REVOLUTION DER KUNSTGESCHICHTE?

„Wir haben mit euch kommuniziert, ich weiß nicht, ob ihr auch mit uns kommuniziert habt“, lässt Javier Villa, einer der Kuratoren des Museo de Arte Moderno de Buenos Aires (MAMBA) bei einer Pressekonferenz im Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt am Main verlauten und sorgt damit für Gelächter bei den anwesenden Journalist*innen. Damit trifft Villa den Kern eines sich nur langsam lösenden Problems. Künstlerischer und kultureller Austausch zwischen Lateinamerika, Europa und den USA bestand zwar immer, jedoch war dieser meist sehr einseitig.

Genau das sucht nun eine Ausstellung in Frankfurt zu ändern und nimmt sich damit Großes vor. Nicht weniger als die internationale Kunstgeschichtsschreibung soll revolutioniert werden. Mit „A Tale of Two Worlds. Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK“ wird der klassische kunsthistorische Fokus verschoben. Zwei Welten, aber nur eine Geschichte? Der sperrige Untertitel soll ein wenig Klarheit schaffen. Lateinamerikanische und europäische sowie US-amerikanische Kunst werden zusammengebracht und erzählen nun gemeinsam die Geschichte der westlichen Kunst von Deutschland bis Chile.

Francis Bacon, Nude (1960)(Foto: © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved / VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto/photo: Axel Schneider) 

Luis Felipe Noé, Imagen agónica de Dorrego (1961) Foto: © Private Collection, Gustavo Sosa Pinilla)

Aber, wie wird aus der bis dato einseitigen Kommunikation in dieser Ausstellung ein Austausch? Indem die Kunst in den Vordergrund tritt und Werke verschiedener Länder und Jahrzehnte miteinander kommunizieren dürfen. Das kann beispielsweise so aussehen, dass sich in einer der Schrägen des Museums Francis Bacons Nude (1960) und Luis Felipe Noés Imagen agónica de Dorrego (Bild vom Tode Dorregos) (1961) förmlich anschauen. Zunächst scheinen die Malereien nicht sehr ähnlich, doch beide zeigen deformierte Körper. Die direkte Gegenüberstellung lässt einen unweigerlich nach weiteren Gemeinsamkeiten suchen und bietet auf diesem Wege erste Indizien für einen Dialog.

Die Ausstellung basiert auf einer neuartigen Form der Kooperation zweier Museen. Zwei lateinamerikanische Kurator*innen, Victoria Noorthoorn und Javier Villa des MAMBA, wurden eingeladen, um gemeinsam mit dem Frankfurter Klaus Görner eine Ausstellung zu realisieren, die bis Februar in Frankfurt und ab Juni 2018 in Buenos Aires zu sehen sein wird. Es ist das erste Mal, dass ein deutsches Museum Außenstehende auf diese Weise mitwirken lässt. Das ist besonders außergewöhnlich in Anbetracht von Renommee und Umfang der Sammlung des MMK. Mit etwa 5.000 Werken gilt sie als eine der bedeutsamsten in Deutschland.

 

Wandmalerei Der kolumbianische Künstler Antonio Caro bei der Arbeit (Foto: Hannah Katalin Grimmer)

Der Impuls für die Zusammenarbeit kam von außen, die Kulturstiftung des Bundes forderte mit dem Programm Museum Global deutschlandweit Museen dazu auf, ihre Sammlungen neu zu präsentieren. Jedes beteiligte Museum erhielt 800.000 Euro, das MMK ist das erste Museum, das dies in die Tat umsetzt. Folgen werden noch die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin und das Lenbachhaus München.

Dieses Vorhaben ist im musealen Kontext tatsächlich nach wie vor außergewöhnlich. Die Revision des Kanons im extravaganten Bau des Architekten Hans Hollein, erstreckt sich über drei Stockwerke und beinhaltet über 500 Werke. Das Gebäude ist eine Herausforderung für Ausstellungsmacher*innen, überall befinden sich Schrägen und spitzzulaufende Ecken, kein Raum gleicht dem anderen.

Künstler*innen der Moderne und Avantgarde lenken die Erzählung diese Ausstellung. Görner, Noorthoorn und Villa beweisen Feingefühl, indem es ihnen gelingt zu verdeutlichen, dass solche Begriffe des kunsthistorischen Diskurses weder geografisch, noch temporär bestimmbar sind. Während die Sammlung des MMK auf die 1960er und 1970er fokussiert ist, beginnt die Erzählung zu Lateinamerika bereits 1944, mit der ersten Ausstellung zu Konkreter Kunst in Argentinien, und endet mit den 1980er.

Den Auftakt der Schau bildet, mit gleich mehreren Arbeiten, Lucio Fontana. Dieser darf am besten auch als Sinnbild für den gesamten Austausch aufgefasst werden: als Sohn italienischer Eltern in Argentinien geboren (1899-1968), lebte er auf beiden Kontinenten, beeinflusste diese gleichermaßen und verkörpert somit den gewünschten Dialog. Mit seinen Schnittbildern brachte er nicht nur die ehrwürdige Behandlung der Leinwand ins Wanken, er gab auch entscheidende Impulse für das Überwinden der bis dato getrennt betrachteten Kunstgattungen von Malerei und Plastik. Diese Grenzüberschreitung sollte die Kunst des turbulenten Jahrhunderts prägen wie kaum etwas anderes. Ein Einfluss, der beispielsweise in der Minimal Art der 1960er Jahre sichtbar wurde, eine Kunstrichtung, die zentraler Bestandteil der renommierten Sammlung des MMK ist. So finden sich Vertreter*innen dieser Epoche zum überaus fruchtbarem Dialog an mehreren Stellen dieser Ausstellung. Zu sehen sind beispielsweise Fred Sandbecks Untitled (1968) und Charlotte Posenenskes Vierkantrohre, Serie D (1967). Ähnlich minimalistisch muten Arbeiten aus Brasilien, wie von Hélio Oiticica (1937-1980) oder Lygia Clark (1920-1988) an und tatsächlich sind die südamerikanischen Werke in diesen Momenten der Ausstellung eindrücklicher präsentiert. Materialität und Industrialität sind zentrale Komponenten der Minimal Art, aber eben nicht nur, wie Besuchende in einem Raum im zweiten Stock namens „Alchemie und Kolonialisierung“ erfahren dürfen. Gold spielt dort eine zweideutige Rolle, es ist nicht nur Material, sondern auch Symbol von präkolumbischer Erinnerung, vor allem aber von Ausbeutung. Arbeiten von Mathias Goeritz (1915-1990) oder Mira Schlendel (1919-1988), in Europa geborene, lateinamerikanische Künstler*innen, geben also korrekterweise den Ton an, ihre Ästhetik ist ausschlaggebend dafür, dass ein wichtiges Sammlungswerk des MMK, Walter de Marias High Energy Bar (1966), auch einen Platz findet. In dieser Ausstellung gelingt also, was in Deutschland bisher selten ist: es ist die lateinamerikanische Perspektive, die das Ausstellungsnarrativ bestimmt.

Ausstellungsansicht (Foto: Axel Schneider)

Parallelen in formaler und ästhetischer Perspektive tauchen in vielen weiteren Ecken der Ausstellung auf. Sieht man Antonio Caros Colombia-Coca Cola (1977) neben Jasper Johns Targets (1966) hängen, ist ihre Ähnlichkeit auf einmal eklatant. So hört Pop Art auf, eine vorrangig US-amerikanisch geprägte Strömung zu sein. Ähnliches funktioniert mit der Konzeptkunst, die, beispielsweise vertreten durch Ulises Carrión (1941-1989) oder Alberto Greco (1931-1965), zu einem globalen Phänomen wird.

Abgesehen von diesen vorrangig die äußere Form betreffenden Charakteristika, gliedert sich die Ausstellung noch viel deutlicher anhand gesellschaftspolitischer Fragestellungen. Die Militärdiktaturen in Lateinamerika, der Zweite Weltkrieg, Gewalt und Repression, (Post-)kolonialismus, Massenkonsum, indigene Traditionen, Umweltverschmutzung – kein Thema ist zu groß, zu schwierig, zu anstrengend. Es ist eine der bemerkenswerten Leistungen, dass die Kunst auf diese Weise nie als isolierte Sphäre erscheint, sie ist immer Spiegel ihrer Zeit. Lateinamerikakundige Besucher*innen werden dem Narrativ der sehr gut durchdachten Präsentation folgen können, für alle anderen wird mehr Vermittlung als gewöhnlich notwendig sein.
Nach dem Besuch dieser Ausstellung kann man sich der Gewissheit erfreuen, dass Austausch immer stattfand. Illustrativ dafür sind Fotografien, die Nicolás García Uriburus (1937-2016) Interventionen in Venedig, Paris, Buenos Aires, Kassel und New York dokumentieren. Hierbei färbte der argentinische Künstler mithilfe von Fluorescein Flüsse grün ein, um auf Umweltverschmutzungen aufmerksam zu machen. Schaut man an dieser Stelle der Ausstellung zurück, erblickt man ein Werk eines deutschen Umweltaktivisten par excellence: Joseph Beuys monumentale Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch (1958-1985).

Es ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, eine solche Sammlung retrospektiv in einen globalen Kontext zu setzen. Die Umsetzung ist nicht immer optimal, an einigen Stellen wünscht man sich, dass die Ursachen für die lange existierende Einseitigkeit deutlicher hervortreten. Ein selbstreflexiver Umgang mit historischen Verantwortlichkeiten wäre dabei nur einer der erstrebenswerten Nebeneffekte. Es bleibt also abzuwarten, ob diese Ausstellung dazu beiträgt, die Kunstgeschichte grundlegend umzugestalten. In jedem Fall ist es allerhöchste Zeit, dass mehr Museen ihrem Beispiel folgen und den Weg bereiten für eine ausgeglichenere Stimmverteilung aller Beteiligten in diesem Dialog. Im MMK wird schließlich keine neue Geschichte erzählt, sondern lediglich eine, die wir hier noch zu selten zu hören bekommen.

 

Die Ausstellung „A Tale of Two Worlds. Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK“ ist bis zum 15. April 2018 zu sehen. // Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main // Domstraße 10, 60311 Frankfurt am Main // www.mmk-frankfurt.de

 

KUNST UND KULTURELLE REVOLUTION IN LATEINAMERIKA

Im kolumbianischen Medellín fand 1981 die „Erste Lateinamerikanische Konferenz Nicht-Objekthafter Kunst“ statt. Im Museo de Arte Moderno (Museum für moderne Kunst) hatten sich Künstler*innen und Kunsttheoretiker*innen aus vielen Ländern Lateinamerikas versammelt, um über Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst zu diskutieren. Es ging um die soziale Relevanz von Kunstpraktiken nach dem Modernismus, jenseits von Wandmalerei im Stil des sozialistischen Realismus auf der einen und Abstraktion auf der anderen Seite.

Wichtigster Protagonist dieser Veranstaltung war der Kunsttheoretiker Juan Acha. In Peru geboren und aufgewachsen, hatte Acha in Deutschland Chemie studiert und war in den 1950er und 1960er Jahren als Kunstkritiker in Lima tätig. Von 1972 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in Mexiko. Er gilt als einer der wichtigsten spanischsprachigen Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist sein mehr als 20 Bücher und zahlreiche Artikel umfassendes Werk so gut wie unbekannt. Dabei würde es sich lohnen, seine Arbeiten wiederzuentdecken. Das gilt keineswegs nur für die Kunstsoziologie, sondern für seine Beschäftigung mit Fragen kulturellen Wandels überhaupt. Künstler*innen, schreibt etwa der Kurator und Theoretiker Joaquín Barriendos, waren für Acha nicht nur als Akteur*innen innerhalb des Kunstsystems interessant. Sie waren es auch und gerade deshalb, weil sie „auf dem Terrain mentaler und sinnlicher Veränderungen arbeiteten.“ Barriendos hatte im Frühjahr diesen Jahres eine Ausstellung zu Werk und Wirken Achas organisiert. Sie lief unter dem Titel „Despertar revolucionario“ („Revolutionäres Erwachen“) im Museo Universitario Arte Contemporáneo (Universitätsmuseum für zeitgenössische Kunst) in Mexiko-Stadt.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo. Fast unmöglich zu übersetzen, geht es dabei um künstlerische Praktiken, die nicht an Objekte gebunden sind. In seinem Vortrag stellte Acha den no-objetualismo als Bruch mit der westlichen Kunstauffassung seit der Renaissance dar, die sich mit der Abgrenzung vom Handwerk etabliert hatte: Entscheidend für diese Auffassung von Kunst war bis ins 20. Jahrhundert hinein das individuelle Schöpfertum und das objekthafte Werk. Von Marcel Duchamps readymades (künstlerisch verwertete Alltagsgegenstände, Anm. d. Red.) über die konzeptuelle, auf Ideen basierende Kunst der 1960er und 1970er Jahre, zeichnet Acha die Entwicklung nicht-objekthafter Kunst in seinem 1979 veröffentlichten Buch Arte y Sociedad: Latinoamérica. El producto artístico y su estructura (Kunst und Gesellschaft: Lateinamerika. Das künstlerische Produkt und seine Struktur) nach. Der Begriff no-objetualismo umfasst dabei mehr als den Konzeptualismus oder der Konzeptkunst. Er richtet sich einerseits gegen die Fetischisierung von Objekten. Kunst braucht demnach keine Leinwände und Skulpturen, entscheidend sind die konzeptuellen Entwürfe und ihre Wirkung auf ein Publikum: Wie das Pissoir, das Duchamp 1917 in eine Ausstellung stellen ließ, gemacht ist und wie es aussieht, ist völlig egal. Interessant ist, wieso es als Kunstwerk angesehen wird. Andererseits zielt der Begriff no-objetualismo aber trotzdem auf den Umgang mit Materialien – Duchamps readymades waren schließlich auch Gegenstände –, mit dem Bildhaften und verschiedenen Wahrnehmungsformen.

Quer zu etablierten Kategorien wie Figuration, Abstraktion und Konzeptualismus kategorisiert Acha so die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts neu. Und zwar nicht nur diejenige Lateinamerikas. Während er einerseits alle wichtigen Personen und Stationen der nordamerikanisch-westeuropäisch geprägten Kunstverhältnisse reflektiert, weiß er – im Unterschied zu vielen seiner westlichen Kolleg*innen – zugleich um die eingeschränkte, eurozentrische Perspektive dieser Vorgehensweise. Schon die Unterscheidung in bildende Kunst, angewandte Kunst und Kunsthandwerk sei ein Effekt der kapitalistischen Entwicklung des Westens gewesen. Und die „bürgerliche Überbewertung der [bildenden] Kunst“, schreibt er in La apreciación artística y sus efectos („Die Kunstbewertung und ihre Effekte“) 1988, gründet demnach „auf der ideologischen Macht der westlichen Kultur.“ Diese werde abgesichert und reproduziert durch „institutionelle Kunstapparate“ wie Museen, Galerien, aber auch Kunstakademien und Kunstmessen.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie. So geht er von einer ökonomischen Hegemonie aus, die auch Werte und Einstellungsmuster prägt. Zugleich zeichnet er aber auch die strukturellen Besonderheiten der Entwicklungen innerhalb der Kunst nach. Er untersuchte sowohl die Frage, auf welchen ideellen und materiellen Grundlagen ihre Produktion gründet, als auch die nach ihren kognitiven, sensorischen und gefühlsmäßigen Rezeptionsweisen. Schließlich ist es durchaus grundsätzlich erklärungsbedürftig, warum bestimmte Objekte als Kunst behandelt und konsumiert werden und andere nicht. Der Konsum stellt für Acha ohnehin einen zentralen und unterschätzten Bereich der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur dar. Um den Prozess des Kunstkonsums und seine Effekte zu verstehen, bedürfe es also soziologischer, nicht nur philosophischer Instrumente. Es könne nicht nur um die Wahrnehmung der Betrachtenden allein gehen, schreibt er in Crítica del Arte („Kunstkritik“) im Jahr 1992. Man müsse auch ihre Erwartungen und Befähigungen mit einbeziehen, die, wie die künstlerischen Arbeiten selbst auch, nicht von dem sozialen Kontext zu lösen seien, in dem sie entstehen. Bei all dem geht er extrem systematisch vor, kaum eines seiner Bücher kommt ohne Schaubilder und Diagramme aus, die diese Systematik verdeutlichen sollen.

