“Wohnen” auf stinkenden Mülldeponien

“Im März 1992 be­setzten 600 Fa­milien in den Rand­bezirken von Lima Land, das vormals als Müll­platz diente. Sie bauten über Nacht Unterkünfte aus Stroh­hütten. Die Polizei vertrieb die Familien und zerstörte die Hüt­ten, aber die Familien kehrten zurück… Die Sze­ne wiederholte sich mehrere Male, die Men­schen kehr­ten jedesmal zurück. Sechs Mo­nate später war das Land mit den Behausungen von 100.000 Personen besetzt.”
Mit dieser Be­schreibung als Grund­lage quali­fizierte der Be­völkerungsfonds der Vereinten Nationen in seinem Bericht zur Lage der Welt­be­völ­ke­rung vom ver­gangenen Jahr die Hauptstadt Perus mit ihren sechs Millionen Ein­woh­nerInnen als “unhaltbare Stadt”. Ein Blick in die Umge­bung von Lima läßt die/den un­vorbereitete/n Be­sucherIn ver­muten, fehlender Wohnraum sei das Hauptproblem Limas – jener Stadt, die einst DichterInnen und Schrift­stel­lerInnen wegen ihrer sprich­wört­lichen Schön­heit in­spirierte. Heute wächst sie in­mitten von Un­ordnung, fehlender Pla­nung und Um­welt­zerstörung. In Wirklichkeit ist dies aber nur eine weitere offen­kundige Kom­ponente einer seuchenartigen Krank­heit, die von den Exper­tInnen “extreme Armut” genannt wird.
Hütten, die an den Bergen kleben, stellen offen ihre Mängel zur Schau . Es sind stinkende ärmliche Be­hau­sungen, in denen zehn bis zwölf Personen in ei­nem Raum leben. Tau­sende von Menschen wohnen buch­stäblich auf dem Müll. Die An­sied­lungen werden ironischerweise “junge Dörfer” genannt und zeigen deutlich den Stand der Armut in die­ser Hauptstadt. Laut dem Zensus von 1993 stieg innerhalb von zwölf Jahren der Anteil der “impro­vi­sier­ten Woh­nun­gen” von 1,3 auf 9,6 Prozent. Unter diesen schön­färbenden Begriff fallen Wohnungen aus Stroh, Pappe und Plastikfolien. Die Zahl der Grundstücke, “die nicht zum Wohnen geeignet sind”, wuchs ebenfalls von rund 6.000 auf 14.000. Allein im Zentrum von Lima existieren mehr als 10.000 ärm­liche Unterkünfte, die von den Be­hörden für Zivil­schutz als un­bewohnbar erklärt wurden.
Leben in Boca Negra
Die Familie Lopez ist ein ty­pisches Beispiel für die Entbeh­rungen, mit denen sich die Be­wohnerInnen in extremer Armut in der peruanischen Hauptstadt herum­schlagen müssen. Ihre Ge­schichte gleicht den Ge­schichten von sieben der zehn “Limeños” (BewohnerInnen von Lima), die laut Statistik als “arm” gelten: Ge­legenheitsarbeiterIn, mit Ein­künften, die 100 Soles (weniger als 50 US-Dollar) mo­natlich nicht über­steigen. Drei Kinder, Ehefrau, Eltern und ein behin­derter Bruder müssen unter­halten werden. Die Lopez leben in einer Hütte aus Stroh in einem der ärmsten Elendsviertel Limas: Bocanegra (schwarzer Schlund). Er­rich­tet auf einer ehemaligen Müll­kippe am Fluß Rímac, ist der Ort von den mehr als 32 Mülldeponien und ehemaligen Minen in der Nähe hochgradig vergiftet.
“Wenigstens sind wir in der Hauptstadt”
“Wir essen mit­tags in der Volks­küche, ein Frühstück gibt es nicht. Für die Kleinen ja, weil sie an dem Pro­gramm ‘Ein Glas Milch’ teilnehmen” (das den Kindern im Schulalter und schwangeren Frauen ein kosten­loses Frühstück be­wil­ligt), er­klärt Adelaida, die Ehe­frau. “Wir wissen, daß dies vor 20 Jahren eine Müllkippe war, so haben wir uns mit allem hier abgefun­den”, versucht sie, zu scherzen. “Wir haben nichts, wohin wir gehen können. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn wir zu­rückgingen, aber dort ist es schlechter als hier, wenigstens sind wir in der Hauptstadt”.
Adelaida und ihr Mann Jorge stammen aus der Provinz Chim­bote, der ärmsten Region des Landes. In ihrem einzigen Raum von etwa zehn Qua­dratmetern wohnen sie mit Hühnern, “die uns am Wochen­ende ver­sor­gen”, und ei­nem Hund, “der uns vor den Ratten schützt”. Die Kälte halten sie durch mit Plastikbeu­teln überzogene Matten ab, “die uns außerdem vor den Spinnen schützen.” Drei Betten, einige Pappkartons mit Kleidung, ein Stuhl und ein Tisch, auf dem sich Hausgeräte und ein Kero­sinkocher türmen, vervollständi­gen das Mobiliar. “Wir leben schon seit zehn Jahren so. Wir kennen es nicht anders, wir kön­nen es auch nicht”, fügt Adelaida resigniert hinzu. Bezüglich der Krankheiten hat sie eine ganz spezielle “Philo­sophie”: “Immer stirbt man an irgendetwas. So­lange es möglich ist, muß man leben und die Ernährung der Familie sichern.”

Der Kinderarzt Augusto Arr­untegui, ehe­maliger Direktor der öffentlichen Wohlfahrt des Ha­fens von Callao, zu dem Boca­negra gehört, kennt die Situation in den Armenvierteln. Er rechnet Allergien, Atemwegserkrankun­gen, parasitäre Infektionskrank­heiten, Tu­ber­ku­lose und sogar Hirn­haut­ent­zün­dung zu den Krankheiten, die eine Folge der Menschenanballung sind. Man schätzt, daß in Callao bis zu ei­nem halben Dutzend Müllkippen existieren, auf denen Wohnsied­lungen gegründet wurden. Der unerträgliche Gestank, die Mük­ken, der Drogen­konsum und die wachsende Krimi­nal­ität sind cha­rak­teristisch für dieses Gebiet und geben ein Bild von der Um­gebung, in der Tausende von Menschen zur Welt kommen, auf­wachsen und ster­ben.
48 Prozent der Kinder sind chronisch unterernährt
Die Zahl der chronisch Unter­ernährten in diesen Zonen wächst. Nach einem nationalen Zensus unter SchülerInnen im vergangenen Jahr leiden 48 Pro­zent von ihnen im Alter zwi­schen sechs und neun Jahren unter chro­nischer Unterernäh­rung. Der überwiegende Teil da­von, etwa 84 Prozent, lebt in den Elends­vierteln. Nach einer Stu­die ver­wenden die ärmsten Fa­milien Limas zwei Drittel ihrer finanziellen Mittel für die Ernäh­rung, können sich aber nur die billigsten Grund­nahrungsmittel lei­sten: Brot, Reis, Kartoffeln und Zwiebeln. Nudeln und Rind­fleisch kommen gelegentlich bei denen auf den Tisch, denen es etwas besser geht. Früchte z.B. gibt es ganz selten.
Empfehlungen einer ange­messenen Preis­politik für die Grundnahrungsmittel wie Milch, Fisch, Gemüse und Knollen­früchte sind eine Utopie ange­sichts der derzeitigen Wirt­schaftspolitik Perus. Überein­stimmend weisen ver­schiedene Be­reiche darauf hin, daß die So­zial­politik der Re­gie­rung im Be­reich der extremen Armut ver­sagt. Im vergangenen Jahr wur­den nur 2,7 Prozent des Brutto­sozial­pro­duk­tes für die sozialen Be­lange dieser Sek­tor­en aufge­wen­det. Laut einer Definition des peruanischen Sta­tis­tikinsti­tutes gilt eine Person in Peru als “extrem arm”, wenn sie ihre mi­nimalsten Be­dürf­nisse wie Woh­nen, Ge­sund­heit und Bildung nicht decken kann. Fast ein Viertel der 23 Millionen Perua­nerInnen be­findet sich in dieser Situation. “Arm” sind demnach 53 Prozent.
Untersuchungen verschiede­ner ExpertInnen und Nichtregie­rungs­organisationen (NGOs) weisen da­rauf hin, daß sich diese Situation in 20 Jahren ver­bessern würde, wenn das Brutto­sozial­produkt um drei Prozent jährlich stiege. Bei fünf Pro­zent träte die Verbesserung nach zwölf Jahren ein, aber bei nur ein Prozent wür­den 60 Jahre benötigt. Ein Glück für Präsident Fujimori, daß nach Schätzungen von inter­nationalen Organisationen das Wachstum des Bruttosozialpro­duktes in die­sem Jahr 6,8 Pro­zent beträgt. Doch dem gingen sechs Jahre negatives Wachstum voraus. Und eine internationale Institu­tion wie der “Rat für wirtschaft­liche Zusammenarbeit der Pazi­fikstaaten” befürchtet, die wach­sende politische und ökonomi­sche Stabilität Perus werde sich wahr­scheinlich “in mehr auslän­dischen In­vesti­tionen und im Tourismus nieder­schlagen, doch das hohe Ar­mutsniveau und die Arbeits­losigkeit können andau­ern… Für öffentliche Aus­ga­ben­programme wird das Geld feh­len”.

“Wir erkennen an, daß die Regierung viel für die Terroris­mus­be­kämpfung gemacht hat, aber es ist an der Zeit, daß sie sich auch um solche wie uns kümmert, die an Hunger sterben. Es gibt keine Arbeit. Sie nehmen uns die Hilfsprogramme weg. Wo werden wir bleiben? Was wird aus unseren Kindern?” Das sind die verzweifelten Fragen von Adelaida Lopez. Von den Behörden erhält sie darauf zur Zeit keine Antworten.

Editorial Ausgabe 250 – April 1995

Als die sandinistische Armee Nicaraguas im Frühjahr 1988 in einer großangelegten Offensive die Contra-Banden aus dem Norden des Landes verjagte und dabei einigen Einheiten auch über die Grenze nach Honduras folgte, da dauerte es keine 24 Stunden, und die USA waren mit ihrer berüchtigten 82. Luftlandedivision zur Stelle – “auf Bitten” einer verschüchterten honduranischen Re­gierung, die zunächst gesagt hatte, sie wisse nichts von einer nicaraguanischen Invasion, nach acht Stunden Bearbeitung durch den US-Botschafter in Tegucigalpa aber dringend um Hilfe gegen den nicaraguanischen Einmarsch bat.
Als Nato-Partner Türkei Mitte März mit 35.000 Soldaten, unterstützt von der Luftwaffe und schwe­rer Artillerie auf der Su­che nach Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdi­stans (PKK) in den Nordirak einmarschierte, ließ die US-Regierung verlauten, sie habe “volles Ver­ständnis” für die “Sicherheitsbedürfnisse” der tür­kischen Seite, doch möge sich die türkische Armee bitte bald zu­rückziehen. Dabei hat die US-Regie­rung selbst Probleme, ihrer eigenen Öffentlichkeit zu erklä­ren, warum die Kurden im Nordirak seit dem Golfkrieg vor An­griffen des Irak geschützt werden, die türkische Armee aber im gleichen Ge­biet mit Kampfbom­bern mutmaßliche PKK-Lager unter Feuer neh­men darf und die aus Tür­kisch-Kurdi­stan geflohenen ZivilistInnen erneut verfolgt.
Nun war die US-Außenpolitik noch nie von mo­ralischen, ideologischen oder gar ethischen Grundsätzen geleitet, außer von dem Grundsatz der Machtausübung und deren Durchsetzung – und insofern würde all das nicht Wunder nehmen, wenn denn klar zu verstehen wäre, was die USA eigentlich strategisch in der Region erreichen wollen.
Da setzen die USA ein ums andere Mal im UN-Sicherheitsrat durch, daß das Embargo gegen den Irak wieder um einige Monate verlängert wird, obwohl Frankreich und andere Staaten längst auf dessen Aufhebung drängen. Da zeigt die US-Re­gierung volles Verständnis für die türkische Militär­offensive, während ein Republikaner im Unterhaus die Einstellung der Hilfe für die Türkei wegen der Menschenrechtsverletzungen fordert.
Die türkischen Generäle bauen darauf, daß die türkische Armee entweder selbst eine “Pufferzone” im Nordirak errichten kann oder aber die iraki­schen Militärs wieder die Kontrolle über die Schutzzone über­nehmen und die Grenze zur Türkei militärisch si­chern. Und so sind die USA nach ei­ner Politik, die ziellos irgendwie Einfluß sichern will, endgültig im Zugzwang. Das Ergebnis sind konfuse Reaktionen und unsicheres Umhertapsen auf diplomatischem Feld.
Die Europäische Union ist da keinen Deut bes­ser. Deutsche Waffen sind auch im Nordirak mit dabei, der Außenminister will davon mal wieder nichts wissen. Der Innenminister läßt sich zwar von den Menschenrechtsorganisationen der Tür­kei detailliert die Praktiken des Folterstaa­tes ge­genüber der kurdischen Bevölkerung be­schreiben, nur um daraufhin zu verkünden, natür­lich könne man Kurden dorthin abschieben. Der Weg der Türkei, so befürchten viele, könnte eini­ges mit dem Lateinamerikas der siebziger zu tun haben: Eine Gesellschaft, deren innerer Zu­stand von den Mi­litärs bestimmt wird, deren in­ternationale Position aber vom strategischen In­teresse der westlichen Partner abhängt.
Die letzten Jahre haben verschiedene Arten von Konflik­ten gezeigt: Den der Großmacht gegen die kleine. Hier beschränkt sich die internationale Reaktion auf diplomatisch formulierte “Sorge” – siehe Rußland/Tschetschenien, Türkei/Kurdistan. Den der kleinen untereinander an der Peripherie: Hier ist die Reaktion entweder Nichtstun (Sudan), ent­setztes Nichtstun (Ruanda), die eigenen Mili­tärs ausprobieren (Somalia) oder herzlich Lachen (Peru/Ecuador). Den der kleinen am Rande der Metropole, wo mit Flüchtlingen zu rechnen ist: Hier wird die Demo­kratie verteidigt (Haiti). Und den in strategisch wichtiger Lage, wo die Macht­interessen der neuen Weltmächte aufeinander­treffen: Es ist noch nicht ausgemacht, wie man damit umgeht (Ex-Jugoslawien).
Mit der Propaganda der “neuen Welt­ordnung”, der Verteidigung der friedlich vor sich hinträl­lernden Völkergemeinschaft gegen etwaige Ag­gressoren, wie noch im Golfkrieg verkündet, hat all das nichts zu tun – was zu erwarten war.

Stabilität auf Zeit

Die kleine Minderheit von vier Millionen BürgerInnen, die nach Jahren der Deindustrialisie­rung und Deregulierung von der argentini­schen Mittelklasse noch übriggeblieben sind, haben wohl am mei­sten von der Währungs­stabilität profitiert. Gestiegene Gehälter in der Pri­vatwirtschaft und in leitenden Positionen der Verwaltung bei einer erleichter­ten Kreditaufnahme haben ihr Zugang zu den mo­dernsten Im­portprodukten ermöglicht. In den Jahren galoppierender Inflation unter der Regierung Alfonsín schien ein gewisser Nach­holbedarf entstanden zu sein, der in den letzten Jahren befriedigt werden kann wie zu Zeiten des “süßen Geldes” (plata dulce) unter der letzten Militärdiktatur. In erster Linie wurden die flüssi­gen Dollar-paritätischen Pesos in langlebige Konsumgüter, Ap­partements und Reisen umge­setzt.
Mehr denn je ist der Konsum nicht nur auf die unmittelbare Bedürfnis­befriedigung ausge­richtet, sondern darauf, das neu Erwor­bene zeigen zu können. Ein Auto sollte importiert sein, auch wenn auf dem heimischen Markt vergleichbare Qualität zu bekommen ist. Bei Bekleidung und Schuhen zählt nichts mehr als das sicht­bare Markenzeichen. Reisen werden danach gebucht, was gerade “in” ist. Dazu zählen Disneyland in Orlando, Florida, oder Cancun in Mexico.
Heute fährt der Mittel­klasse-Argentinier allerdings auch nach Punta del Este, in den uruguayi­schen Badeort der “Reichen und Schönen” des Cono Sur, und wenn’s nur für eine Woche ist.
Konsum und Image
als Lebensinhalt
Natür­lich wird auch an die Bedürf­nisse der Kinder gedacht. So rechnete das bedeutendste politische Wochenmagazin “Noticias” kürzlich vor, was die Spröß­linge der Mittelklasse so benötigen: Für Studium, Un­terhaltung, Bekleidung, Miete und Fahrtkosten kommen mo­natlich ca. 850 US-Dollar zu­sammen, etwa das Dop­pelte ei­nes argentinischen Min­destlohns.
Viele haben sich zur Erfül­lung dieser lang gehegten Wün­sche bis über die Oh­ren ver­schuldet. Selbstverständlich sind Kredite in US-Dollars aufzu­nehmen. An­sonsten gilt nach wie vor die beliebte Zah­lungsweise mit Kreditkarte, wobei man bis zur Abbuchung im besten Fall zwei Monate gewinnen kann, und es wird auf Raten gekauft.
An­gesichts seiner eigenen Ver­schuldungssituation resü­miert ein selbstkritischer Gesprächs­partner, die Ar­gentinierInnen hätten wohl eine ökonomi­sche Harakiri-Mentalität entwickelt: Was zähle, sei der Konsum im Augenblick, auch wenn die Verschuldung beispiels­weise bei einer Abwer­tung des Peso sicher in den fi­nanziellen Ruin führe.
Für Aufsehen sorgte Ende 1994 die Veröffentlichung der offiziellen Arbeitslo­senstatistik. Mit über 13 Prozent wurde ein neuer Rekord aufge­stellt, in ei­nem Land, dem sein Präsident vor fünf Jahren eine “produktive Revolution” versprochen hatte. Gleich nach der Veröffentli­chung meldeten sich Regie­rungsvertreter und schließlich der Präsident, an dem Besorg­nis über die soziale Lage im Lande sonst abperlen wie an einem Re­gencape, höchstpersönlich zu Wort, um die Daten als übertrie­ben zu demen­tieren. Bei höchstens 9 Prozent liege die Arbeitslo­sigkeit, rechnete Menem vor.
Tatsächlich jedoch, so belegt Susana Torrado, ehe­mals hohe Funktionärin des nationalen Sta­tistikinstituts INDEC, haben rund 40 Prozent der Argenti­nierInnen Probleme mit dem Ar­beitsplatz. Offiziell würden je­doch le­diglich die Personen stati­stisch berück­sichtigt, die sich ar­beitslos gemeldet hät­ten. Wer sich dagegen innerhalb der letz­ten Woche nicht mehr arbeitslos gemeldet habe, falle aus der Sta­tistik. Ebensowenig tauchten diejenigen in der Da­tensamm­lung auf, die hoffnungslos unter­be­schäf­tigt seien, mit Ein­künften unter­halb des Ex­istenzminimums auskommen müßten oder schwarz arbeiteten. Dabei gebe es von Mal zu Mal weniger Lohnab­hängige und immer mehr unabhängig Be­schäftigte, womit in erster Linie infor­melle Tätig­keiten gemeint sind – etwa ambulante Händ­lerInnen.

