Fujimori 2000

Nach der gewaltsamen Lö­sung der Geiselkrise in der Re­si­denz des japanischen Botschaf­ters in Lima fühlt sich der perua­nische Präsident Alberto Fuji­mori sicher. Die er­sten Mei­nungsumfragen unmit­telbar nach der Erstürmung ga­ben Fujimori recht: Für seine Popularität hat sich die Hinrichtung des MRTA-Kommandos und der Tod zweier Soldaten und einer Geisel ge­lohnt. Doch mittlerweile ist Fu­jimori wieder in den Sta­ti­stiken gefallen. Unmittelbar nach dem gewaltsamen Ende der längsten Geiselnahme Latein­ame­rikas waren viele Peruaner erst einmal erleichtert. Aber es wurde auch Kritik laut: “Die mi­li­tärische Lo­gik hat sich durchgesetzt. Die Falken inner­halb der Regierung haben die Oberhand gewonnen”, kritisierte der peruanische Psycho­ana­ly­tiker und Mitglied des breiten Oppositionsbündnis­ses “Demo­kra­tisches Forum”, Cesar Ro­dri­guez Rabanal. Er befürch­tet zu­gleich einen An­stieg der Repression.
Die mit der Geiselkrise erlas­sene Besuchssperre ist noch im­mer nicht komplett aufgehoben. Bis heute kann das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) noch immer nicht alle der knapp 400 MRTA-Gefange­nen besuchen. Auch nicht allen Familienmitgliedern wird der Besuch bei ihren inhaf­tierten Angehörigen gestattet. Stattdes­sen werden einige MRTA-Ge­fangene in das be­rüch­tigte Hoch­sicherheitsgefängnis Challa­palca, das zwischen Cuzco und Tacna auf einer Höhe von 5.120 Metern über dem Meeresspiegel liegt, verlegt. Für Felicitas Car­tolini, der Mutter des bei der Botschaftserstürmung er­schos­se­nen MRTA-Chefs, Ne­stor Cer­pa Cartolini, kommt das “einem Todesurteil” für die MRTA-Gefangenen gleich.

Opposition unerwünscht

Nach dem Erfolg gegen die MRTA wendet sich Fujimori nun an­deren innenpolitischen Geg­nern zu. So veranstaltete das pe­rua­nische Parlament einen ge­schickt geplanten Ver­fas­sungs­putsch, während Fujimori Ende Mai in Asien Investoren angeln ging. Nachdem drei Richter des Ver­fassungsgerichts gegen eine mög­liche Wiederwahl Fujimoris für das Amt des Staats­prä­si­denten im Jahr 2000 gestimmt hatten, war die Entscheidung ge­fal­len: Eine Wiederwahl ist ver­fas­sungswidrig.
Der Streit ist damit in die nächste Runde gegangen. Als Fujimori im Jahr 1992 bei seinem Putsch das Parlament auflöste und den Justizapparat entmachtete, mußte er auf internationalen Druck eine verfassungsgebende Versamm­lung einberufen. In der neu­ge­schrie­benen Verfassung wurde eine einmalige Wiederwahl des Staatspräsidenten erlaubt. Fuji­mori trat 1995 zum zweiten Mal als Präsidentschaftskandidat zu den Wahlen an und plant of­fen­sichtlich auch im Jahr 2000 wie­der mit von der Partie zu sein.
Dazu war es allerdings nö­tig, daß das Parlament die 1993 be­schlos­sene Verfassung deutet. Fuji­mo­ris Parlamentsmehrheit entschied schließlich vor sechs Monaten, daß seine erste Amts­zeit von 1990 bis 1995 nicht zählt, da in dieser Zeit eine an­dere Ver­fassung gültig war. Da­mit hatte das Parlament die Wie­derwahl Fujimoris vorerst abge­segnet.

Reaktionen

Das Oppositionsbündnis “De­mo­kratisches Forum” sammelte als Reaktion auf die umstrittene Ent­scheidung Unterschriften ge­gen die Wiederwahl, und die pe­ruanische Anwalts­kam­mer rief das Verfassungs­ge­richt an. Zwei der sieben Mit­glieder des Verfassungs­gerichts sind hand­verlesene Fuji­morigefährten und wurden von seinem Berater, Vladimiro Mon­tesinos, in den Senat des Ver­fassugsgerichts ge­rufen. Sechs der sieben Senats­mit­glie­der müs­sen zu­stimmen, um eine Par­lamentsentscheidung zu be­stä­tigen. Die anderen fünf Richter “zeigten allerdings eine er­staunliche Selbständigkeit”, so Cesar Rodriguez Rabanal. Zwei von ihnen nannten bereits vor der anstehenden Prüfung der Par­lamentsentscheidung über Fuji­mo­ris Wiederwahl diese ver­fas­sungswidrig. Weil sie sich damit für befangen hielten, stimmten sie bei der Gerichtsverhandlung für eine Wiederwahl des amtie­renden Präsidenten. Die rest­lichen drei Richter reichten al­lerdings wegen der Sperrmino­rität aus, um die Wie­der­wahl als verfassungswid­rig zu erklären.
“Daraufhin haben die Fuji­mori-Leute die Hunde auf die Richter losgelassen”, so Rabanal. Eine Unter­suchungs­kommis­sion des Parlaments er­klärte die drei Richter am Mittwoch für schul­dig und setzte sie schlicht ab.
Besorgt reiste noch vor dem Wochenende eine Delegation aus Richtern mehrerer lateinameri­ka­nischer Länder nach Peru, um gegen die Absetzung der perua­ni­schen Verfassungsrichter zu protestieren. Daß die Ent­schei­dung zur Absetzung der Richter am Vorabend der Jahres­haupt­ver­sammlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Lima gefällt wurde, zeigt, wie sicher sich Fujimoris Leute füh­len und wie wenig sie sich um internationale Kritik scheren. Sie fühlen sich sicher, obwohl Fuji­moris Popularität in den letzten Wochen wieder stark gesunken ist.
Selbst der US-amerikanische Botschafter in Peru, Dennis Jett, kritisierte die Entscheidung und nannte sie einen “Schritt zurück” in der Redemokratisierung des Lan­des. Allerdings kann von ei­ner Redemokratisierung Perus keine Rede sein. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Fujimori hat mit der gewaltsamen Be­endi­gung der Geiselkrise vor einigen Wochen einmal mehr seinen au­to­ritären Charakter be­wiesen.
Kontinuierlich arbeitet er daran, die Opposition im Land aus­zu­schalten.

Musterknabe des IWF

Die Kritik der USA ist außer­dem Teil einer rhetorischen Doppelstrategie. Denn Fujimori ist genau der Präsident, den die reichen Länder der Welt brau­chen. Er ist der Garant dafür, daß die proklamierte Neue Welt­ordnung durchgesetzt wird. Sein Regime gilt bei den inter­na­tionalen Finanzorganisationen Welt­bank und Internationaler Wäh­rungsfonds (IWF) als Vor­bild für andere Länder der Drit­ten Welt und Osteuropas.
Fujimori bezahlt die Aus­landsschuld des Landes pünkt­lich und bis zum letzten Pfennig ab. In kaum ei­nem anderen Land kommen die IWF-Programme so gründlich zur Anwendung wie in Peru. Die Privatisierungspro­gramme laufen auf Hochtouren, zur Zeit wird gerade das Ende der staatlichen Gesundheitsver­sorgung disku­tiert. Für Cesar Rodriguez Rabanal ist die Abset­zung “ein zweiter Putsch, denn es wurde eine der wichtigsten In­stitutionen des Landes zerschla­gen.” Damit fällt ein wichtiger Schutz der Opposition gegen Fujimori weg. Mit dem prakti­schen Ende eines unabhängigen Gerichtes gibt es keine Stelle mehr, die Op­po­si­tionellen Schutz gewäh­ren könnte.
Aus Protest gegen die Abset­zung seiner Kollegen trat der Präsident des peruanischen Ver­fassungsgerichts, Ricardo Nu­gent, von seinem Posten zu­rück. “Ich gehe in dem Be­wußtsein und der Sicherheit, stets nach meinen Prinzipien ge­han­delt zu haben”, kommentierte Nugent auf einer Presse­kon­fe­renz seinen Rücktritt. “Ich habe die morali­sche Pflicht, mich mit meinen drei abgesetzten Kolle­gen zu so­lidarisieren”, be­grün­dete er seine Entscheidung. Denn die Abset­zung der drei Richter hätte poli­tische Gründe und keine juri­stischen.
Der Zeitpunkt der Absetzung der Richter war gut gewählt. Während Präsident Fujimori zum Staatsbesuch in Asien weilte, waltete seine Parlaments­mehrheit ihres Amtes und entließ die drei in Ungnade gefallenen Verfassungsrichter. Fujimori hat sich in gewohnter Manier nicht zu der Absetzung geäußert. Schließlich war er ver­reist. Den drei Richtern wurde außerdem vom Parlament ein zehnjähriges Betätigungsverbot auf­erlegt. Damit ist das Ver­fas­sungsgericht praktisch aufgelöst.
Nach der gewaltsamen Be­en­di­gung der Geiselkrise ist für Fujimori der Zeitpunkt des Auf­räumens gekommen. Poli­ti­sche Gegner werden rück­sichts­los aus dem Weg geschafft. Sein Ziel ist der Machterhalt, und der beginnt mit der Genehmigung zur Wie­derwahl im Jahr 2000. Die Ab­setzung der drei Ver­fassungsrichter ist ein Signal an die Opposition im Land: Wer sich den Zielen Fujimoris in den Weg stellt, wir kaltgestellt.

Exporte statt Menschenrechte

Eigentlich hatte Hebe de Bonafini eine ganz andere Be­grüßung in der deutschen Regie­rungshauptstadt erwartet: Ge­plant war ein offizieller Empfang der Gruppe durch den Bundes­tags-Unterausschuß für Men­schenrechte. Dieser war jedoch kurzfristig ohne nähere Begrün­dung abgesagt worden. Dem war die Ablehnung der Visaanträge zweier peruanischer Delegierter der­selben Gruppe durch das Bun­desaußenministerium vor­aus­gegangen. María Fernández Rojas und Adilia Rojas, Mutter und Schwester der bei der Er­stürmung der besetzten japani­schen Botschaft in Lima getöte­ten MRTA-Guerillera Rolly Ro­jas, wollten auf ihrer Deutsch­landreise über die Haftbedingun­gen insbesondere der MRTA- KämpferInnen in peruanischen Gefängnissen berichten.
Für die inhaftierten MRTA- Mit­glieder, die häufig ohne Pro­zeß oder nach Schnellurteilen ano­nymer, maskierter Richter eingesperrt wurden, sind Tö­tun­gen, Isolationshaft, Folter und Be­suchssperren an der Tages­ord­nung. Die Angehörigen von Rol­ly Rojas, ebenso wie die Mut­ter und Schwester des MRTA-Kom­man­danten Nestor Cer­pa Car­to­li­ni, die als politi­sche Flüchtlinge im französi­schen Exil leben und des­halb nach Deutschland ein­reisen durften, betonen, weder MRTA-Mitglieder zu sein noch je­mals die Hand gegen den pe­ruani­schen Staat erhoben zu ha­ben. Sie stellen sich für Peru eine Or­ganisation der Angehörigen nach dem Vorbild der ar­gen­ti­ni­schen “Madres” vor, die ge­walt­frei für die Aufklärung aller Fäl­le von “Verschwundenen”, die Be­stra­fung der Täter und die Ver­bes­serung der Haft­be­din­gungen politischer Gefangener streitet.

Madres in Deutschland unerwünscht

Das Pressereferat des Bun­des­außenministeriums mochte die Ab­lehnung der Visa nicht be­grün­den. Eine “Infor­ma­tions­rei­se” der beiden Menschenrechts­ver­treterinnen würde die deutsch – peruanischen Beziehungen be­las­ten, teilte der Leiter der La­tein­amerika-Abtei­lung des Pres­se­referats, Lindner, gegenüber der LN mit. Dies habe aber nichts mit einem Ignorieren der Men­schenrechtslage in Peru zu tun. Lindner betonte, Men­schen­rechts­verletzungen durch staat­liche Organe in Peru seien im­mer ein Thema bei Gesprä­chen mit peruanischen Reprä­sen­tanten. Außenminister Kinkel füh­re in Menschenrechtsfragen ei­ne “Politik des beharrlichen Dia­logs” mit Präsident Fujimori.
Es ist bemerkenswert, daß Deutsch­land als bisher einziges Land in Europa der Delegation von Menschenrechtlerinnen offi­ziell das Gespräch verweigerte. Über die Gründe dafür läßt sich nur spekulieren: Offenbar reichte es der Bundesregierung schon, daß es sich bei den Delegierten um Angehörige von MRTA-Mit­glie­dern handelt. Die hat ja be­kannt­lich zu Beginn der Bot­schafts­besetzung auch deutsche Di­plo­maten als Geiseln festge­halten, und man befürchtete viel­leicht so etwas wie eine Pro­pa­gan­da- und Rechtfertigungs­kam­pagne für die Botschaftsbe­set­zung. Mit einer solchen Ar­gu­men­tation begäbe sich die Re­gie­rung aber auf gefährliches Glatt­eis, würde sie sich doch Fu­ji­mo­ris Begriff von “Sippenhaft” zu eigen machen und damit die re­a­le Repression, der die Ange­hö­ri­gen Rolly Rojas’ und anderer po­li­tischer Gefangener in Peru aus­ge­setzt sind, rechtfertigen und ver­stärken. Eine solche Ar­gu­mentation erinnerte auch fa­ta­lerweise an die Haftbedingun­gen von mutmaßlichen RAF-Mit­glie­dern und Sympathisanten und die Be­spitzelung und Re­pression ge­gen deren Angehö­rige in den sieb­ziger und achtzi­ger Jahren, ei­nem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Men­schen­rech­te in der Bundes­republik Deutsch­land.

Fujimoris harte Hand stimu­liert Investitionen

Die Liste der Menschen­rechts­verletzungen durch den pe­rua­nischen Staat ist lang. Die deutsche Regierung muß schon ge­wichtige Gründe haben, ange­sichts Fujimoris Staatsterroris­mus beide Augen zuzudrücken. Und die hat sie: Seit 1993 hat sich das Außenhandelsvolumen mit Peru beinah verdoppelt. Die Bun­desrepublik ist inzwischen zum wichtigsten Handelspartner Pe­rus in Europa avanciert und steht in der Liste der Außenhan­dels­partner Perus an fünfter Stel­le nach den USA, Japan, Ar­gen­ti­nien und Brasilien. Noch hält die unsichere Lage in Peru deut­sche Unternehmen von Di­rekt­in­ve­stitionen ab. Die deut­sche Wirt­schaft braucht daher eine er­folgreiche “Antiterrorpolitik” ei­nes Präsi­denten mit “harter Hand”. Und dessen langer Arm reicht bis nach Deutschland: Zwar kann die Bundesregierung Fujimoris Bitte nach einer Aus­lie­ferung des in Hamburg le­ben­den MRTA-Sprechers Isaac Ve­las­co nicht er­füllen, da jener hier als politi­scher Flüchtling an­er­kannt ist, doch forderte Bun­des­in­nenmini­ster Manfred Kanther die Ham­bur­ger Behörden auf, Ve­lasco jeg­liche öffentliche po­li­tische Mei­nungs­äußerung zu ver­bie­ten. Der Ham­burger In­nen­se­nator wies dies allerdings auf­grund verfas­sungs­rechtlicher Be­den­ken zu­rück.

“Die Toten sind auch das Werk Ihrer Regierung”

Was ist die Absicht Ihrer Informations­reise?

Hebe de Bonafini: Wir, als “Madres” aus Argentinien, be­gleiten und unterstützen die pe­ruanischen Mütter, die noch nicht solch starke internationale Unterstützung haben wie wir, dabei, eine eigene Gruppe zu grün­den und Kontakte hier in Europa zu finden. Die Situation der Menschenrechte in Peru be­treffend, sind wir besorgter als je zuvor, denn Präsident Fujimori will rund 400 politi­sche Gefan­gene in das Gefängnis von Challa­palca hoch in den peruani­schen Anden ver­legen, in 5000 Metern Höhe ohne Heizung, Strom und fließend Wasser, was einem To­desurteil auf Raten gleichkommt. Unser Ziel ist es, weltweit eine Million Unter­schriften zu sammeln, um dies zu verhindern.
Felicitas Cartolini: Politische Gefangene in Peru sind innerhalb der Haftanstalten massi­ver Re­pres­sion ausgesetzt. Sie dürfen we­der Besuch von Angehöri­gen, noch vom Roten Kreuz oder Ärz­ten empfangen, selbst dann nicht, wenn sie krank sind. Die pe­ruanische Regierung will nicht, daß sich Menschen für diese Gefangenen einsetzen, be­schimpft uns “Madres” als “Ter­ro­ristenmütter” und be­zeichnet al­le, die gegen die Re­gierung sind, als Unterstützer des Ter­ro­rismus.

Von Ihrer Absicht, eine Or­ganisation der “Madres” für Peru zu gründen, war bereits die Rede. Wie weit sind diese Pläne schon fortgeschritten?

Lucia Cerpa: Es gibt in Peru bereits mehrere Organisationen von Müttern und Fa­mi­li­en­an­ge­hö­rigen Verschwun­dener und po­li­tischer Häftlinge, die Auf­klä­rung über das Schick­sal der “Des­aparecidos”, der Ver­schwun­denen, die Bestrafung der Täter und die Wahrung der Men­schen­rechte in den Ge­fängnissen for­dern. Sie werden jedoch in ih­rer Arbeit massiv be­hindert. Wir, als Flücht­linge, Exilierte, wollen di­ese Gruppen stär­ken, indem wir die interna­tionale Öffentlich­keit über das, was in Peru vor sich geht, infor­mieren. Dazu wol­len wir uns hier in Eu­ropa zusammentun und Kontakte nach Peru aufrechter­halten.

Sie wurden in Bonn recht fro­stig empfan­gen. Warum stützt Deutschland Ihrer Mei­nung nach so stark die Regierung Fujimoris?

F.C.: Darüber kann ich nur spekulieren: Es mögen wohl wirt­schaftliche Interessen sein. Eigentlich sollten Sie diese Frage Ihrer Regierung stellen.
H.B.: Wir haben hier in Deutsch­land viel Solidarität ge­spürt, doch es ist das einzige Land in Europa, in dem es keine Un­ter­stützergruppe für die “Madres” gibt. Und: Noch nie hat uns jemand ein Ge­spräch ver­weigert, außer: Fujimori – und der Unterausschuß für Men­schen­rechte des Deutschen Bun­destages. Es ist wohl eindeu­tig, daß Deutschland Fujimori unter­stützt, es hat viele wirtschaftliche Interessen. Das Le­ben unserer Angehörigen verwandelt sich für sie in Erdöl, in Geschäfte; Men­schen­rechte werden zu einer Fra­ge von Ölpreisen und Bör­sen­kur­sen. Die deutsche Regie­rung re­det soviel von Frieden, doch an­statt ihn zu praktizieren, verkauft sie Waffen an Län­der wie un­se­re. Die Toten sind auch das Werk der Bundesregierung. Ich ha­be keine Angst, dies laut zu sagen.