Acha war aber nicht nur Kunstexperte, sondern auch ein maßgeblicher linker Intellektueller. Die zeitgenössische Kunst nahm er häufig zum Anlass, um Fragen der „Unterentwicklung“ und der Folgen des Kolonialismus zu thematisieren. Dass ökonomische Herrschaft durch Wertvorstellungen abgesichert und vertieft wird, war eine seiner zentralen Thesen. Daher legte er auch so viel Wert auf kulturelle Veränderung: Kultur verstand er als Terrain, auf dem Sinn und Bedeutung hergestellt und verkörperlicht werden, sozusagen in Fleisch und Blut übergehen. Nach den Revolten von 1968 setzte er große Hoffnungen auf eine „kulturelle Revolution“, zu der auch Kunstschaffende beitragen sollten. Er begriff sie als „kulturelle Guerilla“ und verstand die oftmals aktivistische Kunst der 1970er Jahre als Teil eines sozio-politischen Transformationsprojektes.

Der große Einfluss seiner Thesen und Konzepte auf die zeitgenössische Kunst und die lateinamerikanische Linke der 1970er und 1980er Jahre ist unbestritten. Als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre diverse Künstler*innen-Kollektive zur Bewegung Los Grupos („Die Gruppen“) zusammenfanden, war Acha einer ihrer wichtigsten Mentoren. Das betont etwa auch die feministische Performancekünstlerin Maris Bustamante. In den späten 1970er Jahren Mitglied des künstlerischen Kollektivs No Grupo („Keine Gruppe“), war Bustamante 1981 auch in Medellín dabei. 1983 war sie Mitbegründerin der feministischen Performancekunst-Gruppe Polvo de Gallina Negra („Pulver der Schwarzen Henne“). Im Rückblick hält sie Acha – neben dem marxistischen Kulturtheoretiker und Aktivisten Alberto Híjar Serrano – für den wichtigsten Vermittler marxistischer Ideen im kulturellen Feld Mexikos nach 1968 überhaupt.

In letzter Instanz, beschrieb Acha seine eigene Arbeit als Kunstkritiker, ginge es darum, ein „unabhängiges visuelles Denken“ zu ermöglichen. Die Forderung nach Unabhängigkeit war hier sowohl als Abgrenzung von einer elitistischen Kunstbetrachtung gedacht, als auch als Abkehr von einem Denken, das als Effekt der sozio-ökonomischen Abhängigkeit der Länder Lateinamerikas betrachtet wurde. Die Forderung ließe sich aber auch verallgemeinern als eine, die gegen Blickregime und Sehgewohnheiten aller Art gerichtet ist.

INNEHALTEN UND LATEINAMERIKA LESEN

Der „Akt des Lesens“, so heißt es im Editorial der zehnten Ausgabe des Berliner Literaturmagazins alba, sei ein „Akt des Innehaltens“. In diesem Sinne ist die neue alba nicht nur ein Plädoyer für das Anhalten, um zu lesen (und anders herum), sondern auch Aufruf dazu, dem lateinamerikanischen Kontinent fernab vom Tagesgeschehen gründliche literarische Aufmerksamkeit zu schenken.

Der regionale Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe liegt passend zum dualen Jahr auf Mexiko, allerdings finden sich ebenso Texte aus Peru, Bolivien, Venezuela, Brasilien und Nicaragua. Das Magazin ist dreisprachig, wobei alle Texte übersetzt wurden, so dass jeder einzelne auch in einer meist exklusiv für alba angefertigten deutschen Fassung zu lesen ist. Der Akt des Übersetzens hat allerdings im Heft nicht nur die Funktion, lateinamerikanische Texte einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Genau so geht es darum, die Übersetzungsarbeit als kulturelle Praxis zu würdigen. Wie bereits in vorherigen Ausgaben der alba wird in der Rubrik „Vermittler“ auch im aktuellen Heft das Schaffen eines Übersetzers gewürdigt, der maßgeblich dazu beigetragen hat, lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum präsenter zu machen. Carl Heupel, der unter anderem Octavio Paz’ Klassiker Das Labyrinth der Einsamkeit übersetzt hat, wird von alba-Redakteur Douglas Valeriano Pompeu als zu Unrecht vergessene Schlüsselfigur in der deutschen Verlagslandschaft bezeichnet, der „eine Bresche ins deutsche Leserbewusstsein“ geschlagen habe.

Dieser Schwerpunkt auf Vermittlung zwischen Lateinamerika und Deutschland spiegelt sich auch in der ersten Rubrik des Hefts, Berlínstant wider, welche die Vielseitigkeit der lateinamerikanischen Literaturszene in Berlin darstellt. Die alba ist also nicht entlang von Kriterien wie Herkunft der Autor*innen oder Genres aufgebaut, sondern thematisch organisiert. So bringt die mexikanische Autorin Guadalupe Nettel im Interview mit Redakteurin und Übersetzerin Christiane Quandt auf den Punkt, was auch alba besonders auszeichnet: „Mir gefällt das Hybride, die Möglichkeit, alle Gattungen im Sinne dessen zu vermischen, was ich schreiben will.“ So finden wir in der alba verschiedenste Textformate, die sich abwechseln und überschneiden. Neben Kurzgeschichten, Lyrik und Romanauszügen gibt es Interviews, Essays, Autor*innenportäts, Romanrezensionen, eine Hommage an den kürzlich verstorbenen Luis Alberto Arellano und einen Auszug aus der Dankesrede Yuri Herreras, der 2016 in Berlin mit dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet wurde.

Zu den Highlights des Hefts zählen die beklemmende Kurzgeschichte „Despertar“ („Wach auf!“) der Mexikanerin Ana García Bergua, in der Traum und Wachsein nicht voneinander zu unterscheiden sind, das geradezu verstörende „Cosita“ („Süßes Ding“) von María del Carmen Pérez Cuadra aus Nicaragua und die Auszüge aus dem Gedichtband Borealis von Rocío Cerón, die in Mexiko für ihre sonore Lyrik und poetische Performances bekannt ist. Zahlreiche Illustrationen lateinamerikanischer Künstler*innen sorgen dafür, dass Text und Bild sich auf symbiotische Art und Weise ergänzen.

Die alba Texte und Grafiken sind keine zufällig zusammengewürfelten Schnipsel, sondern sorgfältig ausgewählte und angeordnete Puzzleteile, die ein Bild der aktuellen lateinamerikanischen Literaturlandschaft zeichnen, das Genregrenzen verschwimmen lässt, vielseitige Aspekte von Gewalt, Leben, Traum und Trauma thematisiert und Möglichkeiten aufzeigt, den lateinamerikanischen Kontinent tatsächlich zu lesen, um gesellschaftliche Verhältnisse besser verstehen zu können.

// DOSSIER: INTERNATIONALE SOLIDARITÄT MIT LATEINAMERIKA

Vor zweieinhalb Jahren feierten die Lateinamerika Nachrichten ihr 40-jähriges Bestehen. Anlässlich dieses runden Geburtstages befassten wir uns mit den andauernden Folgen des Putsches in Chile, der 1973 die Welt schockierte und die gerade gegründeten Chile-Nachrichten zu einer wichtigen Quelle für unabhängige Informationen machte.

Nun erscheint die Nummer 500 der LN. Zu diesem Jubiläum widmen wir uns dem zweiten großen Gründungsthema unserer Zeitschrift, der internationalen Solidarität.

Mit dem vorliegenden Dossier wollen wir Geschichte und Aktualität der Solibewegungen zu Lateinamerika thematisieren. Wir schauen nach Chile, Nicaragua und El Salvador in den historischen Hochzeiten der internationalen Lateinamerika-Solidarität, als soziale Prozesse in Lateinamerika im Fokus der (Welt-)Öffentlichkeit standen. Warum und wie sich dies zu heute verändert hat, in welche Richtung sich die Koordinaten der hiesigen Linken verschieben und ob sich ihre Solidarität letztendlich an der Staatsfrage entzweit, wird in weiteren Beiträgen thematisiert.

(Download des gesamten Dossiers)

Nach der gewaltsamen Machtübernahme durch Augusto Pinochet wurde die Solidarität mit der unterdrückten chilenischen Bevölkerung auch hierzulande immer größer. Die Auflage der Chile-Nachrichten stieg von 200 auf 6.000, im Spätsommer 1973 demonstrierten bundesweit fast 150.000 Menschen gegen die Militärdiktatur. Da die Berichterstattung in den folgenden Jahren zunehmend auf die Nachbarländer Chiles ausgeweitet wurde, in denen es zu ähnlichen politischen Entwicklungen gekommen war, erschien die Zeitschrift ab der Nummer 51 im September 1977 unter dem heutigen Namen Lateinamerika Nachrichten.

Zwar war die Solibewegung mit Chile am größten, doch gab es auch politische Prozesse in anderen Regionen mit denen sich große Gruppen der hiesigen Bevölkerung solidarisierten: Zum Beispiel mit den Sandinist*innen in Nicaragua oder der FMLN-Guerilla in El Salvador. Kurz andauernde breite Kampagnen, wie etwa der Protest gegen die Militärdiktatur in Argentinien zur Fußball-Weltmeisterschaft 1978, bekamen große Öffentlichkeit und Unterstützung.

Die Solidaritätsbewegungen der 1970er und 80er Jahre reichten bis in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft – von Kommunist*innen über Gewerkschaften und Kirchen bis hin zu Teilen der bürgerlichen Parteien. Entsprechend breit war auch die Art der Solidaritätsbekundungen, die von politischen Nachtgebeten und gewerkschaftlichen Kampagnen wie „Ein Stundenlohn für Chile“ über Kunstaktionen bis hin zu Spendenkampagnen wie „Waffen für El Salvador“ reichte.

Nach der Abwahl der Sandinist*innen in Nicaragua 1990 und dem Friedensschluss in El Salvador 1992 wurde es um die Solidarität mit Lateinamerika deutlich ruhiger. Der Zapatismus im mexikanischen Chiapas sorgte 1994 noch einmal für eine Erneuerung internationalistischer Perspektiven, doch insgesamt scheinen die großen Zeiten der Solidarität der Vergangenheit anzugehören. Heute ist es kaum mehr vorstellbar, dass hierzulande für emanzipatorische soziale und politische Prozesse in Lateinamerika auch nur Tausende Menschen auf die Straße gehen.

Ähnliche Ereignisse wie in den 1980er Jahren – ein fortschrittliches gesellschaftliches Projekt und ein anschließender Putsch oder Putschversuch wie in Venezuela, Honduras oder Paraguay – führen heute nicht mehr dazu, dass ähnlich starke solidarische Bewegungen entstehen. Es waren und sind jedoch bewegende und oft kontroverse Themen, denen sich die Lateinamerika Nachrichten bis heute widmen: Die Unterstützung von Menschen in Lateinamerika in ihrem Widerstand gegen die Militärregierungen, die Solidarisierung mit lateinamerikanischen Befreiungskämpfen gegen den US-amerikanischen Imperialismus und die Begleitung dieser Bewegungen bei ihren Transformationsprozessen hin zu linken Regierungen. Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Solidarität durch die LN-Geschichte.

Die zahlreichen Diskussionen, die zum Thema Solidarität in der Redaktion geführt wurden und werden, spiegeln die Probleme der Bewegung wider: Ob Solidarität mit den Regierenden oder nur mit den Regierten auf dem Programm steht, wann von kritischer Solidarität nur noch Kritik bleibt oder umgekehrt nur Solidarität – dies sind Themen, die auch heute noch auf der redaktionellen Tagesordnung stehen. Um die Offenlegung dieser Diskussionen und Widersprüche geht es auch in einem dokumentierten Gespräch zwischen LN-Redakteur*innen, das sich in diesem Dossier wiederfindet.

Nicht zuletzt durch bittere Erfahrungen mit der Realpolitik ehemals revolutionärer Bewegungen, aber auch durch unvermeidliche Veränderungen aufgrund von geopolitischer Neukonstellationen, hat die internationale Solidaritätsbewegung in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren, gleichzeitig aber neue Inspiration gewonnen. Diese geben vor allem in der Süd-Süd-Solidarität Anlass, Erfahrungen, mit denen man sich solidarisiert hat, auf eigene lokale Kämpfe und Prozesse zu übertragen und so eine „erweiterte“ Form der Solidarität zu praktizieren.

Denn die Hoffnungen von damals sind nicht passé. Dafür, dass eine andere Welt möglich ist, wird auch heute noch geträumt und gekämpft, in veränderten sozialen Bewegungen, unter den neuen Bedingungen einer weithin globalisierten Welt. Zusammenhalt, Unterstützung und Solidarität sind heute mindestens genauso notwendig wie in den 1970er und 1980er Jahren und liegen angesichts des fortschreitenden Extraktivismus und der Zerstörung unseres Planeten im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen privilegierten Stellung darf dabei nicht vergessen werden. Auch nicht, wenn es darum geht, heute vor unserer eigenen Haustür Solidarität mit Menschen zu zeigen, die zu uns flüchten müssen. Und diese Solidarität gegen den wieder erstarkenden offenen Rassismus aktiv zu verteidigen.