An der Spitze der Arbeitslo­senstatistik stehen Städte wie San Mi­guel de Tucu­mán, die wichtigen Hafenstädte Bahía Blanca und Rosa­rio und die Provinzhaupt­stadt Santa Fé. Im Großstadtgürtel um Buenos Ai­res liegt die offi­zielle Arbeitslo­senquote bei 14,9 Prozent, und die Industriebetriebe sterben weiter. Gerade hier hat man Angst vor den Kon­sequenzen der Marktöffnung im Zuge des Mer­cosur. Der brasilianischen Industrie­produktion fühlt man sich nicht gewachsen. Schon jetzt sind in den Straßen zahlrei­che Volkswagen do Brasil zu se­hen, und auf den Landstraßen aus Richtung Norden rollen im­mer mehr brasilianische LKWs, ob nun mit Auto­teilen oder Brahma-Bier bela­den.
Der Besitzstand
wird verteidigt
Wichtigste Antwort der Poli­tik auf die wachsende Arbeitslo­sigkeit ist ein Geset­zespaket zur weiteren Flexibilisierung der Ar­beit. Erwartet werden Produktivitäts­zuwächse und eine Verbesserung der in­ternationalen Konkurrenzsitua­tion, denn die Arbeitskraft sei in Argentinien nach wie vor teurer als in den Nachbarländern – ver­sprochen wird eine rasche Ab­nahme der Arbeitslosenzahlen.
Publikums­wirk­samer ist aller­dings eine mit Unter­stüt­zung der Medien betriebene Kampa­gne ge­gen illegal Beschäftigte, die über­wiegend aus Chile, Peru und Bolivien kommen. Daß diese auf dem Bau und in einfachen Dienstleistungen Eingesetzten zahlenmäßig eigentlich keine Rolle spie­len, stört dabei wenig. “Die Chilenen nehmen uns die Ar­beitsplätze weg”, heißt es.
Der Staat, hier personifiziert durch den Innenminister, veran­laßt Raz­zien, und das Fernsehen setzt alles ent­sprechend ins Bild: Illegale ausländische Arbeiter werden wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt, als erste Mel­dung in den Abendnach­richten. Die neue­sten Daten des INDEC belegen dagegen: Selbst wenn alle in den letzten fünf Jah­ren nach Argentinien ge­kommenen Arbeits­kräfte in ihre Heimat­länder zurückkehren würden, sänke die Arbeitslosig­keit um le­diglich 0,2 Prozent.
Insbesondere im Großstadt­gürtel von Buenos Aires sind Armut und soziale Ungerechtig­keit weiter gewachsen. Hier tei­len sich 54 Prozent der am unte­ren Rand der Einkommenspyra­mide Angesiedelten un­ter­einander ebensoviel wie die 6 Prozent an ihrer Spitze. Die so­zialen Konflikte und die Krimi­nalität nehmen drastisch zu, und auch hier reagiert der Staat demon­strativ mit harter Hand. Immer häufiger werden beson­ders jugendliche Delin­quenten von Polizisten umgebracht.
Medien, Glanz und Glitter trüben die Wahrnehmung
Wäh­rend die Reichsten in pri­vat bewachten Vierteln des Hauptstadtbezirks wohlge­schützt leben, sind in dieser Region ange­siedelte Kleinun­ternehmen und Mittel­klasse-Wohnungen Ziel von Einbrüchen und Rau­büberfällen. Immer häufiger verteidigen die Besitzer ihr Ei­gentum mit der Waffe in der Hand, und die Justiz zeigt dabei weitgehend Verständnis.
Vor etwa zwei Jahre erregte der Fall eines Mannes Aufsehen, dem mehr­fach sein Cassettenre­corder aus dem Wagen gestohlen worden war. Als er bei einem weiteren Diebstahlversuch den Täter stellen konnte, erschoß er ihn auf of­fener Straße. Nach wie vor befindet sich der Schütze, ein Ingenieur und braver Fami­lienvater, auf freiem Fuß. Das Ge­richt gestand ihm zu, er habe sich in einer Schocksituation be­funden.
Ähnliches wer­den wohl ein Vater und sein Sohn geltend ma­chen können, die im Dezember nach dem Diebstahl ihres Autos den po­tentiellen Täter verfolg­ten, mit mehreren Schüssen verletz­ten, auf ein leeres Grund­stück warfen und dort verbluten lie­ßen.
Daß die Wahrnehmung der wirklichen sozialen Lage allzumal bei der konsumorien­tierten Mittelklasse getrübt er­scheint, dafür sorgen die Wer­bung und die Me­dien, allen voran das Fernsehen. Geradezu obszön erscheinen in diesem Kontext die Hinweise auf Schlankheits­kuren, Diäten und Fitness, die neben der Markenklei­dung die äußere Er­scheinung der moder­nen Argen­tinierin und ihres männlichen Pendants vervollkommnen sol­len. Vor- und Nachmittagspro­gramme des Fernse­hens sind mit Telenovelas argentinischer Pro­duktion, venezo­lanischen oder mexi­kanischen Culebrones, die unendli­chen Fernseheserien, oder Spielshows ge­füllt.
Unterhaltung ist alles, je greller und lauter, um so besser. Die höchsten Ein­schaltquoten erzielt nach wie vor die nie al­ternde Mirta Legrand, die seit Jahren Gäste aus Politik, Sport und Showbusiness zum Small­talk beim Mittagessen einlädt. Einmal im Jahr darf auch der Präsident kommen und nach Herzenslust plaudern.
In den Abendprogrammen dominieren seit zwanzig Jahren dieselben Namen die Diskussionssen­dungen. Bernardo Neu­stadt (“Tiempo Nuevo”) ver­breitete seine reaktionären Weis­heiten schon unter der Militärdikta­tur. Mariano Gron­dona tat dies frü­her mit ihm ge­meinsam, hat mittlerweile jedoch sein eigenes Programm (“Hora Clave”). Die beiden Altmeister haben inzwi­schen mit “Hadad y Longobardi” eine ju­gendliche Konkurrenz bekommen. Und bei allen haben in den letzten Mo­naten Sex und Crime als Thema gegenüber der Politik an Ge­wicht gewonnen.
Die Korruption ist öffentlich wie selten – macht nichts
Die Korruption grassiert. Pa­gina/12 als einzige bedeutende kritische Tageszeitung mit einer Auflage von über 100.000 Ex­emplaren denun­ziert zwar nach wie vor unermüdlich die zahlrei­chen Korruptions­fälle. Aber auch sie mußte zum Jah­resende fest­stellen, daß zwar einige Fälle vor Gericht verhandelt wurden, kein einziger aber auch zur Verurtei­lung kam.
Zwar stehen über 70 hohe FunktionäInnen und persön­liche FreundInnen des Präsidenten aus Unter­nehmerkreisen vor Gericht, aber längst ist die Justiz selbst Teil des Korrupti­onssystems ge­worden. Um so un­verfrorener wird in die Kameras der Nach­richtenprogramme gelogen, um so heftiger werden Journali­stInnen der Ver­leumdung be­schimpft.
Während die argentinischen RentnerInnen nach wie vor für die pünkt­liche Auszahlung ihrer Renten demon­strieren müs­sen, wurden in der staatlichen Ren­tenversicherung PAMI in den Jah­ren der Menemregierung 1500 sogenannte ñoquis in den Gehaltslisten geführt. Das sind Funktionäre, die ledig­lich am Monatsende an ihrem Arbeits­platz erscheinen, um den Ge­haltsscheck entge­genzunehmen. Hier bediente die peronisti­sche Regierung ihre Klientel teilweise mit Gehältern zwischen 3.000 und 5.000 US-Dollar monatlich.
Lästig scheint die Denunzia­tion der Korruptionsskandale in den Me­dien für die Regierung trotzdem zu sein. Wie sonst er­klären sich die Versuche der Re­gierung, die Presse mundtot zu ma­chen. Der dritte Anlauf wurde Anfang des Jahres gestar­tet: Die neueste Gesetzesvorlage zum soge­nannten Ley Mordaza (Knebel) wurde von Menem selbst eingebracht. Es droht Jou­nalistInnen, die “Verleum­dun­gen” publi­zieren oder “falsch be­richten”, mit ho­hen Strafen. Für die veröffentli­chenden Me­dien sollen Geldstra­fen bis zu 200.000 US-Dollar und Ver­pflichtungen zur Ent­schädigung der Betroffenen bis zu 500.000 US-Dollar fällig werden.
Ein weiterer Schritt, kleinere, kritische Me­dien ökonomisch auszuschalten, ist die Verpflich­tung, sich unabhängig von ihrer Größe in Höhe von 500.000 US-Dollar versichern zu lassen. Zu­sätzlich soll eine neue Rechtsfi­gur geschaffen werden, die so­genannte “falsche Beschuldi­gung”. Da­nach dürfen keine Verdächtigungen, die “auf falschen Tat­sachen beruhen”, mehr veröffentlicht werden.
Die Mittelklasse steckt ob ih­rer vielen Kredite tief in der menemistischen Schuldenfalle. Sie wird den Präsiden­ten wählen, der am glaub­würdigsten die Fortsetzung der Währungs­stabilität ver­spricht. Menem machte mit der Wahl des jetzi­gen In­nenministers Ruckauf zu seinem Kandidaten auf die Vizepräsident­schaft ein weiteres Angebot an die Mittel­klasse.
Ruckauf, unter Isabel Peron 1975 schon einmal Mi­nister, ist ein aalglatter Law and Order-Vertreter. Er verspricht hartes Durch­greifen gegen Kriminelle und Schutz des Besitzstandes. Menem selbst scheint Garant für den Wahlsieg im alles entschei­denden Stim­menbezirk des ver­armenden Großstadtgürtels von Buenos Ai­res.
Ausschlaggebend auch hier: die Währungsstabi­lität nach den Jahren der Geldentwertung unter der Regierung Alfonsín mit sei­ner “Radikalen Bürgerunion”, UCR. Zudem bietet eben diese zweite große Volkspar­tei keine Alternative. Ihr erst vor wenigen Monaten gekürter Spit­zenkandidat Massa­chessi, bisher Gouverneur der Agrarpro­vinz Rio Negro, scheint von vorne­herein weit abgeschlagen. Auch er ver­spricht die Fortführung der Stabilität allerdings mit mehr so­zialer Gerechtigkeit. Die wich­tigsten wichtigsten Schritte der ökono­mischen Umstrukturie­rung hatte die UCR in den letzten Jah­ren mitgetragen.

Der politi­sche Pakt zwischen den beiden großen Parteien, der zur Verfas­sungsänderung zwi­schen dem aktuellen Präsidenten und seinem Vor­gänger arran­giert worden war, scheint für die Wäh­lerInnen ein weite­rer Grund, sich eher für eine be­reits bekannte Regie­rungspolitik zu entscheiden, anstatt mit der UCR ein neues Risiko einzuge­hen.
Die Frente Grande (FG), das linke Op­positionsbündnis, hat in den letzten Mona­ten vor allem personalpoli­tisch von sich hören lassen. Unter Protest gegen den Führungsstil und den Verlust linken Profils trennte sich Pino Solanas von der FG. Es gehe an­scheinend nur noch darum, wer Präsident­schaftskandidat werde, monierte der Filmema­cher. In­zwischen hat er selbst eine neue Partei gegrün­det, die ihn sicher als Präsident­schaftskandidaten auf­stellen wird.
In der FG selbst ist der pero­nistische Dissident Chacho Alva­rez Spit­zenkandidat. Unter seiner Führung schloß sich die FG mit anderen Oppositionsgrup­pie­run­gen zusammen, deren wichtigste von einem weiteren Sprößling des Anti­menemismus, dem Gou­verneur von Neu­quén, José Octavio Bordón, geführt wird. FREPASO heißt dieses neue Oppositions­bündnis nun, Frente País Solidario.
Zum Gründungs­akt im De­zember in Buenos Aires kamen immerhin rund 10.000 Men­schen. Nach der end­gültigen Verabschie­dung von radikalen Positionen etwa der PC und der Vereinigung mit Bordón, der al­lerdings ein relevanteres Stim­menpotential mitbringt, soll nun bald durch eine offene Wahl ent­schieden wer­den, wer von den beiden Ex-Peronisten gemeinsa­mer Präsident­schaftskandidat der FREPASO werden soll. Bisher treten Alvarez und Borbón ge­meinsam auf, Hauptthemen: Korruption und soziale Unge­rechtigkeit. Auf ihr wirt­schafts­po­liti­sches Konzept angespro­chen, läßt sich die Kernaussage der Link­sopposition jedoch so zu­sammenfassen: “Wir ga­ran­tie­ren die Stabilität besser als der Mene­mismus”, so Chacho Alva­rez in einem Inter­view.
Bei solch offen­sichtlichem Mangel an politi­schen Alter­nativen scheint die Wiederwahl Carlos Menems sicher. Politik ist darauf reduziert, Währungs­stabilität zu garan­tie­ren. Obwohl offensichtlich ist, daß auch die jetzige Regie­rung dies längerfri­stig nicht kann, hat die argen­tinische Mit­tel­klasse doch keine Wahl, sie hat nur eine Hoffnung und eine Op­tion.