Für Präsident Fujimori, und eben­so für die deutsche Regie­rung, scheint die “Tatsache”, daß Sie mit “Terroristen” ver­wandt sind, zu reichen, Ihr An­liegen zu ignorieren.

H.B.: Wir werden von Präsi­dent Menem noch heute “Ter­ro­ri­stenmütter” genannt, das lenkt aber davon ab, daß es ei­gentlich um die Menschenrechts­frage geht, um Verschwundene, Folter, Haft­bedingungen. Die Mehrzahl un­serer Kinder waren Revolu­tio­näre, viele haben be­waffnet ge­kämpft. Wir Mütter betrachten al­le als gleich: Ob sie nun be­waff­net oder politisch ge­kämpft ha­ben, in der Guerilla, der Uni­ver­sität, oder der Kir­che, sie alle sind “verschwunden” oder tot, oder wenn sie noch in Haft sind, müssen wir verhin­dern, daß sie es werden. Der ein­zige Ter­ro­ris­mus in der Dritten Welt ist der Staatsterrorismus, der unter­drückt, der fol­tert, der aus­hun­gert, der tötet. Das Recht, sich ge­gen Unterdrückung zu ver­tei­di­gen, hat jeder Mensch, auf wel­che Art auch im­mer.

Hebe de Bonafini, als Vertre­terin einer international be­kannten Menschenrechtsorga­ni­sa­tion haben Sie versucht, wäh­rend der Geiselnahme in der japanischen Botschaft zwi­schen Fujimori und der MRTA zu vermit­teln. Welche Ein­drücke hatten Sie in Lima?

H.B.: Wir waren 12 Tage in Lima, ständig beobachtet und ver­folgt durch Polizei und Ar­mee, haben diese Stimmung von Angst und Terror gegen das Volk erlebt. Zweimal am Tag, mor­gens und am Nachmittag, sind wir zum Präsidentenpalast ge­fahren, um zu sehen, ob Fuji­mori uns empfängt und als Ver­mittlerinnen akzeptiert. Aber da er ein Mörder und ein feiger Mensch ist, hat er sich nicht ge­traut, uns “nein” zu sagen, hat uns immer nur wieder herbestellt und warten lassen, jeden Tag aufs Neue. Wir gingen auch an die Gefängnistore, herein ließ man uns nicht, und trafen dort sehr mutige Mütter, die vor der in­ternationalen Presse die Zu­stände in den Gefängnissen be­klagten. Dies laut zu sagen be­deutet ein hohes Risiko in einem Land wie Peru. Bevor wir nach Peru gingen, haben wir die Welt­ge­mein­schaft, die Friedens­nobel­preisträger, aufgefordert, hin­zu­schau­en, mitzukommen. Doch erst nach dem Massaker haben sich alle beteiligt an Märschen, De­monstrationen und Konsu­lats­be­setzungen, aber da war es schon zu spät. Das ist die Mit­telmäßigkeit der Linken. Des­halb ist es jetzt wichtig, zu ver­hindern, daß die politischen Ge­fan­genen in dieses un­mensch­liche Gefängnis verlegt werden. Jetzt, bevor sie tot sind!

Es gibt Gerüchte, daß nicht alle Mitglieder jenes MRTA-Kommandos in der Bot­schaft ge­tötet wur­den, sondern daß es Überlebende gab, die jetzt vom pe­ruanischen Ge­heim­dienst fest­ge­hal­ten und gefoltert wer­den. Was wis­sen Sie, Norma Ve­las­co, als MRTA-Ver­treterin, da­rüber?

Norma Velasco: Als die Be­setzung los­ging, wußten auch wir nur, daß es sich um eine Grup­pe von Com­pañeros von we­niger als fünf­zig Frauen und Män­nern handelte. Zwei Wochen nach der Erstürmung er­hiel­ten wir eine offizielle Nach­richt, daß es 14 Guerille­ros ge­we­sen seien, die getötet wurden. Wie­viele es wirk­lich waren, wis­sen nur Fu­jimori und seine Fol­terer. Der Staat ließ bei seinen Mas­sakern nie Gefangene oder Zeu­gen zu­rück, alle werden extra­legal hin­gerichtet. Der Un­ter­schied dieses Massakers zu den frühe­ren war, daß erstmals die gesamte Welt­öf­fentlichkeit auf den Fern­seh­schirmen zu­schau­en konnte, was passierte. Die Men­schen­rechts­organi­sa­tio­nen haben das Recht, von Fuji­mo­ri eine Ermittlung zu diesen Tat­sachen zu fordern. Denn die Mit­glieder des MRTA-Kom­man­dos waren, unabhängig von ih­rer po­litischen Position, mensch­li­che Wesen; sie haben das Leben ih­rer Ge­fangenen in der Bot­schaft bis zum letzten Au­gen­blick re­spektiert.

Tragische Königin im Zirkuszelt

Violeta Parra wurde 1917 in einem kleinen Ort im Süden Chiles geboren. Als ihr Vater, ein verarmter Dorflehrer, wenige Jahre später starb, besann sich ihre Mutter ihrer früheren Arbeit als Sängerin und tingelte mit ihren zehn Kindern jahrelang durch Zirkusarenen, Bars und Musikkneipen, den “Peñas”. Mit 15 Jahren kam sie nach Santiago, und gemeinsam mit ihrer Schwester trug sie in den Bars der Stadt die alten, von der Mutter gelernten Volkslieder vor und griff aktuelle Musik auf. Die dreißiger Jahre in Chile waren die Dekade der “Primera Onda Folklorica”, der ersten Volkslied-Welle. Das Volkslied war zu jener Zeit die Musik der städtischen Arbeiter und der Landarbeiterfamilien, die wegen der wirtschaftlichen Rezession in die Städte geflohen waren. Mit zwanzig heiratete sie einen fast doppelt so alten Eisenbahnangestellten, der ihr die Musik verbot, und bekam ihre beiden Kinder Angel und Isabel. Fast zehn Jahre sollte es dauern, bis sie sich aus dem Drama dieser Ehe befreite.

Volkslieder vor der Vergessenheit bewahren

Sie nahm ihre Gitarre bei der einen und ihre Kinder bei der anderen Hand und reiste kreuz und quer durch das Land, sang und begann, Lieder, die ihr unterwegs begegneten, aufzuzeichnen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das ursprüngliche Volkslied in Chile vor der Vergessenheit zu bewahren. So sammelte sie mehr als 3000 Lieder und bekam dafür bei Radio Chilena gar eine eigene wöchentliche Sendung. Zu dieser Zeit entstanden auch ihre ersten selbst geschriebenen Lieder, die den traditionellen Rahmen der Volksmusik überschritten: Lieder voll zornigem Sarkasmus über die gesellschaftlichen Verhältnisse, zarte Liebeslieder, die jedes Klischee sprengten, eine Rückbesinnung auf die Rhythmen und Instrumente der Andenvölker. Violeta Parra war es, die fast vergessene Instrumente wie das Charango, die Zampona und die Quena wieder populär machte. 1954 wurde sie mit dem “Premio Caupolicán”, dem bedeutendsten Volksmusikpreis in Chile, ausgezeichnet.

Reisen für die Musik

Es folgten Jahre des Reisens, bis nach Europa, Skandinavien, und in die Sowjetunion. Allein in Paris blieb sie zwei Jahre, lernte dort Malraux und Sartre, Picasso und ihr großes Vorbild, Edith Piaf, kennen. Zurück in Lateinamerika, durchzogen ihre Wege auf der Suche nach Musik den ganzen Kontinent: Argentinien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Bolivien. Wieder in Santiago, erkrankte sie schwer, blieb monatelang ans Bett gefesselt, lernte in der Zeit Töpfern, Malen und Weben, entfaltete darin ein derartiges Talent, daß sie bei ihrem zweiten Paris-Aufenthalt im weltberühmten Musée du Louvre ausstellte – als erste lateinamerikanische Künstlerin trat sie ein in den Pantheon der europäischen Kultur, damals eine Sensation.
Als sie 1964 abermals nach Santiago zurückkam, begann die Morgendämmerung der zweiten chilenischen Folklorewelle, die ohne sie nicht denkbar gewesen wäre. Zusammen mit ihren Kindern Angel und Isabel gründete Violeta Parra 1965 die legendäre “Peña de los Parra” im Zentrum Santiagos, und diesmal waren es die jungen Menschen, Arbeiter, Studenten, Schüler, die diese neue Bewegung emporhoben, die zu Violeta Parra kamen, um zu lernen: Victor Jara, Patricio Manns, die jungen Musiker von Illapu, Inti Illimani und Quilapayún. Sie errichtete am Rande von Santiago ein altes Zirkuszelt, Hommage an ihre Kindheit, und nannte es ironisch “La Carpa de la Reina”, das Zelt der Königin.

Selbstmord an der Schwelle zum Weltruhm

Hier fand man sie an einem lauen Sommermorgen des Jahres 1967 tot in ihrem Bett: Das Scheitern ihrer leidenschaftlichen Liebe zu dem Ethnologen Gilbert Favre, Geldsorgen, die Repressionen der Regierung Frei raubten ihr den Lebensmut, liessen sie sich selbst töten – an der Schwelle zum Weltruhm. Die Welle folkloristischer Musik, die Suche nach der Kraft der eigenen Wurzeln hatte den gesamten amerikanischen Kontinent erfaßt, für kurze Zeit die traditionellen kulturellen Grenzen überschritten. Posthum wurde ihr letztes Lied, interpretiert von der Nordamerikanerin Joan Baez, zu einem Welterfolg: “Gracias a la vida”.
In Chile selbst wurde sie zur Mutter des “Movimiento de la Nueva Canción Chilena”, der “Neuen Gesangsbewegung”, deren Schicksal sich eng mit dem Aufstieg und Fall von Salvador Allende, dem ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten Lateinamerikas, verbinden sollte. Allende war es dann auch, der gemeinsam mit Pablo Neruda den Trauermarsch für Violeta Parra durch die Straßen Santiagos anführte: Einen “Marsch tausender Menschen des Protestes, des unendlichen Bedauerns, der Blumen und der Tränen” (Patricio Manns).

Der Traum von Land und Freiheit

Es war wohl auch die Ähnlichkeit zu den eigenen Tugenden, die Mexiko Ende des vergangenen Jahrhunderts so attraktiv für Deutsche gemacht hatte: Von 1877 bis 1911 herrschte der Diktator Porfirio Díaz unter dem Motto “Ordnung und Fortschritt”. In seiner Amtszeit begann der Aufstieg deutscher Einwanderer zu den mächtigsten Kaffeeplantagenbesitzern in Chiapas. Ordnung und Fortschritt diente als Rechtfertigung für die Enteignung indianischer Gemeinden und die Vertreibung von Kleinbauern von den fruchtbarsten Böden im südlichsten Bundesstaat Mexikos. Ordnung und Fortschritt bedeutete Reichtum für einige wenige und Armut und Ausbeutung für die Mehrheit der Bevölkerung. Die Revolution zwischen 1910 und 1920 führte in Mexiko zu einschneidenden Veränderungen, doch in Chiapas blieb alles beim alten: Isolierte Aufstände konnten die Macht der Oligarchie nicht erschüttern.

Ordnung und Fortschritt

Was Ordnung und Fortschritt auf den Fincas der deutschen Kaffeepflanzer für die indianischen SaisonarbeiterInnen hieß, schilderte schon B. Traven in seiner “Rebellion der Gehenkten”: “Nein, ich will nicht in den Soconusco gehen. Dort sind die Deutschen, sie sind die Herren der Kaffeeplantagen. Sie sind barbarischer als die Bestien des Urwalds und behandeln dich wie einen Hund.”
Wegen der miserablen Arbeitsbedingungen hatten selbst professionelle Anwerber große Schwierigkeiten, ausreichend Arbeitskräfte für die Kaffeernte zu finden: Nach monatelanger, härtester Arbeit auf den Kaffeefeldern kehrten die ArbeiterInnen ohne Geld, zum Teil sogar mit Schulden in ihre Dörfer im Hochland zurück. Ihren kargen Lohn hatten die ArbeiterInnen in Wertmarken ausbezahlt bekommen, die sie nur in Läden einlösen konnten, die dem Finquero gehörten. Selbstverständlich waren die Preise in diesen Tiendas de Raya überhöht, so daß die ArbeiterInnen anschreiben lassen mußten. Und somit waren sie verpflichtet, ihre Schulden im nächsten Jahr abzuarbeiten. Obwohl seit der Revolution verboten, hielt sich das System der Tiendas de Raya bis lange nach dem 2. Weltkrieg. Und auch sonst herrschten auf den Kaffeeplantagen eigene Gesetze, die die Finqueros willkürlich bestimmen konnten. Wer nicht parierte, kam ins Finca-eigene Gefängnis.
Seit Jahrzehnten sind die deutschen Kaffeebarone enge Verbündete der Staatspartei PRI. Die Regierung stellt Militär und Polizei, um zusammen mit den Guardias Blancas, den privaten Todesschwadronen der Großgrundbesitzer und Viehzüchter, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn ihnen, wie in den vergangenen Jahren, die Kontrolle einmal aus den Händen zu gleiten droht, kennt die Repression keine Grenzen mehr. Nach Schätzungen des katholischen Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas wurden allein 1994 in Chiapas, außerhalb des Aufstandsgebietes der EZLN, 400 Bauern und Bäuerinnen ermordet.
1994 war ein schweres Jahr für die deutschen Kaffeepflanzer in Chiapas. Nachdem die EZLN am 1. Januar 1994 in der Selva Lacandona und im Hochland ihren Aufstand für “Land und Freiheit” begonnen hatte, wurde es auch im Soconusco und in der Frailesca immer unruhiger.
Ein Zentrum des Widerstands war das Dorf Nueva Palestina. Die DorfbewohnerInnen – Kleinbauern und SaisonarbeiterInnen auf den nahegelegenen Kaffeefincas – versuchten bereits seit Jahren, zusätzliches Land zu erkämpfen. Mit gutem Recht, schließlich war der Großgrundbesitz in der Nähe von Nueva Palestina illegal. Als Höchstgrenze für individuellen Landbesitz ist im mexikanischen Agrargesetz nämlich 300 Hektar festgelegt. Doch allein die Kaffeefinca Liquidambar, in unmittelbarer Nähe des Dorfes gelegen, hat mehrere Tausend Hektar. Eigentümerin: Die Familie Schimpf-Hudler, die insgesamt über 10.000 Hektar Land besitzt und zu den größten Grundbesitzern in Chiapas überhaupt zählt. Lediglich pro Forma ist ihr Land allerdings auf Familienmitglieder und Strohmänner aufgeteilt, allein für die Finca Liquidambar haben 13 Personen Besitztitel.
Der Aufstieg des deutschen Einwanderers Hermann Schimpf wird von Boris Kanzleiter und Dirk Pesara detailreich nacherzählt. Bis zu seinem Tod 1976 war Hermann Schimpf nicht nur zu einem der reichsten Kaffeepflanzer in Chiapas geworden. Mit den Gewinnen aus dem Kaffeeverkauf hatte er auch in Deutschland ein Millionenvermögen angehäuft und mehrere Unternehmen erworben. Hermann Schimpf betrieb sein Geschäft mit deutscher Gründlichkeit und ließ es sich nicht nehmen, die Arbeiter persönlich mit dem Stock anzutreiben. Auch sein Sohn German Schimpf, der die Geschäfte auf Liquidambar seit den sechziger Jahren führte, bewahrte sich die rechte Einstellung: Im Verwaltungsgebäude von Liquidambar war noch bis 1994 eine NS-Ehrenurkunde mit Hakenkreuz ausgestellt, die er für seinen Dienst in der Wehrmacht erhalten hatte.
Für die BewohnerInnen von Nueva Palestina haben die Schimpf-Hudlers nur Verachtung übrig. Vom Reichtum, der in Liquidambar produziert wurde, bekommen sie nichts zu sehen. Ihr größter Wunsch: Die Ausbeutung soll ein Ende haben. Sie organisierten sich in der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV). Nach langer Vorbereitung war es am 4. August 1994 soweit: 500 Mitglieder der UCPFV besetzten Liquidambar. Wenig später folgte Prusia, die nur wenige Kilometer entfernt gelegene Finca der ebenfalls deutschstämmigen Kaffeepflanzerfamilie von Knoop, und mehrere weitere Fincas in der Frailesca und im Soconusco.
Der kurze Winter der Anarchie begann. Eigenständig organisierten die BesetzerInnen die Arbeit auf den Fincas und gründeten eine Kooperative. Hatten sie im Vorjahr auf Liquidambar noch einen Tageslohn von rund 4,- DM erhalten, so bezahlten sie sich diesmal etwa 15,- DM. Aber vor allem: Der Finca-eigene Sicherheitsdienst war verschwunden, die Arbeit war kollektiv organisiert, für die Familie und nicht mehr für den Finquero wurde gearbeitet.

