, und so schloss die Black-Power Bewegung die indisch-asiatische Community mit ein.

Nimmst du als Rastafari an Wahlen teil oder gilt für dich der Satz: “Rastaman don’t vote?”

Ich gehe nicht zur Wahl. Aber nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil ich keine Partei erkennen kann, die die Interessen des Volkes vertritt. Ich beobachte die beiden wichtigsten Parteien, die auf Trinidad und Tobago gerade die Politik aushandeln, dabei, wie sie viel mehr Energie in die multinationalen Konzerne und das große Business stecken, als sich um die Interessen des Volkes zu kümmern. Aber ich achte schon darauf, dass ich am politischen Prozess teilhabe, denn darum geht es im Leben. Deshalb muss ich bei jeder Regierung, die im Amt ist, ich sage bewusst Amt und nicht Macht, darauf schauen, was ich von dieser Regierung zu Gunsten meiner unmittelbaren Gemeinschaft zu erwarten habe und zu Gunsten des Volkes im Allgemeinen.

Bist du in Basisbewegungen engagiert?

Überwiegend auf kulturellem Gebiet, beispielweise in der Vorbereitung des Karnevals. Darüberhinaus lebe ich in einer Gemeinschaft namens Lavantil, die eine der unterdrücktesten Communities in Trinidad und Tobago ist. Hier schlägt gegenwärtig das kulturelle Herz von Trinidad und an dieser Gemeinde hängt mein Herz, denn hier bin ich geboren worden. Ich setze mich dafür ein, dass sich hier die Lebensbedingungen verbessern und suche dazu auch Unterstützung durch Regierungsgelder.

Globalisierung ist heute als Schlagwort in aller Munde. Wie schlägt sich die Globalisierung in Trinidad nieder?

Wir spüren sie, aber eigentlich ist Globalisierung für uns nichts Neues. Wir haben immer alles von außen bekommen: Neuigkeiten, Sichtweisen, Werte. Wenn ich Globalisierung höre, kann ich nur sagen OK, lasst sie rein. Wenn Globalisierung bedeuten würde, dass es keine Rolle spielt, wie klein ein Land ist, wenn klar ist, dafür stehen wir, das ist unser oder mein Angebot und es wird in der gleichen Weise akzeptiert wie das der großen Nationen, dann macht Globalisierung Sinn. Anders wäre es für uns die gleiche alte bekannte Sache.

Können die karibischen Gesellschaften nicht als Modell für eine andere, weltoffene Globalisierung dienen? Jede karibische Insel hat MigrantInnen in vielen Teilen der Welt, ob in New York, Großbritannien oder anderswo und damit viele Verbindungen zu anderen Kulturen.

Da kann ich nur zustimmen, das sehe ich genauso.

Interview: Martin Ling / Jürgen Vogt

KASTEN:
Trinidad und Tobago und Guayana

Die Bevölkerungsmehrheit auf Trinidad besteht aus Nachkommen afrikanischer SklavInnen und indischstämmigen BewohnerInnen, jeweils rund 40 Prozent. Die indischstämmige Bevölkerung sind Nachkommen der indischen VertragsarbeiterInnen, die nach Abschaffung der Sklaverei 1834 mit dem so genannten Indentursystem (Vertragsarbeitssystem) auf die Insel geholt wurden. 150.000 ArbeiterInnen wurden in den Jahren von 1844 bis 1917 für die Zuckerrohrplantagen angeworben. Ihre Kontrakte enthielten den kostenlosen Rücktransport nach Vertragsablauf. Die steigenden Reisekosten brachten die Verwaltung der seit 1802 britischen Kolonie auf die Idee, den ArbeiterInnen alternativ Kronland auf der Insel anzubieten. Etwa drei Viertel griffen darauf zurück. So kamen zu den christianisierten Afrikanischstämmigen indische Hindus und zu einem geringeren Teil Muslime hinzu. Während sich bis heute die Landbevölkerung überwiegend aus indischen Nachfahren konstituiert, haben sich die Schwarzen und Mulatten in den Städten niedergelassen und stellen das Gros der Industriearbeiterschaft und der öffentlichen Angestellten. So sind von den 350.000 EinwohnerInnen der Hauptstadt Port of Spain gerade mal zehn Prozent indischer Abstammung. 1962 erhielt Trinidad die Unabhängingkeit. 1995 wurde mit Basdeo Panday der erste indischstämmige Ministerpräsident gewählt (siehe LN 320).
Eine ähnliche Entwicklung fand auch auf dem nahe gelegenen Festland in Guyana statt. Bis 1966 Britische Kolonie, wurde die Sklaverei 1833 ein Jahr früher als auf Trinidad abgeschaft. Die neue Verhandlungsmacht der ehemaligen SklavInnen über die Löhne veranlasste auch hier die Zuckerrohrplantagenbesitzer, verstärkt Arbeitskräfte von außerhalb anzuwerben. Von 1834 bis 1917 wurden 340.000 ArbeiterInnen ins Land geholt, wovon 240.000 aus Indien kamen. Heute liegt der Anteil der indischstämmigen Bevölkerung mit gut 45 Prozent über dem, der Afrostämmigen mit gut 35 Prozent. Noch vor der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht ging mit Cheddy Jagan der erste indischstämmige Premierminister aus den Wahlen von 1953 hervor.
M.L./jüvo