Hoffen auf ein Wunder

In fetten Lettern wettert die oppositionelle Tageszeitung “La República” gegen Präsident Fu­jimori. Einsam hängen die politi­schen Schlagzeilen zwischen Busen- und Revolverblättern in der abendlichen Kälte am Zei­tungsstand auf der Plaza de Ar­mas in der südostperuanischen Provinzstadt Puno. Alle anderen Tageszeitungen sind ausverkauft. “Haben Sie keine andere Zei­tung?”. Die Kundin ist verärgert. “Die da ist gegen den chino, die will ich nicht.”
Fujimori scheint sich auf seine Wählerschaft verlassen zu können. Rund 40 Prozent der Wahlberechtigten sollen, so die Umfragen, sichere Fujimori-Wähler sein. Die noch nicht ganz Entschlossenen mit Fujimori-Tendenz eingerechnet, werden dem Präsidenten zwischen 45 und 53 Prozent vorausgesagt. Sein schärfster Rivale, Ex-UNO-Generalsekretär Pérez de Cuél­lar, bringt es gerade einmal auf 20 bis 22 Prozent.
Der Wahlkampf dümpelt vor sich hin. “El Perú no puede pa­rar”, Peru kann nicht anhalten, verkündet das lächelnde Gesicht des Präsidenten von den Wahl­plakaten. “Weiter so” auf pe­runaisch. Und damit trifft er wohl die Hoffnung der Mehrheit der Bevölkerung. In den zwei­einhalb Jahren seit der Verhaf­tung von Sendero Luminoso-Chef Abimaél Guzmán hat man sich daran gewöhnt, wieder ohne die ständige Bedrohung durch Bombenanschläge zu leben. Auch die Zeit des wirtschaftli­chen Chaos mit der Hyperinfla­tion unter Präsident Alan García ist schon fünf Jahre her. Diese Erfolge kann sich Fujimori gutschreiben. Er ist für seine Anhänger der Garant dafür, daß die dunkle Vergangenheit nicht wiederkommt, und er vermittelt anhand von Symbolen den Ein­druck, daß es aufwärts geht.
Nicht zufällig verbindet Fuji­mori seine Wahlkampfauftritte vorzugsweise mit der Einwei­hung neuer Schulen. Er weiß, daß Bildung für die Kinder be­sonders auf der Prioritätenliste von armen Eltern ganz oben steht. Auch wenn sich an der Armut für viele nichts geändert hat, macht sich an solchen Sym­bolen die Hoffnung fest, daß es langsam, Schritt für Schritt, wie­der besser werden kann.
Pérez de Cuéllar – wer steht hinter ihm?
Die Opposition hat unterdes­sen alle Mühe, starke Argumente gegen den Präsidenten zu finden. Javier Pérez de Cuéllar verfügt zwar über ein hohes Prestige durch seine Vergangenheit als UNO-Generalsekretär, aber den 74-jährigen zum Präsidenten zum wählen, ist für viele doch noch eine andere Frage.
Auch Pérez de Cuéllar tritt als Unabhängiger an, eine unver­zichtbare Voraussetzung, um in der peruanischen Politik in die­sen Jahren Erfolg zu haben. Die traditionellen politischen Par­teien, “die Politiker” überhaupt, sind in der öffentlichen Meinung gründlich diskreditiert. So liegen in den Umfragen denn auch alle Parteien, die früher die peruani­sche Politik bestimmt haben, deutlich unter fünf Prozent: sowohl die bürgerliche Acción Popular von Ex-Präsident Fern­ando Bellaúnde Terry, der von 1980 bis 1985 regierte, als auch die APRA von Alana García, der von 1985 bis 1990 an der Spitze des Staates stand. Nicht besser ergeht es Izquierda Unida, der “Vereinigten Linken”, die in den 80er Jahren den Kern der Oppo­sition darstellte.
Wenn Pérez de Cuéllar auch als Unabhängiger nur wenig Lei­denschaft entfachen kann, liegt das nur zum Teil an seinem di­stanzierten persönlichen Stil. Die “Union für Peru” (UPP), die zur Unterstützung seiner Kandidatur gegründet wurde, vermittelt den Eindruck, außer der Ablehnung von Fujimori und der Unterstüt­zung von Pérez de Cuéllar keine eindeutige politische Linie zu haben. In der UPP haben sich aus allen politischen Richtungen diejenigen zusammengefunden, die nach dem Motto “Wenn überhaupt einer eine Chance ge­gen Fujimori hat, dann Pérez de Cuéllar” auf das richtige Pferd setzen wollen. Viele Politiker sind dabei, die früher in anderen Parteien waren und deren Unter­stützung für den Kandidaten eher kontraproduktiv ist. Das Mißtrauen ist groß, über Pérez de Cuéllar könnten doch wieder die alten Politiker an die Macht kommen, von denen sich Fuji­mori so erfolgreich abgrenzt.
Die Oppostition auf der Suche nach Themen
Die Argumente, mit denen Pérez de Cuéllar verusucht, ge­gen Fujimori Wahlkampf zu be­treiben, finden in der Öffentlich­keit nur ein begrenztes Echo. Zum einen fordert er “soziale Marktwirtschaft” für Peru. Zwei­fellos ist die Massenarmut das größte soziale Problem des Lan­des, aber die Aussagen Pérez de Cuéllars dazu bleiben vage. Slogans wie “Arbeit für alle” sind nicht glaubwürdig in einem Land, in dem es für viele Men­schen zur Alltagserfahrung ge­hört, vor Wahlen immer wieder die gleichen Versprechen zu hö­ren, um dann in den folgenden Jahren doch wieder ganz auf sich selbst angewiesen zu sein.
Pérez de Cuéllar muß eine Gratwanderung betreiben. Zum einen muß er Fujimori als Präsi­dent der Massenarmut angreifen, zum anderen darf er aber keinen Zweifel daran lassen, daß er die Stabilitätspolitik Fujimoris im wesentlichen weiterführen will. Die Angst vor einer neuen Phase von Instabilität und Inflation scheint größer als die Hoffnung, durch Sozialprogramme im großen Stil könnten sich die Le­bensbedingungen tatsächlich dauerhaft verbessern.
Der Ecuador-Konflikt: als Wahlkampfthema ein Flop
Der Grenzkrieg mit Ecuador schien zu einem Wahlkampf­schlager für Pérez de Cuéllar zu werden. Nachdem Fujimori eher unfreiwillig in diesen Konflikt hineingeschlittert war (vgl. LN 249), beging er alle nur denkba­ren Fehler. Zum Treffen der Prä­sidenten der Andenländer in Ve­nezuela kurz nach Ausbruch des Konfliktes reiste er gar nicht erst an und überließ dem ecuadoria­nischen Präsidenten Durán Bal­lén das propagandistische Feld.
Kurz darauf brüskierte er Chile – immerhin einer der Ga­rantenstaaten des Protokolls von Rio – mit der Bemerkung, Peru sei militärisch deshalb so außer­ordentlich stark, weil in den 60er Jahren, im Blick auf einen mög­lichen Krieg gegen Chile aufge­rüstet worden sei. Die Aussage war vielleicht sachlich nicht falsch, das öffentliche Echo aber war verheerend. In Chile wurde besorgt kommentiert, man müsse sich vor dem Nachbarn im Nor­den wohl in Acht nehmen. In Ecuador konnte Durán Ballén triumphierend darauf verweisen, Peru sei eben immer schon ein kriegslüsterndes Volk gewesen. In der oppositionellen Presse wurde darüber hinaus ausführ­lich diskutiert, wellche takti­schen und strategischen Fehler auf der militärischen Ebene ge­macht wurden. Der Grenzkrieg ist für Ecuador zu einem diplo­matischen und militärischen Er­folg geworden und nicht nur das: Durch geschicke Pressearbeit steht Peru international als der Aggressor da, Ecuador dagegen als Opfer.
Das Wochenmagazin Caretas, das im Wahlkampf vehement Partei für Pérez de Cuéllar er­greift, ließ es sich nicht nehmen, den Oppositionskandidaten aus­führlich zu Wort kommen zu las­sen. “Ich hätte einfach ein Flug­zeug genommen und die vier Präsidenten der Garantenstaaten besucht, um die Verletzung des Protokolls (von Rio de Janeiro) anzuzeigen”, so Pérez de Cuél­lar. Die Botschaft war deutlich: Der Staatsmann Pérez de Cuéllar mit dem ganzen Gewicht seiner inernationalen Erfahrung hätte den Konflikt diplomatisch bei­gelegt, Fujimori dagegen war dazu nicht fähig. Aber der Ver­such, aus den peinlichen Fehlern der Regierung Fujimori Kapital für Pérez de Cuéllar zu schlagen, ist bis jetzt ins Leere gelaufen. BeobachterInnen in Lima bestä­tigen, daß der Verdruß über den Verlauf des Konfliktes zwar weit verbreitet ist, das Thema für die Entscheidung bei der Präsident­schaftswahl aber keine wesentli­che Rolle spielt.
Nur Realos haben eine Chance
Der Wahlkampf dreht sich weiterhin um die Frage, ob für die Stabilität des Landes kein Weg an Fujimori vorbei führt, oder ob Pérez de Cuéllar doch in der Lage sein könnte, mit seinem bunt gemischten Team eine gangbare Alternative für die nächsten fünf Jahre zu bieten. Auch für viele, die keine begei­sterten Anhänger Fujimoris sind, ist die viabilidad der nächsten Regierung, die reale Chance, fünf Jahre lang Politik zu betrei­ben, ohne sich mit internen Streitereien zu blockieren, ein starkes Argument für den amtie­renden Präsidenten. Und so wird Fujimori wohl auch einige Stimmen von denen bekommen, die sich für ihn als kleineres Übel gegenüber den Risiken ei­ner Regentschaft Pérez de Cuél­lars entscheiden.
Fujimori hat die Wahl fast, aber noch nicht ganz gewonnen. Sollte er es nicht mit der abso­luten Mehrheit im ersten Wahl­gang schaffen, kommt es auf die Drei-Prozent-Gruppierungen an – je nachdem, wen der beiden Kandidaten sie bei einer Stich­wahl empfehlen. Allerdings kön­nen auch sie nicht mehr, als eine Empfehlung abgeben. Durch die wie im französischen Wahlrecht vorgesehene Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten reicht es nicht, durch Koalitions­politik eine Mehrheit zu kon­struieren. Das Wahlvolk kann noch einmal zwischen zwei Per­sönlichkeiten entscheiden. Die Umfragen allerdings sagen Fu­jimori auch für diesen Fall einen großen Vorsprung voraus.
Keine Mehrheit für Fujimori im Kongreß
Koalitionspolitik wird Fuji­mori dagegen im Kongreß nötig haben. Seine Liste Cambio 90 – Nueva Mayoría (Wechsel 90 – Neue Mehrheit) wird aller Vor­aussicht nach keine Mehrheit be­kommen. Die Stimmen, die Fu­jimori durch sein persönliches Prestige als Präsident erhält, übersetzen sich nicht automa­tisch in Stimmen für seine Liste.
Als sicherer Koalitionspartner gilt Renovación, die Liste des Opus-Dei-Mitgliedes Rafael Rey. Er tritt gar nicht erst als Präsidentschaftskandidat an, sondern macht Wahlkampf für den Kongreß mit dem Slogan “Garantie für einen konstrukti­ven Kongreß”. Reichte es zu­sammen mit Renovación nicht für eine Mehrheit, müßte Fuji­mori noch einige Zeit in Ver­handlungen investieren. Nach­dem er die 1993 verabschiedete neue Verfassung ganz auf sich als Präsidenten zugeschnitten hat, ist er nur begrenzt auf den Kongreß angewiesen. Doch er wird es sich in den nächsten Jah­ren kaum leisten können, noch einmal, wie bereits 1992, den Kongreß aufzulösen, wenn ihm dessen Entscheidungen nicht passen.
Was Meinungsumfragen wert sind
Ab 25. März dürfen bis zu den Wahlen am 9. April keine Mei­nungsumfragen mehr veröffent­licht werden. Ob man diese Re­gelung für sinnvoll hält oder nicht, sie erspart Peru hoffentlich bis zur Wahl eine Reihe von ab­surden Diskussionen. Die Um­fragen haben in der Vergangen­heit oft kraß geirrt – in diesem Punkt hat die Oppositon recht. Der völlig überraschende Wahl­sieg Fujimoris gegen Maro Var­gas Llosa vor fünf Jahren ist nur ein Beispiel dafür.
Allerdings trägt der Verweis auf Meinungsumfragen auch mitunter satirische Qualitäten. Beispielsweise verbreitet die Opposition erst wochenlag mit großem Aufwand, Meinungsum­fragen seien überhaupt nichts wert, um sich dann als Zeichen einer Trendwende auf eine leichte Zunahme der Werte für Pérez de Cuéllar zu berufen, wie am 24. März druch UPP-Vize­präsidentschaftskandidat Guido Pennano. Es ist bezeichnend für einen Mangel an wirklichen Themen im Wahlkampf, daß Diskussionen dieser Qualität breiten Raum einnehmen kön­nen.

Kasten:

Wieder Sendero-
Führungskader verhaftet
Präsident Fujimori hat am 23. März in Pucallpa, der Haupt­stadt des Departements Uca­yali im östlichen Tiefland, die Verhaftung von 20 mut­maßlichen SenderistInnen bekanntgegeben. Unter den in Huancayo, Callao und Lima Verhafteten befindet sich, so der Präsident, Margie Clavo Peralta alias “Comandante Nancy”, die als Nummer zwei des “Sendero Rojo” gilt.
Sendero Rojo spaltete sich von Sendero Luminoso ab, nachdem Sendero-Chef Abimaél Guzmán im Oktober 1993 in seinen berühmten Briefen aus dem Gefängnis an Fujimori die vorläufige Einstellung der bewaffneten Aktionen angeboten hatte. Die Splittergruppe ist der letzte Teil Sendero Lumino­sos, der die bewaffnete Gue­rillatätigkeit weiterführt, al­lerdings weit entfernt von der militärischen Stärke, über die Sendero Luminoso noch An­fang 1992 verfügte.
Margie Clavo Peralta gehört zur Gründungsgeneration von Sendero Luminoso, die am 19. April 1980 den “bewaffneten Volkskrieg” ausrief, und hatte verschie­dene Positionen inne. Sie er­scheint unter anderem auf dem 1991 beschlagnahmten Video von einer Fiesta der Sendero-Spitze in einer Villa im gutbürgerlichen Viertel Chacarilla del Estanque in Lima.

“Brudervölker” im Krieg

Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeich­nung einer Friedenserklärung in der brasi­lianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen dar­auf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegen­über in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewalde­ten Bergen, aber viel mehr mit innenpoli­tischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der pe­ruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Haupt­stadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseiti­gen Vorteil ihre wirtschaftlichen Bezie­hungen ausbauen. Sollte nun ein Grenz­konflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenz­verlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelan­ger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinanderset­zungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Insze­nierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpoli­tischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeich­nung des damals von beiden Seiten aner­kannten Protokolls, in dem der Grenzver­lauf festgelegt wurde. Brasilien, Argenti­nien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines ama­zonischen Tieflands sowie die Stadt Tum­bes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Re­gion. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Bra­silianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem be­stand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuato­rianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador be­trachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kon­trolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt be­steht. Der Vertrag sei eindeutig, völker­rechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Con­dor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurch­führbar ist” und darüber hinaus das ge­samte nördliche Amazonasgebiet des heu­tigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territo­rium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Ama­zonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf ei­genem Territorium zu sein, und beide be­trachten die jeweils gegnerischen Pa­trouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn ha­ben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Ter­ritorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öf­fentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die ver­breitete Meinung, hatte aus innenpoliti­schen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobi­lisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vor­sprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduk­tiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabi­lisierung ist es der gerade wiedergewon­nene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwi­schen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzu­bauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht ver­wundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivi­tät für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecua­dor. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet ziel­gerichtet an seinem Projekt eines kapitali­stisch-modernen, von einem starken Prä­sidenten namens Fujimori regierten Lan­des. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das an­gesichts eines auch ohne Krieg fast siche­ren Wahlsiegs. Fujimori müßte von sei­nem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori in­szenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option di­plomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler be­gangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwie­rigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecua­dor. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als po­pulär. Wirtschaftliche Probleme und Kor­ruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im No­vember ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Kon­fliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Re­gierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flam­mende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der pe­ruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatoriani­schen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer perua­nisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkom­men doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zu­rückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitlei­denswerter Ecuador in der Rolle des Op­fers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz aus­gerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig be­trachtet. Dazu kam die dramatische War­nung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärre­gimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht po­sitiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze ge­kommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt dies­mal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador ge­gen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Ab­schnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täg­lich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Ein­dringen ecuatorianischer Truppen in pe­ruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegun­gen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstill­stand und die Bekundung von Friedensab­sichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.

Patriotische Parolen als Allheilmittel?

“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergange­nen Jahr durch Korruptionsaffären in sei­ner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der so­zialen Konsequenzen seiner Modernisie­rungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wie­der in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs ei­ner harten Strukturanpassung, die im ver­gangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Pro­zent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungs­re­ser­ven. Sie wurden aber ange­sichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig ge­wür­digt. Neben der für 1995 ange­setz­ten Privatisierung der EMETEL, dem Be­reich der Telekommu­nikation, sorgten be­son­ders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petro­e­cua­dor für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Ange­stellten ein Zwangsbeitrag ein und finan­zierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Insti­tution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisie­rung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstra­tionen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kund­zutun, gibt es doch sonst kaum Instru­mente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten ver­schiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verab­schiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrskno­tenpunkte des Landes und legten den ge­samten Verkehr lahm. Die Regierung ver­tritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend ver­laufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindäm­mung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Mei­nungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein kön­nen: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsände­rungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines er­stellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeiste­rung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektri­zität, dem Energiesektor und der Tele­kommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Ver­änderung bestehender Gewerkschafts­strukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Ver­besserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzent­wurf, der Religionsunterricht als Pflicht­fach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grund­sätzliche Diskussion über das Bildungssy­stem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verur­teilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufrieden­heit mit bestehenden Bildungseinrichtun­gen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstun­den “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu aus­gebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und einge­stellt werden müßten, um diesem An­spruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert re­ligiöse Gruppierungen neben dem Katho­lizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universi­täten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultä­ten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öf­fentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhö­hung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schritt­weise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der ge­staffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich un­mittelbar auf die allgemeinen Lebenshal­tungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januar­woche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßen­schlach­ten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Wo­che umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechen­schaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Un­tersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr viel­fach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit ge­gen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar an­kündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril an­zugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private In­vestoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrek­kensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esme­raldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nörd­lich von Quito – im Gebiet des heftig dis­kutierten neuen Flughafens – am 13. Ja­nuar von einem mittleren Erdbeben heim­gesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Kata­strophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsi­denten – insbesondere die Pläne zur Ver­staatlichung der Ölgesellschaft Petroecua­dor – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Ab­schnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kon­trollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsitua­tion zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Mono­pol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Re­alität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Ge­rüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Trup­penbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offi­zielle Version berichtete von einer vier­köpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatoriani­schem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehen­den Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Vertei­digungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatoriani­schen Präsidenten Sixto Durán Ballén di­rekt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischen­fall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuato­ri­anisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein trau­matischer Augenblick für das ecuatoriani­sche Nationalbewußtsein. In Geschichts­büchern unter der Bezeichnung “Das ter­ritoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Fru­stration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit un­gültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weite­ren Scheibchen vom ecuatorianischen Ge­biet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöf­fentlichkeit insgesamt, die das 1942 unter­zeichnete Protokoll als rechtskräftig aner­kennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors unter­einander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichts­schreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlo­renen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festge­legte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrit­tenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung ver­wehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdek­kung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuato­rianische Geschichtsschreibung einen zu­sätzlichen Anspruch auf den Amazonas­zugang ab: “Den Titel des ersten Entdek­kers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß die­ses Thema jedoch nichts an seiner Aktua­lität verloren hat, war bereits vor Aus­bruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signali­sierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema an­zugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kon­troverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließ­lich ganz vom Tisch war. Besonders sei­tens des Militärs und allen voran bei Ver­teidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecua­dors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Ver­fassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Drauf­gänger. Das von der Opposition gezeich­nete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mit­be­kommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestä­tigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so bri­santen Thema des Grenz­konflikts in der Öffentlichkeit als Ver­lierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlen­ken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zu­spruch an­de­rer Staaten zu bekom­men scheint genauso un­wahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außer­dem hätte es wahrhaf­tig bessere Zeit­punkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg aus­gelaugten Nach­barn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizule­gen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsbe­rechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des un­schuldigen Opfers innenpolitischer Span­nungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenz­strei­tigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fah­nen wurden geschwenkt, Bilder von Mäd­chen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegen­stimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfri­stig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilia­nischen Hauptstadt Brasilia unterzeichne­ten beiderseitigen Friedenserklärung schie­nen die konkreten Auseinanderset­zungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Be­schuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstill­standserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasi­lien, Chile und die USA, unter deren Mit­wirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwir­ken sollte. Die Organisation Amerikani­scher Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation er­zeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.