Ein Winter der Anarchie

Die Finqueros schäumten vor Wut, schwörten Rache und organisierten den Gegenschlag. Doch 1994 befanden sie sich in der Defensive. Erst mit dem Amtsantritt des neugewählten Präsidenten Ernesto Zedillo und des Gouverneurs von Chiapas Robledo Rincón (der nur durch massiven Wahlbetrug an die Macht kam) im Dezember 1994 begann sich das Blatt erneut zu wenden.
Mexiko zum Jahreswechsel 1994/95: Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, nach dem “Tequila-Crash” muß die heimische Währung durch umfangreiche Auslandskredite gestützt werden, viele Unternehmen gehen Bankrott. Der neue Präsident will Stärke zeigen und holt zum militärischen Gegenschlag gegen die ZapatistInnen und andere oppositionelle Bewegungen aus.
Auch die Kaffeeoligarchie erholt sich von ihrem Schock: Todesschwadronen ermorden Aktivisten der UCPFV und der Oppositionspartei PRD. Ende April 1995 werden Liquidambar, Prusia und andere Kaffeefincas durch ein Großaufgebot von Militär, Polizei und Guardias Blancas geräumt, im Mai werden Haftbefehle gegen 170 Mitglieder der UCPFV ausgestellt. Immer wieder kommt es zu Übergriffen der Guardias Blancas gegen die BewohnerInnen von Nueva Palestina und anderer Gemeinden der Umgebung, Ende 1995 wird der UCPFV-Aktivist Reyes Penagos Martínez von der Polizei gefoltert und ermordet. Seit Oktober 1996 steht Nueva Palestina unter ständiger Militärkontrolle, doch die Gegend um Liquidambar und Prusia kommt nicht mehr zur Ruhe. Die Opposition gegen die deutschen Kaffeebarone hält an.
Die Autoren haben mit “Die Rebellion der Habenichtse” ein spannendes Buch über den Kampf gegen die deutschen Kaffeebarone in Chiapas geschrieben. Ausführlich kommen sowohl die Menschen aus Nueva Palestina als auch die deutschen Kaffeepflanzer zu Wort. Gerade diese Gespräche sind eine gute Ergänzung zu den Informationen über Geschichte und Politik in Chiapas, den Aufstand der EZLN oder die Mechanismen des internationalen Kaffeemarktes. Wohl niemand könnte die Großgrundbesitzer besser demaskieren als sie selbst, wenn man sie zu Wort kommen läßt. Folke von Knoop beispielsweise analysierte die Besetzung seiner Finca Prusia folgendermaßen: “Die Besetzungen haben auch mit Greenpeace und Sendero Luminoso in Peru zu tun, die alle vorn das Gute zeigen, aber im Hintergrund ist alles gesteuert.”

B. Kanzleiter/D. Pesara: Die Rebellion der Habenichtse. Der Kampf um Land und Freiheit in Chiapas. Edition ID-Archiv, Berlin 1997, 144 Seiten, 16,- DM.

“Fujimori wird seinen Triumph ausspielen”

Kann man sagen, daß die MRTA in Sachen Geiselnahme un­gewollt zum Triumph Fuji­mo­ris beigetragen hat?

Durch die Haltung von Cerpa und die Konzentration auf die Frei­lassung der Häftlinge wurde viel Zeit verloren, und diese hat die Regierung von Anfang an da­zu benuzt, auf intelligente Weise die Befreiungsaktion vor­zu­be­rei­ten. Die Zeit hat ganz klar für die Regierung gespielt.

Doch das MRTA-Kommando hat doch deutlich seine Ver­hand­lungs- bereitschaft zum Aus­druck gebracht. Hat diese auch Fujimori gehabt?

Ich glaube eine militärische Lösung war für Fujimori sehr wich­tig, um sich von den Flek­ken, die die Geiselnahme auf sei­ner Weste und auf der enger Vertrauter, wie dem Geheim­dienstchef Vladimiro Montesi­nos, hinterlassen hat, wieder zu reinigen. Und der Präsident hat von Anfang an keinen Zweifel darüber gelassen, daß er keine po­litischen Themen verhandeln will, etwa ein Friedensabkom­men mit der MRTA.

Wie stehen die Chancen Fuji­mo­ris für eine dritte Amts­pe­ri­ode?

Er ist bereits voll dabei, die Grundlage dafür zu legen, so­wohl im politischen als auch im rechtlichen Bereich. Doch die zwei Thesen von Fujimori: “Ich ga­rantiere Stabilität und habe die Inflation im Griff” sowie “Ich bin fähig, ausländisches Kapital ins Land zu bringen” haben nicht mehr ihre frühere Gültigkeit. Die erste ist bereits völlig verbraucht und die zweite beginnt nun, ihren Nimbus zu verlieren, denn die Leute sehen wohl, daß ausländi­sche Unternehmen in Peru inve­stieren, aber sie sehen auch, daß das keine neuen Arbeitsplätze schafft, keine besseren Löhne, keine besseren Lebensbedingun­gen. Fujimori wird gegen diese Verschlechterung seines Images mit jenem autoritären und militä­rischen Populismus ankämpfen, der ihn charakterisiert. Vielleicht wird er das Geld, das aus den Privatisierungen hereingekom­men ist, und andere Mittel für kurzfristige soziale Assistenz­programme für die benachteilig­ten Bevölkerungsschichten ein­setz­ten.
Seine für das Jahr 2000 ge­plante Wiederwahl ist ja nicht nur eine Frage der Machtgier. Es handelt sich auch darum, das Ge­schehene zu verbergen, denn nur durch die Fortdauer dieses Re­gimes kann die enorme gegen­wär­tige Korruption unaufgedeckt bleiben. Also je länger diese Re­gierung an der Macht bleibt, de­sto größer sind ihre Chancen, daß ihre Machenschaften straflos bleiben.

Und hat die Linksopposition ei­ne Alternative dazu?

Die Opposition gibt es nicht. Es gibt die Oppositionen. Unter den Leuten, die mit Fujimori nicht einverstanden sind, gibt es sehr unterschiedliche Haltungen. Einige sind mit seinem Autorita­rismus nicht einverstanden, an­deren passen einige Personen in seiner Umgebung nicht, wieder an­dere opponieren gegen die ex­trem neoliberale Wirtschaftspo­litik des Präsidenten. Es gibt also verschiedene Oppositionen. Was man so als Mitte-Links-Spek­trum der Opposition bezeichnen könnte, befindet sich gerade am Beginn eines Meinungsaustau­sches, der meines Erachtens zahl­reiche Schwächen hat. Eine zum Beispiel ist die Unfähigkeit, ein Alternativprojekt auszuar­bei­ten. Oder die Schwierigkeit, durch gegenseitige Abkommen zu einer Aktionseinheit zu ge­lan­gen. Und drittens die Tatsa­che, daß diese Regierung nicht nur korrupt ist, sondern auch kor­rumpierend, d.h. fähig, auf diese Weise die Opposition zum Schwei­gen zu bringen.

Welche andere Möglichkeiten ei­ner Veränderung gibt es denn derzeit in Peru?

Nun, nachdem diese Geisel­geschichte vorüber ist, wird die Politik wieder in den Mittelpunkt des Geschehens und des Kam­pfes zurückkehren. Aber Fuji­mo­ri wird seinen Triumph natürlich total ausspielen. In ver­schie­denen Medien hat schon eine Kampagne gegen jene be­gonnen, die sich gegenüber sei­nem Ver­halten kritisch ausge­sprochen haben, und das wird noch stärker werden.
Übersetzung: Werner Hörtner
aus: Lateinamerika Anders Panorama 5/97

Mord als Imagepflege

Kaum war die Besetzung der japanischen Botschaft in Lima durch MRTA-Guerilleros durch einen Gewaltstreich der Armee be­endet, da war Peru auch schon aus den Schlagzeilen ver­schwun­den. Die Nachrichten über die Hin­tergründe, die Stück für Stück ans Licht kamen, taugten allen­falls noch für Spal­ten­meldungen.
Die spektakulär­ste darunter war noch jene, daß die 14 Gue­rilleros anscheinend auf höchste Wei­sung hin hinge­rich­tet wur­den, obwohl sie sich längst erge­ben hatten. Die “Be­frei­ungs­ak­tion” erscheint da­durch plötzlich in neuem Licht: Als weiterer Höhe­punkt einer end­losen Kette von Menschen­rechts­ver­letzun­gen des Regimes in Lima. Dessen eigentlich recht hohes innen­politisches Ansehen hatte schon im Vorfeld der MRTA-Aktion stark gelitten, wie Mei­nungs­umfragen zeigten. Das liegt zum einen am harten neoli­be­ra­len Kurs und dem radikalen Aus­verkauf von Staatsbetrieben, was Fujimori schon den Ruf ei­nes “Vendepatria”, eines Vater­lands­verkäufers, eingebracht hat. Zwar wurde die galoppierende In­flation eingedämmt, es stiegen Wirt­schaftswachstum und aus­län­dische Investitionen, doch hat die große Mehrheit der peruani­schen Bevölkerung keinen Bene­fit davon, ganz im Gegenteil. Ge­rade die Privatisierung der Staats­betriebe, wie z.B. Petro­peru, hat die Arbeitslosigkeit stark ansteigen lassen. Weitere Ur­sache für die Krise des “Fujimorismo” ist die Verwick­lung von hohen Repräsentanten der Regierung, wie Fujimoris eng­stem Vertrauten Vladimiro Montesinos, Chef des Geheim­dienstes SIN, in Korruption, Dro­genhandel und Menschen­rechts­verbrechen. Das Amne­stie­ge­setz von 1995 läßt Tau­sende von Angehörigen Ver­schwun­de­ner weiter im Unklaren über de­ren Schicksal, läßt die Täter un­bestraft.
In diese Situa­tion fiel die Gei­sel­nahme durch die MRTA. Für Fujimori war von Anfang an klar, daß es für ihn nur eine “Exekutionslösung” geben konn­te: Sein Selbstbild als der Führer mit der harten Hand, der mit den Guerillabewegungen auf­geräumt hat, ist sein größtes politisches Ge­wicht, daß er in die Waag­schale zu werfen hat. Den aus­län­dischen Investoren mußte mit einer Demonstration der Stär­ke ge­zeigt werden, daß ihre Pro­jek­te nicht durch Unruhe im Land ge­fährdet sind. Und dann war da noch der Druck von sei­ten der Armee und der Geheim­dienste, auf die sich Fujimoris Macht mehr stützt als auf die demo­kra­ti­schen Institutionen. Diese, im öffent­lichen Ansehen wegen Affären um Kokain­schmug­gel in Armee­flugzeugen, Bomben­an­schlä­gen und Entfüh­rungen Oppo­sitioneller arg ge­beutelt, brauch­ten einen ima­geförder­li­chen “Erfolg”.
Einer frühen mi­litärischen Aktion stand aller­dings Japan ent­gegen, das den Einsatz “frem­der” Sicherheits­kräfte auf seinem Terri­torium in Lima zunächst unter­sagte und auf Un­ter­hand­lungen drängte. Ent­scheidend für Fujimori, sei­nen Plan dennoch durch­zuführen und dabei Japan zu brüskieren, war wohl die Unter­stützung der USA, die den Präzedenzfall Di­plomaten­gei­sel­nahme keinesfalls als Beispiel zur Nachahmung dulden wollten. Nur so konnte Fujimori es sich leisten, mit der Erstürmung einer Bot­schaft ohne Zustimmung in­ter­nationales Recht zu brechen und seine vor der Welt­öffent­lich­keit abgege­bene Garantie­er­klä­rung (“Es wird eine friedliche Lö­sung und kein Blutvergießen ge­ben”) in den Wind zu schrei­ben. Die Ver­handlungen der Ver­mitt­lungs­kommission um Bi­schof Cipriani degradierte er da­mit beinah zur Farce, und als Cipriani, der bis­lang als re­gie­rungs­loyaler, kon­servativer Kirchen­mann galt, nach der Mili­täraktion vor die Fernseh­ka­me­ras treten mußte, wein­te er wohl nicht nur aus Trauer um die 17 Toten, sondern auch aus Ent­täu­schung, von Fu­jimori als Werk­zeug für dessen Hinhalte­tak­tik benutzt worden zu sein.
In Peru selbst ist die Zu­stimmung zu Fujimoris Angriff eher verhalten, in die Freude ei­ner­seits, daß fast alle Geiseln un­ver­letzt freikamen, mischt sich die Trauer um die Toten und die Angst vor einer neuen Eskalation der Gewalt. Nichts fürchten die Peruaner mehr als einen neuen Bürgerkrieg. In Zeitungsumfra­gen hatte sich mehr als die Hälfte der Peruaner für Ver­hand­lungen mit dem MRTA-Kommando in der Botschaft und für eine friedliche Lösung ausge­sprochen; und obwohl es zudem in der Bevölkerung eine Basis gibt für einen nationalen Aus­gleich mit Reintegration der be­waff­neten Gruppen in das zivile Leben, setzt Fujimori jedoch wei­ter­hin auf die Karte der staat­lichen Repression. Führende Oppo­sitionspolitiker, wie der Ab­geordnete César Rodriguez Rabanal, fürchten eine weitere Entmündigung demokratischer Kräf­te im Rahmen einer intensi­vier­ten “Terrorismus­be­käm­pfung”.
Derweil ist noch unklar, wel­che Rolle die MRTA in Zukunft spie­len wird. Die Guerilleros demonstrieren ihre Kampfkraft der­zeit nur auf den Seiten ihrer Inter­net-Homepage, Vergel­tungs­anschläge blieben bis­her aus. Es stellt sich die Frage, ob das blutige Ende des Komman­dos Edgar Sanchez der MRTA neuen Zulauf bringt, oder ob eher Fujimori ein Zeichen ge­setzt hat auch für andere Länder der Region, die Konsensbestre­bungen mit den Guerillabewe­gungen aufzugeben.
Für Peru scheint die Zeit des be­waffneten Aufstandes vorerst vor­bei zu sein: Nicht etwa, weil es keine soziale Ungerechtigkeit mehr gäbe -ganz im Gegenteil-, son­dern weil die Peruaner einen Rück­fall in die Bürgerkriegszei­ten der achtziger Jahre fürchten.

“Kunst: eine Leidenschaft mit Risiko”

Ein kühles, stilles Morgenlicht liegt noch wie ein zartes Luftgewebe über Barranco. Noch ist die Straße menschenleer, ab und an nur braust ein zeternd hupendes Taxi vorrüber oder ein scheppernder Bus poltert mit klirrenden Scheiben durch die Schlaglöcher. Die Calle Domeyer zweigt von der Hauptstraße ab, und sie endet schon nach wenigen Metern an einem Tor hoch über den Klippen der Bucht von Lima. Víctor Delfín, ein kleiner alter Mann mit in Würde zerfurchtem indianischem Gesicht, langem grauem Haar, die sehnigen Beine ragen aus farbbeklecksten Shorts, schaut einen Moment lang listig wachsam hinter seinen großen Brillengläsern hervor. Freundlich heben sich seine Augenbrauen, und er läßt ein in sein Atelier, vor dessen weiten Fenstern von Horizont zu Horizont der Pazifische Ozean tobt.
Geboren 1927 als Sohn eines Erdölarbeiters im Norden des Landes, verschenkte er bereits als Kind selbstgebastelte Spielzeugautos aus Holz, Draht, und Blechdosen, und als Schüler verkaufte er Zeichnungen, um sich Zeichenutensilien kaufen zu können. Mit zehn Jahren mußte er von der Schule, und wie so viele peruanische Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Jahre verbrachte er als Straßenhändler, Hilfsarbeiter in Fabriken und auf Baustellen, doch vom Zeichnen ließ er nie. Er bestand die Aufnahmeprüfung für den Eintritt in die Kunstakademie von Lima, seinerzeit für einen Bewerber ohne Schulabschluß eine Sensation, die ihm ein Stipendium einbrachte.

Eine Generation von Künstlern auf der Suche nach ihren Wurzeln

Lateinamerika schien in den fünfziger Jahren nach Krieg und Zuwandererwelle kulturell neu zu erwachen. Der Kunststudent Víctor Delfín stürzte sich in die Bohème von Lima, die so sein wollte wie jene in Paris oder New York.
“Zu Beginn habe ich all diese “-ismen” aufgesaugt wie ein trockener Schwamm, die Befehle der Generäle Bréton, Picasso, Henry Moore, beinah bis zur Selbstvergessenheit. Doch da gab es in mir einen rebellischen Geist, der mir keine Ruhe ließ, der fragte: Wo bleibt die Seele?” Er ging auf die Suche, und gehörte zu jener Generation peruanischer Künstler wie auch Alberto Quintanilla, Tilsa Tsuchiya und Fernando de Szyzlo, die ihre indigenen Wurzeln neu entdeckten in einer Zeit, in der die politische und kulturelle Nomenklatura des Landes voller rassistischer Ressentiments und Ignoranz auf die “cholos”, wie sie Mestizen und Indios abfällig nennt, herabblickte. Nicht etablierte Ausstellungen und Wettbewerbe besuchte diese junge Generation, sondern Dörfer und Märkte und Werkstätten, sie stiegen hinauf nach Macchu Picchu, durchschritten die Ebenen von Nazca, studierten in den Museen die lustvolle, bunte Formenwelt der Keramiken und der farbenprächtigen, meisterhaft gewebten Stoffe präkolumbiner Kulturen. Während Künstler wie Szyzlo die Farben und Formen der indigenen Tradition in ihre abstrakte Malerei zu integrieren suchten, wandte sich Delfín dem Figurativen zu.

Bilder von Alltagsszenen im Altiplano

Nach Abschluß seines Kunststudiums wurde er Dozent und schließlich Direktor der Kunstakademien von Puno am Titicacasee und Ayacucho, Zentrum des peruanischen Kunsthandwerks. “Ich ging morgens auf den Markt von Ayacucho, sah die Stoffe aus Lamawolle, Hüte, Sättel aus Leder, kleine Spielzeugkühe aus Quinoafasern, so vieles und mehr, und fühlte mich wie in einer riesigen Akademie”. In dieser Zeit entstander flach und geometrisch wirkende, rationalistische Bilder; Landschaften und Porträts, streng durchkomponiert und in traditionellen Farben gehalten. Bilder von täglicher Arbeit: Maurerkolonnen auf dem Gerüst, Marktfrauen mit ihrer Ware, der Bauer auf der Scholle. Die Farbe des Bildes atmet den herben Duft der Erde des Altiplano. Dem Kulturministerium war dies schon zu revolutionär: Delfín wurde von seinem Posten entlassen.
Er ließ das reaktionäre Lima hinter sich, ging nach Santiago de Chile. Die sechziger Jahre lösten hier eine Welle der Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln Lateinamerikas aus. Pablo Nerudas “Canto General” erscholl über den Kontinent, Violeta Parra machte das chilenische Volkslied populär, und ihre Kinder Angel und Isabel Parra gründeten die Bewegung des “Neuen Gesanges”. Einige Jahre lebte Delfín mit den Parras, aus seinem Atelier im Zentrum Santiagos wurde später gar die legendäre “Peña de los Parra”, wo auch Víctor Jara seine ersten musikalischen Schritte wagte. Delfín gab Zeichen- und Malkurse an den Kulturinstituten von Los Condes und Providencia. Erst hier bekam er das Gefühl, seine künstlerische Identität gefunden zu haben.

“Retablos” – eine Brücke zum Mestizo-Barock

Das Resultat seiner Suche, “den Durst nach der Wirklichkeit zu stillen”, waren seine bemerkenswerten “Retablos”, bemalte flache Kästen mit räumlichen Szenen, mit denen er eine Brücke schlägt zu den berühmten “Retablos” von Ayacucho, bemalten Tafeln oder mit prunkvollen Goldschmiedearbeiten gestaltete Tryptichone mit religiösen oder anekdotischen Szenen, die einst Kirchen- und Hausaltäre schmückten und zu den herausragensten Arbeiten des sogenannten Mestizo-Barock gehören. In seinen “Retablos” ersetzte Delfín das traditionelle Thema zunächst durch die plastische Umsetzung von Methaphern der populären Poesie, wie z.B. einem Schwarm Tauben oder Rosetten von Blüten, später gar durch erdachte, illusionistische Elemente aus Metall, Holz und Gips.