Bloß keine Invasion

Für die wichtigsten politischen Akteure gelten die Tage des libyschen de-Facto-Staatsoberhauptes Muammar al-Gaddafi als gezählt. Die USA und die EU setzen offen auf einen Regierungswechsel und schließen mit Hinweis auf die andauernde Gewalt in dem nordafrikanischen Land auch eine Militärintervention nicht aus. Über Fürsprecher scheint Gaddafi auf internationalem Bankett nicht mehr zu verfügen. Die mittlerweile lukrativen Geschäfte mit dem Langzeitherrscher, der seit 1969 an der Macht ist, ließen sich bei politischer Stabilität schließlich mit anderen weiterführen. Laut Medienberichten hat Gaddafi die Kontrolle über einen Großteil des Landes bereits verloren.
Einige der links regierten Staaten Lateinamerikas tanzen jedoch aus der Reihe. Während der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega gar offene Solidaritätsbekundungen an Gaddafi übermittelt, vermeiden Länder wie Venezuela, Kuba, Bolivien und Ecuador zumindest eine klare Positionierung. Ihre Hauptsorge gilt einer möglichen militärischen Intervention des Westens. Der kubanische Ex-Präsident Fidel Castro warnte in seinen „Reflexionen“ davor, dass die NATO Lybien besetzen wolle, um sich den Zugang zum Öl zu sichern. Die kubanische Regierung sprach sich klar gegen politische Einmischung in Libyen aus. Die venezolanische Regierung teilt diese Sorge. Einige Tage nach Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzungen meldete sich Präsident Hugo Chávez am 24. Februar erstmals zu Wort. „Es lebe Libyen und seine Unabhängigkeit! Gaddafi sieht sich einem Bürgerkrieg ausgesetzt“, ließ der über seinen Twitter-Acount verlauten. Der venezolanische Außenminister Nicolás Maduro äußerte sich zeitgleich während einer Fragestunde im Parlament ausführlicher zu dem Thema. „Wir setzen uns für Unabhängigkeit, Frieden und Souveränität des libyschen Volkes ein“. Derzeit würden in dem nordafrikanischen Land die Konditionen dafür geschaffen, eine militärische Intervention zu rechtfertigen, sagte Maduro.
In seiner Rede verwies er darauf, dass Libyen als ein vitales Mitglied der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) von einer Zerteilung bedroht sei. Den großen Nachrichtenagenturen warf er vor, Meldungen aus dem Land zu manipulieren. Es werde vielleicht Wochen dauern, bis bekannt würde, was wirklich passiert sei. „Erinnern wir uns daran, wie alle internationalen Agenturen verbreiteten, dass Präsident Chávez ein Mörder sei“, sagte Maduro in Anspielung an den gescheiterten Putsch im April 2002. Damals hatten venezolanische und internationale Medien nachweislich falsch informiert. Die von den PutschistInnen geschickt inszenierten Falschmeldungen dienten unter anderem den USA und der EU als Grundlage für die Anerkennung der Putschregierung unter dem Kurzzeitdiktator Pedro Carmona. Einigen westlichen Regierungen warf der Außenminister zudem Heuchelei und Doppelmoral im Umgang mit Libyen vor. „Warum fordern sie nicht die Bestrafung jener, die Tag für Tag im Irak, in Afghanistan und Pakistan morden?“
Chávez sprach einige Tage später von einem „Netz aus Lügen“, das über Libyen gespannt werde und die Gefahr eines Einmarsches vergrößere. Den USA warf er bewusste „Übertreibungen“ der Situation vor. Eine vorschnelle Verurteilung Gaddafis lehnte er daher ab. „Vielleicht haben Andere Informationen, die wir nicht haben“, sagte er. Aufgrund der unklaren Faktenlage sei es jedoch „feige“ jemanden zu verurteilen, „der lange Zeit unser Freund gewesen ist“, sagte Chávez.
Damit nimmt die venezolanische Regierung gegenüber Libyen eine etwas andere Position ein als zuvor gegenüber den Ereignissen in Ägypten und Tunesien, wo seit Jahrzehnten US-freundliche Herrscher regierten. Venezuela hatte sich zwar auch dort zunächst zurückhaltend geäußert, die Umstürze aber letztlich offen begrüßt. Der ägyptischen Bevölkerung hatte Chávez zu ihrem „friedlichen Triumph“ der „sozialen Rebellion“ gratuliert, die eine „Lektion in demokratischer und politischer Reife“ darstelle. Bei einer rein verfassungsmäßigen Betrachtung habe es sich zwar um einen Staatsstreich gehandelt, so Chávez. Dennoch zeigte er sich mit dem Vorgehen einverstanden, da „die Bevölkerung darüber entscheiden wird“.
Auch andere linke lateinamerikanische Regierungen begrüßten den Umsturz in Ägypten. In den Wochen zuvor hatten Chávez und andere Staatschefs in Lateinamerika wie Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador eine friedliche Lösung ohne Einmischung von außen gefordert. Zu Libyen äußerten sie sich ähnlich und betonten vor allem den Wunsch nach einem Ende der Gewalt, während sie Schuldzuweisungen vermieden.
Die venezolanische Opposition hob ebenfalls den friedlichen Verlauf der Proteste in Ägypten hervor, zog jedoch Parallelen zur politischen Situation im eigenen Land. Ramón Guillermo Aveledo vom Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) sagte in Anspielung auf Chávez, alle Gesellschaften sollten „sich im Spiegel betrachten“. Wenn derjenige, der an der Macht sei „sich verewigt und wenn sich die Wege der Partizipation der Gesellschaft verschließen, passieren solche Explosionen und Krisen“.
Chávez wies den Vergleich mit Hosni Mubarak, der fast 30 Jahre lang im Ausnahmezustand regiert hatte, zurück. „Dort gab es tatsächlich eine Diktatur und über die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut oder extremer Armut“. Mubarak habe niemals die innerhalb der ägyptischen Bevölkerung bestehenden Ungleichheiten korrigiert oder die Probleme der Bevölkerung gelöst. Dies sei die Ursache für seinen Sturz, erwiderte der venezolanische Präsident. Zum Jahrestag der als Caracazo bekannten blutigen Niederschlagung antineoliberaler Proteste am 27. Februar 1989 äußerte sich Chávez abermals zu den Vergleichen. Was in Ägypten passiert sei, habe in Venezuela bereits vor über 20 Jahren stattgefunden. Ob es sich in Libyen nicht um ein ähnliches Phänomen handeln könnte, ließ er offen.
Die Rolle des internationalen bad guys hatte Venezuela in der Libyen-Krise unfreiwillig bereits von Anfang an inne. Einen ganzen Tag lang berichteten Medien weltweit von dem Gerücht, Gaddafi sei vor den Protesten zu seinem „engen Verbündeten“ Hugo Chávez geflohen. Die Information hatte der britische Außenminister William Hague geschickt gestreut, das Dementi der venezolanischen Regierung konnte die klare Konnotation nicht verhindern: Hier ein Diktator, dort ein anderer, und beide führen gute Beziehungen miteinander. Gaddafis wesentlich wichtigere europäische Verbündete hatten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, auf Distanz zu dem früheren Feind des Westens zu gehen, den sie in den vergangenen Jahren so fürstlich hofiert hatten. Hague hätte ebenso mutmaßen können, Gaddafi habe sich nach Italien abgesetzt, waren doch die Beziehungen zu Silvio Berlusconi um einiges enger als etwa zu Chávez.
Mit Libyen hat Venezuela über die OPEC bereits seit Jahrzehnten enge Beziehungen. Das einstige Streben Gaddafis nach Unabhängigkeit von westlichem Einfluss und seine Versuche, afrikanische Länder zu vereinen, hält sich bis heute als Mythos. Chávez sah in Gaddafi immer einen Partner für eine multipolare Welt und bezeichnete ihn als „Freund“, wobei er mit dieser Bezeichnung nicht gerade sparsam umgeht. Der neue kolumbianische Präsident Manuel Santos etwa ist mittlerweile Chávez‘ „neuer bester Freund“, wodurch sich die Bezeichnung als pragmatische Floskel entpuppt, die zumindest nichts über ideologische Nähe aussagt. Ähnlich verhält es sich zu den guten politischen Beziehungen die Chávez zu umstrittenen Präsidenten wie Mahmut Ahmadinedschad in Iran oder Alexander Lukaschenko in Weißrussland unterhält. Auf pragmatischer Ebene geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit auf politischer allenfalls um ein antiimperialistisches Freund-Feind-Schema. Dies impliziert schwer verdauliche diplomatische Fehltritte seitens Chávez, wie etwa die Diffamierung der gewaltsam unterdrückten „grünen“ Protestbewegung im Iran 2009, die ihn auch in linken Kreisen Sympathien gekostet hat. Die Innenpolitik der venezolanischen Regierung ist mit jener Libyens, Irans oder Weißrusslands in der Regel jedoch unvereinbar. Letztlich verfolgt Venezuela außenpolitisch eine plumpe, interessengeleitete Realpolitik.
In der venezolanischen Linken ist dies im Falle Libyens nicht unumstritten. Einige Stimmen stellten sich offen gegen den libyschen „Revolutionsführer“. Der arabisch-stämmige Abgeordnete der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Adel El Zabayar, sagte in einem Radiointerview, Gaddafi sei schon lange kein Antiimperialist mehr und habe praktisch die gesamte Erdölproduktion in die Hände transnationaler Unternehmen gegeben. Nun antworte er auf Proteste mit einem „Massaker“, während die vom Erdöl und Gas abhängigen Staaten Europas nach einer für sie günstigen Lösung suchten.
Die dem linken Flügel der bolivarianischen Bewegung zuzurechnende „Marea Socialista“ (Sozialistische Strömung) erklärte in einem Kommuniqué ihre „kategorische Solidarität mit der libyschen Bevölkerung“. Gaddafi habe ein Massaker verübt, das den Völkern der Welt den Horror zeigt, zu dem „Diktatoren, ob dem Imperialismus zugewandt oder nicht“, fähig seien. Von einem Unabhängigkeitshelden der 1960er Jahre habe er sich zu einem „kapitalistischen Diktator und Partner der EU“ entwickelt. Auf dem chavistischen Basisportal aporrea.org wurde in mehreren Kommentaren sowohl die Ablehnung Gaddafis als auch einer militärischen Intervention zum Ausdruck gebracht.
Ende Februar äußerte Chávez schließlich einen Vorschlag zur friedlichen Beilegung der politischen Krise in Libyen, der eine militärische Intervention verhindern solle. „Ich bin sicher, dass viele Regierungen damit einverstanden sind, eine politische Lösung zu suchen, anstatt Waffen und Panzer gegen das libysche Volk zu entsenden“, sagte er. „Warum schicken wir nicht eine internationale Kommission, die sich friedlich für eine Lösung des Konflikts einsetzt?“. In einem Telefonat mit Gaddafi Anfang März soll dieser dem Vorschlag zugestimmt haben. Die Staaten der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA) unterstützen Chávez‘ Anliegen ebenfalls, innerhalb der 22 Mitglieder umfassenden Arabischen Liga wird er diskutiert. Dass die westlichen Staaten sich darauf einlassen, scheint allerdings unwahrscheinlich. Frankreich, England und die USA sprachen sich bereits gegen den Vorschlag aus. Sprecher der Widerstandsbewegung in Libyen lehnen Verhandlungen mit Gaddafi kategorisch ab. Auch Saif al-Islam al-Gaddafi, einer der Söhne des „Revolutionsführers“, zeigte sich wenig erfreut über den Vorschlag. Die Venezolaner seien zwar Freunde, hätten jedoch „keine Ahnung“ davon, was in Libyen passiere.

Ein Staat wie jeder andere?

Begonnen hatte alles mit vielversprechenden Ankündigungen. Noch vor dem Amtsantritt ihres Chefs im Weißen Haus am 19. Januar 2009 versprach die designierte Außenministerin Hillary Clinton gegenüber Lateinamerika „direkte Diplomatie“, basierend auf „intelligenter Macht“. Aber bereits hier zeigte sich auch die andere Hauptlinie: „Wir müssen eine positive Agenda für die Hemisphäre haben – als Antwort auf die Angst machende Propaganda von Chávez und Evo Morales.“ Ein halbes Jahr später, Ende Juli, präzisierte Clinton die US-Außenpolitik als smart power vor dem gleichen Ausschuss: Darunter sei zu verstehen, dass die USA ihre Instrumente intelligent einsetzen und dabei weiterhin auf ihre Führungsstärke setzen wolle. Dabei war die Wortwahl von Vizepräsident Biden auf dem Amerika-Gipfel von Viña del Mar Ende März 2009 noch eine andere: „Die Epoche, in der wir Befehle gaben, ist vorbei“.
Welchen Stellenwert die oberste US-Außenpolitikerin dann vier Monate später Lateinamerika zumaß, erschloss sich aus der Agenda: Nach Europa und vielen anderen Regionen tauchte Lateinamerika unter den Stichworten Guantánamo und Drogenkrieg erst am Ende auf. Abraham F. Lowenthal, Professor für Internationale Beziehungen der University of Southern California, sieht das anders. In einem umfangreichen Beitrag in der August Ausgabe der Zeitschrift „Nueva Sociedad“ nennt er vier Gründe, warum die Lateinamerika-Politik für die USA besonders wichtig ist: Mit der zunehmenden Migration sind die amerikanischen Staaten näher zueinander gerückt; die Hälfte der Energie-Importe der USA kommen aus Lateinamerika; internationale Probleme wie die globale Erwärmung oder die Verbrechensbekämpfung sind nur überregional zu lösen, und es gibt gemeinsame Werte wie die grundlegenden Menschenrechte. Insofern sei die westliche Hemisphäre der natürliche Rahmen der USA in einer Welt, die immer unübersichtlicher werde und immer weniger attraktiv sei. Lowenthal macht zudem drei Prinzipien der Obama-Politik gegenüber Lateinamerika aus: Den Versuch, verloren gegangenes Vertrauen wieder zurück zu gewinnen; die Fokussierung auf einige wenige Probleme wie Energie, Umwelt und öffentliche Sicherheit sowie die Anerkennung von Unterschieden in Lateinamerika. Insofern sei die US-Politik auch eher bilateral ausgerichtet. Brasilien, Mexiko, aber auch Kuba stünden hier im Vordergrund. Dass die US-Politik in den kommenden Monaten oder Jahren in Missklang oder Schweigen enden könne, will Lowenthal nicht ausschließen. Auch Widersprüche sieht er. Etwa, wenn Hillary Clinton das propagierte Recht der Völker Amerikas auf Selbstbestimmung mit der Aussage konterkariert, dass die zunehmende Präsenz Chinas auf dem Kontinent für die US-Regierung Grund zur Besorgnis sei. Was Lowenthal allerdings zuversichtlich stimmt, ist die relative Schwächung von Lobby-Gruppen, die gegen den eingeschlagenen Kurs sind: die Exilkubaner in Florida etwa oder die US-Waffenlobby. Das könnte der Regierung mehr Handlungsspielräume eröffnen. Eine strategische Vision für Lateinamerika habe die US-Regierung jedenfalls.
Die Reaktion in Lateinamerika war von Beginn an mehrheitlich von kritischer Distanz geprägt. Emir Sader, brasilianischer Linksintellektueller, sprach bereits im Januar vom „schlechten Anfang Hillary Clintons“ und konstatierte, sie spreche, als ob sie sich im leeren, a-historischen Raum bewege. Er verlangte zuerst eine Selbstkritik der Politik unter Bill Clinton und Bush. Frau Clinton solle sich zunächst darüber bewusst werden, dass Amerika nicht mehr der gleiche Kontinent sei wie zur Regierungszeit ihres Mannes, als noch der Neoliberalismus und der amerikanische Freihandelsvertrag „regierten“. Im Februar präzisierte er: Wenn Obama den minimalen Respekt der lateinamerikanischen Länder erreichen wolle, müsse er nur dafür sorgen, dass Nordamerika sich einfach so verhalte wie all die anderen Staaten, die es auf der Welt gibt. In Saders Forderungskatalog finden sich: Einfrieren der Liste der Länder, die nicht mit den USA oder der Antidrogenbehörde DEA kooperieren sowie der Liste der als „terroristisch“ eingestuften Länder oder politischen Kräfte, sofortiger Rückzug der US-Truppen aus Guantánamo und Rückgabe des Territoriums an die kubanische Regierung. Atilio Borón, Soziologe an der Universität in Buenos Aires, sah in Obama einen „tío (Onkel) Tom: Ein deklassierter Schwarzer, der die Seinen verrät und sich in den Dienst der Herren stellt.“ Statt mit den Wall Street-Machern zu kungeln, hätte Obama sich mit den Führungspersonen der sozialen Bewegungen treffen sollen, die ihn überhaupt erst ins Weiße Haus katapultiert hätten.
Gleich nach dem Amtsantritt verkündete Obama sein Ziel, Guantánamo zu schließen, Reiseerleichterungen für ExilkubanerInnen und eine Lockerung der Bestimmungen zum privaten Geldtransfer (remesas) einzuführen. Borón war dies einen Applaus wert. Doch auf dem OAS-Gipfel in Trinidad und Tobago vom April machten lateinamerikanische Betrachter die Beobachtung, dass sich die großen Orientierungspunkte der Außenpolitik der Ära Bush „bester Gesundheit erfreuten“: Krieg und Ökonomie. Die Weichen hinter dem change scheinen auf Kontinuität gestellt, so Borón, der jenseits der Gesten wie dem Händedruck mit Chávez oder dem Gesprächsangebot an Kuba als ersten konkreten Schritt die Aufhebung des Embargos gegenüber der Karibikinsel verlangte. Das Verhalten der USA gegenüber Kuba könnte zu einer Nagelprobe seiner Lateinamerika-Politik werden. Obama dürfte es daran gespürt haben, dass ausgerechnet der erklärte USA-Bewunderer Álvaro Uribe, Kolumbiens konservativer Staatspräsident, formulierte: „Kolumbien spürt, dass die kubanische Regierung für den Frieden in der Region arbeitet.“
Ende Juni kam dann die nächste Nagelprobe für die US-Lateinamerika-Politik: der Putsch in Honduras. Von Beginn an kursierten Gerüchte, wonach die CIA daran beteiligt gewesen sei und die Vermutung, die honduranischen Militärs hätten niemals ohne „Rückfrage“ in Washington gehandelt. Die konkreten Schritte der US-Administration geben jedenfalls ein uneindeutiges Bild ab. Einerseits wurde der Putsch verurteilt, Zelaya als rechtmäßiger Präsident anerkannt, einigen Putschisten die Einreise in die USA verweigert, die aktuelle Militärhilfe in Höhe von 16,5 Millionen Dollar eingefroren und mit Costa Ricas Präsident Arias eine diplomatische Vermittlungsoffensive gestartet. Andererseits wird letzterer in Lateinamerika auch als „Sprecher des Imperiums“ (Borón) wahrgenommen und den USA Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Die mehr als zehnmal höhere Wirtschaftshilfe für Honduras laufe weiter, zur andauernden Repression gegen Demonstranten, zu Ausgangssperren und Pressezensur schwiegen die USA. Obama habe noch ganz andere Waffen in der Hand, etwa die bürokratische Behinderung von remesas der Exil-Honduraner oder die Bitte an die europäischen Freunde, die Beziehungen mit der Putschisten-Regierung in Tegucigalpa einzufrieren. Unbestritten war Honduras die erste Krise in den US-lateinamerikanischen Beziehungen in der Obama-Ära. Emir Sader sah im Verhalten der USA die Handschrift Hillary Clintons, die durch die Vermittlung Arias einen einzigartigen Weg gefunden habe: Ohne Wahlmanipulation und ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, in die inneren Angelegenheiten eines Landes einzugreifen. Noam Chomsky hatte bereits im März – also noch vor dem Putsch – an die Domino-Theorie der US-Lateinamerikapolitik ab den 50er Jahren erinnert. „Die Bedrohung durch das gute Beispiel“ zwingt dazu, jedes Abfallen eines lateinamerikanischen Staates vom US-dominierten Weg zu verhindern, da sonst weitere wie Domino-Steine fallen würden. Viele Staaten hatten geglaubt, dass so etwas im 21. Jahrhundert in Lateinamerika nicht mehr passieren könne – und wenn, dann eben nur unter tatkräftiger Mithilfe der USA. Obama verteidigte sich gegen die Kritiker, die ein Eingreifen Washingtons zugunsten Zelayas forderten, mit dem Argument: „Das sind dieselben, die sonst immer sagen, wir intervenieren immer, und dass die Yankees Lateinamerika verlassen sollen.“
Als Uribe im Juli ankündigte, er werde in seinem Land sieben US-Militärbasen zur Verfügung stellen, waren die Flitterwochen zwischen der neuen US-Regierung und Lateinamerika endgültig vorbei. Selbst gemäßigte Linke wie Brasiliens Lula da Silva reagierten arg reserviert. Auf dem Treffen der UNASUR (südamerikanisches Staatenbündnis) artikulierten denn auch nahezu alle Staatschefs – Uribe hatte kurzfristig abgesagt – ihre Kritik an der kolumbianisch-amerikanischen Kooperation. Zu sehen ist sie im Kontext des bereits unter Bill Clinton im Jahr 2000 initiierten „Plan Colombia“, der Drogenproduktion und Drogenhandel unterbinden sollte. Viele Regierungen in Lateinamerika sahen darin von Anfang an einen Deckmantel zur Sicherung der US-Präsenz in der Region. Daher kam bald der Gedanke auf, die USA verfolgten andere Ziele: geostrategische Sicherung des Zugangs zum Erdöl der Andenregion, Ausbau Kolumbiens als Brückenkopf in Südamerika, Ersatz für die bisherige Militärbasis im ecuadorianischen Manta, die die neue linke Regierung nicht verlängert hatte. Befürchtet wird nun eine Rüstungsspirale. Immerhin ist Kolumbien nach Israel bzw. Ägypten der größte Empfänger US-amerikanischer Militärhilfe. Andererseits zeigte sich Hillary Clinton im September besorgt über die Waffenkäufe Venezuelas in Russland: immerhin 92 russische Panzer im Wert von 1,5 Milliarden Euro – als Reaktion auf die Bedrohung durch Kolumbien, hieß es aus Caracas. Brasilien hatte bereits zuvor durch eine „strategische Rüstungs- und Atompartnerschaft mit Frankreich“ für Aufsehen gesorgt: 36 Kampfflugzeuge für 5 Milliarden Euro. Man muss dies allerdings auch als Ausdruck des Anspruchs einer Regionalmacht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sehen. Die BBC wiegelte daher auch ab: „Washington weiß, sobald es Brasiliens Anspruch auf die regionale Führungsrolle akzeptiert, wird viel von Chávez´ Donnern verschwinden.“ Allerdings rücken sich zwei Hauptkontrahenten in der westlichen Hemisphäre durch die geplante US-Stationierung bedrohlich nahe. So sieht es auch Fidel Castro, der sich am 6. November 2009 dazu unter dem Titel „Die Annexion Kolumbiens durch die USA“ publizistisch äußerte. Er habe den kolumbianisch-amerikanischen Vertrag gelesen und darin keine glaubhafte Begründung für diesen Kontrakt gefunden. Erinnert fühle er sich an die von den USA mit vorbereitete und unterstützte Invasion in der kubanischen Playa de Girón. Die B-26 Bomber operierten von Nicaragua aus. Heute stehe das US-Kriegsgerät in Kolumbien und bedrohe nicht nur Venezuela, sondern alle Mittel- und Süd­amerikanischen Staaten. Es hat den Anschein, dass in Amerika aktuell wieder alles beim Alten ist: dieselben Kontrahenten, dieselben Argumentationsmuster. Interessanterweise hatten schon Condoleezza Rice und Noam Chomsky – aus zwei politisch total gegensätzlichen Positionen – das Gleiche prophezeit: Obamas Außenpolitik werde sich kaum von der zweiten Amtsperiode George Walker Bushs unterscheiden.
Das militärische Auftreten der USA nach dem Erdbeben in Haiti untermauert die Richtigkeit dieser Einschätzung. Von vielen in Lateinamerika wird die US-Militärpräsenz nach dem Beben bereits als „kalte Intervention“ gesehen, die gegen eine stärkere Rolle Kubas in der Karibik und gegen Brasilien – als Führungsmacht der UN-Friedensmission auf der Insel – gerichtet sei.