“Kopfjäger” in kopflosen Zeiten

“Ecuador, das sind wir alle.” Solche und ähnliche Parolen ließen während der Auseinandersetzungen im ecuatorianisch-peruanischen Grenzgebiet an der Sierra del Condor für kurze Zeit alle sozialen und vor allem rassistische Vorurteile ver­gessen. Der multi-ethnische Staat sorgte wie nie zuvor für Diskussionsstoff in der ecuatorianischen Öffentlichkeit. Im Zen­trum des neu erwachten Nationalbewußt­seins als Inkarnation des Widerstands ste­hen die Shuar. Zwar zahlenmäßig und waffentechnisch weit unterlegen, aber durch Geschick und zähes Beharren in der Lage, dem großen Nachbarn Paroli zu bieten. Kurz: eine Wohltat für das zerrüt­tete ecuatorianische Nationalbewußtsein und Anlaß zur Wiederbelebung eines Mythos’ mit Tradition.
Die Shuar gehören wie auch die Achuar und die auf peruanischer Seite lebenden Awajun (oder Aguaruna) und die Wampis zu der Sprachfamilie der Jivaros. Sie le­ben im Südosten des Oriente, der ecuato­rianischen Amazonasregion zwischen dem Rio Pastaza und der Andenkordillere. Trotz jahrhunderterlanger hartnäckiger “Zivilisierungsbemühungen” halten die Shuar heute noch immer an ihren ur­sprünglichen Traditionen fest. Durch das Protokoll von Rio de Janeiro wurden sie 1942 in zwei Teile gespalten.
Im nationalen Bewußtsein Ecuadors sind die Shuar eine Art Legende, die zwi­schen Bewunderung und Abscheu pendelt und die nicht zuletzt durch den Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Roman “Cumandá” des erklärten Natio­nal­schriftstellers Juan León Mera am Le­ben gehalten wird. In dieser Pflichtlektüre für alle Schulkinder werden die Jivaros als unerbittliche und grausame Krieger darge­stellt, für die nur Rache und Ehre von Be­deutung sind. Der weise aber letztendlich “wilde” und ungläubige Häuptling Ya­huarmaqui (zu deutsch: Bluthand) soll mit der schönen und erstaunlich zivili­sierten Cumandá verheiratet werden. Sie ist die Tochter des Kaziken eines verfein­deten Stammes und wäre somit ein Frie­denspfand. Cumandá möchte aber viel lie­ber den streng gläubigen und verträumten Carlos heiraten, den Sohn des katholi­schen Missionars. Die Sympathien werden also klar vorgegeben, und nach einer lan­gen Odyssee durch den Oriente und vieler Dialoge zwischen Herzschmerz und Tra­gik wird deutlich, daß die Weißen die Guten sind und die “Wilden” die Bösen.
“Shuar” bedeutet “Menschen”
Die 1964 ins Leben gerufene Interes­senvertretung der Shuar ist der CONAIE, der Konföderation der indige­nen Nationa­litäten Ecuadors, ange­schlos­sen. Sie ging offensiv gegen die Bezeich­nung “Jivaro” an, die im ecua­to­rianischen Sprach­gebrauch eine ein­deu­tig abwer­tende Kon­notation hat. Sie selbst be­zeich­nen sich als “Shuar”, was in ihrer Spra­che “Menschen” bedeutet.
Die CONAIE schätzt die Zahl der Shuar auf etwa 40.000 und die der Achuar auf rund 2400. Sie fordert seit Jahren, die Region um die Sierra del Condor einer Selbstver­waltung der Shuar zu unter­stel­len und zu entmilitarisieren.
Seit den 40er Jahren verfolgt die Regie­rung eine aggressive Kolonisierungspoli­tik im Gebiet entlang des Rio Zamora. Sie vergibt Kredite und verkauft abschnitt­weise Land für die Viehzucht, ohne sich um Gewohnheiten und Ansprüche der dort le­benden Shuar zu kümmern. Zwar wer­den in dieser Region reiche Gold- und Öl­vorkommen vermutet, aber in erster Linie soll eine Infrastruktur für Siedler und Mi­li­tärposten geschaffen werden.
Die Shuar leben traditionell in einem erweiterten Familienverband, in dem die Ehe­frauen meist Schwestern sind. Sie zo­gen in einem etwa 10-jährigen Zyklus zu verschiedenen Gebieten im Regenwald, wo sie sich für einige Zeit niederließen, ohne anderen Familienverbänden ins Ge­hege zu kommen. Durch diese ursprüng­lich nomadische Lebensform hatten die Shuar der gezielten Invasion seitens der Re­gierung nichts entgegenzusetzen und lange Zeit auch auf gesetzlicher Ebene nicht die geringste Möglichkeit, ihre ter­ritorialen Ansprüche geltend zu machen.
Die sagenumwobenen Schrumpfköpfe werden heute nur noch aus bestimmten Affenschädeln hergestellt, die kultische Bedeutung der Tsantsa, wie das Ritual der Herstellung der Köpfe genannt wird, ist je­doch nach wie vor sehr groß. Als exo­tisch-makabere Mitbringsel grinsen Schrumpf­kopfimitate in Quito von den Regalen jedes zweiten Souvenirladens.
Mittlerweile nimmt die Viehzucht ne­ben der traditionellen Jagd und dem Fisch­fang bei den Shuar eine wichtige Rolle ein. Viele von ihnen leben heute in Sied­lungen und kooperieren mit den dortigen SiedlerInnen vor allem bei der Goldsuche. Die vermuteten Goldvorkommen werden bislang ausschließlich von ecuatoriani­scher Seite erschlossen, allerdings nur in sehr geringem Maße.
Im Brennpunkt
Der inzwischen wieder aufgeflammte Konflikt um die Sierra del Condor zwi­schen Ecuador und Peru hat die Shuar und die BewohnerInnen der vereinzelten Siedlungen zwar schlagartig in die Mitte des nationalen Interesses katapultiert, aber Solidaritätsbekundungen aus der weit ent­fernten Hauptstadt nützen wenig, wenn die eigene Haut und eventuell auch noch ein wenig Hab’ und Gut in Sicherheit ge­bracht werden sollen. Die meisten Frauen und Kinder flüchteten aus dem Kriegsge­biet in größere Dörfer am Rande der Kor­dillere. Die nicht an den Scharmützel be­teiligten Shuar zogen sich tiefer in den Regenwald zurück. Langsam kehren die BewohnerInnen. Sie sind die eigentlichen Leidtra­genden dieses Krieges. Die Interessenver­tretung der Shuar wandte sich mittels der CONAIE mit einem Pro­testschreiben und gleichzeitigem Spen­denaufruf an die Weltöffentlichkeit, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Einige der ecuatorianischen Shuar mel­deten sich freiwillig zur Unterstützung des Militärs. Ihre genaue Kenntnis der Region war von entscheidendem Vorteil für die EcuatorianerInnen gegenüber dem schwe­ren, aber in diesem Gelände unbrauch­barem Militärgerät der Peruaner. Der As­similierungsprozeß scheint Früchte zu tra­gen, stolz verkündete ein Shuar, bis ans Ende für sein Vaterland zu kämpfen. Zu den jenseits der Grenze lebenden peruani­schen Shuar besteht nur noch wenig Kon­takt. Hin und wieder mal ein Besuch, aber die politische Narbe hat auch in den Köp­fen des früher zusammengehörigen Volks eine Bresche geschlagen. Die weitver­breitete Ansicht, die peruanischen Shuar seien zwangsrekrutiert worden und dien­ten nur als Kanonenfutter, paßt in das von der ecuatorianischen Presse verbrei­tete Feindbild.
Die ecuatorianische Bevölkerung beju­belte die Unterstützung durch die Shuar als Wendepunkt und neue Hoffnung. Die Presse berichtete vom Stützpunkt D561 am Rio Santiago, in dem sich neben Sol­daten von der Küste, dem Hochland und der hauptsächlich von Farbigen bewohn­ten nördlichen Provinz Esmeraldas nun auch Shuar in ecuatorianischer Uniform tummelten, um in Eintracht und voller Begeisterung dem Feind standzuhalten.
Remigio Cayap, ein 19-jähriger Shuar, wird in seinem – gebrochenem – Spanisch zitiert: “Ich bin in einem Gefecht noch nie zurückgewichen, ich gehe nur vorwärts. Ich kenne den Krieg, und werde an der Seite meiner Brüder kämpfen.”
In der zweiten Woche nach offiziellem Ausbruch des Krieges durch den Abschuß eines peruanischen Hubschraubers, be­suchte die Präsidentengattin Josefina die abgelegenen Stützpunkte, um den Solda­ten Mut zuzusprechen und um die in allen Regionen des Landes als Solidaritätsbe­kundungen gesammelten Medikamente, Le­bens­mittel und Decken zu verteilen. Das Fernsehen übertrug Bilder von verlas­senen Dörfern, von armseligen Behausun­gen und spartanisch eingerichteten Klas­senzimmern, woraufhin die Regierung Verbesserungen der sanitären Einrichtun­gen, Krankenhäuser sowie Gelder für Schulen und bessere Straßen versprach. Doch jetzt, nachdem die Inszenierung ei­ner nationalen Bedrohung durch die am 17. Februar in Brasilia unterzeichnete Friedenserklärung, in der die Schaffung einer entmilitarisierten Zone vorgesehen ist, erst einmal von der Tagesordnung zu sein scheint, und Quito in seine Normali­tät zwischen Parteiintrigen und Korruption zurückkehrt, sind auch die akuten Gründe für bessere Infrastruktur in der Amazonas­region erst einmal wieder vom Tisch.
Elisabeth Schumann

“Digo que estoy “integrado”
porque en este momento
no estoy hablando en lengua shuar,
mi lengua,
sino en la de ustedes que es
el castellano.
los pueblos indios estan integrados
por medio de la lengua.
Nos preguntamos
ソCuando se integran los
hispanohablantes
a la realidad nacional,
hablando nuestras lenguas?”

Ampam Karakras, Shuar, 1984

Ich sage, daß ich “integriert”bin,
weil ich jetzt gerade
nicht in der Sprache der Shuar spreche,
meine Sprache,
sondern in Eurer Sprache,
dem Spanischen.
Die indianischen Völker sind integriert
durch die Sprache.
Wir fragen uns,
wann werden die Spanischsprachigen
sich integrieren
in die nationale Realität,
in dem sie unsere Sprachen sprechen.

Editorial Ausgabe 249 – März 1995

Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staats­oberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsi­denten der Staaten Venezuela, Pa­nama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im ve­nezolanischen Städtchen Cumaná ge­troffen, um des 200. Geburtstags Anto­nio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Ver­trauter Simon Bolívars, des Gran Li­bertador, an dessen Seite er für die Unab­hängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der pe­ruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Da­bei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militär­hubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburts­stätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder ver­worfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst ein­mal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Ve­nezuela schielen gen Norden nach Me­xiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mer­cosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzi­gen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche be­stehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könn­ten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch da­mals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen National­held beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den ei­genen Leuten ver­raten, als er in Peru ge­gen den gemein­samen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Be­dro­hung kommt aus den Zentralen der Welt­bank und des Internationalen Wäh­rungs­fonds, von wo aus immer neue Struk­tu­ranpassungen zu Lasten der Be­völke­rungsmehrheit verordnet werden. Die Re­gie­rungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre ei­gene Machtlosigkeit zu kaschieren, set­zen die herrschenden Politiker und Mili­tärs auf Nationalismus und beschwören die in­nere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schrift­steller und früherem Präsidentschafts­kandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen In­tellek­tuellen seines Landes das Blut­vergießen verurteilte: Er wurde als “vater­landsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem na­tionalen Schriftstellerver­band aus­ge­schlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stim­men leicht über­hört. So etwa, als Ge­werk­schaftsführer beider Länder den Krieg kri­ti­sierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu be­kämpfen gilt.