Ein Skulpturengarten auf den Klippen vor der Stadt

Er kehrte zurück nach Lima, kaufte eine heruntergekommene Villa in Barranco, das zu jener Zeit, den späten sechziger Jahren, nicht mehr als ein verschlafener Küstenort war. Nach Delfín entdeckten weitere Künstler, Schriftsteller, Dichter, Intellektuelle den beschaulichen Ort mit der Kolonialkirche und der baumüberdachten Plaza, wo das Zwitschern der Vögel morgens noch den Verkehrslärm übertönt, und machten ihn zu einer “Künstlerkolonie” von kontinentalem Rang, nicht zuletzt Delfíns Freund und Weggefährte Mario Vargas Llosa, der vor seiner Übersiedlung nach Spanien nach seiner Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf 1990 gegen Alberto Fujimori in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte.
Im Laufe der Jahre erlebte das Haus auf den Klippen vor Lima gleichsam eine kreative Explosion. Den Garten mit Blumenbeeten in versteckten Winkeln und windumtosten Terassen zieren zahlreiche Skulpturen, die Wände in seinem Atelier hängen voller großer Ölbilder. In manchen Porträts liest sich der Kommentar des Künstlers, das ganze Spektrum seiner Leidenschaften: Der liebevolle Blick, den ihm seine Tochter erwidert, eine Mischung aus Trotz und Zuneigung im Gesicht einer Freundin, der schneidende Schmerz des Christus, der von den Bajonetten des peruanischen Militärs durchbohrt am Boden liegt, der dumme, ignorante Ausdruck im feisten rosa Gesicht eines Generals, der mit seinem fetten Hintern auf einer Staatsflagge sitzt, die notdürftig einen Berg Totenschädel verhüllt.
“Wenn jemand verrückte Ideen hat, Ideen von Rebellion, von Weite angesichts der Natur, dann drückt er sie aus, und somit manifestiert sich das Ich, das Persönliche, das Unverwechselbare. Die Kunst ist kein Beruf, sie ist eine Leidenschaft, der man sich hingibt mit allen Risiken. Ich male keine angenehmen Themen, es gefällt mir zu streiten, wenn ich ausstelle.”
“Nur wenn ich gegen meinen eigenen Erfolg rebelliere, kehre ich zu den Wurzeln zurück und entwickle mich fort. Ich mache mir keine Schwierigkeiten über das Ziel, daß ein Kunstwerk haben könnte. Ich sehe die Kunst weder als eine Art Wettbewerb, noch glaube ich, daß ich eine Art Erleuchteter bin, der anderen den Weg vorgeben könnte.”

Monumentale Skulpturen aus Schrott und Wut

Mit der Rückkehr nach Lima wuchs in Delfín die Wut über die Ignoranz, die ihm begegnete. “Als ich nach Barranco kam, war ich ein sehr unruhiger Mensch, mit einem Ruf hin bis zur Gewalttätigkeit. Ich nahm ein paar Stücke Eisen, Schrott, Abfall- und fing an, meine ganze Wut, Frustration auszudrücken gegen diese rassistische Gesellschaft, wie ich sie erlebt habe, man nannte uns “diese cholos, diese negros”. Ich habe all dies wahrgenommen und mein “Bestiarium” (eine Serie großer, wuchtiger Tierplastiken aus Stahl) geschaffen: Jedem Stück verpaßte ich ein gewaltiges Geschlechtsorgan, groß, gewalttätig. Und unvorstellbarerweise genau das Publikum, daß ich damit angreifen wollte, jene die ihr Schäfchen im Trockenen haben, hat diese Sachen gekauft wie verrückt.”
Erst als Bildhauer eroberte sich der studierte Maler seinen Platz in der Kunstszene: Es folgten Ausstellungen, Verkäufe, Preise in Peru, in Chile, Ecuador, Kolumbien, schließlich schaffte er den Sprung nach Nordamerika, blieb zwölf Jahre lang in New York. Eine eigene Galerie im Greenwich Village, Ausstellungen im Hauptquartier der OAS, Versteigerungen bei Sothebys, Empfänge, Vernissagen.
Und doch zog es ihn wieder zurück nach Peru, nach Lima, nach Barranco. Seit Anfang der achtziger Jahre lebt er wieder ständig dort und hat den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang Perus in Zeiten von Militärdiktatur und Terrorismus durchgestanden.
Das Peru der späten achtziger und frühen neunziger Jahre war ein Staat in Auflösung. Der “Sendero Luminoso”, die maoistische Guerilla des “Leuchtenden Pfades”, rief zu einem “reinigenden Blutbad mit einer Million Toten” auf und trieb den Terror bis in das Zentrum von Lima. Bombenanschläge und Schießereien in den Straßen, das öffentliche Leben erlahmte, die Menschen trauten sich vor Angst nicht mehr aus den Häusern. Angesichts von Wirtschaftskrise und Terrorismus war das Regime von Präsident Alan García nicht mehr Herr der Lage.
Auch für Víctor Delfín begann eine Zeit der Isolation und der Furcht – nicht nur um die physische Existenz, sondern auch um das geistige Überleben in einer Zeit, in der “an Kunst, an Glück, an Liebe nicht zu denken war”.
Eine dröhnende, bleierne Stille herrscht in der verwaisten Skulpturenwerkstatt, aus Mangel an Leinwand werden alte Bilder übermalt. Sein früher zügelloser, aufbrausender Charakter ist einer beständigen, kämpferischen Natur gewichen, die nicht weniger leidenschaftlich ist.

Ein “Park der Liebe” für ein Land in der Krise

Stärker als je zuvor fühlte er sich mit seinem Land und seinen Mitmenschen verbunden, und er machte ihnen auf dem Höhepunkt der Krise ein herrliches Geschenk, daß ihn schlagartig im ganzen Land bekannt machte: Einen Hymnus an die Liebe, den “Parque del Amor”. Der Park, auf einem Felsen am Meer im Stadtteil Miraflores gelegen, ist zu einem Wallfahrtsort für Liebespaare aus dem ganzen Land geworden. Die geschlängelten Umfassungsmauern mit zahlreichen verborgenen Sitznischen und Durchbrüchen, gaudiesk bunt gefliest, sind geschmückt mit Zitaten aus den schönsten Liebesgedichten peruanischer Dichter, laden ein zum Verweilen und Entdecken.
“Ich denke, daß man als Künstler die Gabe hat, seine Sensibilität auszudrücken. Wie könnte ich unempfindsam sein angesichts eines vergewaltigten Mädchens, eines toten Kindes, eines verschwundenen Studenten? Wie kann man da still sein? Wie kann man sich isolieren, wenn man aus dem Haus geht und nur Elend, Unordnung, Korruption, Gewalt sieht? Die Jahre des Terrors, gegen den Staat und von ihm ausgehend, haben viele von uns hartherzig gemacht, wir haben einen Teil unserer Seele verraten. Man hat mich in den letzten Jahren gelehrt, demütig, bescheiden, standhaft zu sein, die Stirn zu bieten, keine Angst zu haben…Carajo!”
Überraschend gewann 1990 der japanstämmige Agraringinieur Alberto Fujimori, ein populistischer Außenseiter, die Präsidentenwahlen. Die ökonomische Krise und die ersten Folgen der neoliberalen Wirtschaftsreformen brachten das Land an den Rand des Abgrunds und das soziale Pulverfaß zum explodieren. Im April 1992 putschte Fujimori mit Hilfe des Militärs gegen sein eigenes Amt, setzte die Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf und stattete sich selbst mit weitreichenden Vollmachten aus. Die folgende Großoffensive der Armee gegen die zahlreichen im Land operierenden Guerillabewegungen brachte mit der Verhaftung von “Sendero”-Chef Abimael Guzman einen großen Erfolg, der das Land weitgehend befriedete. Die Wirtschaftsreformen griffen, stoppten die rasante Inflation und führten zu einem bescheidenen Wachstum. Doch der Preis dafür ist hoch. Steigende Arbeitslosigkeit, die Schere zwischen arm und reich klafft weiter auseinander, an den grundsätzlichen Problemen hat sich nichts geändert. Fujimori schaffte die demokratische Verfassung ab, ersetzte sie durch ein autokratisches, ihm beinah absolute Macht garantierendes Gesetzeswerk. Eine beispiellose Terroristenhatz überzieht das Land mit dem Ergebnis, daß tausende “Verdächtiger” zum Teil seit Jahren ohne Prozeß in Haft sitzen. Noch heute “verschwinden” Menschen spurlos, oder werden auf offener Straße vom Geheimdienst entführt, wie es zum Beispiel kurz vor Weihnachten dem Ex-General Robles geschah, der die Verbindungen des Chefs des Geheimdienstes SIN und engsten Fujimori-Vertrauten, Víctor Montesinos, zur Drogenmafia enthüllte.

Eine Ausstellung für die Verschwundenen

Das Massaker der Armee an neun Studenten und einem Professor der Universität von La Cantuta, der ein enger Freund von ihm war, weckte in Delfín sein politisches Engagement. Er hat die Menschenrechtsorganisation APRODEH mitbegründet, und als Fujimori 1995 alle uniformierten Menschenrechtsverletzer, unter ihnen auch die Täter von La Cantuta, generalamnistierte, rief er eine Initiative gegen das Amnestiegesetz ins Leben. Seitdem schreibt er Zeitungsartikel, spricht auf Demonstrationen, setzt sich für Gefangene ein. Mit einer Ausstellung in seinem Haus in Barranco, rief Delfín im Juni letzten Jahres zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema der “Desaparecidos”, der Verschwundenen, auf. “Es wurde klar, wie sehr das Thema von der Angst aus der Öffentlichkeit verdrängt ist, wie groß aber auch das Interesse an der Wahrheit ist. Wir entreißen die “Desaparecidos” ihrer Anonymität, zeigen, daß sie Individuen waren, keine Zahlen, genauso wie ihre Mörder.”
Die Geiselnahme in der japanischen Botschaft durch ein Kommando der MRTA war auch für Delfín ein Schock, er fürchtet um die relative Stabilität im Land. Nach den verfehlten Hoffnungen der Regierung, Peru könnte ein ökonomischer “Tiger” Lateinamerikas werden, und nachdem sich jetzt zunehmend die Folgen des radikalen Ausverkaufs von Staatsbetrieben zeigen, galt der “Sieg über den Terrorismus” als Fujimoris größter politischer Erfolg. Ein Trugschluß, wie sich nun zeigt. Für Víctor Delfín sind die eigentlichen Probleme des Landes grundsätzlicherer Natur. “Welche Art von Land sind wir? Wir wissen, wir sind spät dran und haben eine wichtige Verabredung mit der Zukunft, also beeilen wir uns und entscheiden, welche Art von Modernität wir wollen: Die Erfahrungen der Industrieländer nutzen, ihre Fehler vermeiden, das Beste unserer Kultur retten und Bewußtsein zu erlangen für unsere Identität, so werden wir eine menschlichere Gesellschaft erreichen.”

Ein steinernes Meer auf der Säule

Zur Zeit arbeitet Delfin an einer Skulptur auf dem Kreisel von Chimbote, einer Hafenstadt im Norden Perus, einer elf Meter hohen Säule, mit mehrfach durchbrochener Positiv-Negativ-Ornamentik , die an Escher erinnert. “Ich habe mir Leute von dort gesucht, ganz einfache Handwerker. Ich weiß um ihr Erstaunen, wenn man sie aus ihrem Schema herausreißt. Einer der immer nur gerade Steinmauern hochzieht wird verrückt, wenn er einen Zylinder machen soll, und wenn dieser Zylinder auch noch Bilder trägt. Sie sind stolz auf das was herauskommt und fühlen sich als ein Teil des Ganzen.”
Die Skulptur steht auf dem Verkehrsknoten von San Pedrito, wo täglich hunderte von Autos, Bussen und Lastern vorbeikommen auf dem Weg nach Norden oder zurück. “Hier stellen wir den ganzen Reichtum des Meeres dar, das alte Peru, daß sich von Fisch ernährte, das gegenwärtig ist bei den Mochica, ihren Keramiken, ihren Stoffen, gegenwärtig in Paracas, Nazca und Chanchán. Das Meer ist gegenwärtig in meinen steinernen Pelikanen, den Krebsen, den großen Fischen, den gigantischen, die Formen abstrahierend, denn man kann die Natur nicht imitieren. Man zieht aus ihr die Kraft, die Zartheit, die Farben, schließlich die Atmosphäre; die Farbe, die eine Landschaft hat, kann manchmal nur ein Künstler erfassen.”
Barranco taucht wieder zurück in die Dunkelheit. Wenn man über die “Puente de Suspiros” geht, die Seufzerbrücke, unter der die “Pirañitas”, jugendliche Taschendiebe, lauern, kommt man zu einem Aussichtspunkt auf der Klippe, von wo man die Schaumkronen der Wellen wie weiße Würmer über das Wasser tanzen sieht. Tief unten zieht ein Ausflugsdampfer in weitem Bogen durch die Bucht, ein Tango hallt herauf. In Barranco erwacht ein brodelndes Nachtleben, die Bars und Diskotheken sind “in” bei den Jugendlichen aus dem mondänen Nachbarort Miraflores, chic gekleidete, wohlduftende Teenies heizen in glitzernden japanischen Geländewagen um die Plaza. Während eines dieser zeternd hupenden Taxis hält, klingt noch der letzte Satz von Don Víctor in mir nach, kurz bevor er das große Tor hoch über den Klippen hinter mir schloß. “Das Einzige, was ich weiß ist, daß weder Du noch ich unendlich sind. Das menschliche Wesen, die menschlichen Leidenschaften sind das Zerbrechlichste.”

Die Schikane wird europäisiert

Carlos Benavides Caldas hatte keinen Grund zur Sorge, als sich die Maschine der British Airways aus London am 21. Februar Berlin näherte. Im Paß des peruanischen Wis­senschaftlers, der seit Jahren für den DED sowie als Berater für den Parlamentsabge­ordneten Rolando Breña von der Vereinigten Linken tätig ist, befand sich ein gültiges Visum für die Unterzeichnerstaaten des Schengen-Abkommens. Vor ihm lagen, so meinte Bena­vides, Vorträge, unter anderem beim Bun­destreffen der Peru-Gruppen in Nürnberg und bei der PDS Berlin, ein Besuch bei seinen Kindern in Frankreich und das Wiedersehen mit alten Freunden.
Wenige Stunden spä­ter saß Carlos Be­navi­des wieder in Lon­don, zurückge­wiesen am Flugha­fen Berlin-Tegel vom Bun­desgrenz­schutz wegen nicht näher be­stimmter “Si­cher­heits­bedenken”. Die spä­tere Begrün­dung von Seiten des Bun­des­kriminalamtes: Nach Informationen ei­nes “befreundeten Dien­stes” gelte Be­na­vides als Unter­stüt­zer ei­ner ter­ro­ri­sti­schen Ver­ei­ni­gung. Be­le­ge für die­sen Ver­dacht wurden nie erbracht. Nach zwei Wo­chen schließlich konnte die Ber­li­ner An­wäl­tin Imeke de Weldige die Ein­reise­er­laubnis für Benavides per Beschluß des Ver­walt­ungs­ge­richtes Berlin erzwingen.
Bis heute ist nicht klar, wer der “befreundete Dienst” ist, von dem das BKA seine Informationen bekommen haben will. Es scheint sich nicht um den peruanischen Ge­heimdienst zu handeln. Der peruanische Bot­schafter in London zumindest erhielt vom Au­ßenministerium aus Lima die Weisung, sich darum zu kümmern, das Recht von Carlos Be­navides, in Europa zu reisen, nach Möglich­keit durchzusetzen, in Peru liege nichts gegen ihn vor.
Wo immer auch die “Information” herkam, das BKA hielt sie für relevant genug, um Be­navides unter Terrorismusverdacht auf die schwarze Liste zu setzen. So bekam Benavides gleich mehrfach die konkreten Folgen der Schengen-Regelungen zu spüren. Mit dem Ab­kommen haben bekanntlich sieben EU-Staa­ten, nämlich Deutschland, Frankreich, Spa­nien, Portugal und die Beneluxländer, die Vor­reiterrolle dabei über­nommen, das EU-Europa auch für Be­sucher von außen Schritt für Schritt zu einer Ein­heit werden zu las­sen – ein­heit­lich bü­rokratisch, ab­ge­schottet und ab­wei­send.
Das Problem fängt schon vor der Aus­reise aus Peru an. Noch bis April 1996 konnten pe­ru­a­ni­sche Staatsbürger für drei Monate nach Deutsch­land reisen, das Touristenvisum be­kamen sie un­bü­ro­kra­tisch bei der Ein­rei­se. Jetzt ist infolge des Ab­kommens für je­den noch so kurzen Be­such eine Einladung zu prä­sentieren, ggfs. fi­nan­ziel­le Solvenz nachzuwei­sen und Warte­zeit einzukalkulieren. Eine Reise nach Europa in den Schengen-Bereich zu planen, wird so zu ei­nem bürokratischen Hürdenlauf.
Die Visapflicht reicht den EU-Behörden je­doch nicht. Benavides hatte ein gültiges Vi­sum, das in Berlin-Tegel kurzerhand annul­liert wurde. Schon eine halbe Stunde später schickte der BGS ihn nach London zurück. Keine weiteren Angaben über die Gründe, keine Information über mögliche rechtliche Schritte, kein Aufschub des Rückfluges nach London. Von dort aus wäre er höchstwahr­scheinlich umgehend nach Lima zurückge­schickt worden, hätten nicht Europaparla­mentarier und der peruanische Konsul in London interveniert.
Eine naheliegende Möglichkeit für Benavi­des wäre gewesen, direkt nach Paris zu flie­gen, nachdem ihm die Einreise nach Deutschland verweigert worden war. Er hätte so den Besuch bei seinen Kindern vorziehen und von Frankreich aus die Einreise nach Deutschland regeln können. Aber Frankreich ist, anders als Großbritannien, Schengen-Staat, die mysteriöse Geheimdienstinforma­tion lag auch den französischen Behörden vor, und Benavides hätte in Paris ebenso abgewie­sen werden müssen wie in Berlin. Schengen wirkt, die Schikane wird europäisiert.
Zurück zu den deutschen Behörden: An­wältin de Weldige bekam auf Anweisung des Bundesinnenministeriums ebensowenig voll­stän­dige Akteneinsicht wie das mit dem Fall be­faßte Gericht. Der Akteninhalt wurde vom BKA teilweise geschwärzt, um, so die Begrün­dung, die Identität des “befreundeten Dien­stes” nicht preiszugeben. Aber damit noch nicht genug: Nach der für Benavides po­sitiven Entscheidung des Gerichtes weigerten sich Grenzschutzpräsidium Ost in Berlin und Bundesinnenministerium noch stundenlang, den Gerichtsbeschluß zu vollziehen und Bena­vides somit noch am gleichen Abend die Reise nach Berlin zu ermöglichen. Ist eine hartnäk­kige Anwältin nötig, um deutsche Behörden davon zu überzeugen, daß ein Gerichtsbe­schluß nicht nur eine beliebige Empfehlung ist? Wenn das BMI und seine nachgeordneten Instanzen Gerichtsbeschlüsse nicht respektie­ren, dann fehlt es in diesem Land an Grundla­gen rechtsstaatlicher Sicherheit.
Gern präsentiert sich das offizielle Deutschland als weltoffener Rechtsstaat und Vorbild für andere. Die Geschehnisse um die Einreise von Carlos Benavides Caldas in den letzten Wochen zeigen demgegenüber eine Realität, die in den letzten Jahren mit dem Schengen-Abkommen politisch gewollt und bewußt so geschaffen worden ist. Deutsche Behörden haben vorgeführt, wie Abschottung auf der Ebene von Verwaltungsvorgängen funktioniert. Es sind die gleichen Mechanis­men, die das Klischee sonst gerne lateiname­rikanischen Bürokratien zuschreibt: Schikane, Willkür und Arroganz der Macht. Daß wenig­stens die Richter in Berlin in diesem Fall Au­genmaß bewiesen haben, ist dabei nur ein schwacher Trost.

