// NUR DAS KLEINERE ÜBEL

Am 6. April machten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel dem autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Ankara ihre Aufwartung. Dabei fand von der Leyen zwar kritische Worte, etwa zur kürzlich seitens der Türkei erfolgten Aufkündigung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt oder zum Allgemeinplatz der Achtung von Menschenrechten und internationalem Recht. Doch an dem milliardenschweren Deal von 2016, mit dem sich die EU in der Türkei eine vorgelagerte Außengrenze erkauft hat, wird nicht gerüttelt. So wird Millionen von Schutzsuchenden effektiv die Asylsuche in der EU verwehrt.

Nicht nur in Europa ist das Outsourcing der Drecksarbeit die gängige Praxis. Auch die USA hatten 2019 unter Donald Trump mit den Regierungen von El Salvador, Guatemala und Honduras Abkommen zur Verhinderung von Migration geschlossen. Die Länder wurden de facto zu sicheren Drittstaaten erklärt, sodass alle Migrant*innen, die in die USA einreisen wollen, in diesen Staaten Asyl beantragen müssen. Trumps Nachfolger Joe Biden hat diese Migrationsverträge dieses Jahr wieder gekippt. Er steht zwar für eine weniger restriktive Politik als Trump, für eine offene Einwanderungspolitik steht er freilich nicht. Biden hat angekündigt, den Regierungen in Mittelamerika zu helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen und diese auch finanziell zu unterstützen. Wie er das gemeinsam mit den Autokraten in El Salvador, Guatemala und Honduras erreichen will, bleibt aber sein Geheimnis.

Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit der Migrationspolitik betraut und mit Ricardo Zúñiga Anfang April einen Sondergesandten ins „nördliche Dreieck“ geschickt. Zúñiga führte Gespräche mit Vertreter*innen aus Staat und Zivilgesellschaft in Guatemala und El Salvador, ein Treffen mit dem autoritären Präsidenten Nayib Bukele kam nicht zustande. Honduras wurde gänzlich ausgespart, vielleicht aufgrund der vermuteten Verstrickung des Präsidenten Juan Orlando Hernández in den Drogenhandel. Diese Distanz ist ein Unterschied zum Vorgänger Trump, verstand dieser sich doch bestens mit Bukele und Hernández und machte sich keine Mühe, zivilgesellschaftliche Organisationen oder Anti-Korruptionsinstitutionen in der Region zu fördern.

Allerdings ist Biden kein unbeschriebenes Blatt. Grundsätzlicher Wandel ist von dem ehemaligen Vizepräsidenten von Barack Obama nicht zu erwarten – weder beim Thema Migrationspolitik noch bei den Freihandelsabkommen USMCA (NAFTA-Nachfolger) und DR-CAFTA. So verwundert weder sein an die Migrant*innen gerichteter Appell, sich gar nicht erst auf den Weg zu machen, noch die nun unlängst bekannt gewordenen Pläne zum teilweisen Weiterbau von Trumps Grenzmauer ­– trotz gegenteiliger Wahlversprechen. Von den 172.000 Schutzsuchenden, die im März die US-Grenze erreichten, wurden 104.000 auf Basis einer unter Trump – offiziell zum Schutz vor der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie – erlassenen Order nach Mexiko abgeschoben.

Bereits als Vizepräsident versuchte Biden im Rahmen der „Allianz für Wohlstand“ Fluchtursachen in Zentralamerika zu beseitigen. Erfolglos. Die Menschen machten sich weiterhin auf den Weg. Die Maßnahmen, mit denen jetzt sichergestellt werden soll, dass die Hilfen für Zentralamerika zielgerichtet ankommen, gehören in den Kanon der „guten Regierungsführung“. Damit haben die USA schon in den vergangenen 60 Jahren mit überschaubarem Erfolg operiert. An die strukturellen Fluchtursachen wird er seine Hand so wenig legen wie seine Vorgänger: Eine unfaire Welthandelsordnung und der Klimawandel, die in Mittelamerika Einkommensperspektiven zerstören, autoritäre Strukturen und die organisierte Kriminalität, die Gewalt fördern. Wenn es in Mittelamerika an einem nicht mangelt, sind es Fluchtursachen.

 

GEWALT UND GESETZ

Feministische Awareness Nicht die Polizei, sondern meine Freund*innen beschützen mich (Illustration: Pilar Emitxin, @emitxin)

Als feministische Bewegung, die global denkt und lokal agiert, lernen wir auch von den feministischen Erfahrungen und Kämpfen jenseits unserer eigenen Kontexte. Um Gerechtigkeit für Verbrechen gegen Frauen und Queers einzufordern, kommen wir nicht umhin, auch die Gesetzeslage in den Blick zu nehmen. So unterschiedlich die Gesetze zu sexualisierter Gewalt, Gewaltschutz und Feminiziden auch sind, findet man in lateinamerikanischen Länder oft progressive Gesetzgebungen. In Deutschland zeichnet sich zunehmend eine Debatte über Feminizide ab, die auch auf juristischer Ebene geführt wird. Mit der folgenden Übersicht wollen wir einen Beitrag dazu leisten, feministische Perspektiven auf Feminizide zu stärken.

Im Folgenden findet ihr eine Einführung zu Gesetzen, Urteilen und Statistiken, die den juristischen Umgang mit sexualisierter Gewalt, insbesondere Feminiziden, in lateinamerikanischen Ländern dokumentiert. Diese Übersicht kann nicht komplett sein, gibt aber die nötigen Anhaltspunkte zu involvierten Institutionen und Organisationen, um weiter zu recherchieren. Die schlechte Informationslage und unvollständigen Daten legen offen, dass oft keine systematischen Erhebungen hinsichtlich sexualisierter Gewalt existieren und bislang kein offizielles Interesse daran besteht, dies zu ändern.

Häufig ist es die mühsame Arbeit feministischer Kollektive, durch die überhaupt Statistiken öffentlich werden, auch wenn die reellen Zahlen vermutlich noch weit höher liegen. Dafür werden häufig Meldungen und Presseberichte systematisch ausgewertet. Welche Opfer es jedoch überhaupt in die Medien „schaffen“, hängt allzu oft von rassistischen und klassistischen Kriterien wie Wohnort, Familienstand, Beruf oder Hautfarbe ab.

Die Dokumentation von Gewaltverbrechen ist zu einer politischen Praxis geworden. Wenn die Gewalt derart in den Alltag eindringt und kaum Hoffnung auf Gerechtigkeit besteht, wie es die Artikel in diesem Dossier eindrücklich darlegen, wird die Dokumentation zu einem politischen Instrument, das das Ausmaß der Gewalt sichtbar macht.

Die Gesetze einiger Länder Lateinamerikas lassen (mittlerweile) die Kategorie „Gender“ oder „Genderzugehörigkeit“ als spezifisches Tatmotiv für Mord zu. Dies lässt ein Bewusstsein für die Systematik des Verbrechens erkennen, die sich nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen Queers richtet. Im Falle Kolumbiens und Chiles wird hierbei von binären und biologistischen Auffassungen Abstand genommen, oft bildet jedoch der Umgang mit sexualisierter Gewalt jenseits binärer Geschlechterkategorien noch eine große Leerstelle.

Fast immer veränderten sich die Gesetzgebungen auf Druck der Bewegung. Auch wenn die Interamerikanische Konvention über Prävention, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen 1994 im brasilianischen Belém do Pará von allen lateinamerikanischen und karibischen Staaten unterzeichnet wurde, sind die zentralen Errungenschaften auf feministische Kämpfe zurückzuführen. Meist muss erst eine besonders brutale Mordserie die nötige mediale Öffentlichkeit erzeugen, um ein Handlungsfenster zu öffnen. Nur so können Forderungen, die seit Jahren gestellt werden, für einen kurzen Moment die notwendigen politischen Mehrheiten erhalten, um zu Gesetzen zu werden. Was aber nützen Gesetze, wenn sie nicht angewendet werden?

In der folgenden Übersicht ist zu erkennen, dass die übergreifende Kritik an der Gesetzeslage die mangelnde Umsetzung ist. Denn Feminizide bleiben in den allermeisten Fällen straffrei. Dies verdeutlicht, dass Gerechtigkeit nicht von oben kommt, sondern auch von unten erkämpft werden muss. Die juristische Verankerung ermöglicht es jedoch, einen Bezugspunkt zu schaffen, um Maßnahmen gegen femizidale Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft zu fordern. Ein gutes Gesetz gegen Feminizide kann dabei nur wenig ausrichten, wenn die so notwendige Sensibilisierung der Behörden und Entscheidungsträger*innen ausbleibt und patriarchale und misogyne Strukturen weiter die gesamte Gesellschaft und ihre Institutionen durchziehen. Forderungen richten sich daher nicht nur an den Staat, sondern auch an die Gesellschaft.

 

LÄNDERÜBERSICHT

Argentinien

Bolivien

Brasilien

Chile

Costa Rica

Deutschland

Dominikanische Republik

Ecuador

El Salvador

Guatemala

Honduras

Kolumbien

Kuba

Mexiko

Nicaragua

Panama

Peru

Uruguay

Venezuela

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Enfance (Extrait)

Tandis que l’aïeule égrène ses prophéties
les étoiles se posent sur les lèvres
de la petite fille
celle qui refuse les tutus l’organdi
le marché aux illusions des marionnettistes
À la tombée de la nuit
elle dérobe les masques confondus
les fait voler en éclats au bas des falaises
Comme chaque animal
elle fait confiance à ses antennes
à ses côtés nul corps céleste
nul ange gardien
Elle va dans l’espérance de ses semelles
et dans la lumière de l’instant

 

Kindheit (Auszug)

Während die Ahnin ihre Prophezeiung aufsagt
legen sich die Sterne auf die Lippen
des kleinen Mädchens
das Tutus und Batist verweigert
den Trugbildermarkt der Marionettenspieler
Bei Einbruch der Nacht
stiehlt sie die vertauschten Masken
zerschmettert sie am Fuß der Klippen
Wie jedes Tier
vertraut sie auf ihre Fühler
an ihrer Seite kein Himmelskörper
kein Schutzengel
Sie geht in der Hoffnung ihrer Schritte
und im Licht des Augenblicks

 

„Unser Film ist eine kollektive Katharsis“

Anne, wie war die Erfahrung, zum ersten Mal im Leben in einem Kinofilm mitzuspielen?

Anne Celestino: Durch die Erfahrung, zum ersten Mal als professionelle Schauspielerin vor der Kamera zu stehen, habe ich entdeckt, dass ich den Rest meines Lebens als Schauspielerin arbeiten möchte. Ich schauspielerte und wusste plötzlich, was ich beruflich machen möchte. Für den Filmdreh bin ich jeden Morgen früh aufgestanden, aber es war nicht anstrengend – es war richtig cool, witzig und eine besondere Erfahrung. Deswegen studiere ich jetzt an einer Schauspiel-Hochschule in Recife. Zurzeit spiele ich in verschiedenen kleinen Theaterstücken an meiner Fakultät.

Was war die lustigste Szene, die Sie in Alice Júnior gespielt haben?

Anne Celestino: Eine Szene, in einem Tretboot wo meine Kollegin Thais Schier (Filmrolle Vivianne) mich interviewt. Thais Schier ist sehr witzig. Bei dieser Szene durfte sie improvisieren und wir haben uns einfach nur totgelacht.

Bei der Filmpremiere hatten Sie erwähnt, dass durch die Erfahrungen von Anne als Trans-Mädchen in ihrem Privatleben das Drehbuch die Richtung geändert hat.

Gil Baroni: Tatsächlich ist das Drehbuch, das sehr gut von Luiz Bertazzo geschrieben wurde, die Grundlage des Films, die Hauptstruktur. Als ich Anne kennengelernt habe, entschied ich sofort “sie ist es”. Wir sind von Recife nach Curitiba abgetaucht und blieben dort für 9 Tage. Damals war Anne erst 17 Jahre alt. Als erstes führte ich ein Interview mit ihr. Das Interview war sehr emotional. Als ich anfing, ihr Fragen zu stellen, klärte sie mich auf, dass man solche Fragen einer Transgender-Person nicht stellen darf bzw. sollte.