Die Ein-China-Politik spaltet Lateinamerika

Ohne die zentralamerikanischen Verbündeten hätte Taiwans Präsident Chen Shui-bian keinen Vorwand für zwei öffentlichkeitswirksame Zwischenstopps in den USA gehabt.“ So kommentierte die angesehene Hongkonger Zeitschrift Far Eastern Economic Review die Lateinamerikareise des taiwanischen Präsidenten im vergangenen Mai. Im international weitgehend isolierten Taiwan galten Chens Zwischenstopps in New York auf dem Hin- und in Houston auf dem Rückweg als größte Erfolge seiner erst zweiten Auslandsreise. Noch im August 2000 genehmigte die damalige Clinton-Regierung Chen bei seiner ersten Reise einen Zwischenstopp nur mit der Auflage, sein Hotel in Los Angeles nicht zu verlassen und keine PolitikerInnen zu treffen. Die Regierung von George W. Bush, die gerade mit Peking um das in Hainan notgelandete US-Spionageflugzeug stritt, gönnte dem um internationale Anerkennung buhlenden Chen mehr Spielraum. Sie hatte nichts dagegen, dass er sich mit zahlreichen Kongressabgeordneten und New Yorks Bürgermeister traf.

Zwischenstopp in USA

Dass die Zwischenstopps in den USA gleich die ganze Reise nach Zentralamerika in den Schatten stellten, ist bezeichnend für Taiwans Verhältnis zu seinen lateinamerikanischen Verbündeten. Dabei besuchte Chen neben Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama und Paraguay immerhin den dritten zentralamerikanisch-taiwanischen Gipfel in San Salvador. Dort erwarteten die zentralamerikanischen Staats- und Regierungschefs von Taiwan mal wieder vor allem Geld. Denn alle sieben zentralamerikanischen Staaten erkennen statt der Volksrepublik China die Republik China an, so Taiwans offizieller Name. Das lassen sie sich von der Regierung in Taipeh mit Geldgeschenken und günstigen Krediten bezahlen. So baute Taiwan seinem verbündeten nicaraguanischen Präsidenten Arnoldo Alemán nicht nur einen neuen Präsidentenpalast in Managua, sondern auch gleich noch ein neues Außenministerium.
Taiwanische Firmen gehören zu den größten Investoren in Zentralamerika, wo das ostasiatische Land Exportproduktionszonen und Industrieparks finanzierte. Taiwan liefert seinen lateinamerikanischen Verbündeten vor allem Maschinen, Autoteile, Plastik, Schuhe und Fahrräder, während es von dort Leder, Fisch, Kaffee, Aluminium und Holz bezieht. Zentralamerika ist vor allem ein preiswertes Sprungbrett auf den nordamerikanischen Markt. So lässt in Nicaragua der taiwanische Textilkonzern Nien Hsing, dessen Firma Chentex wegen miserabler Arbeitsbedingungen und der Entlassung von GewerkschafterInnen für Schlagzeilen sorgte, Jeans und T-Shirts von 13.000 lokalen MitarbeiterInnen für Nordamerika nähen (siehe folgenden Artikel). Auch in El Salvador beschäftigen 32 taiwanische Firmen über 15.000 Menschen vor allem in Exportbetrieben. In dem von Erdbeben gebeutelten Land ist die Buddhist Compassionate Relief Tzu Chi Foundation, Taiwans größte Hilfsorganisation, zugleich eine der aktivsten ihrer Art.