Fokus Emanzipation

OrganisatorInnen sowie die große Mehrheit der TeilnehmerInnen zogen eine positive Bilanz des 3. Amerikanischen Sozialforums (FSA), das vom 7. bis 12. Oktober 2008 in Guatemala-Stadt veranstaltet wurde. Die eher überschaubare TeilnehmerInnenzahl sowie die Abwesenheit vieler bekannter Persönlichkeiten der globalisierungskritischen Bewegung öffneten den Raum für eingehende Diskussionen im kleinen Kreis. Es erstaunte kaum, dass die Anliegen der Indígena-Bewegung in Vordergrund standen, da deren Themen ähnlich wie in Bolivien oder Ecuador seit Jahren auf der Tagesordnung stehen. Überraschend war hingegen die breite Präsenz von Frauengruppen, denen es gelang, die Diskussion über Herausforderungen eines neuen Feminismus zum zweiten zentralen Diskussionsstrang dieses Forums zu machen.
Dabei waren die Ausgangsbedingungen alles andere als günstig. Es gab unzählige organisatorische Schwierigkeiten, zumal die Behörden Guatemalas in Vorfeld versucht hatten, die Ausrichtung des FSA zu blockieren. Als endlich die nationale San Carlos Universität (USAC) als Veranstaltungsort errungen werden konnte, weigerte sich die Unileitung, dem Forum vernünftige Räume zur Verfügung zu stellen. So fand das Forum in Mitten des Lehrbetriebs statt, viele Räume wurden abwechselnd von Forumsveranstaltungen und normalen Uni-Seminaren genutzt. Es mangelte auch an gemeinsamen Treffpunkten, die dem FSA einen verbindlicheren Charakter gegeben hätte. Da die USAC weit außerhalb liegt, kam es jenseits der Veranstaltungen kaum zu gemeinsamen Aktionen. Andererseits war es das erste Mal, dass ein solches Forum in Mittelamerika stattfand, einer Region, die auf der politischen Landkarte der wichtigsten Bewegungen Südamerikas weit entfernt liegt. Um so wichtiger das politische Signal, dass die globalisierungskritische Bewegung auch auf dem Isthmus zwischen Mexiko und Kolumbien präsent ist.
Auf dem Campus war die Stimmung gut, aus ganz Amerika waren Delegationen, VertreterInnen sozialer Bewegungen, AktivistInnen und WissenschaftlerInnen angereist. Die offiziell knapp 7.000 TeilnehmerInnen verteilten sich auf weit über Hundert Veranstaltungen, die nach sechs Themengruppen sortiert waren. Es ging um regionale Integration, Militarisierung, Perspektiven der sozialen Bewegungen angesichts der Aufbruchstimmung in Südamerika sowie Reaktion auf die zunehmende Kriminalisierung dieser Akteure, Femizid, Solidarität mit der indigenen Regierung Boliviens und vieles mehr. Präsent war auch eine Vielzahl alternativer Medien, die im Geflecht der sozialen Bewegungen eine immer wichtigere Rolle einnehmen. In einem Zentrum unabhängiger Medien, das ebenfalls unter Raummangel und technischen Barrieren zu leiden hatte, versammelten sich MedienvertreterInnen des ganzen Kontinents und berichteten in Text, Ton und Bild über das Geschehen. Mehrere Radioinitiativen, darunter Pulsar aus Buenos Aires und Brasilien, Aler aus Ecuador und Onda aus Berlin, berichteten live per streaming oder mittels Reportagen auf ihren Internetseiten. Ein wichtiges Gegengewicht zu dem weitgehenden Boykott seitens der guatemaltekischen Massenmedien, die dem FSA in all den Tagen nur wenige Zeilen und kaum Sendeplatz widmeten. Ein wichtiges Thema war die Diskussion um ein Freihandelsabkommen zwischen Zentralamerika und der Europäischen Union. Weit weniger bekannt als die Einigungsbemühungen mit dem südamerikanischen Mercosur, ist es den lokalen Bewegungen umso wichtiger, auf die sozialen Auswirkungen eines solchen Abkommens hinzuweisen. Ganz im Gegensatz zur offiziellen Lesart würde ein solches Abkommen wie schon im Fall von Mexiko höchstens bestimmten Wirtschaftssektoren, aber nicht der verarmten Bevölkerung zu Gute kommen. Erstaunlich in diesem Zusammenhang, dass die momentane Finanzkrise kaum thematisiert wurde, obwohl doch gerade dieser Kollaps des neoliberalen Dogmas zeigt, wie wenig die altbekannten Vorschläge zur Wirtschaftsförderung eine nachhaltige Ökonomie herbeiführen.
Trotz des generell herrschenden Konsens bezüglich der Kritik des herrschenden wirtschaftlichen und politischen Systems in der Region sowie bezüglich der Rolle und Forderungen der sozialen Bewegungen als ProtagonistInnen der Veränderung, gab es zumindest an einem Punkt handfesten Streit: Nicaragua und die Politik des umstrittenen Präsidenten Daniel Ortega. Für einige AktivistInnen ist das neu-sandinistische Nicaragua ein weiteres Land, dass sich in die Gruppe der fortschrittlichen Regierungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador – nach eher gemäßigter Lesart auch Brasilien, Uruguay, Paraguay, Chile und Argentinien – einreiht. Andere hingegen prangerten den autoritären Regierungsstil Ortegas und das Ausbleiben einer sozialen Politik bei zugleich höchst revolutionärer Rhetorik an und kritisierten vor allem dessen reaktionäre Haltung in Sachen Abtreibung. Insbesondere Frauengruppen verwehrten sich dagegen, einen Präsidenten, der allen Forderungen nach Selbstbestimmung von Frauen eine Absage erteilt, als fortschrittlich zu bezeichnen. Schade – wenn auch vorhersehbar – war, dass Boliviens Präsident Evo Morales seinen geplanten Besuch kurzfristig absagte. Es wäre ein wichtiges Signal gewesen, wenn der Repräsentant eines jahrelangen und erfolgreichen Indígena-Kampfes aus Südamerika zu den Menschen in Guatemala, die einen ähnlichen Leidensweg haben, aber bisher noch wenig politische Errungenschaften vorweisen können, gesprochen hätte. Zwar bedeutet die Präsidentschaft von Álvaro Colom durchaus einen gewissen Fortschritt für das nach wie vor durch Repression und Kriegsfolgen gekennzeichnete Guatemala, doch beschränkt sich dieser angesichts vieler Kompromisse mit althergebrachten Machthabern eher auf Gesten denn auf konkrete Veränderungen.
Eine dieser Gesten sind die riesigen Transparente an der Fassade des Präsidentenpalastes mit den Konterfeis der beiden Präsidenten, die vor dem Putsch von 1954 einen neunjährigen politischen Frühling in dem zentralamerikanischen Land ermöglicht hatten. Die Abschlussdemonstration des 3. Amerikanischen Sozialforums entsprach mit rund 2.000 Menschen nicht ganz den Erwartungen. Dass sie am Sonntagmittag auf dem zentralen Platz von Guatemala-Stadt unter dem Augenschein dieser beiden Präsidenten Arévalo und Árbenz stattfand, wäre allerdings vor gerade einmal zehn Jahren undenkbar gewesen. Wirklich Neues hat es auf dem Treffen nicht gegeben, doch es zeigt sich, dass die von einigen schon tot gesagte Organisation der Sozialforen immer noch ein wichtiger Anziehungspunkt für die Bewegung darstellt. Viele der Diskussion wurden allerdings schon vorzeitig vertagt, mit Hinweis auf das Weltsozialforum, dass Ende Januar 2009 in der Amazonasregion stattfinden wird. Austragungsort wird das brasilianische Belém sein (siehe Schwerpunkt in dieser Ausgabe), wo sich dann entscheiden dürfte, ob Foren, die nur breiten Diskussionen und dem Austausch dienen, aber keine politischen Richtlinien verabschieden, auch das nächste Jahrzehnt noch schmücken werden.
// Andreas Behn