Die Drogenhändler müssen sich totlachen

Nach einer Reihe von Treffen mit ho­hen Funktionären des State Department in Washington schloß Justizminister Néstor Humberto Martínez Neira daß “die Stati­stiken, die wir hier in Washington vorge­legt haben, zeigen, daß leider im Gegen­satz zu dem, was in Peru und Bolivien ge­schieht, in Kolumbien der (Koka-) Anbau weiter im Wachsen begriffen ist”. Hiermit war klar, daß die kolumbianische Regie­rung auch in diesem Jahr nicht ohne Wei­teres ihr Wohlverhalten von der US-Re­gierung bescheinigt bekommen würde.
Bereits 1993 hatte es nicht gut ausgese­hen für besagte Wohlverhaltensbescheini­gung durch die USA, aber, so die kolum­bianische Zeitung El Espectador, “wie immer am Ende des Jahres strengte sich der gute Schüler an, und… lieferte den to­ten “Kopf” des Medellín-Kartells Pablo Emilio Escobar Gaviria”. Daraufhin be­kam die Regierung Gaviria zuletzt doch die volle Bestätigung seitens der USA und bleibt dadurch in dem Genuß finanzieller Hilfen durch die US-Regierung, die Welt­bank und den internationalen Währungs­fonds.
In diesem Jahr jedoch konnte die neue Regierung unter Samper bislang keinen nennenswerten Erfolg im Kampf gegen die Drogenproduktion in Kolumbien vor­weisen, und so mehrten sich die Stimmen in den USA, die neben der Verweigerung der Wohlverhaltensbescheinigung auch drastische Sanktionen forderten.
Der US-amerikanische Botschafter in Kolumbien, Myles Frechette, äußerte, “daß sein Land Schwierigkeiten habe, Kolumbien die volle Mitarbeit im Kampf gegen den Drogenhandel zu bescheini­gen”. Währenddessen ging der ehemalige “Antidrogenzar” William Bennet weiter: “Solange die Regierung (Samper) keine wirklichen Anstrengungen im Kampf ge­gen den Drogenhandel unternimmt, müs­sen wir sowohl den Import kolumbiani­schen Kaffees, wie auch aller anderen Produkte aus diesem Land verbieten”.
Die Reaktionen der kolumbianischen Presse waren dementsprechend heftig. Eine Bogotaer Zeitung forderte, den Bot­schafter zur persona non grata zu erklä­ren. Die Krise, die in dieser Auseinander­setzung zutage trat, hat freilich tiefere Wurzeln.
Die Wohlverhaltensklausel
Bereits seit 1961 existiert in den USA ein Gesetz, das zur Bekämpfung des Han­dels und der Produktion illegaler Drogen die Befugnisse der Exekutive erweitern soll. 1986, als in der Ära Reagan die Ko­kainproduktion vor allem in Kolumbien ihre größte Blüte erreichte, verabschiedete der US-amerikanische Kongress ein Ge­setz, das es dem Präsidenten gestattete, eine Länderliste der bedeutendsten Drogenproduzenten und -transporteure zu erstellen und nach eigenem Ermessen de­ren Kooperation bei der Bekämpfung des Drogenhandels einzustufen. Für ein Land, das sich voll der Bekämpfung des Dro­genhandels verschreibt und die US-ameri­kanischen Auflagen erfüllt, fließen militä­rische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe ungehindert weiter. Vor allem aber werden weiterhin intensive logistische und finanzielle Hilfen für die Drogenbekämp­fung zur Verfügung gestellt.
Wird ein Land allerdings nicht als be­dingungslos kooperativ eingestuft, ist die Exekutive berechtigt, die nicht-humanitäre Hilfe an dieses Land solange auszusetzen, bis sich dessen Regierung dem Kampf ge­gen die Drogenwirtschaft anschließt. Gleichzeitig verpflichtet ein negatives Votum die Regierung bei den internatio­nalen Finanzinstitutionen ein Veto gegen Kredite an das in Ungnade gefallene Land einzulegen.
Der kolumbianische Fall
Das strategisch wichtigste Land für Drogenhändler, und -produzenten auf dem amerikanischen Kontinent ist mit Sicher­heit Kolumbien. Fast die gesamte Kokain­produktion und Distribution läuft in Ko­lumbien ab; dort befinden sich fast sämtli­che Labore, in denen mithilfe von Chemi­kalien wie Äther und Aceton die Droge Kokain aus der – zum großen Teil aus Peru und Bolivien importierten Kokapaste raffiniert wird. Allgemein wird der Anteil allein des sogenannten Cali-Kartells an sämtlichem in den USA konsumierten Kokain auf etwa 80 Prozent geschätzt. In den letzten Jahren haben sich die Anbau­flächen für Koka, sowie von Schlafmohn, dem wichtigsten Rohstoff zur Herstellung von Heroin, vor allem in Kolumbien ra­sant vergrößert. Es ist davon auszugehen, daß die Einnahmen aus Drogengeschäften teilweise für die niedrige Inflationsrate in den letzten zehn Jahren mitverantwortlich sind, da der starke Zustrom von Dollars aus Drogengeschäften dessen Wert ge­genüber dem Peso drückt.
Im Gegensatz zu dem Kartell von Me­dellín, dessen Mitglieder nie die Integra­tion in die gesellschaftliche Elite des Lan­des erlangt haben, ist das Kartell von Cali bis hinein in die Regierung mit dieser ver­flochten und somit weitaus schwerer an­zugreifen. Gerüchte sprechen auch davon, daß ein Teil der Präsidentschaftskampa­gne des jetztigen Präsidenten Samper mit Geldern des Cali-Kartells finanziert wurde (vgl. LN 241/242). Gerade in diesen Tagen brachte die kolumbianische Zeit­schrift Cambio 16 eine Liste zutage, auf der eine Reihe von Namen auftauchen, die in Sampers Wahlkampf wichtige Positio­nen einnahmen und angeblich auf der “Gehaltsliste” von Gilberto Rodríguez Orejuela, dem mutmaßlichen Kopf des Kartells standen.
Clinton und die Republikaner über­zeugen
Es ist daher nicht verwunderlich, daß man in den Vereinigten Staaten den Be­mühungen der Regierung Samper bei der Vernichtung von Anbauflächen und der Bekämpfung des Kartells von Cali mit ei­nem gewissen Mißtrauen begegnet. Zumal die Clinton-Administration der Ansicht ist, daß Samper seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr keine signifikanten Ergebnisse vorweisen kann.
In Kolumbien sieht man das freilich anders. Aber da die Regierung nicht auf die Hilfen aus den USA und den interna­tionalen Institutionen verzichten will, flo­gen in der vergangenen Woche der kolumbianische Botschafter in den USA, Carlos Lleras de la Fuente, Verteidi­gungsminister Fernando Botero Zea und der Außenminister Rodrigo Pardo García Pena (der den Platz des unter Korrupti­onsvorwürfen ausgeschiedenen General­staatsanwalts Gustavo de Greiff einnahm) in die USA, um dort mit verschiedenen Mitgliedern des Kongresses zusammen­zutreffen. Ihre Aufgabe war in den letzten Tagen eine positive Stimmung für Ko­lumbien zu hinterlassen, bevor Bill Clin­ton dem Senat die Untersuchungen und Einschätzungen zur Abstimmung über die Wohlverhaltensbescheinigung für das süd­a­merikanische Land unterbreitet. Keine ein­fache Aufgabe angesichts der Tatsache, daß seit den letzten Wahlen der Kongreß von den Republikanern be­herrscht wird. Auch Clinton mußte sich bereits den neu­en Machtverhältnissen beugen und eine här­tere politische Gangart einschlagen, um sich nicht vor­zeitig die Chancen auf eine Wiederwahl in zwei Jahren zu verbauen.
Auch aus diesem Grunde hat Bill Clin­ton nun die Flucht nach vorn angetreten und nach zwei Jahren verminderter Inten­sität im Drogenkrieg nun, wie bereits seine republikanischen Vorgänger Reagan und Bush, den Kampf gegen den Drogen­handel zur obersten Priorität erklärt. Auf 14,6 Milliarden US-Dollar will der ame­rikanische Präsident nun die Mittel zur Drogenbekämpfung aufstocken, was ei­nem Anstieg von fast 10 Prozent ent­spricht. Davon sollen etwa 64 Prozent (9,3 Milliarden US$)in die Bekämpfung von Anbau und Transport im Ausland aufge­wendet werden, während 34 Prozent (4,9 Milliarden US$) in die Prävention und den Drogenentzug fließen sollen. Da der damals demokratisch dominierte Kongress be­reits im letzten Jahr die vorgeschlage­nen Aufwendungen für Prävention und Be­handlung zusammenstrich, ist aller­dings die Frage, ob Clinton sich bei den Re­publikanern mit seinem Vorschlag durch­setzen kann.
Die Tendenz jedoch wird klar bei der Betrachtung des neuen Vorstoßes von Clinton, mit dem er seinen politischen Feinden, wie dem republikanischen Sena­tor Jesse Helms, den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht. Und ver­ständlich wird so auch, daß die kolumbia­nische Re­gierung nach beendeter Mission in den USA viel ruhiger ist: nach Ein­schät­zung des kolumbianischen Botschaf­ters Carlos Lle­ras de la Fuente ist die Wahr­schein­lichkeit einer negativen Beur­tei­lung durch die US-amerikanische Re­gie­rung nur gleich 5 Prozent, während er mit 75prozentiger Sicherheit von zu­min­dest einer bedingt positiven Einschät­zung (im nationalen Interesse der USA) aus­geht. Zu diesem Ergebnis kam der Di­plo­mat, nachdem die jeweiligen “Gesprächs­partner auf die von Außenmi­nister Rodri­go Pardo vorgelegten Fakten in Sachen Ver­nich­tung von Anbauflächen durchweg positiv reagiert hätten”. Die Ankündigung Sampers, im Falle einer nur bedingten Approbation durch die USA zu prüfen, ob man die Hilfen der USA über­haupt annehmen will, darf aber lediglich als eine starke Geste verstanden werden, mit der Samper versuchen will, in der ko­lum­bianischen Öffentlichkeit nicht als Hand­langer der US-Amerikaner dazuste­hen.
Für dieses Jahr scheint die Krise be­wältigt, wenngleich sich dies letztendlich erst nach dem 1. März entscheidet, wenn Clinton dem Kongreß seine Fakten auf den Tisch legt. Aber es kann mit Sicher­heit davon ausgegangen werden, daß sich die USA in den kommenden Jahren bei steigendem Koka-Anbau in Kolumbien nicht mit einer PR-Veranstaltung der ko­lumbianischen Regierung zufriedenstellen lassen werden. Der Druck, den die Repu­blikaner auf Clinton ausüben, wird sich in den nächsten Jahren mit einer ständigen Verschärfung der US-amerikanischen An­ti­drogenpolitik bemerkbar machen. Die Dro­genbarone aus Cali, die sich in diesem Jahr nach den Worten von Vizepräsident Humberto de la Calle angesichts des pein­lichen Verlaufs der Debatte in Kolumbien noch “totlachen müssen”, werden sich in den nächsten Jahren zunehmend leiser gebärden.

“Der Strudel der Gewalt”

Natürlich ist die Eskalation der Gewalt nicht zu leugnen. Natürlich gehören die Verbrechen zum Alltag in den Metropolen des Landes. Mindestens ebenso interes­sant wie die veröffentlichten Meldungen sind jedoch die Informationen, die keine Erwähnung finden. So existieren in Brasi­lien mehr Bürger­initiativen, soziale Orga­nisationen als in der BRD. Zwar gibt es laut Veja vom Juli 1993 ungefähr 16.000 Gruppen und Organisationen mit circa einer halben Million Mitglieder, die sich mit sozialen und ökologischen Problemen beschäfti­gen. Verwunderlich, glaubt man doch nach der Lektüre der meisten Zeitungs­artikel, die Bevölkerung bestehe nur noch aus skrupellosen Drogenhänd­lern, schießwütigen Polizi­sten, korrupten Poli­tikern und deren Op­fern. Trotz tau­sender Basisorganisationen, Menschen-rechts­gruppen und Bürger­rechtsbewe­gungen: den Eingang in die deutschen Medien fin­den nur sehr wenige, wie zum Beispiel die sehr Publicity-wirk­same “Kampagne ge­gen den Hunger” des So­ziologen Betinho. Oder die Initiativen sind gar selber das Problem: “Die Stras­senkinder als Objekt von Weltverbes­serern”. Nach exklusiven Informationen der FAZ gibt es in Rio mehr NGO’s als Straßenkinder. Kein Wunder, schließlich läßt es sich mit den Spendengeldern aus dem reichen Norden prächtig leben. Da­gegen gibt es kaum Berichte über die Selbstorganisation der Straßenkinder, über Volmer do Nascimento oder Tania Mo­reira. Der ehemalige Sozialarbeiter und die Staatsanwältin haben in mühseliger jahrelanger Kleinarbeit die Verantwortli­chen für die Massaker namentlich ausfin­dig gemacht und angeklagt. Opfer passen einfach besser ins Bild. Überhaupt: etwas anderes als Mord und Korruption ist man von diesem Land eh nicht gewöhnt.
Die sozialen und wirtschaftlichen Pro­bleme sind – so der Eindruck – hausge­macht. Vor wenigen Jahren schrieb man auch über andere Gründe der Miseren, beispielsweise den immensen Schulden­dienst für die nordamerikanischen und westeuropäischen Banken, die Auflagen des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Sie kommen heute besten­falls noch in Nebensätzen im Wirt­schaftsteil vor. Korrupte Politiker, unfä­hige Regierungen – verantwortlich für das Elend sind die Brasilianer selbst, das Ausland kann da eigentlich nur mitleidig zusehen. Damit hat man heutzutage nun wirklich nichts mehr zu tun.
Der engagierte Dritte-Welt Journalist folgt so den Ansichten, die in akademischen Kreisen schon seit längerem zum guten Ton gehören. In den 50er Jahren wurde unter der Parole “von Europa lernen” noch jeder neue Traktor, der fortschrittsweisend über die Äcker von Brasilien oder Peru seine Bahnen zog, in den Sonntagsbeila­gen bejubelt. Eine Dekade später hatte sich das Bild gewandelt. Nun prägten die “Strukturen” und “Abhängigkeiten” die Artikel. Hoffnungsfrohes war aber auch zu berichten: über Ché und rote Fahnen. Und heute? Wer schreibt heute noch gerne über Nicaragua? Die Zeit der Entwick­lungsträume und der revolutionären Hoff­nung ist vorbei. Modernisierungstheorien sind wieder so aktuell wie ihre Botschaft einfach ist: jeder ist eben in seinem eige­nen Land seines eigenen Glückes Schmied.
Das Wesen der Brasilianer – das Unwesen der Presse
Über die Politik kann man also wenig Gutes sagen. Was bleibt, damit das Bild nicht gar zu duster wird, ist die Kultur. Karneval und Fußball werden gern zitiert. Ein paradoxes Bild: Gewalt, Mord und ausgelassene Menschen. Kann man sich das alles nicht mehr so recht erklären, so findet man in der Mentalität manche über­raschende Antwort. So klärt uns Die Zeit über das eigentliche Wesen der Brasilia­ner auf: Es entspreche “dem Lebensgefühl vieler Brasilianer…mit einem Trick, einem jeito, mit einem Minimum an Arbeit schnell reich zu werden.” (Zeit, 25.2.1994) Als ob dieser Wunsch nicht auf der ganzen Welt der gleiche wäre. Kultur und Mentalität werden zur Erklä­rung sozialer Vorgänge bemüht, wo politi­sche Analysen nicht mehr gefragt sind. Bei soviel Müßiggang und Schlendrian braucht man sich schließlich nicht zu wundern, wieso die Armut hartnäckig an diesem Lande klebt. “No Brasil, tudo acaba em Samba” – In Brasilien endet eben alles im Samba. (ebenda)
Die Artikel über das exotische Land in den Tropen erzeugen den Eindruck einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät, die nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu steuern. Der kurze mediale Ausflug in die “Anarchie” von Mord, Korruption und Karneval hinterläßt eine Gänsehaut und die beruhigende Gewißheit, daß man selbst doch (im Vergleich) in geordneten Verhältnissen lebt. Unausgesprochen wird suggeriert, die Geschehnisse aus einem si­cheren Hort zu betrachten, in dem die Re­geln der Zivilisation noch Gültigkeit ha­ben – und wo hoffentlich alles so bleibt, wie es ist.
Das Deutschland-Bild in der brasiliani­schen Presse
Welcher Leser käme da noch auf den Ge­danken, den Spiegel einmal umzudrehen? Wäre er der portugiesischen Sprache mächtig, er würde erstaunt sein, was über sein zivilisiertes Land alles geschrieben steht. Rostock, Solingen und Mölln sind dem brasilianischen Zeitungsleser so ver­traut, wie es in hiesigen Medien für we­nige Tage die Candelaria-Kirche in Rio war. Auch von der Gewohnheit vieler sei­ner Einwohner, ihre Gäste in Lager zu sperren, sie zu beleidigen, zu schlagen und des öfteren auch zu verbrennen, kann man regelmäßig lesen. In den großen Zeitun­gen des Landes, die übrigens bei der Auf­lage mit den hiesigen Erzeugnissen kein Vergleich zu scheuen brauchen, wird über die Ursachen der Gewalt oft mit einer Deutlichkeit gesprochen, die man hier nur noch selten findet.
Für einen Zeitungsleser aus Recife oder Rio ist es also durchaus fraglich, wo er sich letzten Endes sicherer fühlen kann. Doch – wer mag sich hierzulande darüber den Kopf zerbrechen? Der “Strudel der Gewalt” spielt sich für die meisten Leser letztlich in sicherer Entfernung ab – egal, ob nun in Rio de Janeiro oder vor dem Asylanten-Lager um die Ecke.

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Die Dinge stehen schlecht

Als der junge Kommunist Carlos Cerda nach dem Putsch im September 1973 wie Tausende seiner Landsleute den Weg ins Ostberliner Exil antritt, beschränkt sich seine literarische Pro­duktion auf einschlä­gig Weltanschau­liches. Der Doktor der Philosophie an der Universidad de Chile, der unter anderem auch Unterricht an der Theaterschule genommen hat, kann auf die Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel “El leninismo y la victoria po­pular” (Der Leninismus und der Sieg des Volkes) zurückblicken.
In der DDR weitet Cerda, der dort den Doktortitel für Literaturwissen­schaft er­wirbt und zuletzt an der Humboldt-Uni­versität über lateiname­rikanische Literatur doziert, sein schriftstellerisches Schaffen aus. Er schreibt Erzählungen, Hörspiele, Ro­mane. Im Gegensatz zu vielen anderen ChilenInnen hat er es relativ leicht, auch das Leben westlich der Mauer kennenzu­lernen. Im Dezember 1984 kehrt er nach Chile zurück.
In “Morir en Berlín” zeichnet Cerda den Alltag und die spezifischen Kon­flikte der ExilchilenInnen in kalten Farben und ohne Mitleid. Fremd geblieben in einer grauen und büro­kratischen Welt mit schwer nachvoll­ziehbaren Spielregeln, im Ost­berliner Winter, überschneiden sich und kolli­dieren die Schicksale mehrerer Prot­agonisten(paare):
Zunächst ist da der Chilene Mario, der für die Beziehung mit der Tochter ei­nes Mini­sters seine Frau Lorena ver­lassen hat. Cerda stellt literarischen Bezug zum Mo­tiv der “Medea” aus der griechischen Tra­gödie her: Der Verbannte, der “die Toch­ter des Kö­nigs” zur Frau nimmt, steigt auf, fällt heraus aus dem Chor der Minderpri­vilegierten, der Bewohner des chileni­schen “Ghettos”, für die er zum Fremden wird.
Lorena, die Verlassene, begehrt gegen das enge Korsett staatlicher Bevor­mundung auf und beantragt gegen den erbitterten Protest der mit Partei und Bürokratie kooperierenden chilenischen Oficina die Ausreise nach Mexiko. Sie erfährt vom unerwarteten Besuch ihrer Eltern aus Chile. In einer Szene voll­kommener Trostlosigkeit zerbrechen die “frommen Lügen” der Exilantin, die zur Beruhigung Briefe voller gefäl­liger Schilderungen des Lebens in Deutschland nach Hause ge­schickt hat, aber auch die der Eltern, die in Wirklichkeit im Zuge des wirtschaftli­chen Zusammenbruchs den Glauben an das Pinochet-Regime sowie ihre ganze Habe verloren haben und nun Zuflucht bei der Tochter suchen.
Schließlich der ehemalige Senator, ein alt gewordener orthodoxer Kommunist, des Deutschen nicht mächtig, der aus einer unreflektierten Dankbarkeit dem soziali­stischen Staat und “Gastgeber” gegenüber seine Landsleute zu system­konformem Verhalten anzuleiten sucht. Am Tag, an dem er von seiner tödli­chen Krankheit er­fährt, macht er die Zufallsbekannschaft einer jungen deutschen Tänzerin. In dieser vielleicht ersten echten Begegnung mit ei­ner Bürgerin des von ihm verehrten Staa­tes bekommt er mit einem Mal das ganze Ausmaß seiner Isolation zu spüren. Gleichzeitig aber verschließt er verzwei­felt die Augen vor den Schat­tenseiten ei­nes Sozialismus, der die junge Frau als Vorzeigeobjekt seiner kulturellen “Leistungsfähigkeit” mißbraucht.
Das Buch ist eine – nicht polemische – Abrechnung mit dem System der DDR, das für viele zur Rettung nach der Verfol­gung durch die Militärs ge­worden war, gleichzeitig aber auch eine virtuose und beklemmende Studie über menschliche Abgründe, über das Fest­klam­mern an brüchig gewordenen Ideologien, über Schuld, Lüge und Depression. Dabei be­wahrt Cerda – trotz des kalten, ana­ly­tischen Blicks – eine solidarisch wirkende Anteilnahme am Schei­tern seiner Figuren.