Dollardiplomatie

Die lateinamerikanischen Beziehungen zu Taiwan datieren aus der Zeit des Kalten Kriegs. Schon damals wurden Taiwans Verbündete von autoritären antikommunistischen Regimen regiert, während auf der ostasiatischen Insel die Kuomintang diktatorisch herrschte. Die hatte bis 1949 auf dem chinesischen Festland die „Republik China“ regiert, mit der sie vor Maos KommunistInnen nach Taiwan floh. Bis 1971 vertrat Taiwan ganz China im UN-Sicherheitsrat. Doch nach dem Wechsel der UN-Mitgliedschaft zur Volksrepublik begann die Zahl der internationalen Verbündeten Taiwans kontinuierlich zu schrumpfen. Heute sitzt die Hälfte von Taiwans verbliebenen Freund in Zentralamerika, der Karibik sowie in Paraguay, dem einzigen Land Südamerikas, das noch keine Beziehungen zu Peking hat. Da die kommunistische Regierung in Peking Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet, wertet sie dessen diplomatische Anerkennung als Einmischung in innere Angelegenheiten, was als „Ein-China-Politik“ bezeichnet wird. Und weil Peking mit Vergeltungsmaßnahmen droht, erkennen heute nur noch 28 vor allem kleine Staaten Taiwan an. Die Anerkennung lassen sich Taiwans Freunde mit „Dollar-Diplomatie“ bezahlen.
Taiwan versucht seine Verbündeten auch militärisch zu unterstützen. So übergab Taiwan laut einem Bericht der Taipei Times kürzlich fünf ausgemusterte Transporthubschrauber an Paraguays Luftwaffe. Weitere Hubschrauber sollen folgen, wenn Taiwan selbst neue Helikopter aus den USA erhält. Taiwans hochgerüstetes Militär trainiert bei seinen lateinamerikanischen Verbündeten Sondertruppen oder bildet selbst lateinamerikanische Militärs in Taiwan aus. So schickt Taipeh jährlich zwei Militärpolizisten von einer Sondereinheit zur Terrorismusbekämpfung nach El Salvador, um dort die Leibwache des Präsidenten auszubilden. Und am taiwanischen Fuhsingkang Militärkolleg gibt es eine ganze Klasse von Rekruten aus Lateinamerika, über deren Größe in Taiwan offiziell Stillschweigen herrscht.
Im inzwischen demokratischen Taiwan regiert seit Mai 2000 mit Präsident Chen ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt aus der früheren antidiktatorischen Opposition. Er hat verkündet, die „Dollar-Diplomatie“ durch „qualitätsvolle Beziehungen“ zu ersetzen, zumal Taiwan heute wirtschaftlich nicht mehr so glänzend dasteht wie noch vor wenigen Jahren. Doch mit dem dezenten Hinweis, wenn Taipeh nicht genug zahle, werde man die Anerkennung der Volksrepublik China erwägen, gelingt es den zur Korruption neigenden zentralamerikanischen Verbündeten immer wieder, Taiwans Abkehr von der Scheckbuchdiplomatie zu verhindern.