Terroristen erfinden, Militärbudget sichern

„Wenn es einmal eine Zeit der Hegemonie der USA in Lateinamerika gegeben hat, so ist sie nun vorüber.“ Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht des Council on Foreign Relations, eines New Yorker Studienzentrums für auswärtige Beziehungen, der im März dieses Jahres veröffentlicht wurde. Die Heritage Foundation, eine konservative Denkfabrik, deren Arbeit auf Washingtoner Regierungskreise Einfluss hat, warnte bereits im Februar 2004 davor, im Zuge des globalen Krieges gegen den Terror „die Südflanke“ zu vernachlässigen. Den Freiraum, den man den lateinamerikanischen Regierungen dadurch gelassen habe, sei unter anderem eine Ursache dafür, dass viele von ihnen sich zunehmend kritisch gegenüber den USA äußern und sich anderweitig außenpolitisch orientieren würden.
Auch hohe Offiziere des SouthCom, des Regionalkommandos der USA für Lateinamerika und die Karibik (mit Ausnahme Mexikos), werben dafür, das militärische Engagement in der Region wieder zu intensivieren. Ihr Hauptargument ist, dass in Lateinamerika islamistische TerroristInnen Angriffe auf die USA vorbereiten würden. Ursächlich hierfür sei die Unfähigkeit oder der politisch motivierte Unwille einiger lateinamerikanischer Regierungen, für Sicherheit in bestimmten Regionen zu sorgen. Diese bis heute nicht bestätigten Behauptungen sind wohl vor allem mit der Angst vor einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des SouthCom zu erklären. Ihre Offiziere scheinen die Meinung zu vertreten, dass sie im Zeitalter des „Kampfes gegen den globalen Terrorismus“ nur dann ein hohes Budget einfordern können, wenn sie TerroristInnen in der Region vermuten. Daher werden alle potenziellen Bedrohungen für die USA in Lateinamerika zu Terrorismus umdefiniert.
Es sind jedoch vor allem wirtschaftliche Interessen der USA und hier in entscheidendem Maße die Energielieferungen aus Lateinamerika, die gefährdet sind. Denn die „linken“ Regierungen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas verhandeln Konzessionen für die Erdöl- und Erdgasförderung neu. Es treten zudem andere Länder wie vor allem China mit Begehrlichkeiten auf den Plan. Die Konkurrenz um die Rohstoffe des Südkontinentes nimmt zu.
Die nicht vorhandenen Berührungsängste einiger lateinamerikanischer Staatsoberhäupter mit dem Iran werden von den USA als immense Bedrohung wahrgenommen. Dies motivierte den US-Kongress im November 2007, eine Resolution zu diesem Thema zu verabschieden, in der die Treffen zwischen latein­ameri­kani­schen Staatschefs und dem iranischen Präsidenten Ahmadi­ne­dschad minutiös dargestellt werden. Die Heritage Foundation sieht diese Beziehungen als Gefahr eines islamischen „Hintertür-Terrorismus“. Eine weitere Gefährdung der Interessen wird in dem Aufkommen eines „radikalen Populismus“ gesehen, der sich unter anderem aufgrund eines starken Anti-Amerikanismus am Leben halten könnte. Insbesondere dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez wird vorgeworfen, TerroristInnen über seine Verbindungen zu Ahmadinedschad in Lateinamerika Raum zu bieten, aber auch „einheimische“ TerroristInnen, vor allem die kolumbianische Guerilla-Organisation FARC zu unterstützen. Auch indigene Organisationen werden als gefährlich eingestuft. So erklärte Connie Mack, Abgeordneter im US-Kongress, es gebe laut Angehörigen des SouthCom keinerlei Zweifel, dass islamistische TerroristInnen, wie die Hisbollah, indigene Organisationen infiltriert hätten, um ein Terroristennetzwerk in Lateinamerika zu etablieren. Zudem könnten territoriale Forderungen der indigenen Bevölkerung die Vorraussetzungen für bewaffnete Aufstände und politische Gewalt schaffen. Als weitere Bedrohungen werden der Drogenhandel, kriminelle Banden und „Massenmigration“ gesehen und das unzureichende Vorgehen der „populistischen Regierungen“ dagegen.
Angesichts der vielfältigen „Bedrohungen“ kommt die Heritage Foundation zu dem Schluss, die USA sollten die Ausbildung von Polizei und Militär in Lateinamerika übernehmen, da die Staaten teilweise nicht in der Lage seien, Kriminelle, Subversive und TerroristInnen auf ihrem eigenen Territorium zu bekämpfen. Zum anderen müsse das SouthCom „wiederbelebt“ und nicht nur zur Drogenbekämpfung sondern auch zur Bekämpfung aller anderen Bedrohungen eingesetzt werden. Des Weiteren sollten die geheimdienstlichen Aktivitäten der USA in Lateinamerika verstärkt werden, da man sehr schlecht darüber informiert sei, was dort passiere.
Präsident Bush scheint dies ähnlich zu sehen: Wurden 2007 noch 770 Millionen US-Dollar für den Bereich „Sicherheit und Frieden“ in Lateinamerika ausgegeben, beantragt er im Haushaltsentwurf für 2009 1,2 Milliarden US-Dollar. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, in dem die USA zunehmend Probleme in der Region haben, ihre militärische Präsenz zu rechtfertigen.
Die USA reagieren auf diese Probleme damit, dass sie den Schwerpunkt der Militärpräsenz vom Land auf die Gewässer um Lateinamerika verlagern. Die zunehmende Bedeutung der Marine für die Region wird besonders an der Wiederbelebung der 1943 gegründeten Vierten Flotte deutlich. Dies liegt wohl auch daran, dass mit dem Flughafen Manta an der ecuadorianischen Pazifikküste eine der wichtigsten US-Militärbasen in Lateinamerika zum nächsten Jahr geschlossen werden muss.
Der Vertrag, der dem US-Militär die Nutzung des Militärflughafens in Manta für zehn Jahre zubilligte, läuft 2009 aus und wird – wie der ecuadorianische Präsident Rafael Correa bereits vor seiner Wahl im Dezember 2006 ankündigte – nicht verlängert. Die Entschlossenheit dieser Entscheidung zeigt die Tatsache, dass im Entwurf für eine neue Verfassung in Artikel 5 die Errichtung ausländischer Militärbasen verboten wird. Die Basis in Manta ist aber ein wesentlicher Bestandteil des Netzwerkes von Militärbasen in Lateinamerika und zentraler Teil des US-Militärs im Plan Colombia. In dem Vertrag war festgelegt worden, dass sich die Nutzung der Basen auf die Bekämpfung des Drogenhandels beschränkt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die dort stationierten Einrichtungen auch zur Aufstandsbekämpfung in Kolumbien, zur Erhebung von Informationen in der Region sowie zur Kontrolle von MigrantInnen an der Küste Ecuadors genutzt werden. Die Befürchtung Ecuadors, durch die Anwesenheit des US-Militärs in Manta weiter in den Konflikt in Kolumbien verstrickt zu werden, wurde bereits zum Zeitpunkt der Vertragsschließung geäußert. Sie bestätigte sich im März dieses Jahres, als auf ecuadorianischem Territorium FARC-Guerilleros bombardiert wurden. Die Nachrichtenagentur IPS zitiert einen ecuadorianischen Militär damit, die Informationen über den Ort des FARC-Lagers stammten von der Basis in Manta. Auch seien die Bomber, die das Lager zerstörten, US-amerikanische Flugzeuge gewesen. Diese Einschätzung vertritt auch die ecuadorianische Regierung, während die USA und Kolumbien vehement widersprechen.
Doch nicht nur die FARC, auch MigrantInnen sind in das Visier von Manta geraten. Im Juni 2005 veröffentlichte die Lateinamerikanische Menschenrechtsvereinigung (ALDHU) einen Bericht, nach dem seit 2001 acht zivile Schiffe durch Schiffe der US-Marine versenkt worden seien. Der Generalsekretär der ALDHU sagte, die Kriegsschiffe der US-Marine würden die Fischerboote gezielt nach MigrantInnen durchsuchen.
Die USA sind nun auf der Suche nach einer neuen Basis, damit das seit 1999 gut funktionierende Netz von Überwachung und Kontrolle nicht in sich zusammenfällt. Dies gestaltet sich jedoch derzeit schwierig. Verhandlungen laufen verschiedenen Zeitungsberichten zufolge mit Kolumbien und Peru. Angesichts der Präsenz von US-Militär in Kolumbien und der Möglichkeit, mit einer Basis in Peru auch Bolivien in den Überwachungsradius mit einzubeziehen, scheint die Präferenz der USA auf Peru zu liegen. Der Oberbefehlshaber der peruanischen Armee erklärte im Juni diesen Jahres, es gäbe Verhandlungen mit den USA, einen Flugplatz in Ayacucho dem US-Militär zur Verfügung zu stellen. Die Region um Ayacucho gilt als Anbaugebiet von Kokapflanzen und als Hochburg kleinerer Gruppen der Guerillaorganisation Sendero Luminoso. Seit Mai 2008 befinden sich bereits mehr als 100 US-Soldaten in der Region, die offiziell Schulen und ein Krankenhaus bauen und mit peruanischen Soldaten Übungen durchführen. Der peruanische Präsident Alan García zeigt sich grundsätzlich zu einer engeren militärischen Zusammenarbeit mit den USA bereit, dementiert jedoch ebenso wie die US-Regierung, dass es Gespräche über die Etablierung einer Basis in Peru gäbe.
Parallel zu diesen Verhandlungen haben die USA die Vierte Flotte neu belebt. Sie war während des zweiten Weltkrieges zum Schutz der lateinamerikanischen Küste und der Karibik vor deutschen U-Booten geschaffen und 1950 wieder aufgelöst worden. Die jetzt neu aufgestellte Flotte untersteht dem SouthCom und ist seit Juli im Einsatz. Sie umfasst unter anderem einen Flugzeugträger und U-Boote und soll in den Gewässern vor der Küste der Region patrouillieren. Damit könnte die Flotte auch Funktionen der Militärbasis in Manta übernehmen. Der Oberbefehlshaber des SouthCom, James Stavridis, beteuert, Mission der Flotte seien humanitäre Hilfe, Katastrophenschutz, Umweltschutz (sic!), die Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Drogenhandel und die Regulierung und Abwehr von Massenmigration in die USA, vor allem in der Karibik.
Die Regierungen in Lateinamerika sind angesichts der Zusammensetzung der Flotte jedoch nicht davon überzeugt, dass dies die wahren Motive sind. Auch wenn die US-Marine bereits zuvor fast permanent vor den lateinamerikanischen Küsten für Militärübungen mit lateinamerikanischen Marineeinheiten präsent war, wird dies durch die Vierte Flotte verstärkt. Denn bisher mussten die USA Übungen vor Ort jedes Mal aufs Neue mit den lateinamerikanischen Regierungen absprechen. Auch wenn weiterhin die Erlaubnis eingeholt werden muss, um in lateinamerikanische Hoheitsgewässer einzudringen, ist die Flotte jederzeit präsent. Dies muss von den lateinamerikanischen Ländern als permanente Bedrohung wahrgenommen werden. Insbesondere auch aufgrund der Aussage des Oberkommandierenden der Marine des SouthCom, man werde mit der Vierten Flotte nicht nur im blauen, sondern auch im braunen Wasser (gemeint sind Flüsse) Übungen durchführen.

Jenseits der Grenzen

Im Jahr 1927 verkündete die Southern Pacific Railroad stolz die Fertigstellung einer neuen Eisenbahnlinie. Seitdem führt eine Bahntrasse von der mexikanischen Stadt Nogales, an der Grenze zum US-amerikanischen Arizona, quer durch den im Norden Mexikos gelegenen Bundesstaat Sonora bis nach Guadalajara im Zentrum des Landes. Einige Minuten oberhalb des 27. Grades nördlicher Breite verlaufen die Bahnschienen durch eine kleine Stadt namens Vícam und zerteilen den Ort in zwei ungleiche Hälften. Auf der einen Seite der Trasse beherbergen steinerne Häuser ihre BewohnerInnen, und zwei an der Bundesstraße gelegene 24-Stunden-Supermärkte konkurrieren um Kundschaft.
Auf der anderen Seite der Schienen leben die Menschen in aus Holz gezimmerten Eigenbauten im Schatten der örtlichen Betonfabrik, und nicht einmal ein Lebensmittelladen buhlt um ihre Kaufkraft. Auf dieser anderen Seite sind jene zu Hause, die sich dem „Stamm der Yaqui“ zurechnen. Und auf dieser anderen Seite auch, auf dem staubigen Feld zwischen Kirche und Gemeindezentrum, organisierten der Nationale Indigene Kongress (CNI), die EZLN und eine Fraktion des „Stammes der Yaqui“ Mitte Oktober das „Treffen der indigenen Völker Amerikas“.
Natürlich sind es nicht nur Eisenbahnschienen, welche die Grenze zwischen den beiden Teilen Vícams markieren. Sie sind nicht mehr als die bauliche Vergegenständlichung der Teilung der amerikanischen Gesellschaften per se: jener nunmehr 515 Jahre andauernden Trennung in einen indigenen und einen nicht-indigenen Teil der Bevölkerung des Kontinents. Für diejenigen, die sich selbst als Spanier, Weiße oder Mestizen betrachteten und betrachten, waren die „anderen“ selten mehr als „Indios“. Im Gegenzug bezeichnen jene, die sich Yaquis nennen und genannt werden, alle nicht-indigenen Menschen als yoris – ein von negativen Konnotationen nicht immer freier Sammelbegriff.
Beide Begrifflichkeiten zur Bezeichnung des „Anderen“ – sowohl Indio als auch yori – haben in den letzten Jahrzehnten tief greifende Bedeutungsverschiebungen erfahren. „Mit dem Begriff Indio hat man uns beleidigt, hat man uns erniedrigt und kolonisiert. Mit diesem selben Begriff, Indio, werden wir uns erheben, compañeros!“, ruft Víctor Morocho den etwa 5000 Anwesenden, von denen mehr als 600 Delegierte indigener Gruppen aus ganz Amerika sind, von der Bühne aus zu. Und fügt hinzu: „Indígena zu sein bedeutet, der Stolz Amerikas zu sein!“ Das neue Selbstverständnis der indigenen Bewegungen Amerikas spricht aus den Worten des Delegierten des Nationalen Bündnisses der Bauern-, Indigenen und Farbigenorganisationen Ecuadors FENOCIN.
„Es geht auf diesem Treffen um die Zukunft unserer indigenen Völker, um unsere Autonomie“, gibt Juan Domingo, technischer Koordinator einer der traditionellen Autoritäten der yaquis, zu verstehen. „Es ist das erste Mal, dass wir uns in die Augen schauen und Freundschaften schließen können – das ist ein erster, fundamentaler Schritt auf dem Weg zu einer Einheit der indigenen Gruppen Amerikas.“
Im Kern des Wunsches nach einer großen, vereinten indigenen Bewegung findet sich aber auch die Frage nach dem vertrackten Verhältnis zwischen dem Partikularen und dem Universellen, welche die Bewegungen zu lösen haben. Denn der Suche der ethnischen Gruppen Amerikas nach dem „gemeinsamen Indigenen“ haftet stets der immanente Widerspruch an, im Grunde nicht viel mehr gemein zu haben als die koloniale Kollektivbestimmung als „Indios“ – und die damit verbundene Erfahrung rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. Ausgerechnet das Konzept „Indio“, das dem Herrschaftsdiskurs entstammt und hinter dem sich tatsächlich eine Vielzahl sehr verschiedener Gruppen verbirgt, soll diesen Gruppen also heute dazu dienen, die fragmentierten Kämpfe zu koordinieren und ein gemeinsames politisches und soziales Projekt zu entwerfen.
So herrscht vor allem in der Definition des gemeinsamen Feindes relative Einmütigkeit: Die Mutter Erde soll verteidigt werden, wie Juan Chávez vom Nationalen Indigenen Kongress (CNI) fordert, gegen Ökozid, Ethnozid und Genozid des Kapitalismus. Die Winterolympiade 2010 in Kanada soll ein Kristallisationspunkt des Widerstands werden.
Doch in den konkreten politischen Ansprüche zeigen sich die Unterschiede: Während für die große Mehrheit der nordamerikanischen RednerInnen eine Neuordnung des politischen Systems in weiter Ferne erscheint, haben die indigenen Bewegungen Lateinamerikas im Verlauf der letzten Jahre zum Teil weit reichende politische, soziale und kulturelle Veränderungen erstritten. „Der Kolonialismus und seine weiter bestehenden Konsequenzen haben uns in einem genutzt: wir lernten, uns zu organisieren“, erklärt Victor Morocho, seines Zeichens Quechua. „Wir in Ecuador haben in weniger als zehn Jahren drei Regierungen gestürzt, und dies ist der politischen Arbeit der indigenen Bewegung zu verdanken. Nicht nur hat unsere neue Regierung die Existenz der indigenen Völker anerkannt – per Dekret muss das Quechua heute in jeder Schule als Fach angeboten werden“, verkündet er stolz, und erntet den der Bewegung gebührenden Beifall.
Für die Delegierten des Indigenen Volksrat Oaxacas Ricardo Flores Magón (CIPO-RFM) hingegen steht die Mitarbeit in staatlichen Institutionen nicht zur Debatte. Vertreten wird die Organisation, die sich auf die Ideen des mexikanischen Anarchisten Ricardo Flores Magón beruft, von aus dem südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca angereisten zapotecos. Sie berichten, dass verschiedene Gruppen der zapotecos sich angesichts der Kämpfe und der Repression in Oaxaca entschlossen hätten, am Kampf der Versammlung der Völker Oaxacas APPO teilzunehmen. „Denn wir haben festgestellt, dass wir unseren Kampf nicht allein ausfechten können. Wir brauchen die Unterstützung von allen, nicht nur denen, die Teil einer indigenen Kultur sind, sondern all denen, die eine bessere Welt wollen.“
Doch nicht allein am Gesagten lassen sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der indigenen Gruppen Amerikas ablesen – auch das Nicht-Gesagte ist aufschlussreich. So bringen einzig die ZapatistInnen die Geschlechterthematik explizit zur Sprache. Nur eine Handvoll Frauen aus den Yaqui-Gemeinden ist anwesend, während die Gruppe weiblicher Delegierter die Grundlinien des vor knapp 15 Jahren verabschiedeten „Revolutionären Gesetzes der Frauen der EZLN“ erläutert und über Probleme und Fortschritte des Kampfes um Gleichberechtigung referiert. Die Yaqui-Frauen, heißt es auf Nachfragen, müssten auf den Feldern arbeiten.
Die Suche nach einer Gesprächspartnerin aus den Yaqui-Gemeinden gestaltet sich schwierig – die wenigen anwesenden Frauen wollen nicht über ihre Situation sprechen. Schließlich erklärt sich Angelina Galindo aus dem nahe gelegenen Sarmiento bereit, Auskunft zu geben. Sarmiento ist eine von der Organisation Mujeres Esperanza (Frauen der Hoffnung) ins Leben gerufene, tiefkatholische Gemeinde, in der verwitwete oder aus tyrannischen Ehebeziehungen geflüchtete Frauen aus den Gemeinden der Yaquis die Möglichkeit haben, durch eigene Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufzukommen – und daneben kirchliche Funktionen wahrzunehmen.
„Die Frauen kommen aus Angst nicht zu diesem Treffen“, meint Angelina. „Ihre Ehemänner sagen ihnen, sie sollen nicht kommen – und der Mann ist es, der befiehlt.“ Auf die Frage, ob die Frauen sich denn auf irgendeine Art Organisation innerhalb der Gemeinden stützen könnten, antwortet Angelina mit Bestimmheit. „Nein. Die Yaqui-Frau hat weder eine Stimme noch das Recht auf Teilnahme an Entscheidungen. Und von Mujeres Esperanza abgesehen gibt es keinerlei Organisation von Yaqui-Frauen.“
Es sei sehr mutig von Angelina, hier zu sein und dazu noch ein Interview zu geben, sagt Mary Carrazco von Mujeres Esperanza, die Angelina begleitet. „Drei Tage vor Beginn des Treffens bekam unsere Organisation einen Brief von Frauen aus den Yaqui-Gemeinden, in dem sie uns davor warnten, an dem Treffen teilzunehmen.“
Erst am letzten Tag des Treffens – ein kulturellen Feierlichkeiten gewidmeter Sonntag – nimmt die Präsenz weiblicher yaquis unter dem Schatten spendenden Stoffdach zu. Auch für die Lehrerin Tomasa María Valenzuela, die auf Spanisch und yaqui unterrichtet, ist der letzte Tag der Veranstaltung der erste, an dem sie anwesend ist. „Es sind vor allem die Frauen, die unsere Werte und Traditionen weitergeben und dafür sorgen, dass unsere Sprache weiterhin gesprochen wird“, sagt Tomasa. Der weiblichen Emanzipation steht sie deshalb mit gemischten Gefühlen gegenüber: „Wir versuchen einige Dinge zu ändern, aber ohne unsere Werte und Traditionen zu verlieren“, erklärt sie.
Dass die Befreiung der Frau aus ihrer angestammten Rolle unter Beibehaltung der Tradition sich als schwierig gestaltet, liegt nicht an einem immanenten Widerspruch, sondern derzeit vor allem an der Art und Weise der Befreiung: „Beinahe alle Frauen sind heute dazu gezwungen, in den maquiladoras im nahe gelegenen Empalme zu arbeiten“ sagt Tomasa. „Nachdem die Männer sich bei der Bank verschuldeten, um die notwendigen Landmaschinen kaufen zu können, mussten sie nach und nach ihre Ländereien verpachten. Jetzt arbeiten alle, die Männer und die Frauen, um diese Schulden abzubezahlen.“
Unzählige Kinder aus der Gemeinde haben jeden Winkel des staubigen Platzes für Ballspiele in Beschlag genommen. Das violette Licht der über Sonora untergehenden Sonne scheint auf Francisco Palma, raramuri aus Chihuahua, während er die Erklärung von Vícam verliest. „Mit dem Schmerz, den der andauernde koloniale und kapitalistische Krieg gegen uns hervorruft, wächst auch der Widerstand unserer Völker. Wir lehnen diesen Krieg ab, den Unternehmen und Staaten führen, wie auch die Plünderung der Mutter Erde. Wir wehren uns gegen die Privatisierung des Wassers, der Erde, der Wälder und Küsten, der Luft, des Regens, des traditionellen Wissens und allem, was aus der Erde geboren wird.“
Wenig später spricht Víctor Morocho, Quechua aus Ecuador, die abschließenden Worte: „Wir hatten so wenig Zeit, es reichte gerade eben, uns gegenseitig ein wenig kennenzulernen, ein wenig über die Erfahrungen von Diskriminierung und Kampf der indigenen Völker zu lernen. Mit diesem Treffen haben wir eine Tür geöffnet, und jetzt gilt es, eine gemeinsame Identität zu entwerfen.“
Nur die Scheinwerfer der Bühne und die Lampen der Betonfabrik spenden noch Licht, als die letzte Eisenbahn des Tages vorbei rollt. Eine kilometerlange Reihe von Waggons schleppt sich Richtung Norden, wahrscheinlich kommen sie aus Empalme, wahrscheinlich bringen sie Produkte aus den maquiladoras an die Grenze zu Arizona. „Wir stehen am Anfang des Weges“, ruft Víctor gegen den Lärm des Zuges an, „ein Weg, der uns zur Einheit aller Armen dieser Welt führt, und zu einem weltweiten interkulturellen Lebensprojekt.“