In diesem Moment bemerkte ich: Obwohl wir sie in eine bestimmte Richtung führen wollten, war sie es, die uns zog – das Drehbuch richtete sich neu aus. Die Szenen mit Anne sind sehr spezifisch, sie haben mich tief beeindruckt. Von Anfang an bis heute lerne ich sehr viel von diesem jungen Geschöpf – ich bin nicht mehr so jung (lacht).

Anne, gab es in Ihrer Schauspielkarriere eine Begegnung oder eine Person, die Sie am meisten inspiriert oder geprägt hat?

Celestino: Ja, Renata Carvalho, die Jesus in dem Theaterstück “O Evangelho Segundo Jesus Cristo, Rainha do Céu darstellt. In diesem Stück ist Jesus ein Transvestit. Ich denke, dass sie als Schauspielerin mein Idol ist. Sie war auch auf der Berlinale, ich bin ihr begegnet; Sie hat Paula in dem Film “Vento Seco” dargestellt.

Baroni: Renata Carvalho ist eine starke, kämpferische Künstlerin. Wegen dieses Theaterstücks gab es viele Kontroversen, es wurde in Brasilien sogar verboten.

Konnten Sie nach Ihrer Rolle als Alice eine Veränderung im Umgang mit Ihnen als Trans-Person wahrnehmen bzw. gab es danach weniger oder mehr Diskriminierung?

Celestino: Nach dem Film hat sich etwas geändert, nämlich meine Sichtbarkeit meiner Person. Die ist jetzt etwas größer als vorher, aber nur etwas, da der Film noch nicht zum Vertrieb freigegeben wurde. In Recife konnte ich eine Veränderung in meinem Familien-und Bekanntenkreis wahrnehmen: Bei meinem Vater, meinen Freunden und meinen Mitstudierenden. Die größte Unterstützung war die Sichtbarkeit als Transfrau.

Baroni: Zur Zeit ist es die größte Herausforderung, den Film in die Kinosäle zu bringen und die Reaktion der Zuschauer zu sehen.

Sie sind Bloggerin und Aktivistin, die sich für das Thema Transsexualität einsetzt. Wie schätzen Sie Ihren Einfluss auf die Gesellschaft ein?

Celestino: Ich habe einen YouTube-Kanal und einen Blog. Ich denke, dass mein Blog und mein YouTube-Kanal sehr vielen jungen Trans-Personen geholfen hat und auch Familien von Betroffenen oder Menschen, die sich allgemein über das Thema informieren wollen. Was bedeutet es, transgender zu sein? Wie werden diese Personen im Bildungswesen behandelt? Wie z. B. in der Schule oder Universität? Auch im Gesundheitswesen, z. B. im Krankenhaus. Ich denke, dass ich im Sinne von Information und Sensibilisierung den Menschen geholfen habe.

Haben Sie in ihrer Heimatstadt Recife eigene Kampagnen oder weitere Projekte geschaffen?

Celestino: Ich habe an Demonstrationen teilgenommen, aber eigene Projekte habe ich nicht gegründet. Abgesehen von dem Vlog Transtornada und meinem Blog.

Baroni: Dazu möchte ich gerne etwas sagen. Anne ist die Erschafferin von Alice Júnior. Der ganze Film hat eine Intention, es ist ein didaktischer Film, eine Form von Aktivismus. Anne hat den Film mit ihren persönlichen Erfahrungen bereichert und dem Film die endgültige Struktur gegeben. Obwohl Luis und ich uns gut mit der LGBTQ-Szene auskennen, sind wir CIS, somit war das “T” in LGBTQ ein Thema womit wir uns nicht auskannten. Erst durch Anne hat sich das eigentliche Drehbuch mit authentischen Erfahrungen vermischt. Somit war Anne eine Produzentin und Aktivistin.

Celestino: Genau, Alice Júnior ist auch mein Projekt!

Auch die Besetzung anderer Schauspieler*innen des Films ist ungewöhnlich. Wie kamen Sie zum Beispiel auf die Idee, die Rolle von Alices Vater Ihrem Freund Emmanuel zu geben?

Baroni: Emmanuel war noch nie in seinem Leben als Schauspieler tätig. Im bürgerlichen Leben ist er ein Franzose, der in Brasilien Englischlehrer ist. Als ich ihm die Rolle anbot, dachte er, es sei ein Witz,. Es war folgendermaßen: Als wir wussten, dass Alices Vater ein Franzose sein sollte, sagte ich: “Ich habe einen franszösischen Freund und er hat auch einen französischen Akzent, er wäre perfekt für die Rolle.” Es wäre nicht gut gewesen, einen brasilianischen Schauspieler zu nehmen, der einen französischen Akzent nachahmt, das ist uncool, nicht authentisch. Also habe ich ihn eingeladen und gesagt: “In meinem aktuellen Film gibt es eine Rolle für dich, du wirst Jean Genet sein. Du musst gar nichts machen. Du musst nur dich selbst spielen”. Im Film ist er wirklich wie in seinem Privatleben – ganz ruhig und gelassen. Er hat uns sogar bei den Filmvorbereitungen geholfen. Auch er konnte über das Thema Transsexualität viel lernen. In den Momenten wo Emmanuel seine Rolle spielt, brachte er eine schöne Energie ans Filmset, insbesondere weil er unser Freund ist.

Ich würde gerne mehr über die Musikauswahl erfahren. Abgesehen von der Funk-Musik von Trans-Künstlern, warum haben Sie Musik von Karina Buhr gewählt?

Gil: Es war uns sehr wichtig, das Thema Solidarität und Diversity auch in der Musik zu zeigen. Karina Buhr ist aus Recife, ihr Hauptgenre ist der Manguebeat, ein Rhythmus, der in Recife erfunden wurde. Ich mag ihr Album. Als wir die erste Musikauswahl trafen, dachte ich: “Wir benötigen unbedingt Sängerinnen aus Recife.” Mit der Musikauswahl wollten wir auch die Identität der Rolle von Alice bzw. von Anne unterstreichen, Anne ist in Recife geboren, deswegen wollten wir die Energie lokaler Künstler*innen vermitteln.

Der Film beginnt mit Musik aus Recife von Chico Science (“A praiera”), ein Mitbegründer der Manguebeat-Bewegung. Auch unsere Makeup-Artistin Andréa Tristão kommt aus Recife.

Anne: Wir haben auch viele Trans-Künstler*innen ausgewählt.

Gil: Neben der Musik von lokalen Künstler*innen war es uns auch wichtig die Identität von Alice durch andere Genres und Künstler*innen zu unterstreichen. Der letzte Song im Film wurde komponiert von einer lesbischen Künstlerin, Luísa (Song Vekanandra). Es gibt auch einen Song der Transvestit-Künstlerin Rosa Luz. Das Lied “Um beijo” ist von MC Xuxú. Als ich ihren Videoclip sah dachte ich, dass ich diesen Song unbedingt benutzen sollte. Außerdem Verónica Valentino und Jonaz Sampaio, die das Lied Feito Hai Kai komponiert haben, Rockmusik für eine Motorrad-Filmszene. Die Musik unterstreicht die rasante Energie der Szene, das tam tam tam (Gil ahmt Geräusche nach und lacht) des Motorgeräusches.

Gil, was sind Ihre aktuellen oder zukünftigen Projekte? Auf der Filmpremiere hatten Sie den Film Casa Isabel erwähnt.

Baroni: Mein aktuelles Projekt ist der Film Casa Isabel, zusammen mit Luiz Bertazzo, er hat das Drehbuch geschrieben. Casa Isabel ist ein Film, der in den 70er Jahren spielt, in einem Haus, dass eine Gruppe von Crossdressern beherbergt. Der Film spiegelt soziale Probleme der damaligen Zeit anhand der Metapher des Hauses und seiner Bewohner wieder. Das Haus stellt Brasilien dar, Brasilien zur Dikaturzeiten. Im Haus wohnen Soldaten, die Crossdresser sind.

In letzter Zeit gab es in Brasilien viele besorgte Kommentare von Filmschaffenden, z.B. von Regisseur Karim Aïnouz, über leere Kinosäle wegen Streamingplattformen. Was denken Sie, welchen Einfluss Plattformen wie Netflix auf die Konsument*innen und Qualität der Filmbranche ausüben?

Baroni: In Berlin gab es eine Debatte von einigen Kritiker*innen, die ich sehr gut fand. Pablo Vilas kritisierte den Film “The Irishman” von Martin Scorsese, einen 3-stündigen Film, in dem es keine einzige Pause gibt. Meiner Meinung nach ist das Erlebnis, einen Film im Kino zu sehen einzigartig, ein kollektives Erlebnis, auch beim Film Alice Júnior. Während der Filmpremiere haben die Menschen unseren Film gesehen, gelacht und Spaß gehabt. In diesem Sinne ist er auch ein didaktischer Film; der Film ist eine kollektive Katharsis, fast wie ein Fußballspiel Wahhhhh (Gil ahmt Fanjubel nach). Am Ende des Filmes gibt es einen Sieg, einen kollektiven Prozess: das Publikum hat die Möglichkeit, gemeinsam eine neue Geschichte zu erleben.

Netflix hat auch seinen Platz, seine Tragweite. Doch nichts wird die Bedeutung des Kinos mindern, das kollektive Eintauchen in einen Film ist einzigartig. Ich habe keine Argumente gegen Netflix und auch keine für diese Art von Plattformen. Wer es mag, während eines Films die Stopptaste zu drücken, kann Netflix schauen, andere bevorzugen die Erfahrung, in die Kinosäle zu gehen. Meiner Meinung nach sind es zwei verschiedene Erlebnisse.

Wie schätzen Sie die Zukunft der Filmindustrie in Brasilien in Anbetracht der problematischen politischen Situation ein?

Baroni: Die aktuelle Regierung ist voll von Intoleranten, die eine Trans- und Homosexuellenphobie haben, Machisten*innen sind – stell dir die schlimmsten Menschen vor, die existieren. Jedes Mal, wenn etwas Negatives gesagt wurde, wundern wir uns, dass danach sogar noch extremere Kommentare kommen. Die Politiker*innen haben Angst vor dem Bildungswesen, Informationen, Diversität und der Pluralität. Meiner Meinung nach sind sie nur eine Gruppe von Feiglingen. Brasilien ist ein sehr reiches Land, reich auf einem Level der Diversität und Pluralität, wir beherbergen alle ethnischen Gruppen und Hautfarben. Ein solches Land sollte mit Sensibilität regiert werden, von Menschen, die die Einzigartigkeit jeder Region verstehen. Was bedeutet das Konzept Familie? Was ist Religion? Was ist die richtige Form, um das Land zu regieren? Diese Fragen existieren nicht. Wie soll das nur weitergehen? Ohne Information? Ohne Plattformen wie Netflix? Ich schätze die Situation der Finanzierung als sehr negativ ein. Die Hauptfinanzierung wurde eliminiert. Die Konservativen wollen sogar die Filmförderung komplett abschaffen.

Um zurückzukommen zum Thema Filmbranche: Wir werden weitermachen, selbst wenn wir mit unseren Handykameras filmen müssen. Wir werden nicht aufhören Geschichten zu erzählen, wir werden nicht aufhören, über brasilienbezogene Themen zu erzählen und wir werden auch nicht aufhören, über das Thema Trans, die afro-brasilianische Gesellschaft, den Klassismus zu sprechen. Wir leisten Widerstand, allein mit unserer Präsenz und unseren Geschichten – mit Liebe, Herzlichkeit und Frieden.

DIE STIMMEN HINTER DEN BILDERN

© Thais Nepomuceno

Matias Mariani (Brasilien, Regisseur Cidade Pássaro) über…

… den Grund, einen Film über die Igbo-Community (Exil-Nigerianer*innen) in São Paulo zu machen:
„Ich habe selbst längere Zeit als Migrant in New York gelebt. Und ich erinnere mich an das Gefühl der Einsamkeit, aber auch des Glücks und der Individualität. Also haben wir Communities von neu nach São Paulo gezogenen Menschen gesucht. Wir haben festgestellt, dass es eine starke Migration aus afrikanischen Ländern nach São Paulo gab. Aber statt eine große Untersuchung zu machen, hatten wir die Idee, Portugiesischstunden zu geben. So kamen wir schnell mit der Igbo-Community in Kontakt und nach 6 Monaten sind wir dann nach Nigeria gefahren, um weitere Nachforschungen anzustellen.