Peking hofiert Taiwans Verbündete

Schließlich sucht Peking auch die Zusammenarbeit mit den PartnerInnen Taiwans. So war eine Delegation der in Paraguay regierenden Colorado-Partei gerade in Peking eingeladen, als Taiwans Präsident Chen zum Staatsbesuch in Asunción weilte. Peking wirbt um Taiwans Verbündete mal freundlich wie zurzeit im Fall des strategisch wichtigen Panama, wo mit 120.000 ChinesInnen die größte chinesische Gemeinschaft Zentralamerikas lebt, oder mit massivem diplomatischen Druck wie vor einigen Jahren im Falle Guatemalas. Dort stimmte das UN-Sicherheitsratsmitglied China im Januar 1997 einer UN-Beobachtungsmission für Guatemalas Friedensprozess erst zu, als die Regierung in Guatemala-Stadt ein distanzierteres Verhältnis zu Taiwan versprach. Ähnlich war die Situation ein Jahr zuvor im Falle einer UN-Mission nach Haiti gewesen.
Auch lockt Festland-China mit Geld und Investitionen und vor allem einem wachsenden Handelsaustausch mit seinem riesigen Markt. Das Reich der Mitte bezieht Kupfer aus Chile, Getreide aus Argentinien, Eisenerz aus Brasilien und Wolle aus Uruguay. Im Gegenzug liefert die Volksrepublik vor allem preiswerte industrielle Produkte. Allein im vergangenen Jahr stieg der wirtschaftliche Austausch der Volksrepublik China mit Lateinamerika von 8,5 auf 12,6 Milliarden US-Dollar. China wird als Handelspartner für einzelne lateinamerikanische Länder wie zum Beispiel für Chile immer wichtiger – dort ist die Volksrepublik bereits der fünftgrößte Handelspartner und Präsident Ricardo Lagos empfahl sein Land als Chinas Tor nach Lateinamerika. Für die Wirtschaftsmacht China mit ihren über 1,2 Milliarden EinwohnerInnen macht der lateinamerikanische Handel aber nur drei Prozent ihres gesamten Außenhandels aus. Lateinamerika ist für Peking vor allem politisch wichtig, nicht zuletzt lässt sich hier der Status der wachsenden Großmacht ablesen.
Dies zeigte sich auch bei der zweiwöchigen Lateinamerikareise des chinesischen Staats- und Parteichefs Jiang Zemin im April, die sechs Wochen vor der Reise seines taiwanischen Rivalen stattfand. Jiang flog unbeirrt aus Peking ab, als sich das Verhältnis zu den USA wegen des kurz zuvor notgelandeten Spionageflugzeugs drastisch verschlechterte. Mit seiner Reise in eine Region, die von den USA traditionell als Hinterhof gesehen wird, demonstrierte Jiang Chinas gewachsenes Selbstbewusstsein. Fünf der sechs Länder, die Jiang besuchte, waren zudem Mitglieder der UN-Menschenrechtskommission. Die stimmte unmittelbar nach seiner Reise über einen chinakritischen Antrag der USA ab, wobei sich Pekings Position der Nichtbefassung klar durchsetzte.
Bei seiner Reise bot Jiang die Volksrepublik als Partnerin an, um den LateinamerikanerInnen zu helfen, ihre wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von den USA zu mindern. Eins von Jiangs Lieblingsthemen war die von Peking favorisierte „multipolare Weltordnung“, in der Washingtons Hegemonie zu Gunsten Pekings reduziert werden soll. In Brasilia sprach Jiang denn auch ausdrücklich von einer „strategischen Partnerschaft“ mit Lateinamerikas größtem Land, die er mit seinem bereits zweiten Besuch dort unterstreichen wollte.

Hugo „Mao“ Chávez

Auf besonders offene Ohren stieß Jiang in Venezuela. In Caracas bezeichnte sich der populistische Präsident Hugo Chávez gegenüber Jiang gar als „Maoist“ und sprach von der chinesischen Revolution als der „älteren Schwester der venezolanischen Revolution“. Chávez schlug vor davon, dass chinesische BäuernInnen nach Venezuela kommen sollten, um die Agrarproduktion zu erhöhen. Dafür spendete ihm Jiang bereits einen 20-Millionen-Dollar-Kredit. Zudem liebäugelte der Ex-Fallschirmspringer Chávez, der ausdrücklich Chinas Position bei der Genfer Menschenrechtskommission sowie Pekings Olympiabewerbung unterstützte, mit dem Erwerb chinesischer Militärflugzeuge. Jiang vereinbarte den gemeinsamen Bau einer Anlage zur Herstellung des Schwerstöls und Kohleersatzes „Orimulision“. Die gesamte Produktion der ersten drei Jahre soll vom immer rohstoffhungrigeren China gekauft werden. Außerdem soll mit Hilfe chinesischer Firmen eine venezolanische Goldmine wiedereröffnet werden. Allein im Jahr 2000 hatten chinesische Firmen in Venezuela 530 Millionen US-Dollar investiert, und Chinas Handel mit dem Ölstaat stieg von 26,8 Millionen US-Dollar 1998 auf 218,8 Millionen im vergangenen Jahr.
Jiang zeigte seinen Gastgebern, dass er Lateinamerika auch persönlich ernst nahm. So hatte der 74-Jährige vor der Reise noch in einem Crashkurs Spanisch gelernt, um etwa im chilenischen Santiago einheimische Geschäftsleute mit einer 40-minütigen Rede in ihrer Sprache beeindrucken zu können. Demonstrativ äußerte sich Jiang während seiner Reise nur selten zum aktuellen Konflikt um das US-Spionageflugzeug, deren Besatzung China erst während seines Kuba-Aufenthaltes freiließ. Stattdessen genoss Jiang eine Kutschfahrt in Argentinien, ließ sich chilenische Weinbautechniken erklären und sang mit dem gleichaltrigen Fidel Castro Revolutionslieder.