“Es handelt sich um Friedensmonologe”

Könnt ihr uns sagen, warum die Bewegung der Opfer staatlicher Verbrechen gegründet wurde und welche Organisationen sie vertritt?

Gloria: Die Bewegung wurde einige Tage nach der Verabschiedung des „Gesetzes 975 für Gerechtigkeit und Frieden“, wir nennen es Gesetz für Straflosigkeit, gegründet. Damit wollten wir gegen diese gesetzliche Maßnahme vorgehen, die versucht, über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Kolumbien den Mantel des Vergessens und der Straflosigkeit zu legen. Unsere Bewegung besteht aus Organisationen direkter Opfer, betroffener Gemeinden, Vertriebenen und Menschenrechtsorganisationen, die den Opfern juristische Hilfe geben. Sie versucht die Opfer zu organisieren, um die Angst vor der Anzeige zu besiegen sowie um Gerechtigkeit, Wahrheit und vollständige Wiedergutmachung einzufordern.

Ihr nennt das Gesetz 975 verfassungswidrig. Auf welchem Wege wurde die Klage der Verfassungswidrigkeit vorgebracht?

Gloria: Zum einen wurde sie dem kolumbianischen Verfassungsgericht vorgelegt, das in erster Instanz über die Verfassungsmäßigkeit entscheidet. Zum anderen wurde auch Klage bei dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte CIDH eingereicht.

Jomary: Bei Prozessen, bei denen die KlägerInnen internationale Instanzen anrufen, wird sich hauptsächlich auf Entscheidungen berufen, die das Interamerikanische Menschenrechtskomitee und der CIDH bereits getroffen haben. Diese Institutionen haben gegenüber der kolumbianischen Regierung erklärt, dass das Gesetz 975 gegen internationale Standards der Gesetzgebung bezüglich Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung verstoße. In verschiedenen Fällen von Massakern seitens der Paramilitärs und Armee haben sie nachgewiesen, dass das Gesetz eine juristische Strategie zur Verdunklung von Verantwortlichkeit darstellt und den Verantwortlichen hilft, die an den Massakern in irgendeiner Weise beteiligt waren. Der CIDH beschäftigt sich auch mit der Situation des Chefs der Paramilitärs, Salvatore Mancuso, der momentan mit der Regierung verhandelt, da es sich bei ihm um eine der Personen handelt, gegen die auf nationaler Ebene nicht ermittelt wird. Und das ist bei weitem nicht der einzige Fall.

In Kolumbien hat der bewaffnete Konflikt soziale Wurzeln. Ist es möglich, in diesem Kontext von Neutralität zu sprechen?

Gloria: Von einem sozialen Konflikt sind alle betroffen. Insofern ist es uns nicht möglich gegenüber der Ungleichheit und dem Versagen des Staates bei seinen Pflichten neutral zu bleiben. Der soziale Konflikt ist schon seit mindestens 70 Jahren das Resultat des Fehlens einer gerechten Verteilung des Reichtums zugunsten einer Minderheit, die an der Macht sitzt.

Jomary: Ich denke, man muss zwischen den Konzepten der humanitären und der politischen Neutralität unterscheiden, was oft nicht geschieht. Die humanitäre Neutralität basiert auf den Normen der Internationalen Menschenrechtskonvention von Genf. Jene erlauben zum Beispiel die Bildung von neutralen Zonen zum Schutz der Zivilbevölkerung. Diese muss als Nichtakteur des bewaffneten Konflikts anerkannt und ihr Schutz garantiert werden. Bei der politischen Neutralität ist das anders. In Kolumbien gibt es keine Position der politischen Neutralität und man sollte auch nicht so tun, als ob das möglich wäre. Wenn wir sagen, wir sind eine Bewegung der Opfer staatlicher Verbrechen, nehmen wir eine politische Position ein. So wollen wir zeigen, dass der Staat für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist, dass er für die Entstehung der Paramiltärs und deren Verbrechen verantwortlich ist.

Bezüglich der Neutralität: welche Haltung hat die kolumbianische Regierung gegenüber der Zivilbevölkerung und wann wandelt sich für diese ein Engagement in ein Delikt?

Gloria: Der kolumbianische Staat und diese Regierung im besonderen versucht mit Wortspielereien zu verunsichern und ersinnt jeden möglichen Vorwand, um den organisierten Gemeinden eine Parteinahme innerhalb des bewaffneten Konflikts zu unterstellen. Statt einer Parteinahme handelt es sich aber vielmehr um das Resultat einschneidender Erfahrungen. Es mag in der Theorie manchmal ganz einfach sein, aber in der Praxis ist es viel schwieriger, wenn man in einer bestimmten Region lebt und es davon abhängt, wer dort das Sagen hat. Es ist für diese Gemeinden also schwierig, mit jener Neutralität umzugehen. Die Herausforderung besteht darin, sich nicht von den bewaffneten Gruppen beeinflussen zu lassen.

Jomary: Die humanitäre Neutralität ist in Kolumbien durchaus möglich. Bei unserem bewaffneten Konflikt existieren zwei gut differenzierbare Gruppen: Die Guerilla und der Staat. Hinzu kommt die Zivilbevölkerung, die aus dem Konflikt herausgehalten werden will. Falls Gemeinden diese Position der Neutralität aber nicht annehmen, können sie von beiden Seiten der Sympathie mit der feindlichen Gruppe beschuldigt werden. So werden viele Morde an der Zivilbevölkerung gerechtfertigt. Der Staat rechtfertigt sein Vorgehen zudem mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Die Regierung leugnet die Existenz eines bewaffneten Konflikts und spricht nur von terroristischen Gruppen. So verweigert sie der Guerilla die Anerkennung als bewaffneter Akteur mit einer politischen Position, mit dem er irgendwann verhandeln müsste, das gleiche gilt für jene, die als SympathisantInnen oder KollaborateurInnen gelten. Und in Kolumbien gelten alle als TerroristInnen, die nicht direkt den Staat unterstützen. Wir aber sagen, dass wir nicht gezwungen werden können als InformantInnen der Armee zu dienen, weil wir eben Zivilbevölkerung sind und nicht in den Konflikt hinein gezogen werden wollen. Wir wollen nicht militärisches Ziel einer der beiden Akteure sein. Es stimmt nicht, dass die Verweigerung zur Kollaboration mit dem Einen Parteinahme für den Anderen bedeutet.

Welche internationale Reaktion gab es auf die staatliche Strategie, die
Unterstellung von Komplizenschaft als juristisches Werkzeug anzuwenden?

Jomary: Der letzte Bericht des Beauftragten der UNO drückte seine Besorgnis gegenüber einem der staatlichen Mittel aus und das bezog sich auf die Massenverhaftungen. Es gibt eine Studie der Koordinationsgruppe Kolumbien-Europa-USA, das ist eines der Netze, die in Kolumbien mehr als 200 Menschenrechts-, Gewerkschafts- Afrokolumbianische- und Indígenaorganisationen umfasst. In dieser Studie kommt man zu dem Ergebnis, dass in den letzten zwei Jahren mehr als 6.300 Personen verhaftet wurden, die der Zusammenarbeit mit der Guerilla beschuldigt wurden. Von diesen wurden 90 Prozent wieder freigelassen, was bedeutet, dass diese Personen zu Unrecht festgenommen worden waren. Diese Ergebnisse beweisen eine staatliche Politik, die auf die Kriminalisierung der Bevölkerung abzielt. Aber es beweist auch das Fehlen einer unabhängigen Judikative. Der kürzlich wiedergewählte Präsident Álvaro Uribe erklärte, er werde auf zwei Mittel zurückgreifen, um die Guerilla zu besiegen: Erstens die militärische Isolierung der Guerilla, und zweitens die Massenverhaftungen, um die Guerilla zu isolieren und ihre Anhängerschaft zu reduzieren.
Die verschiedenen Studien und Berichte beweisen auch die Taktik, zur „Resozialisierung“ bereite Informanten einzusetzen, um Personen zu beschuldigen. Die Mehrheit der Prozesse beruht auf den Aussagen von ein, zwei oder drei dieser Informanten, die in der Regel maskiert erklären, wer festzunehmen sei. Das ist auch Teil der Kritik an diesem ganzen Prozess der Demobilisierung. Denn wenn ein Mitglied einer bewaffneten Gruppe aussteigen und in das normale Leben zurückkehren will, muss er dem Staat Gegenleistungen erbringen. Er fordert von den AussteigerInnen immer mehr Personen zu beschuldigen, um so Erfolge im Kampf gegen die Guerilla vorzeigen zu können. Diese Informanten traten in verschiedenen Gerichtsprozessen mit den gleichen Namen und den gleichen Dokumenten auf, mit Erklärungen, die sie zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten gemacht haben, was physikalisch natürlich unmöglich ist. Das Ergebnis ist, dass die Politik der Demobilisierung keine Friedenspolitik, sondern eine Kriegspolitik ist, da sie die Leute erneut eingliedert in die Dynamik des Krieges, in die Dynamik der Verfolgung der Zivilbevölkerung.

Wenn ihr die kolumbianische Situation mit den Erfahrungen anderer Länder wie Argentinien, Chile oder Südafrika vergleicht, welche Unterschiede könnt ihr hinsichtlich der Wiederherstellung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung feststellen?

Gloria: Im Fall der Länder des Cono Sur war die Einklagung der Rechte der Opfer ein Prozess, der erst nach Beendigung des Konflikts, in diesen Fällen der Diktatur, eingesetzt hat. Der kolumbianische Fall hat andere Charakteristika, da sowohl ein sozialer als auch ein bewaffneter Konflikt existiert. Wir leben mitten in diesem Konflikt, daher erkennen wir auch die Kommission nicht an, die im Rahmen des Gesetzes 975 geschaffen wurde. Wir glauben, dass es in diesem Moment eine Wiedergutmachung nicht möglich ist, wenn es nicht einmal Wahrheit und Gerechtigkeit gibt. Wiedergutmachung bedeutet nicht einfach nur eine materielle Entschädigung. Wir glauben nicht, dass es der geeignete Moment ist um von Wiedergutmachung zu sprechen, und noch viel weniger von Versöhnung, weil die Geschehnisse nicht aufgeklärt und die Verantwortlichen nicht bestraft wurden. Ebenso wenig wurde unsere Würde als Opfer wieder hergestellt, unser guter Name. Wir denken diese Politik Uribes stellt einen Versuch dar, vor allem den Druck und die Kritik zu neutralisieren sowie die kolumbianische Realität zu verschleiern.

Jomary: Außerdem gibt es grundsätzliche Pflichten des Staates. In unserem Fall bedarf es nicht des Endes einer Diktatur oder des Konflikts, damit der Staat Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung garantieren muss. In Kolumbien gab es mehr als 40.000 Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegenüber diesen muss der Staat auf dem Rechtswege Aufklärung garantieren. Aber in Kolumbien beträgt die Straflosigkeit 100 Prozent. Als Anfang müsste der Staat die Wahrheit anerkennen, erkennen, nämlich dass der Paramilitarismus eine bewaffnete Strategie war, die auf gesetzlichem Wege von eben diesem Staat geschaffen wurde. Diese 40.000 Verbrechen beziehen sich auf die Zeit von 1968 bis 1988. Seitdem wurden bis 2004 14.000 dieser Verbrechen mehr begangen und in der Mehrheit der Fälle wurden sie der Justiz angezeigt. Aber es herrscht eine untätige Justiz und zwar weil die Straflosigkeit Staatspolitik ist, der fehlende Wille zur Ermittlung und zur Bestrafung der Verantwortlichen ist eine Entscheidung des Staates.

Wie erklärt ihr euch, dass die kürzlich verabschiedete Resolution der Europäischen Union das Gesetz 975 als den Rahmen von Friedensdialogen begrüßt, trotz aller Gegenbeweise?

Jomary: Die kolumbianischen Organisationen haben Europa lange als Gegenpart zu den USA betrachtet. Während wir die USA als Unterstützer des Krieges betrachteten, sahen wir in Europa die Möglichkeit zu sozialer Unterstützung. Die Botschaft der EU will den Frieden unterstützen, aber sie irren sich, wir haben hier keinen Friedensprozess. Was stattdessen geschieht ist die Vertiefung des Kriegszustandes, weil die sozialen Gründe des Konflikts vertieft werden. So wird die widerrechtliche Aneignung von Land legitimiert, also die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, ebenso wird die politische Ausgrenzung legitimiert. Die größte Sorge, die wir haben, ist der fragile Zustand der Demokratie in Kolumbien. Man wird auch noch die minimalen Rechte beseitigen, also die Möglichkeit zu wählen und gewählt zu werden. Bei künftigen Wahlen werden wir paramilitärische Gruppen sehen, die nicht mehr in bewaffnet auftreten, sondern als Abgeordnete und noch offener in den Gemeinden. Sie werden keine Waffen mehr brauchen, weil sie durch den sogenannten Friedensprozess legitimiert werden. Es handelt sich um Friedensmonologe.