… den Unterschied zwischen den multikulturellen Städten Berlin und São Paulo:
„Berlin und New York verstehen sich denke ich als migrantische Städte. Das ist dort Teil der Identität. In São Paulo findet das eher als Verklärung der Vergangenheit statt. „Damals, als die Japaner oder die Italiener kamen“, heißt es, als ob die Migration irgendwann aufgehört und plötzlich alle nur noch Paulistas (Einwohner*innen von São Paulo, Anm. d. Ü.) seien. Das wird also unter den Teppich gekehrt, dabei ist São Paulo schon immer ein großer Katalysator für Migration und Binnenmigration, zum Beispiel aus dem Nordosten.“

… die Perspektiven für brasilianische Filmemacher*innen unter Bolsonaro:
„Im Moment gibt es überhaupt keine zentralstaatliche Förderung mehr. Natürlich können wir noch weiter auf internationale und regionale Fonds zurückgreifen, zum Beispiel aus São Paulo und Pernambuco. Brasilien ist mit 19 Filmen bei der Berlinale vertreten, viele davon sind aber schon 2015 oder 2016 finanziert worden, also vor langer Zeit. Dieses Loch, das das Einfrieren der Mittel durch Bolsonaro geschaffen hat, werden wir in den nächsten beiden Jahren schon spüren. Die Zahl der Filme, die auf der Berlinale gezeigt werden können, wird drastisch sinken.

 

© Thais Nepomuceno

Natalia Meta (Bild oben, Argentinien, Regisseurin) und Érica Rivas (unten, Argentinien, Hauptdarstellerin), beide El prófugo, über…

… die Gratwanderung des Films zwischen Traum und Wirklichkeit:

Natalia Meta: „Wir fragen uns im Leben ständig, was real und was nur eingebildet ist. Das hat mit Identität zu tun und mit dem Versuch des Individuums, logische Prinzipien, Rationalität aufzubauen. Ich habe Philosophie studiert und mich schon da mit dem Prinzip der Identität bei Aristoteles beschäftigt. Das Kino liebe ich deshalb so sehr, weil man hier nicht zwischen Realität und Fiktion oder Vorstellung unterscheiden muss. Im wirklichen Leben müssen wir natürlich rational handeln, aber im Film muss ich das nicht. Da kann ich diese Widersprüche auch mal stehen lassen. In El prófugo geht es aber nicht um eine psychologische Perspektive. Das war überhaupt nicht meine Idee.“

Érica Rivas: „Für mich war es auch schwierig herauszufinden, was mit meiner Figur Inés passiert, deren Stimme plötzlich nicht mehr so funktioniert, wie sie will. Das lässt sich nur schwer erklären. Wir hatten auch ganz unterschiedliche Interpretationen. Man kann interpretieren, dass sie verrückt ist, dass sie unter einem traumatischen Erlebnis leidet. Oder, dass es in dem Film um Traum und Realität geht. Die Parameter der Realität – wie definieren wir Realität? Was aber in allen Interpretationen enthalten ist – das sagt auch Natalia – ist, dass Inés eine Frau ist, deren Antrieb ihre Wünsche sind.“

… Feminismus in El prófugo und in Film und Gesellschaft Lateinamerikas
Natalia Meta: „In El prófugo geht es viel um die Autonomie von Frauen. Die Freiheit des Denkens hat bei der Hauptfigur Inés auch viel damit zu tun, dass sie auch mal nicht antworten muss. Zum Beispiel, wenn ihr Freund unbedingt wissen will, was in ihren Träumen passiert. Es geht also nicht nur um eine Autonomie des Körpers, die natürlich sehr wichtig ist, sondern auch um die der Gedanken.“

Érica Rivas: „Ich sehe mich als feministische Aktivistin und der Ort, an dem ich dafür kämpfe, ist meine Arbeit. Beim Betrachten von Filmen brauchen wir einen neuen Blick, eine andere Art von Narrativen, von Protagonistinnen. Wenn wir als Frauen unsere Rechte fordern, zum Beispiel legale, sichere und kostenlose Abtreibungen, dann reden wir nicht über Zahlen und prozentuale Anteile, die mehr werden müssen. Wir sprechen über einen Paradigmenwechsel. Das ist kein Krieg der Geschlechter, wir können schließlich auch nicht nur an zwei Geschlechter denken. Diese neue Welle des Feminismus kämpft auch für andere, sie ist antikolonial, antipatriachal, antikapitalistisch.“

© Thais Nepomuceno

 

© Thais Nepomuceno

Camilo Restrepo (Kolumbien, Regisseur, Los Conductos), über…

…seine Herangehensweise als Filmemacher:
„Ich versuche einen komplexen Blick, eine Herangehensweise, die das Publikum interpretieren muss. Was gesagt wird, muss man nicht unbedingt sehen. Die Tonspur erklärt eine Sache, während die Bilder eine andere zeigen. Aus beiden Dingen wird die Erzählung konstruiert. Oft werden im Kino in Bild und Ton die gleichen Dinge dargestellt. Das erscheint mir manchmal redundant. Deshalb nennt man das Kino eine audiovisuelle Erfahrung, ein visuelles Panorama. Nur, dass einige Filme die Audio-Hälfte vergessen.“

…seine Verbindung mit der Filmindustrie:
„Ich komme ursprünglich nicht vom Film, sondern von der Malerei. Ich versuche, mit Farben zu spielen, eine visuelle Palette zu zeigen. Ich war nie Teil der normalen Filmindustrie. Ich habe keine Ahnung, wie man normalerweise Filme in Kolumbien oder Frankreich, wo ich auch gelebt habe, produziert. Meine Filme sind immer ein bisschen selbstgebastelt, aus wenigen Stücken und mit wenig Geld zusammengebaut. In Frankreich wie in Kolumbien gibt es aber eine cineastische Peripherie, die genau so ihre Filme macht und dabei sehr kreativ ist.

… die aktuelle politische Situation in Kolumbien:
Mein Film ist keine dezidierte politische Kritik an Kolumbien, sondern an den Grenzen zwischen Gut und Böse. Das ist kein ausschließlich kolumbianisches Problem, hat in Kolumbien aber eine sehr große Bedeutung, weil sich diese Grenze dort sehr einfach verschiebt. In dem Film geht es um Manipulation. Über Leute, die sagen: „Das, was du für schlecht hältst, ist doch gut!“, obwohl sie das nur glauben machen wollen, um einen auszunutzen. Im Leben muss man sich ständig zwischen Gut und Böse entscheiden. Das große Problem in Kolumbien momentan ist für mich, dass diese freie Entscheidung nicht für alle möglich ist. Oder besser gesagt, die Leute können schon ihre Unzufriedenheit mit bestimmten Gruppen ausdrücken. Aber das bedeutet dann für sie auch, dass sie sich dadurch in große Gefahr begeben.

© John Trengove

Marco Dutra (Bild oben) und Caetano Gotardo (unten; Brasilien, Regisseure Todos os Mortos) über…

… das Konzept und die zeitliche Einordnung ihres Films:
Caetano Gotardo: „Die Zeit, in der der Film spielt, hat eine Menge damit zu tun, wie unsere Gesellschaft heute organisiert ist. Das Konzept war es also, auf diese Zeit mit den Augen der Gegenwart zu blicken und zu verstehen, wie sich diese verschiedenen Zeitebenen bis heute vermischen. Und zwar nicht nur in der Art und Weise, wie die Gesellschaft organisiert ist, sondern auch, wie die Leute sich verhalten. Das haben wir im Film versucht, nicht nur rational, also durch Dialoge, sondern auch auf der Gefühlsebene, cineastisch, auszudrücken. Wir haben mit den Zeitebenen gespielt und deshalb immer mehr verschiedene Bilder und Geräusche aus der Gegenwart einfließen lassen, obwohl der Film am Ende des 19. Jahrhunderts spielt.“

Marco Dutra: „Das Ende der Sklaverei war eigentlich der symbolische Todesstoß für die koloniale Ära und nun dachten alle in Brasilien: „Jetzt kommt unsere große Zeit!“ Aber das ist nicht wirklich passiert, weil Brasilien es nie geschafft hat, sich in eine wirklich demokratische Gesellschaft zu verwandeln.“

… über Fortschritte und Versäumnisse in der gesellschaftlichen Entwicklung Brasiliens:
Caetano Gotardo: „Wir waren in Brasilien lange geblendet von dem Konzept der„Racial Democracy“, das auch von europäischen Wissenschaftlern in Brasilien beschrieben wurde. Die Wahrheit ist aber, dass diese „Racial Democracy“ für die Schwarze Bevölkerung nie existiert hat. Die Kluft zwischen den Chancen, die sie hatten und denen der weißen Bevölkerung war immer enorm. Klasse und race sind in Brasilien untrennbar miteinander verbunden, wegen der Strukturierung der Gesellschaft nach dem Ende der Sklaverei. Und ich denke, einige Verbesserungen, die hätten gemacht werden können, sind wegen dieser falschen Idee, dass es in Brasilien keinen Rassismus gibt, nicht gemacht worden. Zum Glück hat das Konzept in den letzten Jahren immer mehr angefangen zu bröckeln und uns wird bewusst, dass Brasilien ein großes Rassismusproblem hat. Seit der Regierungszeit von Lula und Dilma gibt es zum Beispiel Quotenregelungen für Schwarze in den Universitäten. Aber von Gleichheit sind wir natürlich immer noch weit entfernt. Die aktuelle Regierung will zum Beispiel wieder zurück zur Idee, dass es keinen Rassismus in Brasilien mehr gibt und wir keine inklusive Politik mehr brauchen. Was natürlich total falsch ist.“

… über das Konzept der „Whiteness“ in Todos os mortos und ihre eigene Positionierung:
Caetano Gotardo: „Wir beide werden in Brasilien als weiß gesehen und haben die Privilegien weißer Menschen.“
Marco Dutra: „Natürlich sind wir ein totaler Mix, aber wir werden als weiß wahrgenommen. In Brasilien wird oft nicht nach Abstammung, sondern nach dem Aussehen beurteilt. Für uns sind unsere Vorfahren aber wichtig, wir wollen wissen, wo wir herkommen. Meine Familie kommt zum Beispiel aus Syrien und Palästina. Auch im Film kommt ein Mädchen aus Palästina vor. Das war ein Versuch, zu zeigen, dass zu dieser Zeit Menschen aus allen möglichen Teilen der Welt nach Brasilien kamen: Japan, Italien, Palästina, Syrien, Libanon. Das ist eine große Mischung, aber es gibt „Whiteness“ und „Blackness“.

Caetano Gotardo: „Die Vermischung der unterschiedlichen races begann in Brasilien als ein offizieller Plan, „Blackness“ zu eliminieren – ein „Whitening“ der Bevölkerung. Den weißen Einwanderern wurde die Ankunft in Brasilien leichter gemacht. Nach diesem Plan sollte Brasilien 100 Jahre nach dem Ende der Sklaverei dann komplett weiß sein.

Auch Filmemachen in Brasilien ist vor allem eine Tätigkeit der weißen Elite. Aber glücklicherweise hat sich das in den letzten Jahren auch angefangen zu ändern. Es gibt mehr und mehr Schwarze Filmemacher*innen auch aus ärmeren Regionen. Und es ist in unseren täglichen Diskussionen Thema, dass wir mehr Diversität im Kino brauchen.“

© Beth Gotardo

MEHR SKEPSIS ALS AUFBRUCHSTIMMUNG


© Aline Motta

Grund zur Hoffnung bestand durchaus. Nach 18 Jahren ging die Ära des Festival-Leiters Dieter Kosslick mit der letzten Berlinale zu Ende. Dieser hatte sich um das Filmfestival verdient gemacht, konnte in den letzten Jahren aber weder für größere Anziehungskraft noch für Innovation sorgen. Auf der neuen Doppelspitze aus künstlerischem Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, die von einer dreiköpfigen Findungskommission (in der letztere praktischerweise selbst saß) ernannt wurde, ruhten hohe Erwartungen. Schlanker sollte die 70. Ausgabe der Berlinale werden, übersichtlicher die Sektionen, das künstlerische Niveau sollte wieder steigen. Und natürlich sollte der Anspruch an Diversität und politische Relevanz, den die Berlinale sich mehr als alle anderen großen Filmfestivals auf die Fahne schreibt, weiter erfüllt werden.