Annäherung an Kuba

Kuba und China sind sich völlig einig in der Ablehnung der westlichen Menschenrechtspolitik. Jiang war im sozialistischen Bruderland Kuba ganz in der Gönnerrolle. Es war bereits sein zweiter Aufenthalt auf der Insel, und auch Fidel Castro und sein Bruder und möglicher Nachfolger Raúl waren selbst schon Gäste in China. Kuba hatte bereits vor 41 Jahren als erstes lateinamerikanisches Land Beziehungen zur Volksrepublik aufgenommen. Die entwickelten sich allerdings nicht so prächtig, da Kuba während der Zeit der chinesisch-sowjetischen Rivalität auf Seiten Moskaus stand, von dem es politisch, wirtschaftlich und militärisch abhängig war. Erst nach der Auflösung der Sowjetunion erhielten die Beziehungen zwischen Havanna und Peking neuen Schwung.
Heute zeugen in Kuba die allgegenwärtigen Fahrräder aus chinesischer Produktion davon, dass Peking ein Stück weit den alten Verbündeten Moskau ersetzt hat. Chinas Präsenz ist für Kuba vor allem wichtig in den Sektoren Landwirtschaft, Fischerei, Lebensmittel und Textilindustrie. Der bilaterale Handel stieg von 270 Millionen US-Dollar 1993 auf fast 500 Millionen im Jahr 1999. China gewährt Kuba Kredite von umgerechnet 820 Millionen Mark. 450 Millionen davon sind für die Modernisierung der Telekommunikation durch die chinesische Julong-Gruppe bestimmt. Für einen Kredit von 330 Millionen Mark kauft Kuba Fernsehgeräte der Panda-Gruppe. 50 Millionen Mark will Wanghai in ein Hotelprojekt an Havannas Malecón investieren.

USA: Kuba wird chinesischer Horchposten

Die USA unterstellen China, Kuba auch mit Waffen zu unterstützen. Wie die rechte Washington Times im Juni unter Berufung auf ihr nahe stehende Geheimdienstkreise meldete, hätten im vergangenen Jahr drei Schiffe der staatlichen chinesischen Cosco-Reederei Waffen in den kubanischen Hafen Mariel gebracht. Der Zeitung zufolge bestünden Pläne, Kuba zu einem chinesischen Horchposten auszubauen. James Kelly, der Direktor für ostasiatische und pazifische Angelegenheiten im US-Außenministerium, sagte bei einer Anhörung, die US-Regierung sei „sehr besorgt über die Zusammenarbeit der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit Kuba und die Bewegung militärischer Ausrüstung nach Kuba.“
Bekannt war bisher, dass China technische Hilfe für kubanische Radaranlagen und Flugabwehreinrichtungen leistet. Ob eine militärische Unterstützung Kubas aber eine chinesische Retourkutsche für Washingtongs Waffenlieferungen an Taiwan sind, bleibt offen. Havanna und Peking dementierten umgehend die Berichte über Waffenlieferungen. Laut Fidel Castro hätten die drei Schiffe neben Uniformstoffen, Militärstiefeln und etwas industriellem Sprengstoff vor allem Reis und Bohnen geliefert – „Waffen gegen Hunger“, wie Castro süffisant feststellte.

KASTEN:
Nicaraguas Präsidentenpalast sponsored by Taiwan

Wenn Nicaraguas Präsident Staatsgäste empfängt, dann schüttelt er ihnen im „Raum der Republik China“ die Hände. Diesen Namen trägt die Empfangshalle des neuen Präsidentenpalastes in Managua. Das lachs- und gelbfarbene Gebäude wurde vergangenes Jahr eingeweiht. Republik China ist der offizielle Name Taiwans. Eine angebrachte Tafel verweist auf eine „großzügige Spende“ des taiwanischen Volkes. Nach Angaben des taiwanischen Botschafters in Managua belief sich die Spende auf weniger als 10 Millionen US-Dollar. Das war aber nicht alles. Eine Dankestafel mit Verweis auf Taiwan schmückt auch das neue Gebäude des nicaraguanischen Außenministeriums.