Machtmonopol der Rechten gebrochen

In San Salvador, wo knapp ein Drittel aller WählerInnen des Landes eingeschrieben sind, stand der Wahlsieger bereits am Sonntag abend fest: Mit rund 49 Prozent der Stimmen trium­phierte Héctor Silva, “Kandidat der Zivilgesellschaft” für eine Koalition aus der ehemaligen Guerrila Frente Farabundo Mar­tí de Liberación Nacional (FMLN), Convergencia De­mo­crá­tica (CD) und dem christli­chen Movi­mien­to de Uni­dad (MU), klar über den ARENA-Bewerber und bis­heri­gen Bür­germeister Mario Valien­te , der es nur auf gut 36 Prozent brachte.
Héctor Silva, in den USA ge­boren und von Beruf Gy­näko­lo­ge, war während des Bürger­krie­ges einer der Sprecher des Op­po­si­tionsbündnisses FMLN/ FDR in Mexiko. Bei den Wah­len von 1994 machte er sich einen Na­men als Berater und Wahl­kampf­ma­nager des Präsi­dent­schafts­kan­di­daten der Oppo­si­tion Ru­bén Zamora, der erst in der Stich­wahl gegen Armando Cal­de­rón Sol ver­loren hatte.
“Wir werden ihnen zeigen, daß wir reg­ieren können”, rief der 50jährige zukünftige Bür­ger­meis­ter in der Wahlnacht tau­sen­den jubelnden An­hän­gerIn­nen zu. Eine “Hauptstadt des 21. Jahr­hunderts” wolle er schaffen, eine “Politik der Stabilität” ma­chen. Silva kündigte unter an­de­rem den Verzicht auf den Bau ei­ner von Valiente geplanten, mil­lio­nenteuren und höchst um­strit­tenen Müllanlage an.
Der Bürgermeisterposten von San Salvador gilt als eines der wich­tigsten politischen Ämter im Land. Er war sowohl für den Christ­demokra­ten Napoleon Duar­te als auch für Cal­de­rón Sol das Sprung­brett in den Prä­si-den­tenpalast. Die FMLN han­delt Silva bereits als möglichen Kan­di­daten für die Prä­si-dent-schaftswahl 1999.
Außer in San Salvador hat die FMLN auch in na­he­zu allen an­de­ren Großstädten der “area me­tro­politana” gewonnen. Als sen­sa­tionell ist vor al­lem der Sieg der Linken in Santa Ana, der zweit­größten Stadt des Lan­des und Kaffee-Metropole des Wes­tens, zu bewerten. Auch wei­tere De­partementshauptstädte (So­na­te, Zacatecoluca, Cha­la­te­nan­go) gin­gen an die FMLN bzw. linke Wahl­bündnisse; in ei­ni­gen an­de­ren bedeutenden Ge­mein­den wie Nue­va San Sal­va­dor und San Vi­cen­te hat ARENA den Sieg der FMLN juristisch an­gefochten.
Letzten Zwischenergebnissen zu­folge stellen die Ex-Guerilla oder von ihr eingegangene lokale Koa­litionen in rund 60 der 262 Ge­meinden des Landes die künf­ti­gen Bürgermeister. Bei den Wah­len von 1994 hatte die FMLN lediglich 15 Ortschaften an der Urne erobern können. ARE­NA gewann eigenen Anga­ben zufolge nur noch in etwa 115 Ge­meinden (nach über 200 bei den Wahlen 1994), darunter in den De­parte­mentshauptstädten San Mi­guel, Usulutan, Sen­sun­te­peque und San Francisco Go­tera.

FMLN-Sperrminorität im Parlament

Bei den Parlamentswahlen zeich­nete sich seit Beginn der Aus­zählung ein knappes Rennen zwi­schen FMLN und ARENA ab. Bei­de Parteien kamen auf rund 35 Pro­zent der Stimmen, was je­weils 28 bis 30 Mandaten in der 84-köpfigen Asamblea ent­spricht. In jedem Fall ver­fügt die Frente nunmehr al­lei­ne über das not­wendige Drittel an Stim­men, um Ver­fas­sungs­än­de­rungen gut­heis­sen oder ver­hin­dern zu kön­nen. Die Par­la­ments­prä­si­den­tin Glo­ria Sal­gue­ro Gross der re­gie­ren­den Alianza Re­pu­blicana Na­cionalista (ARE­NA) gestand ein, daß “das zu­künf­tige Par­la­ment plu­ra­lis­ti­scher sein wird.” ARE­NA werde künf­tig nicht mehr schalten und walten kön­nen wie gewohnt, kom­men­tierte der der­zei­tige FMLN-Frak­tions­chef Gerson Mar­tí­nez das Er­geb­nis: Von nun an herrsche ein Kräf­te­gleich­ge­wicht in El Sal­vador.
Das ist allerdings nur bedingt rich­tig. Denn klar ist ebenfalls, daß die rechte Par-la-ments-mehr­heit auch für die kommen­den drei Jahre bestehen bleibt. So­wohl die frühere Regie­rungs­par­tei Partido de Con­ci­lia­ción Na­cio­nal (PCN), wie auch der rech­te Flügel der zer­split­terten Christ­demokratischen Par­tei (PDC) schnit­ten mit je­weils rund acht Prozent und vo­raus­sichtlich eben­sovielen Par­la­ments­sitzen über­raschend gut ab. Bei­de Par­teien werden sich for­ma­len oder in­formellen Koali­tio­nen mit ARE­NA nicht verweh­ren.
Noch unklar war bei Re­dak­tions­schluß das Abschneiden der übri­gen Parteien. Den letzen be­kannt­ge­gebenen Zwischen­ergeb­nis­sen zufolge errangen CD, MU, das fun­damentalistisch-re­li­gi­öse Mo­vimiento de Re­no­vación Na­cio­nal so­wie die von dem ul­tra­rech­ten Zeitungskolumnisten Ki­rio Waldo Salgado gegründete Par­ti­do Liberal De­mo­crática (PLD) je­weils zwei Sitze.
Trotz eines Stimmenanteils von we­niger als ei­nem Prozent ist auch Villalobos’ PD mit ei­nem Ver­treter in der neuen Asamblea vertreten – sie war in ei­ni­gen Departements Wahl­bünd­nisse mit den Christ­demo­kra­ten eingegangen, er­gat­ter­te über diese Listen­verbindung so eben noch ein Man­dat und konn­te ihre Zwangs­auflösung dadurch zu­mindest vor­läufig verhindern.

Geringe Wahlbeteiligung

Bei der Suche nach den Grün­den für den großen Erfolg der FMLN hilft zunächst ein Blick auf die Wahlbeteiligung. Sie lag deut­lich unter 45 Prozent – nur knapp eine Million Wahl­be­rech­tig­te stimmten ab – und da­mit zehn Prozent weniger als noch 1994. Im Landes­durch­schnitt hat die Frente also ab­so­lut an Stim­men weniger hin­zu­ge­won­nen als es das Ergebnis auf den ersten Blick suggeriert.
ARENA behauptete sogar, die FMLN habe in Wirklichkeit kei­ne einzige Stimme dazu­gewon­nen, man selbst habe lediglich Wäh­ler verloren, die einfach nicht zur Wahl gekommen seien.
Wie auch immer: Die Regie­rungs­partei, die wie schon in der Ver­gangenheit einen ungeheuer auf­wendigen Wahlkampf führte und dafür nicht nur Partei-, son­dern auch erhebliche öffentliche Mit­tel investierte, hat mit ihrer Pro­paganda keine Mehrheit in der Bevölkerung mehr zu über­zeu­gen vermocht. Bis zum Wahl­tag hatte ARENA weniger auf eine inhaltliche Auseinan­der­set­zung über ihre – in den Augen auch vieler ehemaliger Anhänger wei­tes­gehend gescheiterte – Poli­tik gesetzt als vielmehr auf Pole­mik und Hetzpropaganda gegen die FMLN. In Fernsehspots wur­den minutenlang von “den Terro­ris­ten” im Bürgerkrieg ge­spreng­te Brücken und Strommasten ge­zeigt. In Zeitungsanzeigen oder be­stellten Artikeln wurde die FMLN wahlweise der lo­gis­ti­schen Unterstützung für die Za­pa­tistas in Mexiko oder die MRTA in Peru beschuldigt, und wie bestellt flog zum rechten Zeit­punkt auch ein weiteres “FMLN-Waffenlager” in Mana­gua auf. Die PD-Führung betei­lig­te sich übrigens in wider­wär­tig­ster Weise an dieser Pro­pa­gan­da, indem sie öffentlich füh­ren­de FMLN-Vertreter der Be­tei­ligung an Kriegsverbrechen be­zichtigte.
Das von ARENA geschaffene Kli­ma der Gewalt hatte auch prak­tische Folgen: In den Wo­chen vor der Wahl ermordeten ver­mutlich Todesschwadronen in Ne­japa einen FMLN-Vertreter; fünf weitere Aktivisten der Par­tei wurden bei Überfällen ver­letzt und mußten im Kran­ken­haus be­handelt werden.

Quittung für die schlechte Politik der ARENA

Das Kalkül jedenfalls, die FMLN als Vereinigung von “Terro­risten” und “Kriminellen” zu be­zeich­nen und dadurch von den ei­genen Mißerfolgen in der Wirt­schaftspolitik und der Ver­bre­chensbekämpfung abzu­len­ken, ging nicht auf. Zwar ver­zeich­ne­te die salvadorianische Öko­no­mie in den vergangenen Jah­ren den Statistiken zufolge kräf­tige Wachstumsraten, am Mas­sen­elend in El Salvador än­der­te sich jedoch nichts: Mehr als die Hälfte der rund fünf­ein­halb Millionen Ein­woh­nerInnen le­ben in extremer Armut. Auch bei ihrem Lieb­lingsthema “Ver­bre­chens­be­kämpfung” versagte ARE­NA offen­sicht­lich auf gan­zer Linie. Das Land ist noch vor Ko­lum­bien das gewalttätigste in La­tein­amerika, jede Stunde stirbt ein Mensch eines gewaltsamen To­des. Eine Entwicklung, zu der die ARENA-Regierung we­sent­lich beigetragen hat, indem sie sich einer wirklichen Säuberung der Sicherheitsorgane wider­setz­te, Menschen­rechts­ver­le­tzun­gen in der neuen Polizei PNC deck­te und praktisch nichts ge­gen die ho­he Zahl von Schuß­waffen in pri­vaten Händen unter­nahm.
Die FMLN hat sich, da bis­lang von der Machtteilhabe wei­tes­gehend ausgeschlossen, auf den ge­nannten Feldern zwar bis­her nur wenig profilieren kön­nen. Sie hat aber mit dem Ent­schluß, sich an der politischen Schlamm­schlacht des Wahl­kamp­fes nicht zu beteiligen, auf große Versprechungen zu ver­zich­ten und mit einem allgemein ge­hal­tenen, reformistischen Pro­gramm, das an vorderster Stelle die Forderungen nach Senkung von Mehrwertsteuer, Mieten so­wie Wasser- und Strom-ge­büh­ren umfaßt, richtig gelegen.
Der Wahlerfolg der FMLN ist auch deshalb besonders hoch zu be­werten, weil sich ARENA in den vergangenen drei Jahren stand­haft geweigert hatte, das – weil es für eine niedrige Wahl­be­tei­ligung sorgt und “technischen Wahl­betrug” erleichtert – sie be­güns­tigende Wahlsystem zu re­for­mieren. Alle Vorschläge einer ge­mischt besetzten Reform­kom­mis­sion – u.a. Einführung eines Per­so­nalausweises, der gleich­zei­tig zur Wahl berechtigt, Wahl­pflicht an den Wohnorten und professionelle, parteilose An­gestellte der Wahlbehörden – wur­den von ARENA abgelehnt oder einfach nicht umgesetzt.

Chaotische Wahlvorbereitung

In der Praxis bedeutet dies: Im Wahl­register wimmelte es wie auch schon 1994 von Toten, längst Ausgewanderten und Mehr­fachnennungen; ein Ab­gleich zwischen dem zentralen und den lokalen Wählerlisten fand praktisch nicht statt, Wahl­aus­weise wurden nicht oder zu spät ausgehändigt. Gesetzes­wi­drig hatte das Finanz­minis­terium zu­dem den Gratis­trans­port für Wäh­ler aus dem Kosten­vor­an­schlag der Obersten Wahl­tri­bu­nals (TSE) gestrichen. Damit wur­den, weil gleichzeitig der öf­fent­liche Verkehr ruhte, hundert­tau­sende von Personen zu langen Fuß­märschen gezwun­gen, um in die Wahllokale zu gelangen. Be­deutende Unterneh­men, wie etwa die Maquilas und Super­markt­ket­ten, hatten am Wahl­sonntag nicht geschlossen; auch die rund 15.000 Angehö­rigen der Polizei konn­ten nicht wählen; zahl­reiche lokale Wahl­kom­mis­sio­nen be­schwer­ten sich bis zum Schluß da­rü­ber, daß ihnen noch nicht ein­mal Schreibtische zur Verfü­gung gestellt und Telefon­an­schlüs­se gelegt wurden, ganz zu schwei­gen von Computern oder Fahr­zeugen.
Der Wahltag selbst verlief ohne größere Zwischenfälle. Da­zu hat sicherlich auch die Prä­senz von mehreren hundert inter­na­tionalen Beobachtern beige­tra­gen.
Wie Oligarchie, Militär und die politische Rechte auf den Wahl­erfolg der FMLN reagieren ist Spe­kulation. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Wahler­geb­nisse getätigte Einzel­äus­se­run­gen ergeben jedenfalls noch kein einheitliches Bild. Während Ex-Präsident Alfredo Cris­tiani, der das größte Finanz­imperium El Salvadors dirigiert, vor wirt­schaftlichem Rückgang warn­te, er­klärte der unterlegene ARE­NA-Bür­germeister­kandidat Va­li­en­te, er wolle für die FMLN be­ten

“Ich bin sechsmal gestorben – einmal habe ich noch!”

Fernanda Torres, wie war es für Sie als junge Schauspielerin, an einem Filmprojekt teil­zunehmen, das sich mit Ereignissen während der Militärdiktatur beschäftigt?

Fernanda Torres (FT): Es war wunder­bar. Denn es gibt eine Informationslücke zwischen der Gene­ration von Fernando Gabeira und meiner. Ich wuchs in einer Zeit auf, als das Geschäftema­chen und Geldverdienen die oberste Maxime wa­ren. Das ändert sich langsam. Ich denke, die 90er Jahre ge­winnen wieder etwas aus den 60ern zu­rück. Für mich war es daher sehr spannend, mich mit jener Generation auseinanderzusetzen. Ich bin sehr traurig darüber, daß diese Geschichte in der offi­ziellen Darstellung nicht vorkommt. Ich habe die Revolution in Nicaragua gleich zweimal in der Schule durchgenommen, aber nie etwas von Ga­beira und den anderen Revolutionären in meinen Schulbüchern entdeckt.

Was meinen Sie damit, daß Ihre Genera­tion die 60er wiederentdeckt hat?

FT: In den 90er Jahren werden ökologische Fra­gen wichtiger. Oder die Frage der Favelas: Heute bemühen wir uns nicht mehr darum, sie zu beseiti­gen, sondern darum, darin eine eigene Kultur zu entwickeln. Die kollektive Idee des Zusammenle­bens, die über dem individuellen Konsum steht, wird wiedergewonnen. Es ist also kein glücklicher Zufall, daß dieser Film gerade jetzt gedreht wurde. Vielmehr war es an der Zeit, jene Generation wie­derzutreffen.

War es schwierig für Sie, die Rolle der Gue­rillaführerin Maria zu spielen, sich in ihr Be­wußtsein und ihre Ideale einzufühlen?

FT: Das war ganz schwierig. Ich konnte am An­fang gar nicht glauben, wie jemand so reden, wie jemand so hart und militärisch sein könnte. Und ich habe ‘rumgefragt, ob es damals wirklich solche Leute gab. Viele haben mir das bestätigt. Das mit dem kühlen “Hallo, Genosse”, das erschien mir fast unmöglich zu spielen.

Lag das daran, daß es sich um eine Frau han­delte? Oder wäre das auch bei einem männli­chen Charakter so schwer gewesen?

FT: Nein, alle hatten dieselben Schwierigkeiten. Bei den ersten Proben haben wir sehr viel gelacht, wenn wir uns kühl mit “Hallo, Genosse” angeredet haben. Maria spielt diese Rolle eigentlich vom An­fang bis zum Ende. Aber bei den Proben sind wir das ganze noch einmal durchgegangen und haben uns gefragt, an welchem Punkt sie schwach wird. Das passiert in dem Augenblick, als die Leute aus Sâo Paulo ankommen, die noch straighter drauf sind als sie. Das war im Drehbuch nicht so richtig deutlich, wir haben das bei den Filmaufnahmen herausgearbeitet. Danach war ich sehr zufrieden, denn ich hatte einen richtigen Charakter zu spielen. Eine Frau, die anfangs völlig hart ist, dann lang­sam weicher wird und schließlich eine Liebesaf­färe eingeht, in der sie ihren bürgerlichen Namen preisgibt und über ihre Angst vor dem Sterben spricht. Die nicht weiß, wie es weitergehen soll.