Endgültige Schlüsse sollte man vor Beginn der Veranstaltung natürlich noch nicht ziehen. Aber ein wenig Enttäuschung macht sich schon breit beim Blick auf das, was personell und programmatisch bisher passiert, oder besser, nicht passiert ist. Da wäre zunächst Jeremy Irons als Jury-Präsident. Es ist bereits 20 Jahre her, dass eine Jury-Leitung zwei Mal hintereinander von einer Frau verantwortet wurde, von mehr geschlechtlicher Diversität gar nicht erst zu sprechen. Nun wurde es mit Jeremy Irons mal wieder ein alter, weißer Mann aus Europa, der in den letzten Jahren auch noch mit sexistischen und homophoben Äußerungen (von denen er sich später allerdings distanzierte) negativ aufgefallen war. Bei den Sektionen tat sich bis auf die Abschaffung der indigenen Native-Reihe und der Einführung des neuen Formats Encounters, bei dem es schwer fällt, darin mehr als ein Panorama mit Preisverleihung zu erkennen, auch nicht besonders viel. Kurzfilme und Perspektive Deutsches Kino wurden im Umfang stark verringert, ansonsten geht es im Grunde weiter wie bisher. Für einen echten Neuanfang ist das zumindest unter Diversitätsgesichtspunkten deutlich zu wenig.

Die aktuellen Proteste in Chile sind unerwähnt

Auch, was das lateinamerikanische Kino auf dem Festival angeht, setzen sich eher die Trends der letzten Jahre fort. Das betrifft vor allem die starke regionale Konzentration der Filme. Von den bislang bekanntgegebenen 33 Beiträgen aus oder über Lateinamerika stammen 26 aus den Mercosur-Staaten. Brasilien ist dabei an nicht weniger als 18 beteiligt – eventuell ein letzter kreativer Höhepunkt, bevor die drastische Kürzung der Filmförderung durch das Bolsonaro-Regime ihre Wirkung zeigt. Chile ist „Country im Fokus“ des diesjährigen European Film Market (EFM), im Festival laufen allerdings nur zwei Beiträge mit chilenischer Beteiligung: eine Montage eines 50 Jahre alten Films und eine multinationale Produktion. Zudem wird für den EFM ein „exciting program“ versprochen, die aktuellen Proteste in Chile aber mit keiner Silbe erwähnt. Offensichtlich hat hier die Partnerschaft mit den chilenischen Regierungsinstitutionen einen höheren Stellenwert als die aktuell brisante politische Situation (siehe S. 30), die sicher auch viele Filmschaffende beschäftigt.

All das soll aber nicht die Vorfreude auf die Filme aus Lateinamerika schmälern, bei denen es sicher wieder einige Perlen zu entdecken gibt. Im Wettbewerb waren die Titel bis Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht, auf mehr als ein oder zwei Filme aus Lateinamerika sollte man sich allerdings keine Hoffnung machen. Dafür nehmen zwei Beiträge aus dem Subkontinent an der neuen Sektion Encounters teil, für die auch Preise vergeben werden. Isabella (Argentinien) handelt von einer jungen Schauspielerin in Buenos Aires, die über mehrere Jahre versucht, die Hauptrolle in einem Shakespeare-Stück zu ergattern. In Los conductos (Kolumbien) versucht der lange von der Polizei gesuchte Protagonist sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.

Die beim Publikum beliebte Panorama-Sektion ist mit sechs Filmen aus Lateinamerika gut besetzt, vier von ihnen stammen aus Brasilien. In Cidade Pássaro macht sich der nigerianische Musiker Amadi auf die Suche nach seinem in São Paulo verschwundenen Bruder. Der trockene Wind, Vento Seco, bringt mit dem Neuankömmling Maicon Abwechslung in das eintönige (Liebes-)Leben von Sandro in einer ländlichen Kleinstadt. O reflexo do lago ist eine Dokumentation über eines der größten Wasserkraftwerke der Welt im Amazonasgebiet. Den Einwohner*innen der Region wurde durch die Schaffung des Stausees Entwicklung versprochen, stattdessen haben sie bis heute paradoxerweise nicht einmal Zugang zu elektrischen Strom. Auch Nardjes A. ist eine politische Dokumentation, in der der brasilianische Regisseur Karim Aïnouz eine junge algerische Aktivistin bei den Protesten in ihrem Heimatland begleitet. Aus Argentinien kommen die Beiträge Un crimen común, in dem der Sohn einer Hausangestellten tot aufgefunden wird, nachdem er in der Nacht zuvor nicht ins Haus gelassen wurde und Las mil y una, ein Coming-of-Age-Film, in dem Renata und Iris in einem feindseligen Umfeld ihre Zuneigung zueinander entdecken. Die meisten lateinamerikanischen Langfilme, acht an der Zahl, hat in diesem Jahr das Forum zu bieten. Vom uruguayischen Regisseur Alex Piperno kommt der Film Chico ventana también quisiera tener un submarino, in dem ein junger Matrose auf einem Kreuzfahrtschiff einen Gang entdeckt, der zu einem Apartment in Montevideo führt. El tango del viudo ist der erste und erst jetzt posthum vollendete Film des chilenischen Exil-Regisseurs Raúl Ruiz, ein Fiebertraum, der mit den Zeitebenen spielt. In Hombre entre perro y lobo (Kuba) verkörpern vier zurückgekehrte Veteranen aus dem Angola-Krieg die letzten Samurai der Revolution in den kubanischen Bergen. Luz nos trópicos handelt vom französischen Erfinder Hercule Florence, der seine Wahrnehmung der Welt während einer Amazonas-Expedition im 19. Jahrhundert völlig verändert.

Interessante Filme bietet traditionell die Jugendfilm-Sektion Generation

Dazu gibt es vier Dokumentarfilme: Responsabilidad empresarial vom argentinischen Doku-Spezialisten Jonathan Perel, über politische Spannungslinien in der jüngeren Geschichte; Medium (ebenfalls Argentinien), ein Porträt der 91-jährigen Pianistin Margarita Fernández; Ouvertures (Haiti), eine dokumentarische Recherche über den Anführer der Sklav*innenaufstände, die zur haitianischen Revolution führten und Vil Má (Brasilien), der sich mit der Sado-Maso-Künstlerin Vilma Azevedo aus São Paulo befasst.

Interessante Filme aus Lateinamerika bietet traditionell die Berlinale-Jugendfilm-Sektion Generation. Auch hier kommen drei Beiträge aus Brasilien. In Alice Júnior wird eine Trans*person in einer Schule in der brasilianischen Provinz zunächst gemobbt, verschafft sich mit Hilfe der YouTube-Community aber schließlich Respekt und Akzeptanz. Irmã ist ein experimentelles Roadmovie über zwei Schwestern, deren Vater sich nicht um sie kümmert und deren Mutter im Sterben liegt. Meu nome é Bagdá spielt im Skater*innenmilieu in São Paulo, wo Frauen auf der Straße und in Clubs gegen den dominanten Machismo kämpfen müssen. In Mamá, Mamá, Mamá (Argentinien) versucht Cléo in einem heißen Sommer gemeinsam mit ihren Cousinen den Tod ihrer Schwester zu verarbeiten. Der einzige mexikanische Beitrag der diesjährigen Berlinale ist Los Lobos: Zwei mexikanische Brüder sind mit ihrer Familie in die USA gezogen, ihr Traum von Disneyland kollidiert dabei mit der Realität. Schließlich gibt es noch den deutschen Dokumentarfilm Perro, der in Nicaragua spielt und einen jungen Mann begleitet, der bedingt durch den Bau des „Gran Canal“ seine Heimatregion verlassen und ein neues Leben in der Stadt beginnen muss. Im Programm sind außerdem noch die Kurzfilme El nombre del hijo (Argentinien), El silencio del río (Peru), Rã (Brasilien; alle in der Sektion Generation) und Playback. Ensayo de una despedida (Argentinien; Sektion Berlinale Shorts) und folgende Filme/Performances in der Sektion Forum Expanded: Apiyemiyekî?, Jogos Dirigidos, (Outros) Fundamentos, Vaga Carne, Letter from a Guarani Woman in Search of the Land Without Evil (alle Brasilien), Jiíbie (Kolumbien) und Imaginary Explosions, episode 2, Chaitén (Chile).

// Wertekanon als Feigenblatt

„Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn das Militär dies wünscht”, sagte der ultrarechte Präsident Brasiliens Jair Bolsonaro Anfang März. Wenige Wochen später veröffentlichte der deutsche Außenminister Heiko Maas bei seiner Lateinamerika-Reise eine gemeinsame Erklärung mit seinem brasilianische Amtskollegen, in der es heißt: „Die Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland sind solide und eng und stützen sich auf gemeinsame Grundsätze und Werte.“ Bei einem Treffen mit der brasilianischen Zivilgesellschaft gab er zu, dass es dort „gefährliche Rückschritte“ gäbe. Doch vor seinem brasilianischen Kollegen kann er dies nicht äußern, will er doch anschließend andere Themen platzieren.
Gemeinsame Werte werden oft dann zum Thema gemacht, wenn es eigentlich um etwas anderes gehen soll. Sie erfüllen diplomatisch die einleitende Funktion, Gemeinsamkeiten zu betonen, bevor es um handfeste Interessen geht. So hält es offensichtlich auch Heiko Maas, welcher in diesen Tagen die neue Lateinamerika-Karibik-Initiative (LAK) der deutschen Bundesregierung ausrollt. In seiner Eröffnungsrede zur LAK-Konferenz Ende Mai, zu der mehr als 20 Außenminister*innen aus der Region anreisten, lief dann auch der Wertediskurs auf die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands hinaus. Auf der Suche nach Ursachen dafür, dass der Handel mit der Region gerade einmal 2,6 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels ausmacht, werden von Maas fehlende Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Korruptionsbekämpfung identifiziert. Die allein würden jedoch nicht erklären, warum deutsche Exporte in die Region so gering ausfallen.

Werte dienen hier nur als Feigenblatt für die nackten Tatsachen kapitalistischer Wachstumsideologie.

China hingegen schafft es unter diesen Bedingungen in Lateinamerika an Einfluss zu gewinnen – ganz ohne Wertediskurs. Die wachsenden chinesischen Investitionen sehen zwar viele in Europa kritisch, doch stellt sich die Frage: Worin besteht der Unterschied zu den deutschen Absichten? Wichtige Vertreter der deutschen Wirtschaft waren zu der Konferenz in Berlin eingeladen. Siemens-Chef Joe Kaeser fühlte sich sichtlich wohl und erklärte den Anwesenden, dass „Außenpolitik auch Wirtschaftspolitik“ sei. In Richtung der Außenminister*innen erging er sich darin zu sagen: „Wir sind soweit, Sie auch?“
Die von Maas betitelten „Wirtschaftsführer“ sind die letzten, die der Bundesregierung bei einem Wertediskurs assistieren sollten. Bayer und BASF vermarkten in Lateinamerika an Pestizidwirkstoffen, was in der EU längst verboten ist; deutsche Zertifizierer wie TÜV-Süd sind mitverantwortlich für Dammbrüche im Bergbau; deutsche Stahlkocher kaufen unter desaströsen Umweltbedingungen hergestelltes Erz für den Exportmotor Nummer 1: die Autoindustrie; deutsche Turbinenhersteller liefern trotz Menschenrechtsverletzungen an umstrittene Wasserkraftwerke. Es ist eine nicht enden wollende Liste für die mangelnden Sorgfaltspflichten gegenüber Menschenrechten und Umwelt der deutschen Unternehmen, die in der Region tätig sind.
Deutschland ist auf der Suche nach neuen Partnern. Die Beziehung zu den USA ist schwierig und auch in Europa sind polarisierende Tendenzen deutlich zu spüren. China läuft wirtschaftlich in Lateinamerika allen den Rang ab. Die Antwort des Außenministers gegenüber Lateinamerika heißt: Den „Multilateralismus“ und die „wertebasierte Partnerschaft“ stärken. Dass in einigen Staaten der Region ein besorgniserregender politischer Rechtsruck zu beobachten ist, der Menschenrechte und Demokratie gefährdet, stört wenig, wenn es darum geht, verloren gegangenes Terrain zurück zu gewinnen. Denn für die Fortführung von Rohstoffexporten und die Vertiefung neoliberaler Wirtschaftspolitik, welche für die „Versorgungssicherheit“ der Industrieländer so fundamental wichtig sind, stellen diese Regierungen treffliche Partner dar.
Werte wie Demokratie, Menschenrechte und manchmal auch Klima- und Umweltschutz dienen hier nur als Feigenblatt für die nackten Tatsachen kapitalistischer Wachstumsideologie.