Ein-China-Politik in der Karibik

In der Karibik sind die Dominikanische Republik und Haiti sowie die Zwergstaaten Grenada, Dominica, St. Kitts und Nevis sowie St. Vincent und die Grenadinen die diplomatischen Verbündeten Taiwans. Die karibischen Offshore-Finanzzentren wie die Jungfern-Inseln und die Bermudas spielen die Rolle eines Kanals für politisch delikate Geldgeschäfte zwischen China und Taiwan. Die 18.000 EinwohnerInnen zählenden britischen Jungfern-Inseln haben im vergangenen Jahr nach Angaben des Pekinger Außenhandelsministeriums Moftec gar Taiwan und Singapur als externe Kapitalquelle für die Volksrepublik überholt und liegen nun an dritter Position hinter Hongkong und den USA. Der karibische Archipel steigerte seine Investitionen im Reich der Mitte um satte 106 Prozent auf knapp 7,6 Milliarden US-Dollar. Damit kletterte der Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in China von 0,8 Prozent 1995 auf knapp 10 Prozent in 2000. Aus den winzigen Jungfern-Inseln wurden somit in China bis Ende Februar halb so viele genehmigte Auslandsfirmen registriert wie aus der gesamten EU. Hinter der statistischen Finanzmacht der Jungferninseln stehen vor allem taiwanische Firmen, die unter Umgehung der strengen Kontrollen für Geschäfte mit dem Festland auf dem Umweg über die Karibik in der Volksrepublik investieren. Doch auch (Staats-)Firmen von dort nutzen die karibischen Finanzoasen, in dem sie durch Briefkastenfirmen Kapital über die Karibik wieder nach China zurückleiten. Dort gilt es dann als Auslandskapital und genießt Privilegien, die einheimschen Firmen in China nicht zustehen.

Der Fall Chentex – Ein Lehrstück

Chentex Garment S.A. ist eine der großen Maquila-Fabriken in der Freihandelszone Las Mercedes in Managua. Sie gehört zur taiwanischen Unternehmensgruppe Nien Hsing, einer der weltweit größten Jeansproduzenten. Ungefähr 1900 ArbeiterInnen, in der Mehrzahl Frauen unter 26 Jahren, produzieren bei Chentex täglich rund 20.000 Hosen für den US-amerikanischen Markt. Rund zwei Drittel der Frauen sind allein erziehende Mütter mit bis zu vier Kindern. Die Monatslöhne betrugen im Juni vergangenen Jahres durchschnittlich 63 US-Dollar. Ein Grundwarenkorb (ohne Fahrkartentarife, Miete und Ausstattungsgüter wie Schuhe) kostete zur damaligen Zeit in Nicaragua bereits über 150 US-Dollar im Monat. Die Arbeitsbedingungen sind wie in allen Maquilas schlecht, unbezahlte Überstunden an der Tagesordnung, und jeder Versuch, sich gewerkschaftsmäßig zu organisieren, wird sanktioniert.

Lohnerhöhungen außer bei Chentex

Im März 2000 wurden in allen Nien-Hsing-Maquilas die Löhne erhöht, außer bei Chentex, dem einzigen Betrieb, in dem seit 1998 eine Gewerkschaft tätig ist. Acht Wochen später wurden acht Gewerkschaftsmitglieder, die sich aktiv für die gleichen Lohnerhöhungen bei Chentex eingesetzt hatten, unter fadenscheinigen Vorwänden entlassen. Ein Streik bewirkte, dass der Fall dem Arbeitsministerium übergeben wurde, welches die Entlassungen zwei Wochen später jedoch absegnete. Ermutigt durch die Stellungnahme des Arbeitsministeriums antwortete die Geschäftsleitung auf die eingelegte Berufung und in Erwägung eines neuen Streiks mit weiteren Entlassungen. Zusätzlich hagelte es Repressalien gegen alle, die nicht der vom Management gestützten Alibi-Gewerkschaft beitreten wollten. Entlassene Ge-werkschafterInnen berichteten, dass sie von bezahlten Banden bedroht wurden. Ein ehemaliger Mitarbeiter im Chentex-Sicherheitsdienst erklärte, er sei angehalten worden, missliebigen Personen beim Verlassen des Betriebsgeländes Diebesgut unterzuschieben, um sie so zu kriminalisieren.
Die Proteste der Chentex-ArbeiterInnen und der Gewerkschaften fanden internationale Unterstützung: Von der Taiwanese Solidarity for Nicaraguan Workers angefangen, die sich auf Aktionärsversammlungen für die entlassenen GewerkschafterInnen eingesetzt hatte, über den Solidaritätsbesuch eines Gewerkschaftsfunktionärs aus Südafrika, wo Nien Hsieng auch Maquilas betreibt, bis hin zu KonsumentInnenkampagnen in den USA beispielsweise in Kohl’s Department Stores, einem wichtigen Abnehmer von Chentex-Produkten. Als Reaktion auf die Folgen dieser Aktionen wie Aktienkursverluste und Auftragseinbußen ließ Chentex Anfang Januar 2001 über ihre firmeneigene Alibi-Gewerkschaft 700 ArbeiterInnen „mobilisieren“. Sie wurden in Bussen zu einer Kundgebung gegen die Einmischung der „Gringo-Aktivisten“ vor die US-Botschaft gekarrt.
Kritik an den internationalen Solidaritätsaktionen gab es allerdings auch von Seiten der nicaraguanischen Frauenorganisation MEC: Sie vertritt die Auffassung, dass eine als Boykott zu verstehende Kampagne zu einem Rückzug der Maquila-Betreiber aus Nicaragua führen würde und daher nicht im Interesse der ArbeiterInnen sei. Und so war auch die Androhung den Betrieb zu schließen, das stärkste Druckmittel des Unternehmens in den Verhandlungen.
Am 10. Mai wurde schließlich ein Abkommen zwischen der sandinistischen Gewerkschaft CST und dem Chentex-Management unterzeichnet, durch das der mehr als einjährige Arbeitskampf beendet wurde. Ergebnis: Alle ArbeiterInnen, die auf Grund ihrer Verbindung zur CST entlassen worden waren, wurden wieder eingestellt und für den Erwerbsausfall entschädigt. Im Gegenzug verpflichtete sich die CST, sämtliche von ihr angestrengten arbeitsrechtlichen Verfahren gegen die Chentex aufzugeben.