Gab es diese Maria wirklich? Einige Film­charaktere entsprechen ja wirklichen Personen, andere sind erfunden.

FT: So ist es. Die ganze Generation, die an die­ser Revolution teilgenommen hatte, war besorgt darüber, wie sie in dem Film dargestellt werden würde. Vor allem, weil Bruno Barreto nie politisch enga­giert war, waren sie skeptisch, ob es ihm wirklich gelingen würde, sie zu porträtieren. Dabei konnte Bruno Barreto, gerade weil er so weit von ihnen entfernt ist, der ganzen Angelegenheit ge­genüber fair bleiben. Es erwies sich als sehr heikel, die einzelnen Charaktere eindeutig mit bestimmten Personen gleichzusetzen. Jemanden zu spielen, der noch lebt, das ist furchtbar. Die einzige Rolle, die offensichtlich zu erkennen ist, ist die von Fernando Gabeira. Meine Rolle, die der Maria, ist eine Kombination von drei oder vier Frauen. Jede Rolle ist eine Art Puzzle von mehreren Personen, so daß wir niemanden verletzen konnten.

Wie bereiteten Sie sich auf die Rolle vor? Ha­ben sie Interviews mit den Beteiligten geführt?

FT: Ich habe viele, viele Bücher gelesen. Sie zu interviewen war sehr schwierig, denn wegen all ih­rer Ängste wußten sie nicht, ob sie wirklich woll­ten, daß dieser Film gedreht wurde. Bei Gabeira war das anders, er ist so oft gestorben, im Unter­schied zu vielen anderen, er hat in seinem Leben so viele Identitäten angenommen. Er ist kein Wit­wer jener Revolution wie einige andere. Er schrieb das Buch und wurde jemand anderes, stimmt`s, Fernando?
Fernando Gabeira (FG): Ich bin sechs­mal ge­storben, einmal habe ich noch.

Fernando Gabeira, ist es Ihnen nicht schwerge­fallen, die Rechte an der Verfilmung zu verkau­fen und so einen Teil Ihrer eigenen Ge­schichte aus den Händen zu geben?

FG: Ich hatte Vertrauen zu Bruno Barreto und dem Produktionsteam, weil sie von einer ganz wichtigen Grundlage ausgehen: Sie wollen keine Helden, keinen manichäistischen Film mit Guten und Bösen, sondern einen komplexen Film mit menschlichen Wesen.

Leopoldo Serran, der schließlich das Drehbuch schrieb, betont immer wieder, daß er kein Linker sei und die Vorstellungen der “Terroristen” nie geteilt habe. Machte Sie diese Einstellung nicht skeptisch?

FG: Ich kenne die Haltung des Filmteams und respektiere sie. Es war wichtig, jede Form der po­litischen Propaganda dafür oder dagegen zu ver­meiden, und ich wußte, daß sie das tun würden. Sie hatten viel mehr Interesse daran, die Dialoge und die Charaktere zu konstruieren und eine gute, pro­fessionelle Arbeit zu machen. Das war gut so. Man kann politische Filme nicht mehr so drehen wie in den 60er und 70er Jahren. Das würde sehr altmo­disch wirken.

Bedauern Sie das? Oder finden Sie auch, daß heute die Zeit für unterhaltsamere Politfilme ge­kommen ist?

FG: Man muß beides kombinieren, sonst hat man große Schwierigkeiten, zu überleben und sei­nen Platz zu finden. Hätte der Film nicht diesen unterhaltenden Charakter, käme er in Brasilien gar nicht an. Auch auf dem internationalen Markt ist die Qualität von großer Bedeutung. Gestern erst wurde uns die Frage gestellt, ob Bruno Barretos Film nicht zu perfekt sei. Denn von einem brasilia­nischen Film wird eine solche technische Ausge­reiftheit nicht erwartet. Das ist typisch für Leute, die sich in Brasilien nicht auskennen und nicht wissen, daß beispielsweise auch unsere indianische Bevölkerung Reebok-Turnschuhe und Adidas-Ho­sen trägt, Ghettoblaster und CD-Player kauft.

Wie betrachten Sie rückblickend Ihre ei­gene revolutionäre Vergangenheit?

FG: Mein Leben hat sich in diesen Jahren stark geändert, ich habe viele unterschiedliche Dinge gemacht. Als ich aus dem Exil nach Brasilien zu­rückkam, war ich nicht deswegen bekannt, weil ich in den 60er Jahren an Entführungen teilgenommen hatte, sondern weil ich in der Linken neue Fragen aufgeworfen habe über die Frauen-, Umwelt-, Schwulenbewegung und solche Dinge. Heute bin ich Parlamentsabgeordneter der Grünen, und die meisten jungen Leute kennen mich, weil ich mich für die Freigabe von Mariahuana einsetze. Selbst wenn man ältere Leute fragt, was sie mit meinem Namen assoziieren, so sagen sie alle ‘Marihuana’.

Aber Ihre Parlamentskollegen kennen doch si­cherlich Ihre andere Vergangenheit. Sind Sie deswegen schon einmal attackiert oder diffa­miert worden?

FG: Nein. Denn ich habe meine Haltung mit der Rückkehr aus dem Exil klar geändert, wurde fast zum Pazifisten. Ich respektiere in einigen Fällen Leute, die mit der Waffe in der Hand kämpfen, aber ich selber werde nie wieder gewaltsam und bewaffnet agieren.

Würden Sie also, wenn es heute eine Dik­tatur in Brasilien gäbe, nicht mehr zu den Waffen grei­fen?

FG: Mit meinem heutigen Bewußtsein würde ich es nicht mehr tun. Wenn ich aber in die Ver­gangenheit zurückgehe und all die Fehler be­trachte, die ich begangen habe, dann war das mein bester Fehler.

Bruno Barreto, was für Erinnerungen ha­ben Sie persönlich an diese vier Tage im Septem­ber ’69?

Bruno Barreto (BB): Als dies passierte, war ich vierzehn Jahre alt. Ich hatte zwei Freunde, die sich einer bewaff­neten revolutionären Gruppe an­schlossen – sie wa­ren 15 und 16 Jahre. Das hat mich stark beein­druckt. Ich hatte Angst. Es gibt in dem Film eine Szene, wo zwei Freunde sagen, daß sie einander nie mehr wiedersehen würden, sich verabschieden und in die Nacht hinausgehen. Diese Szene beruht auf einer persönlichen Erfah­rung. Als mein Freund sagte, daß er sich der Gruppe anschließen würde, sagte ich: Ich halte das für verrückt. Ich bin nie politisch engagiert gewe­sen. Ich hasse Politik. Diese ganze politische Rhe­torik finde ich extrem langweilig.

Hat man nicht unter einer Diktatur, wie es sie beispielsweise damals in Brasilien gab, oft gar keine andere Möglichkeit, als sich für eine Seite zu entscheiden?

BB: Dem stimme ich zu, das ist ein Problem. Ich hielt dies allerdings nicht für den besten Weg. Ich hasse Gewalt. Es war ein sehr beängstigender Moment, den ich in Brasilien durchlebte. Men­schen wurden gefoltert und getötet.

Wenn Sie Gewalt und Politik hassen, was war dann Ihre persönliche Motivation, diesen Film zu machen?

BB: Ich wollte über das Ende der Ideologie re­den. Deshalb hielt ich auch Berlin für den perfek­ten Ort der Weltpremiere dieses Films. Denn Ber­lin war die Stadt, die die Spaltung der Welt in Links und Rechts symbolisierte. Die Buchvorlage handelt auch sehr viel vom Ende der Ideologie, vom Ende dieses simplifizierten Blicks auf die Welt. Das Ende von Anleitungsbüchern, die Leute benutzen, anstatt sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Der Film feiert das Individuum, die Tat­sache, daß die Schönheit des Lebens darin besteht, daß wir alle unterschiedlich und gleichberechtigt zugleich sind. Fernando Gabeiras Buch wurde 1979 veröffentlicht, war also der Zeit zehn Jahre voraus.

Halten Sie es für altmodisch, politische Filme zu machen?

BB: Es ist altmodisch geworden, politische Filme in der Art zu machen, wie sie gemacht wur­den, mit der Einteilung in Gute und Böse. Meiner ist vielleicht der erste politische Film, der alle Seiten auf die gleiche Art und Weise zeigt und dasselbe Interesse und dieselbe Neugierde für alle darin verwickelten Charaktere hat. Den Folterer eingeschlossen, der meiner Meinung nach der fas­zinierendste Charakter im ganzen Film ist.

Es gibt also keine anderen politischen Filme, auf die Sie sich bei Ihrer Arbeit beziehen könn­ten?

BB: Ich will nicht prätentiös klingen, aber die gibt es nicht. Daher dauerte es auch zehn Jahre, um diesen Film zu realisieren, und ich dachte sogar zwischendurch daran, ihn nicht zu machen, weil ich keinen typischen politischen Thriller machen wollte. Das interessiert mich nicht. Ich halte Costa-Gavras’ Filme für sehr langweilig, da sie sehr sim­plizistisch sind. Ich habe versucht, etwas Komple­xeres zu machen und weder die Kommunisten noch die Amerikaner oder die Militärs als die Schurken darzustellen. Ich wollte die menschliche Seele, die menschlichen Wesen darin untersuchen.

Gab es finanzielle Probleme oder Versuche von Seiten politischer Interessengruppen, die Pro­duktion zu torpedieren?

BB: Wie wir alle wissen, hat Brasilien eine sehr harte Zeit durchlebt, wo während fünf oder sechs Jahren kein Geld zur Verfügung stand, um Filme zu realisieren. Das andere Problem war, daß ich kein Drehbuch bekommen konnte. Ich habe es mit sechs Autoren versucht, drei Amerikanern und drei Brasilianern. Sie alle begannen bei Null, sie be­nutzten nichts von dem, was die anderen Autoren geschrieben hatten. Ich war nicht glücklich damit, war aber selbst auch nicht in der Lage, mit einem eigenen Standpunkt aufzuwarten. Zehn Jahre spä­ter gelang es mir endlich, den ersten Drehbuchau­toren, den ich ursprünglich schon haben wollte, zu überzeugen, es nochmal zu versuchen. Ursprüng­lich lehnte er ab und sagte, dies wäre zu kompli­ziert, weil viele der Charaktere noch am Leben seien, er wolle seine Hände nicht in ein Wespen­nest stecken. Zudem ist Gabeiras Buch sehr schwierig zu adaptieren. Es ist wie ein Monolog, der im Kopf des Charakters stattfindet, eine Re­flektion über das, was passierte. Und die Art von Filmen, die ich gerne mache, sind Charakterstücke, man braucht also Interaktion, Konflikte.

Wie wichtig war es für Sie, die historischen Fakten zu rekonstruieren?

BB: Ich bin kein Dokumentarfilmer, sondern ein fiktionaler Geschichtenerzähler. Ich wollte Elemente der Realität benutzen, um eine Ge­schichte zu erzählen, die dem Publikum einen Ein­blick in das geben würde, was passiert ist. Der Charakter des Folterers beispielsweise ist kom­plette Fiktion, er beruht auf Geschichten, die wir gehört haben. Es ist uns nie gelungen, einen Folte­rer zu interviewen, auch wenn wir es versucht ha­ben. Wir kamen lediglich an Leute heran, die sie kannten. Und wir lasen Bücher darüber.

Die wirtschaftliche Situation des brasilia­nischen Kinos hat sich in den letzten zwei Jahren radikal verbessert. Andererseits setzt ein neues Gesetz die Filmemacher auch unter wirtschaftli­chen Erfolgsdruck.

BB: Erfolg kennt kein Rezept. Ich denke, sie müssen einfach gute Filme machen, sie müssen einfach ihren Hintern hochkriegen und gute Dreh­bücher schreiben. Es gibt genug Geld, aber es gibt nicht genug gute Projekte. So besteht die Gefahr darin, und es ist mittlerweile ein großes Problem, daß es eine Menge schlechte Filme geben wird. Je­der will Filmproduzent sein. Man muß das Publi­kum im Kopf haben und darf nicht nur vom Bauchnabel aus die Geschichten erzählen, nach denen einem selbst zumute ist.

Unter den acht brasilianischen Filmen, die auf der Berlinale im Forum laufen, gibt es zwei wei­tere, “Como nascem os anjos” von Murilo Salles und “Um céu de estrelas” von Tata Amaral, die auch mit Geiselnahmen zu tun haben – auch wenn es in diesen beiden Fällen nicht um politi­sche Motive geht. Halten Sie diese Häufung für Zufall?

BB: Vielleicht haben Brasilianer einen Feti­schismus, was Entführungen angeht, ich weiß nicht (lacht). Brasilien ist sehr wild und verrückt, du weißt nie, was gerade vor sich geht. – Ich habe da­rauf keine Antwort. Es hat einige Entführungen aus wirtschaftlichen Gründen gegeben. Eines der großartigen Resultate dessen, daß wir mit diesem ganzen ideologischen Bullshit aufgehört haben, besteht darin, daß wir die Probleme endlich so se­hen, wie sie sind. Das Problem ist ökonomisch, es ist das Haben und Nichthaben. Und wenn wir nicht den Wohlstand neuverteilen, gibt es soziale Pro­bleme. Sie sagten, in keinem dieser beiden Filme mit Geiselnahme ginge es um Politik. Vielleicht gibt es eine Symmetrie zwischen dem, wie Brasi­lien damals war und warum die Geiselnehmer da­mals kein Lösegeld verlangten, sondern die Frei­lassung von politischen Gefangenen. Und heute werden Leute entführt, um Geld zu erpressen.

Alles erscheint wesentlich zynischer, und das Fernsehen ist immer dabei.

BB: Es gibt sehr viel Gewalt. Das ist natürlich, wenn in einem Land 80 oder 90 Prozent der Leute in objektiver Armut leben.

Glauben Sie, daß Ihr Film in Brasilien po­litische Diskussionen hervorrufen wird?

BB: Ich hoffe das natürlich. Eine Zeitung in Brasilien schrieb bereits, daß ich den US-amerika­nischen Botschafter zu sympathisch dargestellt hätte, daß ich ihn und nicht die Entführer bevor­zugt hätte. Ein konservatives Blatt hier in Berlin schrieb dagegen, es sei unverantwortlich, die Ent­führer so sympathisch darzustellen, wenn man sich anschaut, was derzeit in Peru vor sich geht. Zwei gegensätzliche Meinungen. Das zeigt, daß ich die richtige Balance hatte.

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

Präsidentenpoker

Am 5. Februar gingen über zwei Millionen EcuadorianerInnen auf die Straße, um gegen das von Präsident Abdalá Bucaram durchgeboxte Reformpaket und seine Person selbst zu demonstrieren. Ihre Botschaft war eindeutig: “¡Que se vaya! Weg mit Bucaram!” Die harten wirtschaftlichen Anpassungsstrategien der Regierung Bucaram waren zweifelsohne ein Grund für diese Forderung. Aber vor allem die zunehmende Unglaubwürdigkeit des Präsidenten durch Korruptionsvorwürfe, Vetternwirtschaft und Mißbrauch öffentlicher Gelder sowie die immer neuen Peinlichkeiten Bucarams, der mit seinem Image als el loco – der Verrückte – spielt, hatten bereits Anfang des Jahres zu landesweiten Protestdemonstrationen geführt, die im Generalstreik am 5. Februar gipfelten. Der Streik, an dem mehr als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung Ecuadors teilnahm, wurde von den Gewerkschaften, StudentInnen, LehrerInnen, indigenen Gruppierungen und anderen sozialen Bewegungen getragen, aber auch von der katholischen Kirche und dem privaten Sektor befürwortet.

Amtsenthebung wegen “geistiger Unfähigkeit”

In einer Sondersitzung beriet das Parlament das weitere Vorgehen. Bereits seit einigen Wochen standen seitens der Opposition Forderungen nach der Amtsenthebung Bucarams im Raum, und nun mußte eine schnelle Lösung zur Stabilisierung der innenpolitischen Situation auf den Tisch. Politische Amtsenthebungsverfahren sind in Ecuador durchaus verbreitet, sie sind jedoch langwierig und bedürfen der Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten. Eine Abkürzung des Verfahrens nach Artikel 100 der Verfassung, der eine Amtsenthebung bei “physischer oder mentaler Unfähigkeit” mit einer einfachen Mehrheit vorsieht, schien da ein probates Mittel. Mit 44 Stimmen bei 34 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen wurde Bucaram am 6. Februar seines Amtes enthoben. Parlamentspräsident Fabián Alarcón wurde im gleichen Zug mit einfacher Mehrheit zum Interimspräsidenten bestimmt.

Drei Möchte-gern-Präsidenten über Nacht

Daß sie die Stimme des Volkes nicht vernommen hätten, kann den Abgeordneten der Opposition wohl kaum vorgeworfen werden, dennoch ist ihr Vorgehen juristisch sehr umstritten und die Uneigennützigkeit fraglich. Die Entscheidung des Parlamentes fiel in eine verfassungsrechtliche Grauzone und verhalf Ecuador über Nacht zu drei Möchte-gern-Präsidenten. Am 8. Februar 1997 meldete neben dem Ex-Präsidenten Bucaram, der seine Amtsenthebung nicht anerkennt und sich zeternd im Präsidentensitz verbarrikadierte, sowie dem frischgewählten Fabián Alarcón, nun auch Vizepräsidentin Rosalía Arteaga ihren Anspruch auf das höchste Amt an.
Das Militär bleibt neutral
Unerwartet vermochten vermittelnde Impulse seitens des Militärs die Situation zu entschärfen. Mit der Erklärung des Ausnahmezustands am Tag nach der Amtsenthebung durch den Verteidigungsminister Bayas im Namen Bucarams, war dem Militär Tür und Tor geöffnet, die Situation nach ihrem Gutdünken zu beenden. Der “Rat der Admiräle” betonte jedoch, das Militär werde neutral bleiben: Es sei Aufgabe des Parlaments, einen rechtmäßigen Nachfolger zu ermitteln. Bucaram wurde zwar militärischer Geleitschutz gewährt, aber gleichzeitig signalisiert, man sehe ihn nicht mehr als Präsidenten an. Zwischen Arteaga und Alarcón wurde unter Vermittlung des Militärobersten General Paco Moncayo ein Kompromiß vereinbart, der Arteaga als Vizepräsidentin zur rechtmäßigen Nachfolgerin Bucarams auf strikt begrenzte Zeit machte. Und zwar solange, bis das Parlament die verfassungsrechtlichen Unklarheiten beseitigt und einen Interimspräsidenten per Wahl bestimmt hat.