NARKOTISIERTE GEWALT

Medien benutzen die Darstellung von Gewalt gerne um Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu bekommen. Sie hingegen beschreiben Gewalt als alltägliche Methode in einem sozialen Krieg. Hinkt hier die öffentliche Wahrnehmung der Realität hinterher?
Ich glaube nicht, dass sie hinterher ist. Es geht nicht um Verständnis, sondern um Verhaltensweisen. Das Problem ist, was machen wir mit dem Wissen darüber was passiert? Nicht nur in Lateinamerika, sondern überhaupt auf der Welt geschieht etwas ähnliches. Die Menschen sind sich bewusst darüber, dass eine große Transformation stattfindet, eine soziale Mutation. Es fehlt nicht die Fähigkeit, das zu verstehen. Es handelt sich eher um eine bewusste Entscheidung Empathie zu vermeiden mit dem, was wir von Medien gezeigt bekommen und was wir täglich auf den Straßen sehen.
Der soziale Krieg, der auf der ganzen Welt stattfindet, hat je nach Region andere Merkmale, gemeinsam ist ihm dabei die soziale Betäubung. Wir wissen, was vor sich geht, ziehen es aber vor uns selbst zu täuschen. Es ist die Umkehrung der Formel vom Fetischismus des Marktes bei Karl Marx: Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Heute wissen wir, aber wir machen weiter. Wir wissen über die Ausbeutung und die obszöne Bereicherung einiger weniger Menschen Bescheid, aber wir ziehen es vor weiter zu machen, als ob es uns nicht angehen würde. Um damit leben zu können, müssen wir Erklärungen konstruieren, mit denen wir uns narkotisieren.

DANIEL INCLÁN ist assoziierter Forscher an der Lateinamerikanischen Beobachtungsstelle für Geopolitik des Instituts für Wirtschaftsforschung der Universität UNAM in Mexiko-Stadt und gibt dort Master- und Promotionskurse im Rahmen des Postgraduations-Programmes für LateinamerikastudienFoto: R. Swoboda

Wer sind die Akteure in dem sozialen Krieg?
Der Staat ist nicht verschwunden und weiterhin ein großer Akteur, aber er hat sich in einer Art transformiert wie wir es noch nie gesehen haben. Die politische Theorie muss sich in diesem Punkt erneuern. Den Staat verstehen wir als eine Synthese gesellschaftlicher Kräfte. Heute gibt es gesellschaftliche Kräfte, die früher nicht Teil des Staates waren wie das organisierte Verbrechen in all seinen Varianten. In Mexiko und Kolumbien sind es Drogenhändler, in Brasilien gibt es Mafias, denken wir auch an Russland mit der Mafia oder an Italien. Es gibt also eine Synthese gesellschaftlicher Kräfte, die es vorher nicht gab. Außerdem müssen wir eine andere Perspektive einnehmen. Wenn wir weiter auf den liberalen Staat des 20. Jahrhunderts schauen, können unsere Analysen nicht zutreffen, weil wir dann den Staat nicht als Korrelation von Kräften begreifen. Es gibt eine wichtige Transformation, die sich durch immer mehr private Interessen kennzeichnet.
Es entstehen gleichzeitig verschiedene Formen von Söldnertruppen. Lateinamerika ist weiterhin ein Laboratorium dafür. Während der Aufstandsbekämpfung (in den 1970er und 1980er Jahren, Anm. d. Red.) entstanden paramilitärische Gruppen, die mit dem Staat verbunden waren, der sie steuerte und bezahlte. Heute sind sie nicht mehr unbedingt mit dem Staat verbunden. Die Formen der Gewalt haben sich ebenfalls privatisiert. Diese Gruppen kontrollieren nicht mehr nur Territorien, sondern auch ökonomische Mechanismen, wie Menschen- und Drogenhandel.
Außerdem gibt es eine Art soziale Gewalt, welche gekennzeichnet ist durch Geschlecht, Herkunft (spanisch: raza, Anm. d. Übers.) und ethnische Zugehörigkeit. Überall auf der Welt gibt es eine zunehmende Gewalt aufgrund von diesen Zugehörigkeiten. Fast alle Menschen reproduzieren das auf die ein oder andere Weise und das macht es noch komplizierter. Die Mechanismen, die noch während des 20. Jahrhunderts funktionierten, um strukturelle Gewalt zu begrenzen, funktionieren heute nicht mehr. Silvia Federici beschreibt in ihrem berühmten Buch Caliban und die Hexe, wie das Einkommen des Patriarchats die machistische Gewalt zähmte. Heute hat das Einkommen seine soziale Funktion verloren und die Form der Gewalt aufgrund von Geschlecht hat sich verändert. Sie nimmt auf der ganzen Welt zu, auch wenn sie in Lateinamerika viel tödlicher ist. Auch die strukturelle Gewalt aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit verschärft sich aufgrund von Migration.
In Mexiko tritt dieses Phänomen häufiger auf, weil die USA die Nordgrenze geschlossen haben. Mexiko ist nun nicht mehr nur ein Transitland, sondern Ort der Ankunft von Migration. Inzwischen kommen Menschen aus der Karibik, das gab es bisher nicht. Und nun zeigt sich die Fremdenfeindlichkeit, der Rassismus ist sehr stark. Das ist verrückt. Mehr als 10 Prozent der mexikanischen Bevölkerung lebt in den USA, das sind 15 Millionen Menschen. Aber wenn die Migranten aus Mittelamerika in das Land kommen, werden sie wie Abfall behandelt.
Schließlich nimmt auch die Diskriminierung der wenigen Sektoren zu, die sich noch mit der Arbeiterklasse identifizieren lassen. Denn die Idee von heute ist es, dein eigener Arbeitgeber zu sein. Wenn heute Streiks oder Demonstrationen von Seiten einer Gewerkschaft stattfinden, dann fühlen wir uns gestört, weil Straßen blockiert, Schulen oder Arztpraxen geschlossen sind, denn wir wollen zur Arbeit kommen, unsere Kinder in der Schule abgeben und unsere Gesundheit versorgt haben. Wir denken nicht darüber nach, dass sie damit eine gesamte Struktur verteidigen.

Sie beschreiben Gewalt als eines der dringlichsten Probleme unserer Epoche. Gibt es Unterschiede zur Gewalt im 20 Jahrhundert?
Sehr viele. Ich sehe Gewalt im Zusammenhang mit Politik und den Verantwortlichen. Gewalt ist keine Anomalie in modernen Gesellschaften. Sie wird gebraucht, um so hierarchische Gesellschaften zu organisieren, wie wir sie haben. Es gibt viele Hierarchien von Geschlecht, Klasse, Ethnien und so weiter. Im 20. Jahrhundert gab es eine säkulare Transformation unter dem Einfluss der Industrialisierung. Die Eigenart dieser Transformation gibt es im 21. Jahrhundert nicht mehr, Gewalt ist nun ebenso privatisiert, wie auch nahezu vollständig die Produktion. Im 20. Jahrhundert ging Gewalt von Staaten aus, denken wir zum Beispiel an Deutschland und Europa. Heute spielt staatliche Gewalt zwar noch eine Rolle beim Thema Sicherheit, aber es gibt mehr private Akteure auf allen Ebenen. Zur Gewalt gehörte damals eine Logik von Gut und Böse. Staaten kämpften gegen andere Staaten, der Feind war einfach zu benennen. In Lateinamerika folgten aus den Doktrinen der nationalen Sicherheit Diktaturen, woraus wiederum ein Zusammenhalt der Kommunisten, der Subversiven, entstand.
Heute ist das anders, die Denkstruktur ist eine ganz andere. Ich glaube, es gibt so etwas wie einen sozialen Autoritarismus, der nicht durch Regierungen oder Staaten verkörpert wird. Er schafft einen internen Wettbewerb, der durch Individualismus und Privatisierung gestützt wird. Heute kämpfen wir nicht mehr gegen so eindeutige Gegner wie gegen Diktaturen oder Faschismus.

Gewalt steht auch mit ökonomischen Aspekten in Zusammenhang. Sehen Sie Unterschiede in der Ausprägung von Gewalt bei Staaten mit einer starken Wirtschaft, wie Brasilien und Mexiko, und Staaten die weniger ökonomisch entwickelt sind, wie Honduras oder Guatemala?
Es gibt wichtige Unterschiede. Manche sind qualitativ, wie der Grad der Grausamkeit und wie tödlich Gewalt ist. Ich denke, qualitative Merkmale haben damit zu tun, welche Art von Angriffen auf Körper stattfinden und welche Effekte sie dabei auf Territorien haben. Im Fall von Mexiko, Brasilien und auch Kolumbien handelt es sich um die Kontrolle von Territorien durch die Kontrolle von Körpern. Die Kontrolle von Territorien funktioniert für die großen korporativen Geschäfte wie den Bergbau, Infrastrukturprojekte, Tourismus oder illegalen Handel. Entweder werden Menschen dafür von Territorien vertrieben oder auf ihnen kontrolliert. Zum Beispiel sind in diesen Ländern Fälle dokumentiert, in den Gemeinden gezwungen werden für den Drogenanbau zu arbeiten, für Kokain in Kolumbien, für Marihuana und Mohn in Mexiko.
In den Ländern Zentralamerikas ist der Konflikt um Territorien nicht der springende Punkt, weil sie ökonomisch gesehen Leichtgewichte sind. Der wirtschaftliche Zusammenhang mit der Grausamkeit ist dort nicht so offensichtlich. Diese Staaten sind weiterhin komplett von den USA abhängig und inzwischen wirtschaftlich unbedeutend. Sie sind nicht mehr die Bananenrepubliken des 19. Jahrhunderts, welche die Wirtschaft in den USA ankurbeln. Die USA haben inzwischen die bäuerliche Landwirtschaft in Lateinamerika zerstört und verkaufen selbst Lebensmittel dorthin. Sie brauchen die Territorien nicht mehr, um dort zu produzieren. Die Früchte, welche früher in Mittelamerika produziert wurden, werden jetzt in Florida angebaut. Ich habe Mittelamerika nicht bis ins Detail studiert und habe nur eine Hypothese zur sozialen Zersetzung: Das ist ein Fall von verselbstständigter politischer Gewalt, die früher eine ökonomische Basis hatte. Obwohl diese Basis jetzt fehlt, haben die Menschen ein bestimmtes Know-How. Es gibt ein gesellschaftliches Wissen über die Ausübung von Gewalt in all seinen Formen, das fast „automatisch“ und „spontan“ ist. Es steht aber in keinem direkten Zusammenhang mehr zu einer großen Ökonomie, weil sie an Relevanz verloren hat.
Vielleicht wird das auch Mexiko, Kolumbien und Brasilien so gehen, wenn sie ihr ökonomisch-strategisches Gewicht verlieren. Etwas sehr ähnliches ist in Afghanistan oder im Irak passiert. Nachdem die strategischen Knotenpunkte nach langen Kriegen unter Kontrolle gebracht worden waren, hat sich die Gesellschaft zersetzt. Aber mit einem Know-How und mit Technologien von Gewalt, die es davor nicht gegeben hat. Das geschah durch die Lieferung von Waffen und anderer Technologien aufgrund der Bedeutung von Öl, welches die Initialzündung für die Kriege war.
Das Paradox in Zentralamerika ist, dass es lange Bürgerkrieg gab, in dem Generationen aufgewachsen sind. Wenn du damit aufwächst, wird es leicht zu einem sozialen Horizont und du reproduzierst die Gewalt. Ich denke, es gibt eine Verselbstständigung von Gewalt. Die Menschen besitzen Waffen und das Know-How, also benutzen sie sie auch.