Interview mit Carlos Cerda
Inwieweit spiegeln das Leben und die Konflikte der Personen in Ihrem Buch “Morir en Berlín” Ihre persönlichen Er­fahrungen in der DDR wider?
Jeder Roman ist zu einem guten Teil au­tobiographisch – und jedes Zeugnis einer persönlichen Erfahrung enthält einen großen Anteil an fiktiven und poetischen Elementen. “Morir en Berlín” ist ein Ro­man, der mein Le­ben, aber auch das vieler anderer Chi­lenen in der DDR zum Thema macht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Buch über den Zusammenstoß zwi­schen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich span­nungsreichen, kon­fliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfrem­denden Wirklichkeit dieses Staates. Dessen Fehler sind zu Genüge be­kannt, und ich halte es schlichtweg für eine Dummheit, aus einer falsch verstan­denen Loyalität heraus diese Defizite rechtfertigen zu wollen. Wenn nun Chile­nen, aber auch Deutsche, die in der DDR gelebt haben, mein Buch mit dem Hinweis auf heute ge­schehende, von einem ande­ren System verübte Ungerechtigkeiten kri­tisieren, dann hat das eine mit dem ande­ren einfach gar nichts zu tun. Ich habe Ge­spräche mit vielen Exil-Chilenen geführt, die nach dem Anschluß der DDR ihre Ar­beit, aber auch die Aner­kennung ihrer per­sönlichen Würde verloren haben. Das wa­ren Willkürakte, die mit nichts zu recht­fertigen sind. Aber dieses Buch handelt von etwas ganz anderem, von der Realität in der DDR bis zum Jahre 1985, als ich hier lebte. Ich hätte übrigens nach 1989 die Gunst der Stunde nutzen und in Chile einen Roman über den Fall der Mauer veröffentlichen können – aus kommer­zieller Sicht sicherlich ein größerer Erfolg. Aber das hätte ich unredlich gefunden: Ich kann nur über das be­richten, was ich selbst erlebt habe.
In der Tat habe ich auf indirekte Weise von vielen Seiten Kritik an mei­nem Buch erhalten. Der Tenor dieser Kritik – meist von chilenischen Kom­munisten, die mit mir hier im Exil ge­lebt haben, aber auch von solchen, die in der BRD lebten und gleichzeitig das System der DDR vertei­digten – unter­stellt mir eine Art Verrat. Verrat an den kommunistischen Idealen zu einem Zeitpunkt, da es angebracht wäre, diese mehr denn je zu verteidigen.
Ich habe früher nie einen Hehl aus meiner Mitgliedschaft in der Kommu­nistischen Partei gemacht. Ausgetreten bin ich 1983, ein Jahr vor meiner Rückkehr nach Chile. Seitdem habe ich keine Verbindung mehr zur Partei. Mein Austritt hatte zwei Gründe: Ei­nerseits die absolute Unfähig­keit der Kommunisten, zu erkennen, daß das System der DDR sozialistischen Idealen einfach widersprach. Anderer­seits die verfehlte Strategie des bewaff­neten Kampfes gegen die Diktatur in Chile: Er hat nicht zum Erfolg geführt, aber den Tod von hunderten hervorra­genden Ge­nossen bedeutet. Vor die­sem Hintergrund meiner Trennung von der KP läßt sich mein Buch besser verstehen.
Hat sich in den 12 Jahren ihres Exils in der DDR ihr Urteil über diesen Staat zur Kritik hin gewandelt oder waren Ihnen die Widersprüche der re­alsozialistischen Wirklichkeit von An­fang an bewußt?
Für uns Chilenen, die wir aus einem Land der Dritten Welt – und darüber­hinaus aus einer brutalen Diktatur – in die DDR kamen, war der erste Ein­druck außeror­dentlich positiv. Nicht nur aufgrund der Geste umfassender Solidarität, die uns zuteil wurde. Uns beeindruckte zutiefst ein Staat, der so massiv ein kulturelles Leben förderte; uns faszinierte eine Ge­sellschaft, die sich als antirassistisch defi­nierte. Die Ideale von Gleichheit und Menschlich­keit, die beschworen wurden, schienen unsere eigenen zu sein. Und das Le­bensniveau war in unseren Augen – vielleicht nicht im Vergleich zur BRD – relativ hoch. Vor allem aber hatten wir das Gefühl, in einem Land zu sein, das nach vorn schaute und das – so kam es uns damals vor – gar nicht so viel Angst vor Kritik, vor Dissidenz hatte.
Der erste Schritt zu einer realistische­ren Sichtweise war das Erlernen der deut­schen Sprache. Wir begannen uns mit dem Arbeitskollegen, der Sekretä­rin, dem Taxifahrer zu unterhalten, mit dem Nach­barn, der zum selben Fußballspiel ging. Das waren teilweise sehr offene Gesprä­che. Sie fragten mich: “Warum sind Sie eigentlich hierher ge­kommen?” – “Weil es in meinem Land eine Diktatur gibt.” – “Aber wie konnten Sie denn dann hierher aus­reisen?” – “Ich bin hier im Exil.” – “Aber kann denn ein Chilene, der in sei­nem Land lebt, nach Argentinien, nach Peru, nach Bolivien reisen?” – “Wenn ihm das seine ökonomische Situation erlaubt, natürlich.” – “Sehen Sie, ich kann nicht einmal meine Mutter in Bremen besu­chen.” Solche Gespräche waren irgend­wann aus­schlaggebender als das, was uns der Hauswart oder die Lehrerin über Mar­xismus-Leninismus erzählten. In “Morir en Berlín” habe ich dies in eine Szene zu fassen versucht, in der zwei Chileninnen im “Linden-Korso” auf zwei junge Deutsche treffen, die in die Partei­schule gehen. Da kommt es nicht nur zu einem billigen Flirt, sondern zu einer echten Annäherung, als einer der beiden sagt: “Die Dinge stehen schlecht bei euch und hier auch.”
Desillusionierung angesichts innenpo­litischer Verhärtung
Uns Chilenen jedenfalls gingen späte­stens zu dem Zeitpunkt die Augen auf, als sich die Lage in Polen zuspitzte und Jaruzelski an die Macht kam. Plötzlich wurde offenbar, daß die DDR zweierlei Maß an­legte: Was sie im Falle Chiles so scharf verurteilt hatte, lobte sie auf einmal in ih­rem Nach­barland. Und die Ähnlichkeit der Vor­gänge war erschreckend: das Parla­ment aufgelöst, die Gewerkschaft verbo­ten, die im Ansatz kritische Presse zen­siert – mit anderen Worten: eine Diktatur. Selbst der General Jaruzelski mit seiner dunklen Brille glich dem General Pi­nochet – auch wenn das eine zufällige Parallele ist.
Zuletzt begann sich ja das System der DDR unter dem Eindruck der Ereig­nisse in Polen, später in der So­wjetunion, im­mer mehr zu verhärten. In der Humboldt-Uni, wo ich arbei­tete, wurden plötzlich renommierte und beliebte Dozenten, die nicht der SED angehörten, gegen Partei­kader ausge­tauscht. Es wurde an keinem Punkt mehr eine Öffnung zugelassen. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses habe ich damals die DDR verlassen.
Als ich zurück in Chile war, war der ge­sellschaftliche Protest gegen die Diktatur in vollem Gange. Die regel­mäßigen De­monstrationen auf den Straßen, die offene Ablehnung des Re­gimes hatten eine ziemlich breite Basis, bis diese zusam­menschmolz – nicht zuletzt aufgrund der Option der KP für den bewaffneten Kampf gegen die Militärherrschaft. In die­sem Zusam­menhang stand auch das At­tentat ge­gen Pinochet 1986, das eine enorme Repression, aber auch einen Stim­mungsumschwung zugunsten der Rechten bewirkte. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist, daß die Kommuni­stische Partei hier und dort die falschen Wege ge­gangen ist. Daß ich dies in meinem Buch benenne, hat mir aus diesem Lager freilich schärfste Ablehnung beschert.
Hätten Sie dann nicht schon viel frü­her, noch in der DDR, offen Kritik an den von Ihnen empfundenen Mißstän­den üben sollen?
Im Rahmen meiner Möglichkeiten glaube ich, das getan zu haben. Bei­spielsweise habe ich Anfang der acht­ziger Jahre ein Hörspiel für den Rundfunk der DDR ge­schrieben. Die Geschichte hieß “Die Zwillinge von Calanda” und schilderte auf metapho­rische, aber ziemlich offensichtli­che Weise die Doppelmoral, die Schizo­phrenie von Menschen, die in einem tota­litären System leben: Den Men­schen von Calanda wächst eine Art siamesischer Zwilling aus dem eigenen Körper, der immer das sagt, was der andere gewohnt war zu verschweigen. Am Ende töten diese Menschen ihr verhaßtes, uner­wünschtes alter ego. Als ich mit dem Ent­wurf zu den verant­wortlichen Redakteuren kam, die sehr offen für kritische Töne waren, sagten sie: “Tja, das könnte ganz schön schwierig werden. Aber wenn man ge­nügend lateinamerikanische Musik unterlegt…” Schließlich wurde es gesen­det, und nicht ohne Erfolg. Für mich ist so etwas durchaus Kritik.
Wie wurde Ihr Buch in Chile aufgenom­men? Beschränkt sich das Interesse auf den Personenkreis derer, die auch das Exil durchgemacht haben, oder gibt es eine breitere Aufmerk­samkeit?
Das Buch erschien in erster Auflage im Sommer 1993. Inzwischen ist die vierte Auflage á 3000 Exemplare ge­druckt wor­den, was für Chile einen enormen Erfolg darstellt. Die Kritik war bis auf Ausnah­men sehr positiv, selbst im Punto Final, einer Zeitschrift des linken MIR, wurde es gelobt. Im Mai diesen Jahres hat es den zweiten Preis beim Premio Pegaso ge­wonnen, einem lateinamerikanischen Lite­raturpreis, an dem über 400 Romane aus den Jahren 1990 bis 1993 teilnah­men.
Welche kulturelle, aber auch politische Rolle kann Literatur heute in Chile spie­len? Welche Rolle sollte sie spie­len?
Ich glaube, die Literatur – und die Kunst im allgemeinen – spielt immer eine positive Rolle, wenn es darum geht, ein von Vernunft, von Respekt gegenüber kontroversen Ansichten ge­prägtes Klima zu schaffen. Vor allen Dingen aber schärft sie das moralische Urteilsvermögen. Die Länder Latein­amerikas sind heutzutage im Begriff, wirtschaftlich wieder Fuß zu fas­sen, meine ich. Sie bieten ihre Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Welt­markt an und stehen davor, Rück­stände aufzuholen, die sich in Jahr­zehnten aufge­baut haben. Aber dieser Prozeß, der an und für sich positiv zu beurteilen ist, birgt die Gefahr, daß unser alltägliches Leben in zunehmen­dem Maße nur noch von den Charak­teristika des Produktionsprozesses und des Konkurrenzdenkens geprägt wird. Unter dem ökonomischen Druck wird un­ser Lebensstil von Tag zu Tag entfremde­ter, vom Prinzip der Kon­kurrenz diktiert. Die Fähigkeit zur Kritik, zum Urteilen, das Gefühl für unsere Identität als Latein­amerikaner gehen dabei verloren.
Bücher sind in unserem Kontinent – und zumal in Chile – ein knappes Gut: Für den größten Teil der Bevölkerung sind sie zu teuer, und Leihbüchereien gibt es praktisch überhaupt nicht. Freilich muß man in Be­tracht ziehen, daß es immer weitaus mehr Leser als Käufer von Büchern gibt. Pro ver­kaufter Ausgabe zirkulieren oft vier oder fünf kopierte Versionen eines Wer­kes. Aber ich finde sehr interes­sant, was Carlos Fuentes vor­geschlagen hat: Die lateinamerikanischen Regie­rungen sollten bei ihrer nächsten Ver­handlung zum Ab­bau von Handels­hemmnissen als ersten Tagesordnungs­punkt die Frage der Lite­ratur behan­deln. Noch vor allen anderen Gütern – Kiwis, Orangen, Kaffee – vor irgendei­nem Pro­dukt unseres Bodens und un­serer Arbeit sollten Bücher – als gei­stige Produkte der Völker unseres Kontinents – ohne einen Peso Abga­ben oder Zölle die Grenzen passieren. Das hätte auch eine Verbilli­gung der Literatur zur Folge.
Vergangenheitsbewältigung der Dikta­tur
Die Hauptfigur in Ihrem Buch, ein Chi­lene im Ostberliner Exil, erklärt ei­ner Deutschen in einer Metapher, daß es “viele Chilenen gibt, die in Weimar woh­nen und von Buchenwald nichts wissen wollen”. Sie ziehen also Paral­lelen zwi­schen der deutschen und der chileni­schen (jüngsten) Vergangenheit. Kann und muß die Literatur in Chile einen Beitrag zu ei­ner Vergangenheitsbewäl-tigung leisten?
Auf jeden Fall. Das muß in der Kunst, in der Literatur geschehen, denn die Politik kann das in Chile nicht leisten, was ich durchaus nachvollziehen kann. In der lite­rarischen Reflexion, aber auch im Theater und im Film können Rechnungen begli­chen werden, können Konflikte ausgetra­gen werden, die auf dem Gebiet der Poli­tik nur zu unheil­vollen Konfrontationen führen würden. Ein Beispiel aus einem anderen Land: Die Konflikte, die der ku­banische Film Fresa y Chocolate auf­greift, werden auf diese Weise bewußter und kon­kreter, als eine Behandlung des The­mas auf politischer Ebene. Wenn wir also heute drängende ethische Fragen, die unser Land beschäftigen – die To­ten, Ver­schwundenen, das Exil etc. – ins Bewußt­sein rufen wollen, dann funktio­niert das besser in der Einsam­keit des Le­sens als in einer Auseinan­dersetzung zwi­schen Par­teien. Die Romane von Heinrich Böll ha­ben mehr zur Aufarbeitung der deutschen Ver­gangenheit beigetragen als die meisten Diskussionen im Bundestag über dieses Thema. Die moralischen Kon­flikte ei­ner Gesellschaft werden am tief­gründigsten durch ihre kulturellen Akti­vitäten bewäl­tigt.
Was wäre – nach Ihren Erfahrungen mit dem Leben in der DDR und vor dem Hintergrund des politischen Pro­zesses in Chile – Ihre Definition, heute links zu sein?
Eine zutiefst humanistische Antwort auf die heutigen Probleme zu geben. Auf die alten, wie Armut, Ungerech­tigkeit, Ras­sismus, Diskriminierung, und auf die neuen: Umwelt, öffentliche Moral, Indivi­dualismus. Für die Linke, wie ich sie defi­niere, gibt es den un­umstößlichen Wert des Menschen und das Verdienst, gegen jede Art von Diktatur gekämpft zu haben – und ge­gen die egoistischen Partialinteres­sen der Unternehmen. Diese Welt ist mo­mentan eine Welt der Unternehmen. Um sie wieder zu einer Welt des Men­schen zu machen, muß der Staat regulie­rend ein­greifen, die Wirtschaft den Inter­essen der Menschen unter­ordnen.
In Chile, glaube ich, läßt die Demo­kratie selbst in ihrer jetzigen Form Platz für alle möglichen Ziele – auch für dieses. Ob im Jahr 2000, wenn eine neue Regierung ge­wählt wird, die Concertación (die Regierungs­koalition in Chile, Anm. d. Red.) weiter­macht wie bisher, oder ob sich die Macht nach links oder rechts verschiebt, ist voll­kommen offen. Aber genau das führt zu einem größeren Verantwortungsbewußt­sein bei denen, die heute Politik machen.
Gibt es irgendeinen Zusammenhang, ein verbindendes Element zwischen den Auto­ren der sogenannten “Nueva Nar­rativa Chilena”, der auch Sie zu­gerechnet werden?
Es gibt einen Zusammenhang, der über die Tatsache hinausreicht, daß wir mehr oder weniger der selben Genera­tion an­gehören. Ich halte es für ein relativ neues kulturelles Phänomen in Chile, daß ausge­rechnet chilenische Autoren zu den meist­gelesenen gehö­ren. Es ist ungeheuer be­deutend für ein Land wie das unsere, daß auf ein­mal die eigene Literaturproduktion im Mittelpunkt des Interesses steht. Wohlgemerkt: das soll zu keinem kul­turellen Nationalismus führen. Aber früher gab es einfach kein Vertrauen in unsere eigene Literatur. Kein Wunder, denn wer seine Bücher während der Diktatur veröf­fentlichen konnte, mußte ja von vornher­ein das Plazet der Zen­sur erhalten haben. Genauso war es unter der Franco-Herr­schaft in Spa­nien: Plötzlich gab es einen Nachfra­geboom nach latein­ame­rikanischer Li­teratur, denn zensierte Kul­tur hat nun mal einen faden Beige­schmack.
Was die Nueva Narrativa Chilena an­geht, so vereint sie AutorInnen mit teil­weise sehr unterschiedlichen politi­schen Über­zeugungen, mit sehr ver­schiedenen Stilen, und das ist gut so. Wir sind kein Fußball­team, wir suchen kein gemeinsa­mes Pro­gramm, sondern wollen unabhän­gig von­einander dem Beruf des Schrei­bens nach­gehen.
Zu guter letzt: Was machen Sie jetzt, und was sind Ihre Projekte?
Ich schreibe an einem neuen Roman und an einem Hörspiel. Darum dreht sich für mich momentan alles: weiter­schreiben und weiterleben.
Und vom Schreiben leben?
Nie und nimmer! Das können die wenig­sten, und in Chile schon gar nicht. Was mich betrifft, ich arbeite vormittags in ei­ner Werbeagentur, die ich auch leite. Die Nachmittage gehö­ren dann ausschließlich der Schrift­stellerei.
Stellt das für Sie keinen Widerspruch dar, Werbung und Literatur?
Schon. Aber man muß eben lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Herr Cerda, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Alles paletti