Arteagas Tage im Amt sind gezählt

Allem Anschein nach hatte Arteaga jedoch nicht damit gerechnet, so schnell die gerade eingenommene Position zu verlieren. Am Montag, den 10. Februar, hielt sie eine Antrittsrede und begann mit der Ernennung von Kabinettsmitgliedern. Sie protestierte heftig gegen das Vorgehen der Abgeordneten hinsichtlich der Amtsnachfolge und forderte eine Volksabstimmung, signalisierte aber letztendlich, das sie sich der “Diktatur des Kongresses” beugen werde. Nach nur zwei Tagen Arteagas im Amt wurde per Resolution mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Weg frei für eine zweite Wahl im Parlament, in der Fabián Alarcón nunmehr verfassungskonform mit 57 von 82 Stimmen zum Interimspräsidenten bestimmt wurde. Die Partei Bucarams, die PRE, nahm nicht an der Abstimmung teil.
Die Verfassung sieht vor, daß ein neugewählter Präsident sein Amt am 10. August, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, antritt. Dieser Termin und die Einhaltung bestimmter Fristen für Wahlankündigung, Wahlkampf, Vorwahl und Stichwahl determinierten das Datum für 1998, da in diesem Jahr die Fristen bereits verstrichen sind.

Unpopulärer Populist

Wie aber konnte es dazu kommen, daß der erst im Juli vergangenen Jahres gewählte Populist Abdalá Bucaram seinen Rückhalt in der Bevölkerung dermaßen verspielt hat? Nach der Stichwahl am 7. Juli 1996, in der sich Bucaram eindeutig gegen seinen Kontrahenten, den Konservativen Jaime Saadi Nebot, behaupten konnte, verkündete er souverän den “Sieg der Armen”. Seine theatralischen Auftritte, wirren Äußerungen zu wirtschaftlichen Zielen, sein unberechenbares Temperament und die wüsten Beschimpfungen politischer Gegner klassifizierten das neue Staatsoberhaupt als einen nicht zu unterschätzenden Unsicherheitsfaktor, der sich in nervösen Kursschwankungen an der Börse und angespannter Marktlage manifestierte. Er werde “die Oligarchie und die Korruption bekämpfen” und “für die Armen regieren”, so das Leitmotiv seiner Wahlveranstaltungen, zu denen der 45jährige Anwalt aus der Küstenstadt Guayaquil auch gerne mal im Batman-Kostüm aufkreuzte.

Bucaram als das “kleinere Übel”

Nach Schätzungen des Ökonomen Jaime Zeas würde es fast zwei Drittel des Haushaltsbudgets ausmachen, wolle Bucaram seine blumigen Wahlversprechen – unter anderem Lohnerhöhungen, Straßenbau, erweiterte Sozialversicherung, Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Häuserbau – einlösen. Zwar ist Bucaram für seine Irrationalität bekannt und seine schwammigen Regierungsperspektiven wenig ernstzunehmen, dennoch gelang es ihm, sich nach dem Ausscheiden der beiden Hochlandkandidaten Freddy Ehlers des neugegründeten links-indigenistischen Movimiento Nuevo País-Pachakutik und Rodrígo Paz der Zentrums-Partei Democrácia Popular gegenüber dem Rechtsaußen Jaime Nebot als das “kleinere Übel” zu profilieren und vor allem WählerInnenstimmen der ärmeren Bevölkerung zu mobilisieren. Nebot galt eher als Kandidat der Geschäftsleute und oberen Schicht. Die Furcht vor einem autoritären, menschenrechtsverachtenden Regime und der harte neoliberale Kurs, mit dem Nebot ins Feld zog, hatten zu einer breiten Stop Nebot!-Koalition unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen geführt.

Kehrtwende nach dem Wahlsieg

Kaum hatte er die Wahlen gewonnen, versicherte Bucaram eifrig, den eingeschlagenen neoliberalen Kurs seines Amtsvorgängers Sixto Durán-Balléns fortzuführen, das Land für ausländische Investitionen zu öffnen und die Auslandsschulden zu verringern. Die Privatisierung von Staatsbetrieben werde fortgesetzt und öffentliche Ausgaben radikal eingeschränkt. Seinem Beraterteam für Wirtschaftsfragen gehörten drei Banker an, was Seriösität per se vermitteln sollte, genau wie Bucarams Zugeständnis, ein Ministerium für Indígenas einzurichten, einen multikulturellen Anstrich suggerierte. Wie die meisten seiner Wahlversprechen entpuppten sich auch diese als reine Augenwischerei und bewirkten einen starken Popularitätsabfall wenige Wochen nach der Wahl. Der private Sektor, um dessen Kooperation das neue Staatsoberhaupt sich redlich bemühte, drängte auf Fakten statt Beteuerungen. Bucaram hatte sich kurz nach seinem Amtsantritt mit einer Runde illustrer Wirtschaftsgrößen anderer lateinamerikanischer Staaten umgeben, dessen prominentester Vertreter der inzwischen in seiner Heimat in Ungnade gefallene argentinische Ex-Wirtschaftsminister und Architekt des Konvertibilitätsprogramms Domingo Cavallo war.

Cavallo-Plan für Ecuador

Trotz der prominenten Berater ließ das angekündigte Wirtschaftskonzept der Regierung Bucaram auf sich warten. Der Termin wurde mehrfach verschoben, so daß es zu einer nervösen Anspannung, Spekulationen und scharfer Kritik seitens der Opposition kam. Die uneinheitlichen Aussagen der Regierung zum neuen Wirtschaftsplan trugen nicht gerade zur Vertrauensbildung bei potentiellen Investoren bei: während Finanzminister Pablo Concha Mitte Oktober von harten aber notwendigen Anpassungsmaßnahmen sprach, entwarf Bucaram die Vision eines Currency Boards nach argentinischem Vorbild, das die bei 25 Prozent liegende Inflation mit einem Schlag beenden und auch alle anderen Probleme aus der Welt schaffen würde. Zum ersten Juli sollten drei Nullen weggestrichen und der Sucre in einem Verhältnis von 4:1 an den US-Dollar gekoppelt werden.
Der ehemalige Zentralbankchef Eduardo Valencia bezeichnete Bucarams Pläne als absurd, für Ecuador seien andere Instrumente von Nöten als für Argentinien. Eine neue Währung würde nur die heimische Industrie zerstören und zunehmende Arbeitslosigkeit bewirken. Der Herausgeber der Tageszeitung HOY, Ben Ortiz, kommentierte, ein Konvertibilitätsprogramm setze absolute Disziplin und politische Ethik voraus, und die Regierung Bucaram verfüge weder über das eine noch das andere. Mehrfach mußte der Finanzminister die Versprechen seines Präsidenten im nachhinein revidieren: die Subventionierung von Kochgas werde abgeschafft, auch wenn Bucaram das Gegenteil verkünde. Auf Zigarretten und Alkohol sollten Steuererhöhungen von bis zu 300 Prozent entfallen. Weitere Erhöhungen von grundlegenden Ausgaben wie Transport und Telefon waren geplant, um das staatliche Haushaltsdefizit von vier Prozent auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken. Neben Privatisierung und Finanzmarktliberalisierung gehört auch die “Flexibilisierung” des Arbeitsmarktes zu den Pfeilern des Plans.
Im Dezember kam es nach scharfer Kritik an den wirtschaftlichen Plänen der Regierung zu einem Sozialpakt von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften, die Lohnerhöhungen von zehn Prozent im öffentlichen Sektor durchsetzen konnten. Angesichts der brutalen Preiserhöhungen durch den Wegfall von Subventionen wirkt die zehnprozentige Lohnerhöhung jedoch lächerlich.
Zum ersten Januar traten weitreichende Preiserhöhungen in Kraft: 550 Prozent für Elektrizität und 270 Prozent für Kochgas, die Ende Dezember nach drei abgelehnten noch drastischeren Vorlagen vom Kongreß verabschiedet worden waren.

Korruption und Vetternwirtschaft

Parallel zu immer neuen preislichen Belastungen der Bevölkerung erhärtete sich der Korruptionsverdacht gegen das Staatsoberhaupt, der sich allem Anschein nach noch skrupelloser aus den staatlichen Töpfen bediente als seine Vorgänger. Bucarams Sohn Jacobo wurde der Beteiligung an Zollbetrug größeren Ausmaßes verdächtigt. Abdalá Bucaram hatte mit einer seiner ersten Amtshandlungen das Zollverfahren dem Militär unterstellt, um die dort vermutete Korruption “in den Griff zu bekommen”.
Seinem Kabinett gehörten sein Bruder Adolfo Bucaram und sein Schwager Pablo Concha als Finanzminister an, der bereits in früheren Regierungen im Finanzressort tätig war. Auch andere Verwandte und enge Freunde Bucarams wurden mit wichtigen Positionen bedacht, von denen Energieminister Alfredo Adum besonders umstritten war. Zumindest schien er der einzige, der dem Präsidenten im Punkte unflätige Beschimpfungen das Wasser reichen konnte. Bucarams Schwester Elsa, die seit einiger Zeit in Panamá lebt, um den Korruptionsvorwürfen aus der Zeit als Bürgermeisterin von Guayaquil zu entgehen, wurde von Bucaram rehabilitiert. In der Bevölkerung machte sich zunehmend der Eindruck breit, Preiserhöhungen fänden nur statt, um die Extravaganzen der Bucaram-Sippe zu finanzieren.
Am 8. Januar und an den folgenden Tagen kam es zu zunächst friedlich verlaufenden Demonstrationen, schließlich aber zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen StudentInnen und der Polizei, die zahlreiche Leute festnahm. Seit Mitte Januar streikten landesweit die LehrerInnen und StudentInnen, die Gewerkschaften verkündeten den Generalstreik für Anfang Februar. Längst hatte die scharfe Kritik am autoritären und unverantwortlichen Regierungstil Bucarams an soviel Eigendynamik gewonnen, daß dessen versöhnlicher Tonfall Ende Januar unbeachtet blieb: Die monatlichen Erhöhungen der Benzinpreise sollten eingestellt werden und Abhilfe für die besonders von der Erhöhung der Kochgaspreise betroffenen armen Familien in Form von speziellen Rabattmarken geschaffen werden. Bucaram kündete Kabinettsumbildungen für Februar an, erklärte aber, in jedem Fall an seiner Währungsreform festzuhalten.

Besuch bei Fujimori

Im April sollte in einer Volksabstimmung über die Währungsreform befunden werden. Ein mögliches “Nein” kam dabei für ihn nicht in Betracht, so daß die Tageszeitungen spekulierten, er werde notfalls der Entscheidung à la Fujimori nachhelfen.
Der ganz und gar autoritäre Regierungsstil Bucarams hatte von Anfang an deutlich gemacht, daß er von Kompromissen überhaupt nichts halte, sondern seine Entscheidungen durchsetzen werde. In anderen Bereichen wiederum wurde seine Dialogbereitschaft heftig kritisiert, so seine Offenheit gegenüber dem peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori, den Abdalá Bucaram als erstes ecuadorianisches Staatsoberhaupt in Lima besuchte. Seine Verhandlungsbereitschaft gegenüber dem starken Nachbarn Peru, mit dem Ecuador einen lange schwelenden Grenzkonflikt hat, war vielen suspekt und das Gespenst des Vaterlandsverrats trieb wieder sein Unwesen. Während Bucaram und Fujimori in Lima Einigkeit demonstrierten und Bucaram tröstende Worte für seinen “amigo Alberto” anläßlich der MRTA-Geiselnahme in der japanischen Botschaft fand, drohte der Unmut auf den Straßen Quitos, Guayaquils und Cuencas endgültig überzukochen. Am 31. Januar signalisierte die Vereinigung ehemaliger Angehöriger der Streitkräfte ihre Unterstützung der öffentlichen Proteste, indem sie die Regierung aufforderte, die Maßnahmen zu korrigieren und der sich verbreitenden Unsicherheit zu begegnen.

Bucaram plant sein Come-back

Nachdem er seines Amtes durch das Parlament enthoben worden war, verbarrikadierte Abdalá Bucaram sich unter Protest in seiner Residenz. Als er am darauffolgenden Samstag Quito verließ und in seine Heimatstadt Guayaquil flog, wurde dies als Zeichen einer eingestandenen Niederlage gewertet. Doch Bucaram denkt nicht daran, seinen Anspruch aufzugeben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Panamá, weilte Bucaram in Buenos Aires und ließ sich von Carlos Menem den Rücken stärken. Er sieht sich als Opfer eines Komplotts und will die Verschwörung gegen ihn beweisen.

Schmale Basis für Politik

Nach Ansicht des Journalisten Carlos Arcos Cabrera hat die Regierung Bucaram den Verfall des politischen Systems zwar beschleunigt, die Zerrüttung der demokratischen Substanz dauert jedoch schon länger an. Die Fähigkeit des politischen Systems, einen Legitimierungsanspruch aufrechtzuerhalten und glaubwürdig zu vertreten, hat in den vergangenen Jahren rapide abgenommen. Die überwältigende Manifestation des Unmuts weiter Teile der Bevölkerung am 5. Februar galt zwar besonders Bucaram, aber auch der verfilzten Polit-Oligarchie Ecuadors insgesamt. Alles in allem bleibt das dumpfe Gefühl, das der “Rechtmäßigkeit” verschiedener Entscheidungen gehörig auf die Sprünge geholfen wurde, unabhängig von der Person Bucarams, der vollkommen unglaubwürdig ist.

Bucaram ist weg, die Probleme bleiben

Auch wenn Bucaram vorerst von der Bildfläche verschwunden ist und Ecuador erleichtert aufatmet: der wirtschaftliche Spielraum bleibt trotz allem extrem begrenzt, und Korruption und Mißbrauch staatlicher Gelder hat Abdalá Bucaram nicht für sich allein gepachtet. Alarcón ist als gewiefter Taktiker bekannt, konnte sich aber möglicherweise auch deshalb als Kompromißfigur profilieren, weil seine Partei politisch so unbedeutend ist, daß die großen Parteien ihre Interessen für die kommende Wahl durch ihn in keiner Weise gefährdet sehen. Nur die gemeinsame Ablehnung der Person Bucaram hat die ansonsten zersplitterte Opposition andere Streitigkeiten vergessen lassen. Auch wenn dieses Bündnis Alarcón ins Präsidentenamt verhalf, ist es eine sehr schmale Basis für zukünftiges politisches Manövrieren.

KASTEN:
Abdalá Bucaram – Batman auf CD

Abdalá Bucaram ist alles andere als ein Unbekannter im ecuadorianischen Polit-Business. Der 45jährige Mango-Millionär aus der Küstenmetropole Guayaquil wettert sich seit Jahren durch die Ämter und beschenkt die Armen in spektakulären Aktionen. Der ehemalige Sportler, heute aber behäbige Abdalá ist Mitbegründer der Partido Roldosista Ecuatoriano (PRE), einer populistischen Partei, die an den Regierungsstil des 1980 bei einem Flugzeugabsturz getöteten populistischen Präsidenten Jaime Roldos, Bucarams Schwager, anknüpft. In den 80er Jahren verbrachte der unberechenbare Hitzkopf mehrere Jahre in Panamá, da ihm Korruption und Mißbrauch öffentlicher Gelder in seiner Funktion als Bürgermeister von Guayaquil vorgeworfen wurde. 1988 kehrte er nach Ecuador zurück und wurde vom Präsidenten León Febres-Cordero nicht nur rehabilitiert, sondern auch für die Präsidentschaftswahlen zugelassen. Vermutlich geschah dies, um dem Kandidaten Rodrigo Borja der linken Izquierda Democrática bei den unmittelbar bevorstehenden Wahlen das Wasser abzugraben. In seiner dritten Kandidatur 1996 gewann Abdalá Bucaram am 7. Juli die Stichwahl gegen den PSC-Kandidaten Jaime Nebot und wurde am 10. August in das Amt eingeführt. Außer der Kehrtwende hinsichtlich des wirtschaftlichen Kurses, war seine Amtszeit von Anfang an durch unkohärente populistische Aktionen gekennzeichnet, seinem exzentrischen Charakter entsprechend. Ab Mitte September wurde billige Milch mit dem Portrait des Präsidenten unter dem Namen Abdalact in den armen Vierteln angeboten. In einem spektakulären Fernsehauftritt ließ er sich sein Bärtchen abrasieren und versteigerte es für über 740.000 US-Dollar zugunsten kranker und bedürftiger Kinder. Immer wieder verschenkte er bündelweise Geld an die Armen und widmete ihnen seine CD Un Loco que ama, die Bucaram zusammen mit der urugayischen Band Los Iracundos aufnahm. Seine Vorliebe, politische Kontrahenten zu beschimpfen, und auch von den Medien keinerlei Kritik zu dulden, führte zu Spannungen mit der Tageszeitung HOY und einem Radiosender, der seine Schimpftiraden nicht länger ausstrahlen wollte.

Rosalía Arteaga – Präsidentin für 48 Stunden

Rosalía Arteaga bildete zusammen mit Abdalá Bucaram ein Team für die Präsidentschaftswahlen und wurde so zur ersten Vizepräsidentin Ecuadors. Doch schon bald mußte sie feststellen, daß die Aufgabenverteilung Bucarams für sie nur Unwesentliches vorsah, und er nicht daran dachte, sich an die ausgemachte Ressortaufteilung zu halten. Die Rechtsanwältin und engagierte Christin aus Cuenca, die Abdalá Bucaram als Zugpferd für Wählerstimmen aus dem Hochland einsetzte, war Erziehungsministerin der Regierung Sixto Durán-Ballén. Es kam zu mehreren heftigen Auseinandersetzungen Arteagas mit Bucaram und dem Energieminister Adum, gegen die sie ihre Meinung durchzusetzen versuchte. Sie kritisierte Bucarams Entscheidungen und Vorhaben mehr als einmal, blieb aber dennoch im Amt. Alarcón und andere Abgeordnete verdächtigte sie der Verschwörung und der Vorbereitung eines Staatsstreiches. Nach Bucarams Amtsenthebung am 6. Februar sah sie zu Recht ihre Sternstunde gekommen, die jedoch trotz Rückendeckung des Militärs nur von kurzer Dauer sein sollte. Voller Bitterkeit verkündete sie: “Ich wurde nicht gewählt, weil ich eine Frau bin”. Ihre rechtlichen Bedenken und ihr scharfer Protest sind bei genauem Hinsehen nicht unbegründet. Als Hauptargument gegen Arteaga wird aber ihr Bündnis mit Abdalá ins Feld geführt, denn damit erlösche ihr “moralischer” Anspruch auf das höchste Amt im Staat. Für das Amt der Vizepräsidentin unter Alarcón steht Rosalía Arteaga dennoch zur Verfügung.