 

FÜR MEHR EINSATZ

Marta Viera da Silva Die sechsfache Weltfußballerin ist ein vorbild für den Nachwuchs / Foto: UN Women (CC BY-NC-ND 2.0)

Seit der ersten offiziellen Frauen-Weltmeisterschaft 1991 hat noch kein lateinamerikanisches Team den Titel gewonnen. Allein die brasilianische Nationalelf schaffte es 2007 ins Finale einzuziehen und den zweiten Platz hinter den deutschen Frauen zu erreichen. Deutlich an der Spitze liegen die USA mit vier Meisterschaftstiteln, Deutschland befindet sich mit zwei Titeln an zweiter Stelle. Dabei ist zu bedenken, dass von 1955 bis 1970 auch in Deutschland noch ein Verbot des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) herrschte, das Frauen untersagte Fußball-„Mannschaften“ zu gründen. Nach Aufhebung des Verbots gestattete der DFB den Frauen das Spielen nur unter Vorbehalt. Es durfte nur mit Jugendbällen und ohne Stollenschuhe gespielt werden. Die Spielzeit wurde auf 60 Minuten verkürzt.
Vor kurzem ist eine neue Diskussion entbrannt: Emma Hayes, Trainerin des Chelsea F.C. Women, machte den Vorschlag, die Tore im Frauenfußball entsprechend den Körpergrößen von Frauen zu verkleinern und stieß damit auf heftige Kritik. Während die Befürworter*innen in der Anpassung eine Chance für bessere Spielbedingungen sehen, befürchten andere Stimmen einen Rückschritt in der Debatte um Geschlechtergerechtigkeit und gleiche Bezahlung.

“Wir brauchen für den Frauenfußball eine eigene Identität”


Doch bevor man sich der Frage über die Größe des Tores annehmen kann, muss weltweit zunächst einmal an anderen Baustellen, wie Investitionen zur Förderung von Fußballtrainerinnen und Ligen gearbeitet werden. Der aktuelle Präsident der Fédération Internationale de Football Association (FIFA), Gianni Infantino, versprach aus diesem Grund am Tag des Eröffnungsspiels der WM 2019 Taten sprechen zu lassen, damit Frauenfußball besser promotet werden kann. “Wir brauchen für den Frauenfußball eine eigene Identität” – so der Funktionär. Dafür wäre es zunächst einmal nötig aufzuhören, ständig Vergleiche zu männlichen Pendants zu suchen. Warum wird die Brasilianerin Marta Vieira da Silva „Pelé de Saias“ („Pelé im Rock“) genannt und die Argentinierin Estefanía Banini „La Messi Feminina“ („die weibliche Messi“)? Und warum wird Christiane Endlers Talent als Torschützin mit der deutschen Herkunft ihres Vaters in Verbindung gebracht und nicht mir den chilenischen Wurzeln ihrer Mutter? Trotz des frühen Ausscheidens der lateinamerikanischen Nationalmannschaften lohnt es sich, die Profile dieser drei Kapitäninnen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die 1,82-Meter große Torhüterin Christiane Endler hat bei dieser WM mit körperlichem und spielerischem Einsatz geglänzt. Endler ist nicht nur eine der besten Spielerinnen und Kapitänin der chilenischen Nationalelf, sondern hat aufgrund spielerischer Höchstleistungen weltweite Anerkennung erlangt. Mit ihr als Torhüterin haben Chiles Frauen es erstmalig geschafft, an der Weltmeisterschaft teilzunehmen. Um an ihrer Karriere als Profi-Spielerin zu arbeiten, ist sie nach Europa gekommen. Aktuell spielt sie im französischen Verein Paris Saint-Germain. Zuvor hatte die 26-jährige Torhüterin ein Jahr lang für den spanischen FC Valencia ihren Einsatz gezeigt. Im selben Jahr spielte auch Estefanía Banini für den FC Valencia. Die Dribbling-Meisterin hat der Argentinischen Nationalelf zum ersten Mal seit 2007 zum Einzug in die Qualifikationsrunde verholfen. Im Einspielvideo der FIFA zur diesjährigen WM zeigt sie ihren Kampfgeist: „Wenn ich Fußball spiele fühle ich mich glücklich, frei, lebendig. Aber es ist nicht immer einfach gewesen“. Nach einem hart erkämpften 3:3 in der Gruppenphase gegen Schottland, musste die Argentinierin leider unter Tränen einsehen, dass es für den Einzug ins Achtelfinale nicht gereicht hat. In einem Interview, das Endler kurz nach der Qualifikation zur Weltmeisterschaft mit Radio France Internationale geführt hat, erklärt sie, dass es in ihrer Heimat an weiblichen Vorbildern fehle. Erst durch den Schritt ins europäische Ausland habe sie erkannt, dass Frauenfußball auf einer hohen professionellen Ebene gespielt werden kann. Hier verbessere sie stetig ihre Techniken und gewöhne sich langsam an Spielweisen, die einen höheren Grad an Tempo und Körpereinsatz forderten. Sie beobachte einen Aufschwung der Förderung von Frauen-Fußballligen in Chile, stellt aber zugleich klar, dass in Chile sowie in Argentinien die Mehrheit der Frauen nicht von den Einkünften als professionelle Spielerinnen leben können und es zeitweise sogar an Aufwandsentschädigungen fehle.


„Es wird nicht für immer eine Formiga geben, es wird nicht für immer eine Marta geben und auch keine Cristiane“


Ein etabliertes Vorbild für jüngere Generationen ist die sechsfache Weltfußballerin Marta Vieira da Silva. Sie hat den langen Weg von den Straßen der brasilianischen Kleinstadt Dois Riachos bis hin ins Maracanã-Stadion geschafft. In den jungen Jahren ihres Werdegangs wurde sie immer wieder mit Stimmen aus ihrem Umfeld konfrontiert, die behaupteten, dass Fußball nichts für Frauen sei. Auch sie trat aus diesem Grund eine Karriere in Europa an. Nachdem sie mehrere Jahre lang für schwedische Vereine spielte, ist sie seit 2017 beim US-amerikanischen Verein Orlando Pride unter Vertrag. Als „United Nations Women Goodwill Ambassador“ setzt sie sich für die Gleichberechtigung von Frauen im Sport ein und motiviert junge Sporttalente, ihr Potenzial auszuschöpfen. Im diesjährigen Gruppenspiel gegen Italien schoss Marta in der 74. Minute ihr 17. WM-Tor und erzielte damit nicht nur den entscheidenden Treffer für den Einzug ins Achtelfinale, sondern auch den Weltrekord unter den – männlichen wie weiblichen – WM-Torschütz*innen. Dass Marta für die Lippenstiftmarke Avon wirbt und auf der Titelseite der Vogue zu sehen ist, steht der Anerkennung ihrer sportlichen Leistungen nicht im Wege. Im Achtelfinalspiel gegen Gastgeberin Frankreich reichte es dann leider nicht für einen Sieg. Nach Angaben der FIFA verfolgten 23.965 Besucher*innen im Stade Océane und ca. 33,57 Millionen Zuschauer*innen vor dem Fernseher die Niederlage. Marta nutzte die Aufmerksamkeit, um einen Appell an die jungen Nachwuchstalente in ihrer Heimat zu richten: „Ich würde jetzt gerne lächeln oder vor Freude schreien. Und das ist, glaube ich, der wichtigste Punkt: Zuerst zu weinen, um an Ende zu lächeln. Was ich damit meine, ist, mehr zu wollen, mehr zu trainieren. Achtet auf euch, seid bereit, 90 und die zusätzlichen 30 Minuten zu spielen, so viele Minuten wie nötig. Es wird nicht für immer eine Formiga geben, es wird nicht für immer eine Marta geben und auch keine Cristiane. Dass der Frauenfußball überlebt, hängt von Euch ab, denkt darüber nach und schätzt es mehr. Weint zuerst, um am Ende zu lächeln“ (Sportschau, veröffentlicht am 25.06.2019). Die Förderung von motivierten Nachwuchsspielerinnen ist auch deshalb so wichtig, da Martas erfolgreiche Teamkolleginnen Cristiane Rozaira de Souza Silva und Miraildes Maciel Mota Formiga (Ameise) mit 34 und 41 Jahren ihre Hochphase als Leistungssportlerinnen bereits hinter sich haben.
Leider gibt es zu viele Fälle aus der Vergangenheit, die gezeigt haben, dass weibliche Stars des Fußballs weniger aufgrund ihres spielerischen Talents, sondern vielmehr aufgrund ihrer Körpereigenschaften auf sich aufmerksam machen. Fußball spielenden Frauen wird in den Medien häufig erst dann Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sich die Themen um ihr erotisches Aussehen, ihre vermeintliche sexuelle Orientierung oder um ihr angeblich unangebrachtes burschikoses Auftreten drehen. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Model-Fußball, der in den 90er Jahren in den brasilianischen Medien bekannt wurde. Als Aufnahmekriterien zählten weniger die spielerischen Leistungen, als vielmehr das Äußere der Frauen. Fußball wurde mehr als Trend denn als Leistungssport betrieben. Die Qualität und Sichtbarkeit des Frauenfußballs nahm stark ab. Potenzielle Talente wurden in die zweite Liga abgestuft und blieben hier lange Zeit unentdeckt, da die Gelder zur Professionalisierung der Spielerinnen fehlten.

Der Frauenfußball braucht neue Idole, die die Menschen mit ihrem Fieber für den Sport anstecken


Nicht nur an diesem Beispiel ist zu erkennen, dass die finanzielle Budgetplanung der FIFA stark von der Medienberichterstattung und den damit zusammenhängenden Quoten des öffentlichen Fernsehens abhängt. Je mehr Zuschauer*innen sich für den Frauenfußball begeistern lassen, desto mehr finanzielles Interesse entsteht. Nun stellt sich die Frage: Wer schaut sich Frauenfußball an und warum? Für sportlich interessierte Zuschauer*innen und Profis stehen sicherlich herausragende spielerische Leistungen, Kreativität und technisches sowie taktisches Können im Vordergrund. Doch diese Gründe allein erklären nicht den gesamten Zauber, der mit der Fußballfankultur einhergeht. Wenn Menschen Fußball schauen, dann sind sie unter anderem auf der Suche nach großen Emotionen, nach einem Gemeinschaftsgefühl, nach einer kollektiven Euphorie, oder zumindest der Hoffnung darauf. Finden nicht viele Zuschauer*innen im Fußball einen Raum zur Identifikation? Dafür braucht der Frauenfußball neue Idole, wie Endler und Banini, die die Menschen mit ihrem Fieber für den Sport anstecken. Ob es sich nun um eine 1,82 m große Torhüterin oder eine 1,62 m kleine Mittelfeldstürmerin handelt − die Beurteilung körperlicher Eigenschaften der Frauen tritt nur dann in den Hintergrund, wenn wir als Zuschauer*innen beginnen, auf das Talent und die Leidenschaft der Spieler*innen zu schauen. Erst dann können finanzielle Förderungen zur Ausbildung von Trainerinnen und Schiedsrichterinnen und der Aufbau von weiblichen Fußball-Ligen erfolgreich in die Wege geleitet werden.