Bis zum Vertragsabschluß war es ein weiter Weg: der BGI hatte ein ‘Gütesiegel für kolumbianische Blumen’ schon zum Muttertag 1993 angekün­digt. Allerdings erwiesen sich die weiteren Schritte – allen voran das Einver­ständnis der kolumbiani­schen Exporteure – schwieriger als ge­dacht, so daß noch einige Zeit verging, bis endlich zu­mindest das grundlegende Ver­tragswerk der Öffent­lichkeit vorgestellt werden konnte. Nach den bisherigen in­haltlichen Ausführungen bleibt jedoch Skepsis angebracht, ob sich damit die Verhältnisse auf den Blu­menplantagen tatsächlich verbessern. Die kolumbiani­sche Blumenindustrie, welt­weit zweit­größter Schnitt­blumenexporteur, hat auf­grund der Produktions- und Arbeitsbedin­gungen in ihren Betrieben in den letzten Jahren vor allem in Europa zunehmend Negativschlagzei­len gemacht. Eine allzu kri­tische Presse und Öffent­lichkeit, dazu Debatten bis ins Europaparlament hinein sind nicht gut für einen Bereich, in dem täglich neue Anbieter auf den interna­tionalen Markt drängen.
Alter Hase im Blumengeschäft
Für Kolumbien sind Blumen ein wichtiges Geschäft: schon in den 60er Jahren wur­den die ersten Betriebe in der Hochebene rund um die Hauptstadt Bogotá ge­gründet. Die Sabana de Bo­gotá bot günstigste Voraus­setzungen für den Blumen­anbau, die diesem Wirt­schaftszweig schon bald traumhafte jährliche Zu­wachsraten be­scherten: ein hervorragendes Klima mit hoher Sonneneinstrahlung, fruchtbarer Boden zu gün­stigen Preisen, ausreichend Wasser, eine gute und schnelle Anbindung an den Flughafen von Bogotá, nur wenige Stunden entfernt vom Importmarkt der USA, Miami. Und nicht zuletzt gab es ausreichend billige Arbeits­kräfte, deren Entlohnung um ein vielfaches niedriger lag als in den industrialisierten Ländern: Betrug der durch­schnittliche Tageslohn im landwirtschaftlichen Bereich der USA 1966 18 US-Dollar und 1970 21,25 US-Dollar, waren es in Kolumbien gleichblei­bend nur ganze 82 Cent, die ein/e Blumenar­beiterIn im Durchschnitt pro Tag verdiente.
Heute sind Blumen das drittwichtigste landwirt­schaftliche Exportprodukt Kolum­biens nach Kaffee und Bananen, mit dem immerhin noch 4 – 5 Prozent des Ge­samt­exportvolumens des Landes erwirtschaftet wer­den. Im letzten Jahr wurden über 130.000 Tonnen Blumen im Gesamtwert von über 380 Millionen US-Dollar expor­tiert. Etwa drei Viertel des Exports gehen in die USA, jedoch kommt auch den Märkten Westeuropas eine wichtige Rolle bei der Ver­marktung inmitten einer im­mer größer werdenden Kon­kurrenz von ande­ren ‘Drittweltlän­dern’ zu.
Steigender Konkurrenzdruck – Suche nach der Nische
Trotz Wirtschaftskrise und Rezession sind die hiesigen Märkte noch ausbaufähig, und Blumen werden immer gekauft. Spitzen­reiter im Konsum ist die Bundesrepu­blik, in die Kolumbien bisher nur etwa ein Viertel seiner EU-Exporte liefert. Das ent­spricht jedoch nur zwei Prozent des jährlichen deut­schen Blumen­umsatzes. Mög­lich ist da noch viel: nir­gends sonst wird pro Kopf so viel Geld für Blumen ausgegeben wie in Deutsch­land, dem weltweit größten Importmarkt für Schnittblu­men mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Mark. Etwa 80 Prozent der Blumen sind Importware. Diese wird zwar zum größten Teil aus Holland eingeführt, aber es bleibt immer noch ge­nügend Spiel für Zuwachsraten anderer Produzentenländer wie etwa Kolumbien. Zudem ist der Export nach Europa vor al­lem im hiesigen kalten Winter ein wichti­ges Geschäft, wenn auch die beste Heiz­anlage in niederländischen Gewächshäu­sern nicht mehr das rechte Resultat bringt und umsatz­starke Feiertage wie Weih­nachten, Silvester, Valen­tins- und Mut­tertag ins Haus stehen.
Auch die anderen westeuro­päischen Län­der sind wich­tige Exportmärkte: In den englischen Handel geht etwa die Hälfte der EU-Trans­porte, den Rest teilen sich die übrigen Mitgliedsländer. Nimmt man die Fast- und -Im­mer-noch-nicht-EU-Staaten Norwegen, Schweden, Öster­reich oder die Schweiz hinzu, werden insgesamt etwa 20 Prozent der gesamten ko­lumbianischen Blumenproduk­tion in die EU impor­tiert. Zudem können Blumen seit dem 1990 im Rahmen der ‘internationalen Drogenbekämpfung’ geschlos­senen Zoll­präferenzabkommen mit den Andenlän­dern (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) zollfrei in die EU einge­führt wer­den. Die Ver­längerung dieses bis Ende 1994 befristeten Abkommens um weitere 10 Jahre wird gerade in den Gre­mien der Europäischen Union innerhalb des Allge­meinen Zollpräfe­renzsystems diskutiert.
Blühende Landschaften – ausgelaugte Menschen
Gerade in Westeuropa je­doch, und hier vor allem in der Bundesrepublik, Öster­reich und der Schweiz, nah­men in den letzten Jahren die Stimmen derer zu, die die Produktionsbedingungen auf den Blumenplantagen und die Lebens- und Arbeitsbe­dingungen der Blumenarbei­terInnen kritisieren und ih­ren Klagen über die zahl­reichen Verletzungen mini­malster Grundrechte auch in den Verkaufsländern öffent­liches Gehör verschaffen. In Ko­lumbien arbeiten heute etwa 80.000 Men­schen, in der Mehrzahl Frauen, direkt in der Blumenindustrie. Weitere 50 – 60.000 sind in ange­gliederten Produktionszwei­gen beschäftigt, in der Zu­lieferung, dem Transport, der Herstellung von Ver­packungsmaterial und Pla­stikplanen usw. 600.000 Per­sonen sind, so die Schät­zungen, insgesamt von der Arbeit auf den Blumenplan­tagen abhängig. Der Preis, den sie und vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen bezahlen, ist hoch: Der Ar­beitsalltag ist lang mit nur kurzen Pausen, um sich von den körperlichen Strapazen stundenlangen Stehens oder Arbeitens in der Hocke und auf den Knien zu ‘erholen’. Kommen längere Anfahrwege hinzu, sind die Frauen und Männer schon an norma­len Arbeitstagen häufig 12 Stunden und länger außer Haus. Vor allem zur Haupterntezeit, die im Ok­tober beginnt, kommen Über­stunden hinzu, die die ge­setzlich erlaubten Maximal­zeiten oft weit überschrei­ten und häufig auch noch den einzigen arbeitsfreien Tag, den Sonntag, ein­schließen. Bezahlt wird dabei gerade einmal der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn. Der liegt im Moment bei etwa 120 US-Dollar im Monat – was bei weitem zu wenig ist, um eine Familie auch nur mit dem Notwendigsten zu ver­sorgen.
hire and fire
Die Anstellungsverhältnisse sind unsicher. Immer mehr ArbeiterInnen sind nicht fest beim Betrieb ange­stellt, sondern arbeiten über Leihfirmen und mit Zeitarbeitsver­trägen. Dies ermöglicht es beispielsweise, Sozialversicherungspflichten oder Ver­pflichtungen zu Lohnfortzahlungen bei Kün­digung zu umgehen. Auch das 13. Monatsgehalt wird auf diese Weise einge­spart. Die Beschäftigung über Kurzzeit­verträge ermöglicht es den Unternehmern auch, aus­schließlich nach dem aktuel­len Bedarf und den gerade anfallenden Ar­beiten einzu­stellen und zu entlassen. Zu­dem werden Zeit-, bezie­hungsweise Leih­arbeits-“verträge” oft nur mündlich ge­schlossen. Entspre­chend er­schwert ist der Gang vor ein Ar­beitsgericht, um vor­enthaltene Rechte einzukla­gen. Die mit den kurzfristi­gen Verträgen und der großen Arbeitsplatzunsi­cherheit verbun­dene hohe Rotationsrate unter den Arbei­terInnen macht zudem eine gewerkschaft­liche Or­ganisierung schwierig. Ein ausge­sprochen positiver Effekt aus Sicht der Un­ternehmer, die alles daran­setzen, eine un­abhängige Organisierung in ihrem Be­trieb zu vermeiden. Dabei reicht die Pa­lette von Re­pressionen über Prämien für Wohlverhalten bis hin zu Entlassungen. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo eine arbeitgeberfreundliche Be­triebsgewerk­schaft existiert, auch wenn in Kolumbien das Grundrecht auf freie Organi­sierung und gewerkschaftli­che Be­tätigung gesetz­lich garantiert ist.
Ein weiteres großes Pro­blemfeld ist der permanente und intensive Pestizidein­satz im Blumenanbau – 120 bis 230 kg Pesti­zid-Wirk­stoff, so Schätzungen, wer­den pro Jahr und Hektar auf den Plantagen aus­gebracht, etwa das Doppelte der hol­ländischen Mengen. Der Blu­menanbau er­fordert im Schnitt 14 verschiedene ma­nuelle Arbeitsschritte, bei denen die Pflan­zen direkt angefaßt und berührt wer­den – mehr als in allen anderen landwirt­schaft­lichen Produk­tionsbereichen. Man­gelhafte Arbeits- und Schutzkleidung, die Nicht­ein­hal­tung von Wiederbetretungsfri­sten nach Ausbringung von Schädlings­be­kämpf­ungsmitteln, unter­lassene Ausbil­dung der Ar­beiterInnen, mangelnde hygieni­sche Einrichtungen… all das heißt, jeden Tag aufs Neue die Gesundheit zu gefährden und zu ruinieren. Vergif­tungs­erscheinungen wie Schwindel, Kopf­schmer­zen, Übelkeit, Hautausschläge und Aller­gien sind alltäglich und “nur” die “leichteren” Ge­sundheitsschäden. Ar­beits­unfälle mit Todesfolge kommen im­mer wieder vor.
Ein erhebliches Problem für die Gemein­den der Sabana ist der Wasserverbrauch der Blumenplantagen, die oftmals direkt bis an die Häuser der Ortschaften heran­reichen oder sie teilweise vollstän­dig ein­schließen. Drei Vier­tel des gesamten Wasser­verbrauchs in den Hauptan­bau­gebieten gehen auf das Konto der Blumen­unterneh­men. Der Grundwasser­spiegel fällt jährlich um ca. 3,5 bis 5 Me­ter. Infolgedessen sind Trinkwasserpro­bleme inzwi­schen weit verbreitet. Viele Ge­meinden haben nur noch stundenweise am Tag Wasser – sofern sie es sich über­haupt leisten können, immer tiefere Brunnen­bohrungen vorzunehmen. Wer das nicht kann, muß eben das noch vor­handene Oberflächenwas­ser nutzen – oft genug eine schillernde Brühe zweifel­hafter Qua­lität.
Der Blumenboykott
Die vielen Berichte über diese Lebens- und Arbeits­verhältnisse führten dazu, daß im Frühjahr 1991 in der Schweiz, in Österreich und der Bundesrepublik ver­schiedene Organisationen und Hilfswerke mit einer Infor­mations- und Öffentlich­keitskampagne begannen. Diese war ver­bunden mit dem Versuch, in einem konstruk­tiven Dialog mit den ver­schiedenen Verantwortlichen eine Verbes­serung der Si­tuation der ArbeiterInnen zu erreichen. Sie stießen dabei nicht nur auf taube Ohren: der Verband der deutschen Blumenimporteure BGI kün­digte schließ­lich im Frühjahr vergangenen Jahres an, eine ‘Colombian Clean Flower De­claration’, wie sie zunächst hieß, zusam­men mit den ko­lumbianischen Exporteu­ren verabschieden zu wollen, die die Ein­haltung der gesetzli­chen Grundlagen in Kolumbien innerhalb der Bereiche Ar­beitsrecht, Sozialbestim­mungen, Umwelt­schutz und Einsatz von Pestiziden ga­rantieren sollte. Die Organi­sationen der deutschen Blu­men-Kampagne begrüßten die­sen Schritt, bedeutete er doch eine indi­rekte Aner­kennung der immer wieder ge­äußerten Kritik an den Zu­ständen in der kolumbiani­schen Blumenindustrie auch durch die Unternehmer. Und könnte tatsächlich durchge­setzt werden, daß die ge­setzlichen Vorschriften eingehalten würden, wäre dies in einem Land wie Ko­lumbien, in dem massive Men­schenrechtsverletzungen an der Tagesord­nung sind, doch schon ein erster Erfolg, auch wenn die Blumen damit noch lang nicht ‘sauber’ sind und ein wirkliches ‘Güte’-Siegel sicher mehr erfüllen muß als die Einhaltung der nationalen Gesetzge­bung.
Ob mit dem jetzt in Frank­furt vorgestell­ten Siegel tatsächlich Verbesserungen er­reicht werden können, bleibt abzuwarten und muß bislang noch mit einiger Skepsis betrachtet werden. Das Abkommen zwi­schen BGI und Asocolflores sieht vor, daß die kolumbianischen Betriebe, die das Siegel benutzen wollen, sich zunächst kontrollieren las­sen müssen. Fällt diese Kontrolle zufriedenstellend aus, werden die Unternehmen auf eine ‘Weiße Liste’ ge­setzt und erhalten das Recht, ein Em­blem auf ihren Verkaufskartons zu führen. Bisher liegen für das Siegel des ‘Colombia Flower Council, Germany’ allerdings le­diglich Richtlinien für den biolo­gisch-ökologischen Bereich vor, mit denen der Pesti­zideinsatz gesenkt, die Handhabung der Agrochemika­lien ungefährlicher ge­macht und die Einhaltung der Si­cherheitsvorschriften und Wiederbetre­tungsfristen er­reicht werden sollen. Dazu, wie die schwierigen Bereiche des Sozial- und Arbeits­rechts in das Siegel einge­bunden werden können, was von diesen Bereichen sinn­vollerweise wie kontrolliert und von wem überprüft wer­den soll, gibt es bislang al­lerdings keine genaue Vor­stellung, obwohl kolumbiani­sche und deutsche Gruppen immer wieder Vor­schläge hierzu gemacht haben.
Die deutschen Unternehmer möchten mit dem Siegel schnell auf den Markt kom­men, möglichst schon Anfang nächsten Jahres. In Frank­furt kündigten sie an, daß schon im Oktober die ersten Betriebe dazu ‘gecheckt’ werden sollten – aufgrund der geschilderten Situation bislang nur für den biologi­schen Bereich. Wie die feh­lenden Aspekte so schnell integriert werden kön­nen, so daß der ins Auge gefaßte Zeitplan eingehalten werden kann, ist unklar. Reine ‘Öko-Blumen’ aber aus Betrieben, die nicht bereit sind, Ge­werkschaften zuzulas­sen und ihren sozial- und arbeits­rechtlichen Verpflichtungen nachzukom­men, können kei­nesfalls das Ziel der Be­mühungen sein.
Für die deutsche Blumen­kampagne gibt es einige weitere zentrale Punkte, die bei der Einführung eines Blumensiegels grundle­gend sind: 1. Eine Trennung zwi­schen Umwelt- und sozialen Rechten oder auch eine Vernachlässigung letzterer ist nicht durchführbar. Wie soll beispielsweise gewähr­leistet werden, daß die Vor­schriften eingehalten und Sicherheitsvor­kehrungen bei der Handhabe von Pestizi­den beachtet werden? Oder die Arbeits­kleidung komplett und funktionstüchtig ist? Wer könnte den Arbeitsalltag in den Betrieben besser und kompetenter kon­trollieren als die Arbeiter und Arbei­terinnen, die dort beschäf­tigt sind? Wie aber sollen sie dies tun und sich auch äu­ßern können, wenn grund­legende soziale Rechte wie das Recht auf Koalitions­freiheit nach wie vor miß­achtet werden? Vorausset­zung ist, daß es den Arbei­terInnen möglich ist, ihre eigenen unab­hängigen Ge­werkschaften aufzubauen, und zwar ohne damit ihre Entlas­sung zu riskieren oder Repressalien im Betrieb fürchten zu müssen.
2. Den Berichten und Be­schwerden der ArbeiterInnen muß ein besonderes Ge­wicht eingeräumt werden – und hierzu ist mehr notwendig als die Möglich­keit, sich bei den Be­triebsbesichtigungen an eine Kontroll­kommission zu wen­den, die möglicher­weise ein­mal pro Jahr im Un­ternehmen vorstellig wird. Es muß eine dauerhafte neutrale Mög­lichkeit für die ArbeiterIn­nen geben, sich zu ihren Ar­beitsbedingungen zu äu­ßern, ohne daß sie negative Folgen für sich befürchten müs­sen. Gleichzeitig muß ein Modus gefun­den werden, der gewährleistet, daß den Be­schwerden der ArbeiterInnen über die Situation in ihren Betrieben auch nachge­gangen wird.
3. Für eine Glaubwürdigkeit des Siegels muß auch die Unabhängigkeit der Kommis­sion garantiert sein, die die Ein­führung und Einhaltung des Siegels und der Dekla­ration in den Betrieben kontrol­lieren soll. Bisher ist vorgesehen, daß über die Besetzung der Kontrollkom­mission nur von Unterneh­merseite entschieden werden soll, während andere betei­ligte Gruppen keinerlei Mit­spracherecht haben. Die Ge­fahr einer reinen Eigenkon­trolle durch eine Kommis­sion, die größtenteils den Wünschen der Unternehmer ent­spricht, liegt so auf der Hand. Die kolum­bianischen Unternehmer haben es bisher immer wieder abgelehnt, sich mit kolum­bianischen Gruppen, den ArbeiterInnen und selbst mit WissenschaftlerInnen der staatlichen Nationaluniver­sität von Bogotá zusammen­zusetzen, die an einem in­terdisziplinären For­schungsprojekt zur Blumen­industrie arbeiten. Eine auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbare Unabhän­gigkeit der Kommission, die das Vertrauen aller am Konflikt beteiligten Gruppen genießt, ist jedoch unab­dingbare Voraussetzung da­für, daß das Siegel auch glaubwürdig ist. Nicht zu­letzt für die hie­sigen Ver­braucherInnen, die schließ­lich die kontrollierten Blu­men auch kaufen sollen.
4. Ein weiterer kritischer Bereich ist die Check- oder Kontrolliste, anhand derer die Betriebe in Kolumbien überprüft werden sollen. Auch hier liegt ein Konzept für den arbeits- und sozi­alrechtlichen Bereich nach Aussagen der deutschen Blu­menimporteure noch nicht vor, obwohl es in Kolumbien an kompetenten Personen nicht mangelt, auf die bei ihrer Erstellung zurückge­griffen werden könnte.
Alle vorgenannten Punkte müssen zunächst einmal in zufriedenstellender und für alle Seiten überzeugender Weise gelöst sein, damit das in Frankfurt vorge­stellte Siegel zu einem Instrument werden kann, mit dem eine Verbesserung der Si­tuation für die kolumbianischen Blu­menarbeiterInnen erreicht werden kann.
Unterschrieben –
aber auch umgesetzt?
Doch zunächst einmal ist das geschlos­sene Abkommen ein Vertrag zwischen zwei Ver­bänden, das für sich genom­men noch keinerlei Auswir­kungen und Ver­pflichtungen für die, den Verbänden ange­schlossenen Betriebe mit sich bringt. Das heißt, in Kolumbien muß sich nach der Unterschrift von Asocolflo­res noch kein einziges Un­ternehmen in Zukunft kon­trollieren lassen, so lange nicht die Besit­zer selbst noch einmal der Deklaration beitreten. Daß die Unterneh­mer nicht ge­rade euphorisch reagierten, kann daran ab­gelesen werden, daß bislang nur sechs oder sieben der über 400 kolumbianischen Blumenbe­triebe ein Interesse an dem Sie­gel gezeigt haben. Und selbst für den eher unwahr­scheinlichen Fall, daß alle Mitgliedsbe­triebe Asocolflo­res’ sich dem Abkommen an­schließen, sind die Blumen­betriebe Kolumbiens noch nicht vollstän­dig erfaßt. ‘Interessant’ ist das Abkom­men ohnehin zunächst nur für diejenigen Be­triebe, die in die Bundesrepublik expor­tieren. Wenn der deutsche Einzelhandel sich aber ver­pflichten würde, nur noch Blumen von Betrieben der ‘Siegelliste’ zu vermarkten und zu verkaufen, wäre es ein Instrumen­tarium , das die kolumbiani­schen Unter­nehmer dazu bewegen könnte, dem Ab­kommen beizu­treten.
Der deutsche Blu­menimporteursverband (BGI) hat in Frankfurt angekün­digt, in ei­nem nächsten Schritt seinen Mitgliedern eine entspre­chende Empfeh­lung geben zu wollen und fügte hinzu, der deutsche Flo­ristenverband habe das Abkommen bereits begrüßt. Eine Möglichkeit, die Einzel­händler über eine eigene freiwillige Ent­scheidung hin­aus zu einer Unterstützung des Siegels zu bewe­gen, hat der BGI al­lerdings nicht. Kom­men vom hiesigen oder anderen Märkten nicht ent­sprechende ‘Anreize’, wird sich wohl kaum ein Unterneh­mer finden, der freiwillig und ohne damit verbundene Vorteile eine Umstrukturie­rung seines Betriebes vor­nehmen wird.
Natürlich sind hiermit noch längst nicht alle Verantwort­lichen erfaßt, die – nicht nur im Falle der Blumen – in der Verpflich­tung stehen, wenn es um die Durchsetzung menschenrecht­licher Min­deststandards und sozialer Grundrechte geht: der ko­lumbianische Staat, weit ent­fernt davon, alles ihm Mögliche zur Durchset­zung und Garantie der Men­schenrechte zu tun und seine Kontroll­pflichten wahrzunehmen, die (deutsche) chemische Industrie, die alljährlich Rie­sengeschäfte mit dem Ex­port hochgiftiger Pestizide macht, die deut­sche Regierung, gerade jetzt in der EU-Präsidentschaft mit einer ‘besonderen’ Chance zum Handeln, natio­nale wie inter­nationale Verbände und Regierungen… Auch die deutschen Konsu­mentInnen werden es mit ih­rer ei­genen Verantwor­tung nicht dabei bewen­den lassen können, sich mit ‘kontrollierten’ und ‘besiegelten’ Blumen ein reines Ge­wissen zu (er)kaufen. Bis zu einer echten ‘Sozio-Öko-Blume’ ist es noch ein weiter Weg.