Weitere Publikationen des Ökumenischen Büros für Frieden und Gerechtigkeit zum Thema Maquila:
Broschüre: „Profit ohne Grenzen“ – Freie Produktionszonen in Mittelamerika, 3 Maquila-Bulletins („Zentralamerikanisches Frauennetzwerk in Solidarität mit Maquila-Arbeiterinnen“, „Verhaltenskodizes der Unternehmen“ und „Der Fall Chentex – Ein Lehrstück“). Unsere Adresse: Pariser Str. 13, 81667 München. Tel. 089-4485945. Oder per Email: info@oeku-buero.de

Ein Canal, wenig Cash und viele Chinesen

Die meisten asiatischen Staaten haben großes Interesse an Panama – und vor allem an dessen Kanal, da ihre Wirtschaften stark vom Export abhängen. Die USA sind zwar aktuell noch der Hauptnutzer des interozeanischen Seewegs, jedoch haben die asiatischen Nationen in den letzten Jahren schnell aufgeholt. Inzwischen sind die Volksrepublik China, Taiwan, Korea und Japan unter den zehn wichtigsten Staaten, die den Kanal nutzen. Auch in Folge davon haben mehrere asiatische Unternehmen Industrie- und Hafenanlagen in Panama errichtet. Der panamesische Kanalminister Ricardo Martinelli äußert klar, wovon allein die Erlaubnis für wirtschaftliche Aktivitäten in Panama abhängt: „Wer die besseren Bedingungen anbieten kann…“ Diese pragmatische Haltung zeigt sich besonders gegenüber den beiden Chinas. Panama erkennt Taiwan diplomatisch als Republik China an, während es gleichzeitig enge Wirtschaftsbeziehungen zur Volksrepublik China unterhält. So kommt es, dass sich Chang Yung-fa mit seiner taiwanesischen Evergreen Maritime Cop. in Colón an der Atlantikküste niedergelassen hat und gleichzeitig Li Ka-shing aus Hong Kong mit seiner Hutchison Whampoa an beiden Enden des Kanals Hafenanlagen betreibt.

Kommunistische Unterwanderung?