 

VOM KONTINENT ABYA YALA

Auf eine erfrischende Weise reflektiert Silvia Rivera Cusicanqui aktuelle Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung. Ihre Erkenntnisse bieten gleichzeitig Lösungsvorschläge an und machen das Buch zu einem notwendigen Debattenbeitrag.
Es gibt keinen Diskurs über Dekolonisierung ohne die zugehörigen Praktiken „unserer Gesten, unserer Taten und der Sprache“. Diese Botschaft steht im Zentrum der Texte, die das Buch zum Teil erstmalig auf deutsch zugänglich macht. Obwohl postkoloniale Studien auf den Lehrplänen vieler Universitäten im globalen Norden stehen, wird eine Trennung zwischen dem akademischen Diskurs und dem „Dialog der aufständischen Kräfte der Gesellschaft etabliert“, beschreibt die bolivianische Soziologin und Aktivistin Silvia Rivera Cusicanqui. Sie holt damit die politische Dringlichkeit des Handelns aus der (akademischen) Versenkung und stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, die sie „eine Wissenschaft des Lebens“ nennt.

Worte im Kolonialismus benennen nicht, sondern sie verschleiern

Rivera Cusicanqui gehört damit zu den wenigen Sozialwissenschaftler*innen, deren intellektuelle Arbeiten nicht nur durch eigene Erfahrungen in widerständigen und subalternen Gruppen inspiriert wurden, sondern darüber hinaus ihr Wirken in deren Dienst stellen. Sie beteiligt sich an der Denunziation und Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen sowie an der Verteidigung indigener Rechte seit den 1980er Jahren. Damals gründete sie eine Forscher*innengruppe mit dem Namen Taller de Historia Oral zur mündlich überlieferten Geschichte Boliviens, die seitdem die hegemoniale Geschichts­schreibung mit „dissidenten Erinnerungen“ he­rausfordert und erweitert.
Das Buch versammelt vier akademische Aufsätze in unprätentiöser Sprache, die ver­deckte (neo)koloniale Hand­lungen sichtbar machen und ebenfalls Vorschläge zu deren Überwindung liefern. Rivera Cusicanqui analysiert dafür die Zeichnungen eines indigenen Chronisten des frühen 17. Jahrhunderts und reflektiert euphemistische Praktiken des Neokolonialismus der Gegenwart.
Waman Puma de Ayala schrieb zwischen 1612 und 1615 einen über tausendseitigen Brief an den spanischen König, der hunderte Zeichnungen enthielt. Ein paar davon sind im Buch abgedruckt und werden von Rivera Cusicanqui mithilfe ihrer Soziologie des Bildes analysiert, denn Worte im Kolonialismus „benennen nicht, sondern sie verschleiern“. So zeigt sie in den Bildern einerseits die extremen als auch subtilen Mechanismen der Unterdrückung und Ausbeutung auf. Waman Puma benutzt dafür die Metapher der „umgekehrten Welt“ (Mundo al Revés), in welcher die soziale Ordnung der Inka durch die spanischen Invasoren umgedreht wird: Aus einer indigenen Gesellschaft, „verstanden als gerechte Ordnung und >gute Regierung<“ wird im Kolonialismus Erniedrigung und Unordnung. Andererseits verraten die Zeichnungen viel über die prähispanische Ordnung der indigenen Gesellschaft und vermitteln zudem Eindrücke von der gegenseitigen Fremdwahrnehmung zwischen den Inkas und den Konquistadoren – „das Nicht-Menschsein des Anderen.“
In der hier abgedruckten Zeichnung fragt der Inka-Herrscher Wayna Qhapaq den Spanier Cando: „Dieses Gold isst du?“ Candia antwortet: „Dieses Gold essen wir.“. In Verbindung mit dem Angriff auf den letzten Inka-Herrscher Atahualpa schlussfolgert Rivera Cusicanqui: „Die Fremdheit, das Erstaunen und der Gedanke an eine kosmische Katastrophe scheinen der Grund für die Hilfslosigkeit der Tausenden Soldaten des Inka zu sein; sie konnten das Heer von gerade einmal 160 Mann, aber ausgerüstet mit unbekannten Waffen und Tieren, nicht besiegen.“
Einen weiteren Schwerpunkt setzt sie durch den Begriff des „internen Kolonialismus“, mit welchem sie die Internalisierung der Werte der Unterdrücker*innen beschreibt. Sie plädiert für die Entwicklung eigener Ideen und Reflexionen, die sich nicht von den (akademischen) Machtzentren der nördlichen Hemisphäre abhängig machen. Sie zeigt beispielhaft wie Ideen aus Abya Yala – wie der amerikanische Doppelkontinent aus einer eigenen Kosmologie heraus bezeichnet wird – von Wissenschaftler*innen in den nördlichen Universitäten aufgegriffen und in einen unpolitischen Diskurs über Verschiedenheit übersetzt werden. Stattdessen verweist sie auf Ideen der Aymara in Bolivien, die sich zum Beispiel in dem Begriff Ch‘ixi finden. Etwas kann gleichzeitig sein und nicht sein. Das Mestizische oder ch‘ixi vereint „die indigene Welt mit ihrem Gegenteil, ohne sich jemals damit zu vermischen.“ Sie wendet den Begriff als Gegenrede und Alternative zum Begriff Hybridität von García Canclini an (siehe LN 514) und betont: „Der indigene Vorschlag für die Modernität basiert auf einem Verständnis der Staatsbürgerschaft, das nicht Homogenität, sondern Differenz sucht.“
Rivera Cusicanquis scharfe Analysen und ihre konsequente Haltung lassen sich auch an ihrer persönlichen Erfahrung nachvollziehen. So beschreibt sie als prägend für ihre Biografie die Beziehung zu ihrer Kinderfrau Rosa ihres mittelständischen Elternhauses in der Hauptstadt La Paz der 1950er Jahre. Sie hielt die Hausangestellte ihrer Eltern bis zu deren Tod für ihre tatsächliche Mutter. Die Eltern reagierten mit Geringschätzung gegenüber Rosa, welche eine indigene Aymara war. Das sollte die emotionale Bindung zu ihrer Tochter durchbrechen und die „rassistisch-klassizistische Gesellschaftsordnung“ wiederherstellen, die aus ihrer Tochter eine Señora machen sollte. Doch das führte Rivera Cusicanqui dazu sich sowohl von den Erwartungen ihrer Eltern als auch von der Verachtung gegenüber der indigenen Bevölkerung zu distanzieren. „Mir ist das mit dem >Blut< egal. Ich hasse dieses Reden über >Blut<. Denn ich denke, dass meine Identität durch das Leben in der Gegenwart bestimmt ist.“

 

MAUER MIT BLUMEN BEMALT

Die Idee, ausgewählte Gedichte des Chilenen Enrique Winter aus drei verschiedenen Bänden ins Deutsche zu übersetzen und in einem Band zu veröffentlichen, kam den Übersetzer*innen Léonce W. Lupette, Sarah Otter und Johanna Schwering nach Winters eindrucksvoller Performance beim Poesiefestival Latinale 2012 in Berlin. Die Übersetzung ist nun nach jahrelangem Arbeitsprozess erschienen und der Koproduktion entsprechend so vielstimmig wie der Text selbst.

Die thematische Bandbreite erschwert es, dem Band in wenigen Worten gerecht zu werden. Die Reise, die Landschaft, die Tiere, Mauern, Faschos im Alltag, Tränengas: Lateinamerika. Die Vielseitigkeit der Themen lässt sich vielleicht durch drei Begriffe auf den Punkt bringen, die über all diesen Schlagwörtern schweben: Zerrissenheit, Vergänglichkeit und Abwesenheit. „Die Beständigkeit ist zerbrechlich“ und alle menschlichen Bindungen sind vergänglich, das ist Winters Appell.

Enrique Winter, geboren 1982 in Santiago de Chile, ist in Valparaíso aufgewachsen und war unter anderem als Verleger und Anwalt tätig. Sein Werk umfasst mehr als 100 Publikationen in sechs Sprachen, darunter Gedichte, Übersetzungen, Videos und ein Roman. So unmittelbar eindrucksvoll Winters Performances sind, die Lektüre seiner Gedichte erfordert etwas Geduld, da sie sich zum Großteil nicht gleich erschließen, sondern über subtile Andeutungen funktionieren. Die Sprache ist teils geradezu hermetisch und lebt von Metaphern und Gedankenfetzen, die Interpretationsspielraum lassen. Die plastischen Bildformationen sind jedoch trotz aller Offenheit immer gewaltig und scheinen auf etwas Großes hinzuweisen, wenn auch oft nicht klar wird, auf was genau. Und genau das ist Winters große Stärke.

Seine Texte hinterlassen von Beginn an ein diffuses Gefühl: Das Bild des ewig am Strick pendelnden und dennoch vergessenen Großvaters eröffnet den Band. Leben und Lesen ist hier ein Balanceakt, der zwischen gegensätzlichen Polen pendelt.

Viele der Texte nehmen uns mit auf eine Busreise durch Lateinamerika und seine Geschichte. Mauern werden zwar umfahren, sind aber immer präsent. Die Gefahr, dem reinen Tourismus zu erliegen, lauert überall. „Ja, es ist ein Unheil, wie Besuch durchs Leben zu gehen“, heißt es.

Andere Gedichte sind größtenteils im Chile nach der Militärdiktatur situiert und erzählen Anekdoten aus dem Leben der Arbeiter*innen. Winter kommentiert auf subtile Art die sozialen Konstellationen, lässt die Verschwundenen der Diktatur aufleben, ohne diese jemals wirklich zu benennen. Alles ist von einer dichter Bildsprache durchzogen. Einige der Gedichte beziehen sich aufeinander, so ist beispielsweise Der Himmel ist kleiner als die Wolkenkratzer aus Versen anderer Gedichte Winters zusammengesetzt. Neu angeordnet und miteinander vermischt entstehen völlig neue Bilder. Die Vielseitigkeit der Themen wird von der Vielstimmigkeit der Figuren begleitet. Unterschiedliche Personen kommentieren die Ausführungen des Lyrischen Ichs, unter anderem die von Miguel, der sagt: „Ich war alles, nichts lohnt sich“. Auch formal ist Winters Lyrik experimentierfreudig, einige Gedichte erinnern an Kurzgeschichten, in anderen sind textuelle Lücken im Text auch inhaltliche, die die Leser*innen selbst ausfüllen müssen. An die Notwendigkeit, diese Leerstellen im Text und im Leben mit Leben zu füllen, erinnert uns Enrique Winter immer wieder.

(ÜBER-)LEBEN IM TRANSIT BEREICH

In der Debatte über Migration in Lateinamerika liegt der Fokus oft auf Mexiko und der Situation mexikanischer Migrant*innen auf ihrem Weg in die USA. Im vorliegenden Band hingegen wird Mexiko als Transitraum, als Durchgangsstation für Migrant*innen aus mittelamerikanischen Ländern wie Guatemala, Honduras und El Salvador analysiert. Der Sammelband bündelt Aufsätze, in denen unterschiedliche Aspekte der Migration in und durch Mexiko genauer beschrie­ben werden und beleuchtet die Faktoren, die zur Migration führen, Gefahren, denen Trans­­­­­migrant*innen auf ihrem Weg durch Mexiko ausgesetzt sind, aber auch Perspektiven, die manche Menschen unverhofft dort finden.

Der Band ist als Produkt eines Lehrforschungsprojekts der Universitäten Münster und Kassel in Zusammenarbeit mexikanischer und deutscher Autor*innen entstanden und in vier Themenbereiche gegliedert. Im ersten Teil geht es um die strukturellen Gegebenheiten, politischen Entscheidungen und Akteur*innen, die Mexiko zum Transitraum werden lassen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die im zweiten Teil geschilderten persönlichen Erfahrungen einiger Migrant*­innen besser einordnen. Im dritten Teil geht es spezifisch um die Grenzräume an der Süd- und Nordgrenze Mexikos. Zuletzt werden Gruppen von Migrant*innen an der Südgrenze näher betrachtet.