Eine Materialliste zum Thema ‘Blumen’ ist erhältlich bei: FIAN, Overwegstr. 31, 44625 Herne.

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

Streiter für eine andere politische Kultur

Mariátegui, der in Anlehnung an den Titel einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift “Amauta” genannt wurde, was in der In­dianersprache Quechua soviel wie “Weiser” oder “Gelehrter” bedeutet, war weder das eine noch das andere im klassischen Sinne. Die Elfenbeinturm­mentalität vieler Intellektueller war ihm verhaßt, das künstlerische und akade­mische Establishment griff er an, wo im­mer er konnte. Seine kurze Lebens­spanne (1894-1930) war auch nicht dazu angetan, aus ihm einen “Weisen” jenseits der poli­tischen Auseinandersetzungen zu machen. Bereits als Kind war er von einer schwe­ren Krankheit gezeichnet, wegen der er sich mehreren Operationen unter­ziehen mußte, die ihn nach der Amputation eines Beines an den Rollstuhl fesselte und schließlich das Leben kostete. Vielleicht hat diese Krankheit dazu bei­getragen, daß er rastlos und fieberhaft al­les Neue in sich aufsog, daß seine Schrif­ten in vielem fragmentarisch blieben und seine Aktio­nen polemisch. Nein, ein “Weiser” war er nicht, sondern vielmehr ein in den gesell­schaftlichen Kämpfen en­gagierter Intel­lektueller im besten Sinne des Wortes.
Mariátegui war Zeitzeuge der großen ökonomisch-politischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen am Beginn des 20. Jahrhunderts: Die mexikanische und die russische Revolution sowie den Bruch der historischen Avantgardebewegungen (Dada, Futurismus, Surrealismus) mit der Geschichte der europäischen Kunst be­grüßte er enthusiastisch und begleitete sie kritisch. Alles Rückwärtsgewandte verab­scheute er, den pasadismo (die Vergan­genheitsliebe) der peruanischen Eliten sah er als Dekadenzerscheinung an, als Blind­heit gegenüber dem Geist einer neuen Zeit.
Diesen esprit nouveau sah er in der mo­dernen Kunst und in Sergeij Tretjakovs Ideal einer in die gesellschaftlichen Kämpfe eingreifenden Produktionskunst ebenso angedeutet, wie in der Philosophie Albert Einsteins und den politischen Theorien von Antonio Gramsci, Benedetto Croce oder George Sorel. Der Kampf für die Durchsetzung, für die Hegemonie die­ser neuen Ideen war in Mariáteguis Den­ken untrennbar mit denjenigen für die so­zialistische Revolution verbunden. Beide, kulturelle Hegemonie und Revolution, sollten aber in seinen Vorstellungen spezifisch peruanische Züge annehmen (daher der programmatische Titel einer seiner Kolumnen: Peruanisieren wir Peru). Nicht die rückwärtsgewandte Utopie der Restauration des Inkareiches Tawantin­suyo, wie sie von einigen Indigenisten vertreten wurde, war sein Ideal. Seine Utopie war eine sozialistische Gesell­schaft, die den kulturellen Dualismus von indianischer und westlich-abendländischer Welt in Peru versöhnen und in einer pe­ruanischen Nationalkultur aufheben sollte. Nation und Nationalkultur waren deshalb für Mariátegui utopische und – das muß besonders betont werden – antinationalisti­sche Begriffe.
Zwischen Indigenismo und Gramsci
Bereits mit vierzehn Jahren schreibt Ma­riátegui seine ersten Artikel für die Tages­zeitung La Prensa. Anfangs ist er haupt­sächlich von christlichem Ideengut begei­stert; daneben finden sich auch die zeitty­pischen Einflüsse von Positivismus und Dekadenz der Boheme des Fin de siècle wieder. Gleichzeitig hält er Kontakt zu den verschiedenen Gruppierungen der Indigenisten, die den Rassismus der Wei­ßen gegenüber der indianischen Bevölke­rung Perus anprangern und sich entweder für eine (allerdings paternalistisch ver­standene) Integration der Quechua und Aymara in die peruanische oder für die Wiederherstellung der inkaischen Gesell­schaft einsetzen. Später wird Mariátegui mit den Ideen seiner Jugendzeit hart ins Gericht gehen und sie als seine “Steinzeit” bezeichnen, auch wenn er sich von seinen religiösen und indigenistischen Ideen nie völlig lossagt.
Wegen seiner Kritik am Regime Augusto Leguías wird Mariátegui 1919 vor die Alternative gestellt, entweder ins Gefäng­nis zu gehen oder mit Hilfe eines Stipen­diums für einen längeren Aufenthalt in Europa außer Landes “gelobt” zu werden. Er entscheidet sich für die zweite Mög­lichkeit und verbringt fast vier Jahre in Frankreich, Italien und Deutschland. Diese Zeit markiert den entscheidenden Bruch in seinem Leben und seinen Auf­fassungen. Er trifft bedeutende Denker je­ner Zeit wie Henri Barbusse, Benedetto Croce und Antonio Gramsci, deren Ideen großen Einfluß auf ihn ausüben. Die Be­kanntschaft mit einer Reihe von avantgar­distischen Künstlern verändert radikal seine Vorstellungen von der gesell­schaftlichen Funktion der Kunst.
Nach seiner Rückkehr aus Europa arbeitet Mariátegui zuerst als Dozent in der neu­gegründeten Volksuniversität, die von Raúl Haya de la Torre, dem Begründer der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), organisiert wird. Daneben schreibt er für verschiedene Zeitungen und gründet selbst 1926 die Zeitschrift “Amauta” und 1928 “Labor”. Während “Amauta” für viele Themen und Autoren offen ist, sofern sie im weitesten Sinne so­zialistisch, avantgardistisch oder indigeni­stisch sind, widmet sich “Labor” in erster Linie den Fragen der Arbeiterbewegung.
Außer seiner publizistischen Tätigkeit en­gagiert sich Mariátegui auch weiterhin politisch. Er gründet die sozialistische Partei Perus und setzt sich in einer har­schen Polemik mit Haya de la Torre aus­einander. Während letzterer aus der APRA eine nach leninistischem Muster organisierte Kaderpartei formt und zugleich populistische Ideen vertritt, ver­wirft Mariátegui ein solches Konzept für die sozialistische Partei zugunsten einer demokratischeren, offeneren Struktur. Die revolutionäre Masse stellt für ihn nicht eine einheitliche, uniforme, sondern eine vielfältige Bewegung dar. Auch mit der Komintern, die 1929 in Buenos Aires tagt, liegt er im Streit. Innerhalb der Internationalen wird zu dieser Zeit die Ansicht vertreten, daß man den Indianern Lateinamerikas ein Recht auf nationale Selbstbestimmung zugestehen und folg­lich die Gründung indianischer Republi­ken fördern sollte. Mariátegui dagegen sieht Peru als eine im Werden begriffene Nation an, in die die Quechua und Ay­mara integriert werden sollten. Für ihn ist das sogenannte “Indioproblem” letztlich kein ethnisches, sondern ein Problem des Bodens, der Landverteilung. Diese letzte Auseinandersetzung seines Lebens hat er allerdings schon nicht mehr mit aller Kraft führen können. Was Alberto Flores Ga­lindo “die Agonie Mariáteguis” genannt hat, findet seinen Höhepunkt darin, daß er den Vorsitz der sozialistischen Partei Pe­rus kurz vor seinem Tod niederlegt. Am 30. April 1930 stirbt José Carlos Mariáte­gui, ohne daß er für die Zukunft der Partei oder für die Auseinandersetzung mit der Komintern eine klare Richtung vorge­geben hätte. Erst jetzt benennt sich die sozialistische in kommunistische Par­tei um und folgt weitgehend den Direkti­ven der Komintern.
Die peruanische Wirklichkeit interpretieren
Zu Lebzeiten Mariáteguis erscheinen le­diglich zwei seiner Essaysammlungen als Bücher: 1925 “La escena contemporánea” (Die zeitgenössische Szenerie) und 1928 “Siete ensayos de interpretación de la re­alidad peruana” (Sieben Versuche, die pe­ruanische Wirklichkeit zu verstehen). Alle übrigen werden postum aus den un­zähligen von ihm veröffentlichten Arti­keln zusammengestellt. Die beiden ge­nannten Bücher markieren allerdings be­reits die Eckpunkte bzw. Hauptthemen seiner publizistischen Arbeit. In La escena contemporánea behandelt er Themen der internationalen historischen Entwicklung: Der aufkommende Faschismus in Italien, die Krise der sozialistischen Bewegung in Westeuropa, die russische Revolution, die Rolle Asiens und damit der Peripherie in­nerhalb der revolutionären Umbrüche sowie die Stellung der Intelligenz und der Kunst zu und in diesen Ereignissen bilden die Hauptthemen des Buches.
In den “Sieben Versuchen” konzentriert er sich dagegen auf die ökonomischen und kulturellen Probleme Perus. Im ersten Es­say gibt er einen kurzen Abriß der öko­nomischen Entwicklung vom Inkareich (das er als Stadium des Urkommunismus sieht) über die feudalistische Kolonialzeit bis zu den Ansätzen einer kapitalistischen Industrialisierung am Beginn des 20. Jahr­hunderts unter Beibehaltung kolo­nialistischer Abhängigkeit. Das soge­nannte “Indioproblem” stellt sich ihm in den beiden folgenden Versuchen als Pro­blem des Bodenbesitzes und des Fortbestandes feudalistischer Strukturen sowie des gamonalismo in den Anden dar. Vor diesem Hintergrund behandelt Ma­riátegui auch die Problematik von Regio­nalismus und Zentralismus im sechsten Essay. Die Abhängigkeit des Bildungssy­stems von Europa und die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Universitätsreform sowie der Dualismus von indianischer und katholischer Religion sind die Themen des vierten und fünften Versuchs. Im letzten der “Sieben Versuche” schließlich beab­sichtigt Mariátegui, der peruanischen Lite­ratur buchstäblich den Prozeß zu machen. Er teilt die Literaturgeschichte seines Landes in eine koloniale, eine kosmopoli­tische und eine nationale Phase ein, wobei die letzte ein uneingelöstes Projekt darstellt, das wie die peruanische Nation selbst erst im Werden begriffen ist. Wie wichtig für Mariátegui kulturelle Fragen waren, zeigt sich allein schon darin, daß dieser letzte Essay ein gutes Drittel seines Buches einnimmt. Der Kampf um eine revolutionäre Erneuerung der peruani­schen Gesellschaft war in seiner Vorstel­lung immer zugleich – und nicht erst in zweiter Linie – ein Kampf um die Erneue­rung der Kultur.
Und heute?
Was bleibt, jenseits von Vereinnahmung und Vergessen? Welche Denkanstöße können uns heute die Schriften Mariáte­guis zu Politik und Kultur geben? Wieviel davon ist für uns noch von Interesse?
Wenn man Mariáteguis Essays und im be­sonderen die “Sieben Versuche, die pe­ruanische Wirklichkeit zu verstehen” liest, fällt eines sofort auf: die Aktualität einer Reihe von Themen, die er vor gut siebzig Jahren angeschnitten hat. Die Frage der Nationalkultur und eines antinationalisti­schen Verständnisses von Nationenbil­dung in Lateinamerika gehören ebenso dazu wie seine von einigen Befreiungs­theologen aufgenommenen Gedanken zur Religion als kollektivem Mythos. Seine Auseinandersetzungen mit Rassismus und Faschismus sowie mit dem Problem der Verzahnung von ethnischen und Klassen­konflikten gewinnen heute zu­nehmend an Aktualität und Brisanz. Vieles von dem, was in entwicklungstheo­retischen Model­len seit den späten sechzi­ger Jahren ausgeführt wird, hat Mariátegui zumindest angedacht. Das gilt auch für die lateinamerikanische Literatursoziologie, die seine Ideen erst Ende der siebziger Jahre aufgegriffen hat.
Vor allem aber gehört er, wenn man ihn denn überhaupt einordnen will, in eine Li­nie mit Vertretern eines unorthodoxen Marxismus wie etwa Tretjakov, Gramsci und Benjamin; eine Richtung, die sich schon zu seinen Lebzeiten nicht hat durchsetzen können – und nach seinem Tod noch viel weniger. Gerade in der ak­tuellen Krise des Marxismus und der Lin­ken überhaupt kann Mariátegui deshalb eine Funktion als Anreger zukommen. Er hat seine Schriften selbst einmal aus­drücklich als “Verteidigung des Marxis­mus” bezeichnet. Das sind sie bis heute geblieben, auch und gerade weil sie den Marxismus gegen seine eigenen Apolo­geten verteidigen. Mariátegui war, mit all seinen Widersprüchen, ein engagierter Intellektueller. Was er wollte, war nicht die Konstruktion eines großen Theoriege­bäudes, sondern ein ständiges Überdenken und Umformulieren der eigenen Vorstel­lungen. Die so oft betriebene Vereinnah­mung seiner Person und seiner Aussagen für unterschiedlichste politische Zwecke widerspricht deshalb geradezu seinem ei­genen Denken. Dagegen könnte er im be­sten Falle nicht etwa als Vorbild oder als “Amauta” in den heutigen Debatten eine Rolle spielen, sondern als Anreger im Streit um eine andere politische Kultur.

Auf Deutsch liegen vor:
Sieben Versuche, die peruanische Wirklich­keit zu verstehen. Berlin: Argument, 1986.
Revolution und peruanische Wirklichkeit. Ausgewählte politische Schriften. (Herausgegeben von Eleonore von Oert­zen). Frankfurt/Main: ISP`Verlag, 1986.

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