Übersetzung: Manuel Burkhardt

Nestlé auf die Finger klopfen

Im Februar 2002 kam es in der Nestlé-Milchpulverfabrik CICOLAC in Kolumbien zu einem heftigen Konflikt über den neuen Gesamtarbeitsvertrag. Das Unternehmen in Valledupar, in der nordöstlichen Provinz Cesar gelegen, wollte die in den Arbeitsverträgen festgelegten Rechte massiv beschneiden und den ArbeiterInnen wesentliche Errungenschaften ihrer jahrelangen Arbeitskämpfe wieder entreißen. Nestlé setzte die ArbeiterInnen unter enormen Druck und führte einseitig neue Regeln ein. Während des Konflikts kam es zudem mehrfach zu Drohungen von paramilitärischen Gruppen gegen die GewerkschafterInnen der Lebensmittelindustrie SINALTRAINAL, ohne dass sich Nestlé klar von diesen Drohungen distanziert hätte. Einen geplanten Streik musste die Gewerkschaft im April 2002 aus Sicherheitsgründen abblasen. Am 12. Juli 2002 führte SINALTRAINAL außerhalb des Fabrikgeländes eine Protestversammlung durch, die vom Arbeitsministerium nachträglich als illegale Arbeitsniederlegung beurteilt wurde. Sich darauf berufend, entließ Nestlé neun ArbeiterInnen, darunter sechs Vorstandsmitglieder der Gewerkschaft. Diese neun Personen waren jedoch willkürlich ausgewählt worden und arbeiteten nicht in demjenigen Fabrikteil, in welchem die Arbeitsniederlegung angeblich stattgefunden haben soll. Zudem missachtete das Unternehmen verschiedene Artikel des kolumbianischen Arbeitsgesetzes.
Ein loser Zusammenschluss verschiedener Organisationen, darunter Attac Bern, die Gewerkschaft Bau und Industrie Bern, die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien, der Solifonds und das SchülerInnenkollektiv CAKE, begann daraufhin, die Entwicklung dieses Konflikts bei der Nestlé-Tochterfirma zu beobachten. Das Bündnis organisierte eine Menschenrechtskampagne, um Druck auf den Schweizer Multi auszuüben, damit er seine fragwürdige Personalpolitik ändere. Verschiedene Organisationen bemühten sich, VertreterInnen von SINALTRAINAL Gespräche am Nestlé-Hauptsitz im westschweizerischen Vevey zu ermöglichen. Nestlé lehnte jedoch sämtliche Gesprächsangebote ab, woraufhin SINALTRAINAL auf dem Europäischen Sozialforum 2003 eine internationale Kampagne ankündigte. Im Rahmen dieser Kampagne sollten auch öffentliche Anhörungen über Vorfälle bei Nestlé-Niederlassungen in Kolumbien durchgeführt werden. Zu diesem Zweck gründete sich im März 2005 in der Schweiz die Organisation MultiWatch.
Der Verein MultiWatch ist ein sehr breites Bündnis, in der verschiedenste Organisationen aus unterschiedlichen Beweggründen mitarbeiten. So liegt kirchlichen Gruppen insbesondere die Wasserproblematik am Herzen, während Entwicklungsorganisationen die negative Rolle Nestlés in der globalisierten Landwirtschaft hervorheben. Für Gewerkschaften stehen Arbeitsrechte sowie die durch den kolumbianischen Staat nicht gewährleistete Versammlungs- und Organisationsfreiheit im Vordergrund. In den Statuten von MultiWatch heißt es: „Der Zweck des Vereins besteht darin, auf die Verletzung von Menschenrechten durch multinationale Konzerne aufmerksam zu machen und auf verbindliche Menschenrechtsnormen für Konzerne hinzuwirken. Dies soll erreicht werden durch gezielte Aktionen und Kampagnen zur Information der Öffentlichkeit.“
In einem Land wie Kolumbien, wo der Rechtsstaat und die zivilgesellschaftliche Kontrolle sehr schwach sind, die Menschenrechte der Bevölkerung mit Füßen getreten werden und ein komplexer bewaffneter Konflikt herrscht, ist es besonders wichtig, die Praktiken multinationaler Unternehmen genau unter die Lupe zu nehmen.

Multis als Konfliktakteur

Multinationale Konzerne sind in Kolumbien ein wesentlicher Konfliktakteur und tragen eine Mitverantwortung bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Die Schweizer Wirtschaft hat in Kolumbien trotz Bürgerkrieg und Rechtsunsicherheit massive Investitionen getätigt. Die nationale Gesetzgebung (Arbeits- und Gewerkschaftsrechte) und international geltende Sozial- und Umweltstandards werden nur ungenügend beachtet.
Um auf das Verhalten von Nestlé in Kolumbien öffentlich verstärkt aufmerksam zu machen, veranstaltete MultiWatch Ende Oktober 2005 in Bern eine öffentliche Anhörung. Verknüpft wurde die Anhörung mit einem Internationalen Forum über Nestlé. 200 Personen informierten sich an diesen beiden Tagen aus erster Hand über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten, über Wasserprivatisierungen, den negativen Einfluss von Nahrungsmittel-Multis auf die lokale Landwirtschaft sowie über die Entwicklung internationaler Menschenrechtsnormen für Unternehmen in Kolumbien.
Nicht zuletzt leistet MultiWatch einen Beitrag zu einer kohärenteren Schweizer Außenpolitik. Der Widerspruch, dass Hilfswerke und einige Schweizer Regierungsstellen in Kolumbien Programme zur Friedensförderung und zur Überwindung der sozialen Gegensätze fördern, während Schweizer Unternehmen durch ihre Geschäftstätigkeiten Konflikte und soziale Ungleichheit fördern, ist unübersehbar.

Keine argumentative Stellungnahme

Die öffentliche Anhörung zu dem Geschäftsgebaren von Nestlé war die erste ihrer Art in der Schweiz. Von der Form her entspricht dieses Instrument alternativer Rechtsprechung den so genannten Meinungstribunalen. Obwohl im Unterschied zu einem Meinungstribunal die Anklage im Fall Nestlé keine rein juristische Grundlage hatten und auch ethisch-moralische Kriterien einflossen, wurde mit dieser Anhörung in der Schweiz eine Pionierleistung erbracht.
SINALTRAINAL hatte vier Fälle aufgearbeitet – darunter der eingangs erwähnte Arbeitskonflikt bei CICOLAC –, diese umfassend mit Beweismitteln dokumentiert und Anklageschriften verfasst. Aus Kolumbien kamen vier ZeugInnen sowie der Ankläger zur Anhörung angereist. Einem Rat von fünf gesellschaftlichen Persönlichkeiten – Carlo Sommaruga, Rudolf Schaller, Carola Meier-Seethaler, Dom Tomas Balduino und Anne-Catherine Menétrey-Savary – oblag die Beurteilung der Fälle. Bei der Anhörung selbst wurden die ZeugInnen, ExpertInnen sowie der Ankläger durch den Rat befragt.
Nestlé hatte die offizielle Einladung von MultiWatch, an der Anhörung teilzunehmen, abgelehnt, um sich zu verteidigen, und reagierte sichtlich irritiert. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 20. Oktober hielt Nestlé fest, dass es sich bei diesem „symbolischen Tribunal“ um einen „selbsternannten Volksgerichtshof“ und um eine „Perversion jeglichen rechtlichen Denkens“ handele. Der Konzern bezeichnete die gegen ihn gerichteten Vorwürfe als „abstrus“ und „teilweise verleumderisch“, die zudem nicht neu seien. Es seien zum Teil „bewusste Unwahrheiten“, welche auf einer „Fehlinterpretation der gesetzlichen Grundlagen“ oder auf „unvollständigen Informationen“ beruhten.
Der Rat bedauerte das Fernbleiben von Nestlé, berücksichtigte aber die Argumente aus Nestlés Stellungnahme bei der Zeugenbefragung.

Am liebsten ohne Gewerkschaften

In seiner Schlusserklärung hob der Rat die gute Vorbereitung der Anhörung sowie die Qualität der Dossiers hervor. Er hielt fest, dass die von der Anklage vorgebrachten Argumente viel überzeugender seien und die Ausführungen wesentlich weiter gingen als die summarischen Rechtfertigungen des Konzerns. Nestlé wurde vom Rat als Unternehmen bezeichnet, das Importe und Exporte ausschließlich auf Profite ausrichtet, ohne auf die Bedürfnisse des Landes Rücksicht zu nehmen. Die Konzernpolitik zeichne sich durch den klaren Willen aus, Gewerkschaftsarbeit zu verhindern. In Bezug auf die von Paramilitärs begangenen Morde an GewerkschafterInnen, die in der Regel während Arbeitskonflikten verübt wurden, hielt der Rat fest, dass Nestlé zwar nicht direkt verantwortlich gemacht werden könne, aber die angewandten Einschüchterungs- und Erpressungsmethoden eine indirekte Verantwortung mit sich brächten. Nestlé habe weder etwas unternommen, um die Schuldigen einer Verurteilung zuzuführen, noch um seine Angestellten zu beschützen. Der Rat kam zu dem Schluss, dass Nestlé sich Unterlassungen zu Schulden kommen ließ und somit indirekt verantwortlich gemacht werden könne.
In Bezug auf die gewerkschaftsfeindliche Politik und die Entlassung von neun GewerkschafterInnen im Herbst 2002 resümierte der Rat, dass Nestlé dabei weder die nationale Gesetzgebung noch die internationalen Konventionen respektiert habe. Er verurteilte das Vorgehen von Nestlé in Kolumbien als unannehmbar für ein Unternehmen, das sich seines guten Rufes und des Vertrauens seiner Kunden rühme. In der Schweiz und auf internationaler Ebene sollten Maßnahmen getroffen werden, um Nestlé dazu zu verpflichten, die in den internationalen Konventionen und in der kolumbianischen Verfassung vorgesehenen Gewerkschaftsrechte zu respektieren. Die Schweizer Regierung wurde aufgefordert, ihre Außenwirtschaftspolitik in Bezug auf die Respektierung der Menschenrechte kohärenter zu gestalten.

Der Autor vertritt die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien bei MultiWatch. Für weitere Informationen: www.multiwatch.ch

Die Schweiz und die Sklaverei

In meinem Buch „Reise in Schwarz-Weiß. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei“ habe ich versucht, die schweizerische Beteiligung am Menschheitsverbrechen Sklaverei, wie es seit der UNO-Konferenz von Durban definiert ist, für ein breites Publikum darzustellen. Dabei habe ich mich auf zahlreiche ältere historische Arbeiten und Aufsätze stützen können, welche den Fokus jeweils auf andere Aspekte gerichtet hatten: Familiengeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Auswanderungsgeschichte, Fremde Dienste. Als ich im Rahmen meiner Arbeit an einem Kabarettprogramm über den haitianischen Revolutionär und Sklavenbefreier Toussaint Louverture mehr oder weniger zufällig in einer Fußnote im Standardwerk La banque protestante en France (1959) des großen Schweizer Historikers Herbert Lüthy auf den Hinweis stieß, dass Familien aus meiner Heimatstadt St. Gallen in der holländischen Sklavenkolonie Berbice (heute Guyana) Mitte des 18. Jahrhunderts die Plantage „L’Helvétie“ besessen hatten, passte das ganz und gar nicht in mein Weltbild.
Wie viele SchweizerInnen (und wie sogar zahlreiche kritische HistorikerInnen) war ich davon ausgegangen, dass die Schweiz zwar von Geschäftsbeziehungen mit Nazideutschland und mit dem südafrikanischen Apartheidregime profitiert hatte, nicht aber von der Sklaverei. Doch da stand schwarz auf vergilbtem Papier diese Besitzänderungsurkunde und lieferte in der sachlich-kalten Aufzählung der involvierten „Güter“ gerade noch eine eindrückliche Definition dessen, was Sklaverei bedeutet:„17. November 1740, Abtretung durch Salomé Rietmann, Witwe des Daniel Hogguer […], ihres Anteils der Plantage ‘L’Helvétie’, in Berbice, ‘welche aufgeteilt war zwischen dem genannten Jean-Barthélémy Rietmann sel. […] und den Gebrüdern Sellonf von St. Gallen, mit allem Grund und Boden, Kulturpflanzen, Sklaven, beweglichen Gütern, Gerätschaften, Tieren, etc.’“
Der Berner Historiker, Seminarlehrer und Afrikakenner Daniel V. Moser wusste längst mehr: 1997 publizierte er in der Schweizerischen Lehrerinnen- und Lehrerzeitung einen Artikel, der kaum Beachtung fand, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er zu einer Zeit erschien, als die innenpolitische Debatte um die nachrichtenlosen jüdischen Konten auf Schweizer Banken und damit um die Weltkriegsvergangenheit unseres Landes ihren Höhepunkt erreicht hatte. Moser führte in seinem unscheinbaren Text nicht nur die wesentlichen Arten der Schweizer Beteiligung an der Sklaverei auf, sondern stellte sie auch in den aktuellen Kontext der internationalen Debatte um Wiedergutmachung. Fünf Jahre vor der Rassismus-Konferenz von Durban und sieben Jahre vor der Veröffentlichung des aufrüttelnden Buches der schwarzen, indigenen Kolumbianerin Rosa Amelia Plumelle-Uribe Weiße Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis (2004) formulierte der weiße, schweizerische Berner Seminarlehrer: „Die Gefangenenverliese in den Festungen an der westafrikanischen Küste erinnern in ähnlicher Weise wie die Überreste von Auschwitz an Verbrechen gegen die Menschheit; die Sklavenarbeit auf den Zuckerplantagen der ‘Neuen Welt’ ist vergleichbar mit der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge.“
Ich denke, dass der Wegfall der Denkblockaden des Kalten Krieges, der Druck der afrikanischen, amerikanischen und karibischen Nichtregierungsorganisationen im Umfeld der Konferenz von Durban sowie die Weiterentwicklung des internationalen Rechts bezüglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit (von Nürnberg über Jugoslawien bis Ruanda) und bezüglich Wiedergutmachung und Entschädigung (Schweizer Bankenvergleich, Apartheidklagen) schließlich um das Jahr 2000 dazu geführt haben, dass bei verschiedenen Schweizer HistorikerInnen die verstreuten Akten, Arbeiten und Hinweise auf eine „Swiss Slavery Connection“ gewissermaßen die kritische Masse erreichten.
Die Schweiz, soviel ist heute klar, profitierte im 18. und 19. Jahrhundert von allen möglichen Arten von Sklavereigeschäften: Schweizer Kaufleute lieferten die begehrten „Indiennes-Stoffe“, welche in Westafrika gegen Sklavinnen und Sklaven eingetauscht wurden, sie beteiligten sich finanziell an Dreieckshandelsexpeditionen, welche SklavInnen in die Neue Welt verschifften, sie besaßen in Westindien und Südamerika Plantagen samt den versklavten Arbeitskräften, und sie handelten mit den klassischen Sklavereiprodukten Baumwolle, Zucker, Kaffee, Tabak, Kakao und dem Textilfärbemittel Indigo. Dazu kam ein beträchtlicher Schweizer Beitrag zur militärischen Absicherung der Sklaverei: Schweizer Soldaten standen vom Indischen Ozean über die Kapkolonie bis in die Karibik im Dienste der großen Kolonialmächte und halfen mit, Sklavenaufstände zu bekämpfen. Noch heute lässt sich der Wohlstand, der im 18. Jahrhundert aus dem „schwarzen Atlantik“ in die Schweiz zurückfloss, an Palästen und Herrschaftshäusern im Appenzellerland, in Basel oder in Neuenburg ablesen.