Für diese Grausamkeiten wird es niemals zufriedenstellende Antworten geben

Eine Besonderheit des Buches liegt darin, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen und deren eigene „Transit- und Abschiebegeschichten“ abzubilden, wodurch ein vielschichtiges Bild entsteht. Manche entscheiden sich in Mexiko zu bleiben und finden dort ein neues Leben, andere erleiden furchtbare Gewalt. Zudem finden unterschiedliche Formate Eingang in das Buch, wie die Fotos einer Ausstellung über den Weg illegalisierter Migrant*innen gen Norden oder ein Interview mit einem Zentrum für die Begleitung von Migrant*innen. Außerdem werden die Perspektiven unterschiedlicher Gruppen mit ihren jeweiligen Herausforderungen geschildert, beispielsweise aus einer spezifisch weiblichen Sicht oder aus der Erfahrungen Jugendlicher und Indigener heraus.

Die Herausgeber*innen zeigen die Komplexität des Themenfeldes auf, die Wechselwirkungen von Politiken sogenannter Aufnahme- und Entsendeländer in einer globalisierten Welt, in der sich der Transitraum Mexiko nicht ohne den geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext des gesamten Kontinents verstehen lässt. So wird auf die Bedeutung von Migration in der Politik und die Folgen politischer Entscheidungen für Migrant*innen eingegangen, z.B. mit Fokus auf US-Präsident Trump und seine Politik der Abschottung und Ausweisung. Oder auf das Spannungsfeld Mexikos zwischen der Erfüllung US-amerikanischer Forderungen, bestehender Abhängigkeiten und der erwarteten Solidarität mit den mittelamerikanischen Migrant*innen.

Es werden konkrete Gewalttaten gegen Transmigrant*innen und die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit zur Aufklärung aufseiten der mexikanischen Behörden geschildert. Viele Migrant*innen und ihre Familien werden Opfer der Kartelle, die ihr Geschäft in den letzten Jahren auf Erpressung und Menschenhandel ausgedehnt haben. Außerdem kommt es immer wieder zu Massakern und dem massenhaften Verschwinden-Lassen von Menschen auf ihrem Weg durch Mexiko. Für diese Grausamkeiten wird es niemals zufriedenstellende Antworten geben. Einen Erklärungsansatz sieht Herausgeber Hanns Wienold in dem in Mexiko historisch schwach ausgeprägten Gewaltmonopol des Staates.

Wer mehr über die spezifische Situation Mexikos als Durchgangsstation oder ungeplanten Bleibeort erfahren möchte, findet in TRANSIT Mexiko vielfältige persönliche Geschichten, sowie wissenschaftlich fundierte Analysen zu den politischen Umständen.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

GELIEBTE ERDE

Die Wege meiner geliebten Heimat Kolumbiens gehend

Lernte ich deine Geheimnisse kennen, dein Innerstes

Offene Arme eines weiten Berges, der meine Nächte beschützte und mir Erholung schenkte nach den langen Tagen

Grüner Umhang wie der Schoß der alten Mutter?

Wieviele Nächte warst du Zeuge meiner Ängste, Träume, Freuden und Unruhen?

Wie viele Nächte und Tage warst du in der Schlacht, in der der Krieg ohne Milde dir, mit Bomben, Raketen und Granaten, die ruhige Stille aus deinem Inneren stahl?

Und trotzdem warst du immer diese alte Mutter, die mit offenen Armen ihre Söhne und Töchter empfing, jene, die zwischen Helecho und Palmas geboren wurden

Geliebte Erde!

Heute bitte ich um Entschuldigung, dich verletzt zu haben

Als ich voller Ignoranz deine Kinder verstümmelte und tötete, jene die du in deinem Busen behalten hast, als jene Mutter, die sich voller Hingabe um ihre Kinder kümmert: sie vor dem Perversen zu schützen, der nicht zögert, sie zu misshandeln.

Ich umarme dich heute liebevoll und spreche aus, was mir auf der Seele liegt:

Dass ich aus dir einen großen grünen Berg machen werde

Ein warmes Nest für alle

Wie der Schoß der alten Mutter

 

IM ZEITALTER DER MIGRATION


„Die Migration ist ein gutes Geschäft, eine neue Form der Kapitalakkumulation.“ Dieser Aspekt wird oft übersehen, wenn es Politiker*innen darum geht, die heimische Gesellschaft oder Wirtschaft vor Menschen aus dem Ausland abzuschotten. Gemeint ist hier vor allem der nordamerikanische Nachbar Mexikos, die USA. Es wird besonders an der sogenannten illegalen Migration verdient, einerseits von US-amerikanischen Firmen militärischer Industrien, andererseits von Gruppen der organisierten Kriminalität in Mexiko. Es werden hunderte Kilometer Zäune oder gar Mauern gebaut, Grenzpersonal zu Tausenden eingestellt, Drohnen gebaut und so weiter. Darüber hinaus hängt die Landwirtschaft der USA zur Erntezeit von billigen Arbeitskräften aus dem Süden ab. Auf mexikanischer Seite verdienen vor allem die im Norden tätigen Verbrechersyndikate auf skrupellose Weise an den millionenfachen Versuchen, die Grenze zu übertreten.

Eigentliches Ansinnen des Buches ist es zwar nicht, den ökonomischen Aspekt lateinamerikanischer Migration zu beleuchten, die eingangs zitierte These wird allerdings heute, im „Zeitalter der Migration“, viel zu selten diskutiert. Der Autorin Raina Zimmering geht es vor allem um Ursachen für lateinamerikanische Migration in die USA sowie um die Migrationspolitik der beiden Nachbarn und mittelamerikanischer Länder. Zudem werden eingangs psychologische Grundlagen von politischen Haltungen zur Migration besprochen. Die Unterscheidung, welche vom Völkerrecht zwischen Flüchtenden und Migrant*innen gemacht wird, vernachlässigt die Autorin, wegen der engen Verzahnung zwischen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gründen für ein Verlassen der Heimat. Überhaupt lägen die wichtigsten Ursachen heutiger Migration in den Folgen neoliberalen

Globalisierung. Für eine systematische Betrachtung wird auf die „Push-und-Pull-Theorie“ der Migration zurückgegriffen. Push-Faktoren zeigen an, warum Menschen ihre Heimat verlassen, Pull-Faktoren warum sie in ein bestimmtes Land gehen. Die Push-Faktoren beschreiben Migrationsursachen, welche die Autorin in erster Linie in der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung sieht, neben Armut und Umweltzerstörungen durch neoliberale Ressourcenpolitik. Gerade in der Verbindung dieser Faktoren mit dem organisierten Verbrechen und zunehmender Militarisierung bestehe das nun in den Vordergrund tretende Problem der Gewalt. Anhand der Unterscheidung von Fluchtursachen (Push) und Versuchen der Migrationsabwehr (Anti-Pull) geben die oft kurzen Kapitel einen recht umfangreichen Überblick zu einem Thema, welches auch europäische Länder nachhaltig beschäftigt.

Der Blick nach Europa zeigt sich einerseits in dem Vergleich der US-amerikanischen Migrationsabwehr mit den Strategien der EU. Denn die Errichtung von Auffanglagern in den Herkunftsländern wie Mexiko, Honduras, Guatemala oder El Salvador ließe sich mit der „Errichtung eines Ringes von Migrationslagern um Europa in den Ländern Nordafrikas und Asiens“ vergleichen. Zweitens zeige sich, dass Migration nicht durch verstärkte Abschottungs- und Abschreckungsmaßnahmen einzudämmen ist“. Denn in Reaktion darauf suchen Migrant*innen neue und gefährlichere Wege der Emigration, die Menschenrechtsverletzungen zunehmen lassen und Wirkungsbereiche für das organisierte Verbrechen eröffnen.

Reizvoll ist an dem Buch auch der Verweis auf die Aneignung öffentlicher Räume durch soziale Bewegungen, „die eine andere Kultur des Zusammenlebens praktizieren“ und den Push-Faktoren trotzen.

// FALSCHES SIGNAL

In Deutschland regen sich alle darüber auf, aber die wirklich Leidtragenden leben in Lateinamerika. Die Rede ist von Glyphosat. Das Herbizid und Menschengift wurde für weitere fünf Jahre von der EU-Kommission zugelassen. Wer diesen Schritt verteidigt, weist darauf hin, dass das Pflanzenschutzmittel von deutschen, europäischen und internationalen Behörden als unbedenklich eingestuft wurde. Die Einschätzung der Internationalen Krebsforschungsagentur (IARC), die 2016 Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend“ bezeichnet hat, relativieren sie mit dem Argument, dass die IARC nur sage, ob etwas generell krebserregend sein könnte. In welchen Mengen Menschen den Stoff dann zu sich nehmen müssen, um wirklich Gefahr zu laufen, an Krebs zu erkranken, sei damit nicht gesagt. Gerne vergleichen die Verteidiger*innen von Glyphosat das Unkraut-Gift mit Wurst oder rotem Fleisch. Auch diese beiden Lebensmittel seien laut IARC wahrscheinlich krebserregend. Und schließlich möchte ja niemand Wurst verbieten, nicht wahr? Na also. Eine völlig hysterische Debatte.

Die Kritik an Glyphosat ist aber nicht hysterisch, sondern extrem wichtig: Erstens geht es nicht nur um uns. Es geht nicht nur darum, wie viel von dem Gift im Urin einzelner EU-Bürger*innen auftaucht. In Ländern wie Argentinien und Brasilien wächst ein Großteil des Sojas, mit dem die deutsche Fleischindustrie am Laufen gehalten wird. Zwischen 2008 und 2010 nutzte Deutschland durchschnittlich eine Fläche von 4,4 Millionen Hektar Land in Südamerika für die Produktion von Futtermitteln. Dort sind Menschen auf ganz andere Weise Glyphosat ausgesetzt. Mit Flugzeugen versprühen die Firmen das Gift auf den in Monokultur wachsenden Plantagen. Wer in einem Dorf wohnt, das an diese Plantagen angrenzt, kommt direkt mit dem Herbizid in Kontakt. Die Folgen sind ein massiver Anstieg an Krebserkrankungen, an Fehlbildungen bei Kindern, an Fehlgeburten. Argentinische Forscher*innen halten den Zusammenhang zwischen dem Agrargift und den Erkrankungen für erwiesen. Eine Entscheidung in der EU hätte Auswirkungen auf Importe aus Argentinien, so dass auch dort der Umgang mit Glyphosat überdacht werden müsste. Und es wäre ein wichtiges Signal für all jene Menschen in Südamerika, die sich gegen die Vergiftung ihres Lebensraumes wehren.

Zweitens steht Glyphosat für eine industrialisierte Landwirtschaft, die nicht nachhaltig ist. Sie schadet Insekten, die für ein Fortbestehen allen Lebens unverzichtbar sind. Sie befördert das Artensterben. Die Nitratbelastung im Grundwasser ist zu hoch. In der industrialisierten Fleischwirtschaft werden so viele Antibiotika verfüttert, dass zunehmend resistente Keime entstehen, die hochgefährlich sind. Und schließlich: Der Anteil der Pflanzen, die resistent gegen Glyphosat sind, steigt stetig. Die Entscheidung für Glyphosat ist daher auch eine Entscheidung für diese Form der Landwirtschaft und gegen nachhaltige Entwicklung. Diese wäre sicher nicht automatisch durch ein Glyphosat-Verbot gefördert worden. Es gibt auch andere chemische Herbizide. Aber auch hier wäre ein Verbot ein Signal gewesen für einen Richtungswechsel in der Landwirtschaft.

Und schließlich steht Glyphosat für ein Oligopol der Herstellerfirmen, das durch die Fusion von Bayer und Monsanto gerade noch mächtiger wird. Diese Firmen behindern nachhaltige Entwicklung, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Das Saatgut der Chemie-Riesen muss jede Saison neu gekauft, immer neues Land urbar gemacht, immer neuer Dünger aufgebracht werden. Die Anbaupflanzen sind weniger vielfältig, weniger anpassungsfähig. Und wir haben noch nicht angefangen, darüber zu sprechen, was diese Form der Landwirtschaft mit den Menschen macht.
Es geht also nicht um Giftrückstände in unserem Urin. Es geht um eine nachhaltige Entwicklung für alle Menschen auf der Welt. Und der hat Landwirtschaftsminister Christian Schmidt gerade den Mittelfinger gezeigt. Darüber müssen wir uns aufregen.

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