Li Ka-shing ist ein 73-jähriger, sehr erfolgreicher Geschäftsmann, der offensichtlich über gute Kontakte nach Peking verfügt. Letzteres bringt vor allem konservative Gruppen in den USA ins Schwitzen. Sie vermuten, dass sich hinter den strategisch günstig gelegenen Hafenanlagen der Hutchison Whampoa der Arm der chinesischen Volksarmee verbirgt.
Während sich die USA um die Parteizugehörigkeit der Unternehmen sorgen, die in Panama investieren, hat Panama selbst ganz andere Probleme. Vom großen wirtschaftlichen Interesse an der Region profitiert das Land selbst nämlich kaum. So geht beispielsweise zwar ein Großteil des chinesischen Handels über den interozeanischen Seeweg, aber ohne, dass Panama daraus einen Gewinn ziehen würde.
Für die USA scheinen die Profitaussichten von Unternehmen der Volksrepublik China die einzige Beruhigung in Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Aktivitäten des kommunistischen Landes in Panama zu sein. Ein Bericht des US-Verteidigungsministeriums Anfang 2000 stellte fest, dass die Bedrohung durch die Hafenanlagen des Hong Konger Unternehmens „indirekt“ sei. Wahrscheinlich würden weder Angestellte von Hutchison Whampoa noch chinesische Beamte auf Befehl Pekings den Kanal beschädigen, da dies im Gegensatz zu ihren finanziellen Interessen stehe.
Japan ist ein weiteres Land Asiens, das offensichtlich versucht, Gewinne und Einfluss in Panama zu sichern. So hat es eine Studie für die schon lange in Erwägung gezogene Errichtung einer dritten Schleuse im Panama-Kanal erstellt. Außerdem bot Japan der panamesischen Regierung zu übertrieben großzügigen Konditionen an, eine neue Brücke zu bauen.
Auch die anderen Länder lassen sich nicht lumpen, wenn es darum geht, den panamesischen Staat mit Spenden und Krediten zu unterstützen. Beliebte Geschenke aus China, Taiwan und Korea sind vor allem Computer, Drucker und andere technische Geräte. Zuletzt gab es sogar ein Auto für das panamesische Außenministerium – aus Taiwan.

KASTEN:
Zur Person: Li Ka-shing

„Ich habe keinen Ehrgeiz, sondern allein ein liebendes Herz für Hong Kong.“ So sieht sich Li Ka-shing, einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner Asiens, selbst. Wahrscheinlich hätte er es aber ganz ohne Ehrgeiz nicht zu einem der mächtigsten Tycoons der Welt geschafft.
Am 13. Juni 1928 wurde Li Ka-shing in Chaozhou in der Provinz Guangdong in China geboren. Elf Jahre später ging der älteste Sohn eines Schulleiters dann nach Hong Kong. Li erhielt wenig formale Schulbildung, doch schon 1950 eröffnete er seine erste Fabrik, die Plastikblumen herstellte. 1979 erfolgte dann der Durchbruch: Als erster Chinese kaufte Li Ka-shing eines der britischen Handelsunternehmen auf, das damals die regionale Ökonomie dominierten. Heute gibt es keinen einzigen größeren Wirtschaftssektor in Hong Kong oder China mehr, in dem der Industriemagnat nicht seine Finger im Spiel hat. Li macht Geschäfte mit Immobilien, Telekommunikation, Einzelhandel, Medien, Investment Banking, dem Internet und Infrastrukturprojekten. Lis Wirtschaftsimperium geht weit über die Grenzen Chinas hinaus. Seine Hutchison Whampoa kontrolliert 18 wichtige Häfen und ein Zehntel des gesamten Welthandels. Weiterhin gehört dem Unternehmen beispielsweise in Kanada Husky Oil und in verschiedenen europäischen Ländern besitzt Hutchison Anteile von Telekommunikationsbetreibern.
Um so weit zu kommen hat Li stets seine guanxi (persönliche Beziehungen) mit großzügigen Spenden an karitative Einrichtungen und Universitäten gefördert. Außer Zweifel stehen seine guten Kontakte zu einflussreichen Politikern, die auch Chinas Präsident Jiang Zemin und Premierminister Zhu Rongji einschließen. Auch Li Ka-shings Verwandte sind äußerst geschäftstüchtig. Nachdem letztes Jahr zwei Unternehmen der Familie fusionierten, wurde der Wert von Unternehmen des Li-Clans auf fast 13 Milliarden US-Dollar geschätzt. Der wachsende Erfolg Li Ka-shings veranlasste die Zeitschrift Asiaweek, ihn auf der Power-Rankingliste des Jahres 2000 unter den 50 ausgewählten Personen zum mächtigsten Mann Asiens zu küren. In Hong Kong ist es inzwischen fast unmöglich, nicht bei den Lis zu bezahlen. Ob man nun in einem Cheung Kong Apartment wohnt, ein Gerät der Marke Fortress mit dem Strom von Hong Kong Electric betreibt, Gemüse bei Park ‘N Shop oder Drogeriewaren bei Watson’s einkauft, Metro Radio hört oder sich über PCCW-HKT mit dem Internet verbindet, immer verdient ein Li daran.

Newsletter abonnieren