Argumentationshilfe für die Sklaverei

Ein bisher wenig beachteter Schweizer Beitrag zur Sklaverei ist schließlich der ideologische. Im 19. Jahrhundert, das heißt also bereits nach der Abschaffung des Sklavenhandels durch England (1807) und nach der internationalen Ächtung des Sklavenhandels durch den Wiener Kongress (1815), traten Schweizer Wissenschaftler, Philosophen und Reiseschriftsteller als Befürworter der Sklaverei oder als Propagandisten von rassistischen Gesellschaftstheorien auf und trugen damit zur Verlängerung eines Menschheitsverbrechens bei, welches ja erst durch das Sklavereiverbot durch die USA (1865), Kuba (1886) und Brasilien (1888) aus der atlantischen Welt verschwand.
Zu nennen sind hier der Berner Gelehrte mit gesamteuropäischer Bedeutung Carl Ludwig von Haller, welcher 1818 in seiner Epoche machenden Restauration der Staatswissenschaften die Sklaverei als vernünftig und im Interesse der versklavten Menschen selbst liegend definierte. Noch mehr internationales Renommé hatte der Naturforscher Louis Agassiz, welcher in den USA nach 1846 zu einem überzeugten Verfechter der These wurde, die Schwarzen gehörten nicht der Menschheit an und seien von geringerer Intelligenz als die Weißen. In die gleiche Richtung gingen 1863 die Vorlesungen des in Genf eingebürgerten Deutschen Carl Vogt. Seine rassistischen Theorien standen seiner Karriere jedoch nicht im Wege: Er wurde erster Rektor der Universität Genf sowie Schweizer National- und Ständerat.
Der Westschweizer Historiker Bouda Etemad hat in La Suisse et l’esclavage des noirs (2005) versucht, die Schweizer Beteiligung am Menschheitsverbrechen der Sklaverei zu quantifizieren. Er kommt in seiner Schätzung auf eine Zahl von über 172 000 Sklavinnen und Sklaven, das heißt 1,5 Prozent der transatlantischen Gesamtzahl, die durch Schweizer Investitionen in die wichtigsten Kolonialgesellschaften deportiert wurden. Meine eigene Schätzung bezüglich Schweizer Plantagenbesitz geht von einer durchschnittlichen Lebensdauer der auf Plantagen Arbeitenden von 10 Jahren, einer Plantagengröße von 100 versklavten Arbeitskräften und von einer Haltedauer von 30 Jahren aus. Für grob geschätzte 50 Schweizer Plantagen in Südamerika, der Karibik, in Nordamerika und Südafrika ergäbe das rund eine halbe Million versklavte Frau- und Mannjahre. Dazu wären noch die Sklavinnen und Sklaven zu addieren, welche in Schweizer Haushalten und Fabriken arbeiteten. Ich vermute, dass dies – gemessen am Gesamtvolumen der in der Sklavereiwirtschaft der Neuen Welt geleisteten menschlichen Arbeitsjahre – wiederum einen Prozentsatz im unteren einstelligen Bereich ergäbe, was vermutlich auch für die Beteiligung an militärischen Operationen gilt.
Sind 1,5 oder 2 Prozent Schweizer Anteil viel oder wenig? Es kommt auf den Bezugsrahmen an. Gemessen an der bisherigen Annahme von Null Prozent ist es unendlich viel, gemessen an den großen Kolonialmächten und Sklavereinationen England, Frankreich oder Portugal sehr bescheiden. Rechnet man es wiederum auf einen Pro-Kopf-Anteil um, so liegt die Schweiz wahrscheinlich im europäischen Durchschnitt, und argumentiert man zum Schluss noch mit großen Humanisten wie Alexander von Humboldt oder Victor Schoelcher, so ist jeder einzelne Sklave eine Beleidigung für die ganze Menschheit und ein Skandal.
Hans Fässler

Der Autor ist Kabarettist und Mittelschullehrer im Kanton Appenzell-Ausserrhoden. Im Oktober 2005 erschien sein Buch „Reise in Schwarz-Weiß. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei“ im Rotpunktverlag Zürich.
www.louverture.ch

Kasten:

Lateinamerika und die Schweiz – eine Artikelserie

Die Lateinamerika Nachrichten bringen nicht einfach nur Nachrichten aus Lateinamerika. Die Ausstrahlung Lateinamerikas ist uns schon manche Seite wert gewesen. Solidaritätsbewegung, Strafprozesse, politische Initiativen, kultureller Austausch, Wirtschaftsbeziehungen, Entwicklungspolitik – Themen wie diese haben ihren festen Platz in den LN.
Die vielfältigen Beziehungen Lateinamerikas zu politisch interessierten und engagierten Menschen im deutschen Sprachraum sind geradezu der Urknall und Anfang dieser Zeitschrift gewesen: Deutschsprachige Chile-Interessierte schufen sich im Sommer 1973 ein Informations- und Austauschmedium. Lateinamerika war und ist auch heute kein fernes Objekt, sondern Teil unserer Realität.
Und warum ist dann so selten etwas über lateinamerikanische Realität in der Schweiz zu lesen? Diese Lücke wollen wir füllen. In der Artikelserie, die wir mit dieser Ausgabe starten, wird ein breites Spektrum lateinamerikanisch-schweizerischer Themen zur Sprache kommen. Dass wir historisch beginnen, soll nicht über die Aktualität hinwegtäuschen: Zwar liegt das Schweizer Engagement im Sklavenhandel, über das Hans Fässler berichtet, einige Zeit zurück. Aber erst jetzt gerät es ins Blickfeld einer Öffentlichkeit, die bis vor wenigen Jahren noch von der puren Friedlichkeit und Humanität der Schweizer Außenpolitik überzeugt war, nun aber binnen weniger Jahre ein drittes dunkles Kapitel zur Kenntnis zu nehmen hat. Uns interessiert die Vielfalt der Themen und Aspekte. Wie sind Chile-Flüchtlinge 1973 in der Schweiz aufgenommen worden, und wie leben sie heute? Wo steht die Schweizer Entwicklungspolitik? Wer verlegt in Zürich & Co. lateinamerikanische Literatur, und wer macht all die spannenden Dokumentarfilme?
Übrigens: Ein Blick in die Untiefen der LN-Aboverwaltung förderte in Sachen Schweiz kürzlich Zahlen zutage, die – wie heißt es so schön – nach oben noch Luft lassen. Viele, die die LN vielleicht gerne abonieren würden, kennen sie noch gar nicht. Wir hoffen, mit dieser besonderen Artikelserie euer Interesse zu wecken.

Streit um ein anderes Amerika

Am Ende stand es 29 zu fünf. Mar del Plata wurde nicht zur Grabstätte von ALCA, wie Venezuelas Präsident Hugo Chávez noch vor dem Amerikagipfel der 34 Staats- und Regierungschefs verkündet hatte. 29 Staaten, darunter die USA, Kanada, Mexiko und Chile, sehen die Möglichkeit, den seit zwei Jahren ruhenden Verhandlungsprozess über die Freihandelszone ALCA 2006 wieder aufzunehmen. Die vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay sowie Venezuela sind unter den gegenwärtigen Bedingungen dagegen. Da das Konsensprinzip galt, wurden die unterschiedlichen Positionen in der Abschlusserklärung festgeschrieben.
Zugespitzt hatte sich die Lage mit dem Streit um die US-amerikanischen Subventionen und Handelsbeschränkungen im Agrarsektor. Erst wenn hier eine Lösung erzielt werde, könne wieder über eine Freihandelszone verhandelt werden, so die Position der Mercosur-Staaten. Diese Frage wird die so genannte Doha-Runde im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO weiter beschäftigen, deren nächstes entscheidendes Treffen für Mitte Dezember vorgesehen ist.
Das Ergebnis von Mar del Plata ist nicht mehr als eine Momentaufnahme der gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse. Alle Länder haben sich in der Abschlusserklärung für die weitere Integration der Staaten des amerikanischen Kontinents ausgesprochen. Aber der Süden möchte sich die Bedingungen dafür von Washington nicht diktieren lassen. Der Hinterhof der USA ist kleiner geworden. Néstor Kirchner hat den internationalen Finanzinstitutionen in seiner Eröffnungsrede deutlich die Leviten gelesen und ihnen die Mitverantwortung für die große Armut in der Region zugeschrieben. Die Politik des IWF gegenüber Argentinien bezeichnete er vor den 33 Staats- und Regierungschefs als „pervers“. Er rief dazu auf, eine “neue Entwicklungsstrategie für die Region” zu finden und kritisierte damit indirekt die von den USA favorisierte Freihandelshandelzone ALCA.
Der Süden drängt auf die Berücksichtigung der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus. Aus argentinischen Regierungskreisen wird immer wieder das Vorbild des Integrationsprozesses der Europäischen Union ins Spiel gebracht: intensive Verhandlungen über den Eingliederungsprozess; finanzielle Beihilfen und Schutzklauseln für die kleinen und schwächeren Volkswirtschaften. Doch das ist eine Horrorvision für die US-Administration.
Das Abschlussdokument lässt zu, dass die 29 Befürworterstaaten 2006 über eine ALCA „Light“-Version verhandeln können. Aber die Länder, die gegen ALCA stimmten, produzieren immerhin 75 Prozent des Bruttoinlandsproduktes von Lateinamerika. Die USA setzen deshalb weiter auf ihre bilaterale Verhandlungsstrategie, mit deren Hilfe sie Keile in die Allianzen treiben will. Kaum traf Bush aus Mar del Plata kommend zum Staatsbesuch in Brasilien ein, da lobte er seinen „Freund“ Lula „für die Führungsrolle in der ganzen Welt und auf dem amerikanischen Kontinent.“
Von der Allianz Mercosur-Venezuela ist auch keine große Umwälzung zu erwarten. Hugo Chávez’ Vorschlag einer Alternativa Boliviariana de las Americas (ALBA) ist in den beiden großen Mercosurstaaten Brasilien und Argentinien nicht durchzusetzen. Da stehen die Regierungen Lula und Kirchner gegen die Macht und den Einfluss der multinationalen Firmen und Banken in ihren Ländern.
Chávez arbeitete jedoch weiter an seiner Führungsrolle bei den sozialen Protestbewegungen. Als einziger Regierungschef trat er sowohl auf dem Regierungsgipfel als auch auf den Protestveranstaltungen auf. „Ich werde jetzt zum anderen Gipfel gehen und dort eure Stimme vertreten,” versprach er nach seiner knapp dreistündigen Rede den 30.000 Menschen im Weltstadion von Mar del Plata. Und seinen nächsten großen Auftritt hat er auch schon sicher: im Januar 2006 auf dem 6. Weltsozialforum in seiner Hauptstadt Caracas.
Chávez wurde auf dem 3. Gipfel der Völker, dem Gegengipfel zum Amerika-Gipfel, als Hoffnungsträger gefeiert. Rund 12.000 Menschen nahmen an der dreitägigen Veranstaltung teil. Unter dem Motto „Ein anderes Amerika ist möglich” diskutierten rund 150 Foren unterschiedliche Themen. In der Abschlusserklärung wurde ein alternativer Integrationsprozess in Anlehnung an die Alternativa Bolivariana de las Americas (ALBA) vorgeschlagen.
Als 15.000 DemonstrantInnen unter der Losung: „Nein zu ALCA – Nein zu Bush” friedlich durch Mar del Plata zogen, war an der Spitze noch ein anderer Hoffnungsträger mit dabei: der bolivianische Präsidentschaftskandidat und Bauernführer Evo Morales. Eine Straßenschlacht lieferten sich dagegen einige hundert DemonstrantInnen am Nachmittag mit den Sicherheitskräften an den Absperrungen der Sicherheitszone. AntiimperialistInnen und VertreterInnen des kompromisslosen Teils der Piquetero-Bewegung hatten die Aktionen zuvor angekündigt.

Unidad! Unidad!

Unidad, Unidad! Mehrfach beschwor Hugo Chávez in seiner dreistündigen Rede auf der Abschlusskundgebung des „3. Gipfels der Völker Amerikas“ am 2. November 2005 im argentinischen Mar del Plata die Einheit Lateinamerikas. Vor circa 45.000 Menschen war der Präsident der Bolivarianischen Republik Venezuela der einzige Redner. Die Einigkeit, die zwischen den 34 Staatschefs beim Gipfel der amerikanischen Staaten nicht herzustellen war, wurde zumindest im Fußballstadion des Badeortes für wenige Stunden zelebriert. Das alleine ist bei der traditionell zersplitterten argentinischen Linken und den teilweise verfeindeten Piquetero-Fraktionen im Land schon ein beachtliches Ereignis.
Neben Chávez war aber noch ein anderer dafür verantwortlich: Die Anwesenheit von George W. Bush in Argentinien wurde nicht nur von den DemonstrantInnen in Mar del Plata, sondern von der übergroßen Mehrheit der ArgentinierInnen abgelehnt. Chávez gelang es bei seiner mit kleinen Geschichten gespickten, frei gehaltenen Rede, seinen Hauptfeind mehrfach mit einzubeziehen. Dabei musste er ihn gar nicht beim Namen nennen, es reichte schon, den „Mister“ nur indirekt zu erwähnen. Und die Menge skandierte minutenlang „Bush-Faschist! Du bist der Terrorist“. Chávez lehnte sich am Rednerpult zurück und genoss sichtlich diesen Augenblick. Und als der begnadete Rhetoriker mehrfach „Viva Perón! Viva Evita!“ in seine Rede einstreute, waren die Zehntausenden von ArgentinierInnen, die in der Tiefe ihres Herzens fast alle Peronisten sind, endgültig glücklich.
Dabei ist das Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und Chávez bei weitem nicht ungetrübt. Nicht wenige machen sich Sorgen über die fehlende Distanz zum Volkstribun Chávez. Die geballte venezolanisch-kubanische Präsenz vor allem während der Schlussveranstaltung (der nicht zum offiziellen Gipfel eingeladene Inselstaat hatte eine 300 Personen starke kubanische Delegation zum Gegebgipfel nach Mar del Plata geschickt) stellte für viele der Teilnehmenden eine Herausforderung dar. Zwischen den Regierungen, gerade auch den linken, und den sozialen Bewegungen gibt es erhebliche Unterschiede. Wie beide Seiten sich in diesem Spannungsfeld bewegen, wurde auf der Ebene der Sozialforen zum ersten Mal in Mar del Plata deutlich. Waren beim Weltsozialforum die Reden von Lula (2003 und 2005) und Chávez (2005) zwar wichtige Großereignisse, so waren sie doch nur Veranstaltungen unter tausenden anderen. In Mar del Plata hingegen avancierte ein Präsident zum Hauptredner des Gegengipfels.

Prominente Gäste

Beim Gipfel der Völker zumindest herrschte zu großen Teilen dennoch Einigkeit. Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel hatte es, zusammen mit einigen linken Abgeordneten wie Miguel Bonasso von der Revolutionären Demokratischen Partei, fertig gebracht, die zersplitterte argentinische Politlandschaft zumindest für einige wenige Tage unter einen Hut zu bringen. Mit zu den Protesten aufgerufen hatte auch die „Hand Gottes“ persönlich. Diego Armando Maradona, der nur wenige Tage vor dem Gipfel den nicht eingeladenen Fidel Castro in Cuba interviewt hatte, war auf Bitte seines Idols Fidel mit dem „ALBA-Zug“ über Nacht von Buenos Aires gekommen, um sich am Protest gegen Bush und gegen das von den USA und seinen Verbündeten forcierte Freihandelsabkommen ALCA zu beteiligen. Am Gipfel der Völker, der für sich in Anspruch nahm, der wahre Gipfel zu sein, nahmen insgesamt 12.000 Personen teil. In 150 Arbeitsgruppen und zehn thematischen Großseminaren diskutierten GewerkschafterInnen, UmweltschützerInnen, VertreterInnen von Indígenas, GlobalisierungskritikerInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, StudentInnen, Piqueteros/as, VertreterInnen von Stadtteilgruppen und weitere Akteure über Mittel und Wege hin zu einem anderen Amerika. In der zehn Punkte umfassenden Abschlusserklärung wurde der sofortige Abbruch der ALCA-Verhandlungen gefordert, ebenso wie die Auflösung aller bilateralen Handelsabkommen mit den USA, die Annullierung der Auslandsschulden und die Entmilitarisierung Lateinamerikas.

Kein eitel Sonnenschein

Trotz des standhaften Blocks der vier Mercosur-Präsidenten plus Chávez (die fünf Musketiere, wie Chávez Kirchner, Lula, Vázquez, Duarte und sich selbst bezeichnete) gegen die restlichen 29 Staaten wurde in den Arbeitsgruppen des Gegengipfels nicht mit Kritik auch an diesen Regierungen gespart. Einmal mehr wurden die Agrarexportmodelle und die massive Ausbreitung von Monokulturen – zunehmend mit gentechnisch verändertem Saatgut – im südlichen Teil Amerikas als aktuelle Form von Kolonialismus in einer von multinationalen Unternehmen neugeordneten Welt verurteilt. Kritik wurde auch an den gigantischen Infrastrukturprojekten wie den geplanten Erdgasleitungen und Amazonasstraßen laut. Am vehementesten widersetzen sich dem die VertreterInnen von indigenen Völkern. In ihrem Forum setzten sie eigene Akzente und in ihrer Schlusserklärung lehnten sie alle Entwicklungsprojekte schlichtweg ab. Sie forderten Autonomie und Unabhängigkeit, um ihre Zukunft und die ihrer Territorien zu gestalten.
Zum Abschluss des Gipfels der Völker (der einen Tag vor dem offiziellen Gipfel zu Ende ging) kam es dann doch noch zu der befürchteten (und teilweise auch herbeigeredeten und –geschriebenen) Gewalt. Mehrere Piquetero-Organisationen und ein Teil des linksradikalen Parteienspektrums hatten zu einer Art Nachdemonstration vom Stadion hin zur Sperrzone aufgerufen. Die relativ defensiv orientierte Polizei setzte Tränengas ein und eine kleine Gruppe von AktivistInnen begann Scheiben einzuschlagen und Geschäfte zu plündern, wobei mehrheitlich Filialen von multinationalen Konzernen angegriffen wurden. Eine Bank ging in Flammen auf. Ein Rätsel bleibt, weshalb die Banco de Galicia im Gegensatz zu allen anderen Bankfilialen in der Stadt nicht geschützt war. So machten denn die gleichzeitig gezeigten Bilder der brennenden Bankfiliale und des obligatorischen Familienfotos der 34 Präsidenten klar, dass die Stimmung in Mar del Plata nicht von „eitel Sonnenschein“ geprägt war. Das kam einigen Präsidenten vielleicht gar nicht so ungelegen.

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