Fabián Alarcón: Der geschickte Taktiker ist auf seinem Karrierehöhepunkt angelangt

Der vom ecuadorianischen Nationalkongreß am 5. Februar 1997 als Nachfolger von Bucaram und als Interims-Präsident bis August 1998 bestätigte Fabián Alarcón Rivera (50) ist in der politischen Klasse Ecuadors kein unbeschriebenes Blatt. Als Sohn des konservativen Diplomaten Ruperto Alarcón beginnen seine ersten politischen Schritte sehr früh. Seine erste erfolgreiche Wahl bestreitet er 1984 für die Demokratische Partei (PD), als er für die Provinz Pichincha zum Präfekten nominiert wird. In den 70er Jahren ist er aktives Mitglied in der Patriotischen Volkspartei (Partido Patriótico Popular). In den 80er Jahren gewinnt er das Bürgermeisteramt in Quito, das er allerdings 1988 an den Christdemokraten Rodrigo Paz wieder verliert. 1990 tritt er zum ersten Mal als Abgeordneter in den Nationalkongreß ein, und obwohl er einem kleinen Minderheitsblock angehört, gelingt es ihm, zum Parlamentspräsidenten gewählt zu werden. 1992 tritt er erneut, dieses Mal als Mitglied der Radikalen Alfaristen-Front (Frente Radical de los Alfaristas) zur Bürgermeisterwahl von Quito an, muß sich aber gegen Jamil Mahuad (Democracia Popular), heute noch amtierender Bürgermeister, geschlagen geben. Obwohl seine politische Karriere oft von Erfolg gekrönt ist, wird Alarcón nachgesagt, daß die einzige Konstante dabei “das Fähnchen im Wind” sei. Er habe Parteien und Fronten so oft gewechselt wie andere ihre Hemden und sei “der beste Wendehals der Politik”, so wie seine Partei (FRA) als “Wendepartei” betitelt wird. 1996 gelingt ihm ein erneuter Coup im Nationalkongreß: Obwohl nur mit zwei weiteren Abgeordneten in einem Block vertreten, verhilft ihm eine Allianz mit Abdalá Bucaram erneut zur Wahl zum Parlamentspräsidenten. Ironie des Schicksals, daß Alarcón eben diese Position am 5. Februar 1997 in die Lage versetzt, einem Mißtrauensvotum im Kongreß gegen seinen ehemals Verbündeten stattzugeben und ihn in eigener Person als Staatspräsident zu ersetzen?
Mit allgemeiner Skepsis werden seine ersten Amtshandlungen betrachtet: Die neue Regierung Alarcón hat Entlassungsdekrete durch die Administration Bucaram rückgängig gemacht und die Schaffung einer Finanzkomission zur Kontrolle der eigenen Regierung angekündigt. Die ersten offiziellen Besuche Alarcóns gelten den Bürgermeistern von Quito, Cuenca und Guayaquil. Alles Schritte, um Vertrauen in die eigene Politik zu schaffen, die das Begehren des Volkes respektieren und mehr, die sozialen Gruppen des Landes einigende Partizipation schaffen will? Die Bildung eines Kabinetts über viele politische Fronten hinweg gestaltet sich schon von Beginn an schwierig, da die großen Parteien wie ID, PSC und Pachakutik ihre Regierungsmitarbeit schon ausgeschlossen haben.
Die zahlreichen hupenden und fahnenschwenkenden Autokolonnen, die in der Nacht vom 5. Februar die Straßen Quitos und anderer Städte füllten, feierten ausgelassen die Absetzung Bucarams und den Sieg des Volkes in der Straße, nicht aber die Wahl Alarcóns zum Präsidentennachfolger. In diesem Sinne gilt der an eine Straßenmauer geschriebene Satz: “Paß auf Alarcón, das Volk bleibt auch nach dem 5. Februar wachsam.”
Andrea Kuhlmann

Weißes Gold

Nach 200 Metern Staubpiste versperrt eine Schranke den Weg. Der dahinter liegende Ort wirkt gespenstisch, weit und breit keine Menschenseele. Die Stille wird nur vom böigen Wüstenwind und dem Scheppern der Wellblechplatten unterbrochen. Staub wirbelt um die Ecken und Wände verfallener Gebäude. Die perfekte Kulisse für einen Western! Die Sonne brennt erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Keine Wolke weit und breit. Im Osten läßt sich die Silhouette der Andenkordillere erahnen. Die wenigen Bäumchen haben sichtlich Mühe, unter den unwirtlichen Bedingungen zu gedeihen. Der verlassene Ort läßt nichts von dem lebendigen Treiben früherer Jahre ahnen. Einzig an den Eintragungen im aufgeschlagenen Gästebuch in der Eingangshütte ist zu erkennen, daß sich vor kurzem Menschen in dieser Geisterstadt aufgehalten haben müssen.
Ein überdachtes achteckiges Holzpodest, auf dem in den meisten Städten des Andenstaates längst unaufhörlich dröhnende Lautsprecher die Musikkapellen ersetzt haben, läßt die freie Fläche unschwer als typisch chilenische Plaza de Armas erkennen. Sie wird beherrscht von dem dreistöckigen Theaterbau mit seinen drei Bögen und zwei Ecktürmen. Die Plaza liegt zwischen ehemaligen Fabrikanlagen und den Wohnvierteln. Die nahegelegenen Arbeiterhäuser sind weitgehend verfallen, die Dächer und Wände eingestürzt. Überall warnen Schilder vor dem Betreten. Doch etwas abseits finden sich komplett erhaltene Blocks. In Form eines großen L sind jeweils zwei Dreizimmerwohnungen um einen Innenhof angeordnet. Auf einem offenen Platz, der sich in besonderer Weise als Appellplatz eignete, liegen verstreut die traurigen Reste einer verrosteten Dampfmaschine. Die berühmteste Geisterstadt in der chilenischen Wüste wirkt faszinierend und gleichzeitig bedrückend auf den Besucher. Das unaufhörliche Scheppern der Wellblechplatten, das Wehen des Wüstenwindes in der Einsamkeit der Ruinen scheint nicht von dieser Welt zu sein.

Kulisse für einen Western

Plötzlich ertönt ein Pfiff. In der Ferne winkt ein unverkennbar menschliches Wesen. Roberto Zaldívar hat sich für ein Leben fernab der Zivilisation entschieden. Seit Mitte 1991 lebt er in der Einsamkeit der Ruinen und Wellblechdächer, bis vor kurzem ohne Strom und fließendes Wasser. Im Auftrag des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Santiago hütet er die verlassene Salpeterstadt. Fast sieben Jahre geht das Engagement der deutschen Kulturvertretung in der Atacama-Wüste zurück. Seither bemühen sich die BetreiberInnen, die Ruinenstadt vor dem Schicksal der allermeisten anderen oficinas zu bewahren. Denn wie an keiner anderen Stelle kristallisieren sich in Chacabuco die Salpetergeschichte, die ArbeiterInnenbewegung und politische Unterdrückung in Chile.
Mit dem Export des ‘weißen Goldes’ betrat die einstige spanische Kolonie zum ersten Mal die Bühne des internationalen Handels. Um die Vorkommen in der Atacama-Wüste wurden Kriege geführt, die entstehende Gewerkschaftsbewegung spürte hier den mächtigen Arm von Militär und Polizei. Viele Jahre später, als der Salpeterboom lange vorüber war, stellte die sozialistische Regierung von Salvador Allende die oficina unter Denkmalschutz. Kaum zwei Jahre später diente Chacabuco den putschenden Generälen um Augusto Pinochet als Gefangenenlager. Viele prominente politische Häftlinge wurden hier im extremen Wüstenklima zwischen Stacheldraht und Minenfeldern eingepfercht. “Die Idee bei der Erhaltung von Chacabuco ist es zu verhindern, daß die Erinnerung an das größte Konzentrationslager in der Geschichte Chiles in Vergessenheit gerät,” erklärt Roberto Zaldívar, der Wärter der Gedenkstätte. “Gleichzeitig ist die historische Bedeutung von Chacabuco unschätzbar, denn es ist fast die letzte erhaltene Salpeterstadt.”
Vom Winde verweht sind mittlerweile die allermeisten der ehemals über 100 Wüstensiedlungen. Allein Mauerreste und Abraumhalden in Form überdimensionaler Torten erinnern an die aufgegebenen oficinas. Und die gottverlassenen Friedhöfe, deren Holzkreuze und Eisenrosetten dem Wüstensand trotzen. Die einzige und letzte Erinnerung an die Menschen, die an dieser unwirtlichen Stelle des Globus gelebt und geschuftet haben. Nur die letzte Ruhestätte ist ihnen geblieben, ihre Heimat hat längst die Wüste geschluckt. Keiner kümmert sich um die Gräber, weil niemand mehr da ist. Ein unheimliches Gefühl beschleicht den Betrachter: Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens wird dem Besucher hier bedrohlich nah vor Augen geführt.
Dabei macht gerade die trockenste Wüste der Erde Vergängliches auf besondere Art unvergänglich. Bei der extrem niedrigen Luftfeuchtigkeit, die jeden Schweißtropfen sofort auf der Haut verdunsten läßt, haben mumifizierte Atacameños die Jahrtausende ebenso unbeschadet überstanden wie die Salpeterarbeiter. Die menschlichen Zeugen vergangener Epochen hatten auch entscheidenden Anteil an der Entstehung des Chacabuco-Projekts. Der langjährige Leiter des Santiagoer Goethe-Instituts, Dieter Strauß, war von den Wüstenregionen derart fasziniert, daß er bei jeder Gelegenheit in Chiles unwirtlichen Norden reiste. “Eine Mumie auf einem der Salpeterfriedhöfe wird es gewesen sein, die mein Interesse an der versunkenen Salpeterwelt erweckte”, erinnert er sich. “Als dann noch die Geschichte ‘hinzutrat’, war es um mich geschehen.” Die Idee zum Erhalt der Salpeterstadt war geboren. Seither warb er in Chile wie in Deutschland für die Restaurierung der Werksanlage, hüben wie drüben gab es erhebliche Widerstände zu überwinden. Michael de la Fontaine, der Nachfolger von Dieter Strauß, setzte das Wüstenprojekt mit ungemindertem Elan fort: “An diesen Salpeterstädten ist vor allem interessant, daß sie nicht einfach industrial plants sind, sondern wirklich ganze Städte im Niemandsland. Sie lassen die gesamte Sozialstruktur erkennen.”

Die Anfänge reichen weit zurück

Als eins der jüngsten Salpeterwerke entstand Chacabuco zu einem Zeitpunkt, als das große Geschäft mit dem weißen Gold seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte. Die Geschichte der Salpeternutzung geht weit zurück in die Zeit vor der Ankunft der Spanier. Frühe atacamenische Kulturen verwendeten das natürliche Nitrat als Düngemittel und allem Anschein nach auch als Sprengstoff, die Inkas übernahmen bei ihrem Vorstoß nach Süden deren Techniken. Bereits 1571 sicherte König Philipp II. der spanischen Krone die Rechte am Salpeterabbau, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen von den Jesuiten betrieben wurde. 1809 entwickelte der reisende böhmische Naturwissenschaftler Thadäus Haenke ein Verfahren, das die systematische Nitratgewinnung durch Erhitzen des Rohmaterials caliche erlaubte. Ab 1920 begann der Salpeterexport, allerdings zunächst in sehr bescheidenem Umfang. Zudem mußten unvorhergesehene Schwierigkeiten überwunden werden. Als die ersten Frachtschiffe mit ihrer weißen Ladung in englischen Häfen einliefen, sahen sich die Hafenarbeiter vor ein unüberwindbares Problem gestellt: Wie sollten sie den riesigen verbackenen Klumpen aus dem Schiffsleib herausbekommen? Das Salpeterpulver war durch die Feuchtigkeit auf See steinhart geworden, die Schiffe mußten auf offener See versenkt werden. Seither geht das Salpeter als Granulat auf die lange Reise.
Ein wichtiger Schritt zur industriellen Salpeterherstellung gelang 1876 dem Chilenen britischer Herkunft, Santiago Humberstone: Durch ein Rohrsystem leitete er Wasserdampf ein, um das Salpeter aus dem caliche herauszulösen. Dieses Verfahren war wesentlich ökonomischer und erlaubte die Ausbeutung der natürlichen Nitratvorkommen in großem Stil. Mit der Industrialisierung in Europa waren immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen, die Landwirtschaft mußte effektiver arbeiten. Der Gießener Chemiker Justus von Liebig wies Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorzüge von Nitratdünger für den Ackerbau nach. Damit war der Weg zur weltweiten Vermarktung von Naturdünger geebnet. Als Rohstoffquelle für die Herstellung von Schießpulver erlangten die Salpeterfelder zudem strategische Bedeutung.
Mit dem Geschäft wuchsen die Begehrlichkeiten. Die größten Salpetervorkommen lagerten in der ehemaligen peruanischen Provinz Tarapacá und in der bolivianischen Atacama-Wüste. Deren Ausbeutung lag in dieser Zeit vorwiegend in der Hand chilenischer Unternehmer, die Nachbarstaaten kassierten Ausfuhrsteuer. Als Bolivien einseitig die Zollgebühren anhob, besetzten die Chilenen am 14. Februar 1879 kurzerhand den wichtigen Ausfuhrhafen Antofagasta. Im April folgte die offizielle Kriegserklärung an Bolivien und das verbündete Peru. Der Pazifikkrieg war nach zwei Jahren mit dem Einmarsch der nach preußischem Vorbild aufgebauten chilenischen Armee in Lima praktisch entschieden. Mit den beiden nördlichen Provinzen Atacama und Tarapacá hatte der Andenstaat seine Fläche um ein Drittel vergrößert und sich vor allem die reichen Salpetervorkommen einverleibt.

Rohstoff für Dünger und Sprengstoff

Im folgenden halben Jahrhundert brachte das Salpetermonopol dem Land einen Aufschwung unbekannten Ausmaßes. Zunächst schnellte der Export des weißen Goldes von Jahr zu Jahr in die Höhe. Doch bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Nachfrage nach dem Rohstoff für Dünger und Sprengstoff zunehmenden Schwankungen unterworfen. Der Erste Weltkrieg bewirkte anfangs einen deutlichen Anstieg der Exporte. Doch die Seeblockade des Deutschen Reichs, des bisherigen Hauptabnehmers, traf die chilenische Salpeterindustrie kurz darauf empfindlich, bevor der steigende Düngemittelimport der Entente-Staaten die Verluste wieder ausglich. Allerdings hatte die Blockade eine Entwicklung in Gang gesetzt, die das Schicksal der chilenischen Salpeterwirtschaft endgültig besiegeln sollte.
Bereits 1912 war den beiden Ingenieuren Friedrich Haber und Karl Bosch in den Hauptwerken der BASF in Ludwigshafen ein bahnbrechender Erfolg gelungen: Sie entwickelten das nach ihnen benannte Verfahren zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. In Ermangelung des Rohstoffs für Sprengstoffe setzte die preußische Kriegswirtschaft alles daran, sich von den ausbleibenden Salpeterlieferungen unabhängig zu machen. Mit dem Bau der beiden großen Nitratwerke in Oppau und Leuna machte sich das Reich vom chilenischen Salpeter unabhängig. Die anderen Länder zogen nach. Der chilenische Boom ging ebenso jäh zuende, wie er begonnen hatte. Mit Justus von Liebig sowie Haber und Bosch standen somit deutsche Chemiker an der Wiege und gleichzeitig an der Bahre des Salpeters.
Der Leiter des Naturhistorischen Museums in Santiago, Luis Capurro, kann sich denn auch nicht von dem Gedanken frei machen, hinter dem Engagement der Deutschen stünde der Versuch einer Wiedergutmachung. In seiner Würdigung des Chacabuco-Projekts heißt es: “Vielleicht wollten sie damit die Schuld bezahlen, die sie gegenüber Chile wegen des Zusammenbruchs der Natursalpeterindustrie haben.” Diese Art von Schuldgefühlen dürfte die Betreiber des Projekts weniger bewegen als das Ziel, welches Capurro im Anschluß formuliert: “Die derzeit restaurierte oficina salitrera sollte ein großes Kulturzentrum werden, das einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes bewahrt, dessen Erhalt die Bewahrung der Identität eines Landes ermöglicht.” Der Weg dahin ist noch weit, aber die ersten Schritte sind getan. Zunächst wurde das großzügige Theater wieder aufgebaut, in dem einst in- und ausländische Künstler für Angestellte und Arbeiter des Werks auftraten. Kürzlich wurde die Restaurierung der angrenzenden Philharmonie abgeschlossen, deren Dach vor langem auf die Parkettbestuhlung heruntergestürzt war.

Gedenkstätte Chacabuco

Kaum ein Ort in Chile ist besser als Gedenkstätte geeignet als das vergleichsweise gut erhaltene Chacabuco. Wie keine andere verlassene Salpeterstadt symbolisiert es die bewegte Geschichte des Landes mit der verrückten Geographie. Das Musterwerk der Salpeterindustrie ist ein einzigartiges Denkmal der chilenischen Industriegeschichte. Es ist das größte und eins der letzten Werke, das nach dem englischen Shanks-System arbeitete. Dabei wird das salpeterhaltige Mineral mit Wasserdampf gelöst und aufbereitet. Für eine Million Pfund Sterling errichtete die britisch-chilenische Lautaro Nitrate Company zwischen 1922 und 1924 eine komplette Industrieanlage einschließlich Wohnungen für über 3000 Arbeiter und mehrere Hundert Angestellte. Nur wenige Meter neben den letzten Wohnhäusern zieht das dunkle Band der Panamericana entlang, der einzigen Landverbindung zwischen Santiago und dem Großen Norden. Eine architektonische Besonderheit prädestinierte Chacabuco ein halbes Jahrhundert später für den Mißbrauch als Konzentrationslager: Wie eine Industriefestung inmitten der Wüste war die oficina rundherum von einer Mauer eingefaßt, die gleichzeitig die Außenwände bildete.
Das Werk Chacabuco arbeitete mit modernster Technologie der 20er Jahre. Obwohl unter der Regie einer englischen Firma betrieben, enthält die Anlage vorwiegend deutsche Maschinen, Turbinen und Kessel, mehrheitlich von Siemens. Daß dieser Industriestandort nur 14 Jahre in Betrieb bleiben sollte, ahnte in der Bauphase wohl niemand. Nicht nur der weltweite Rückgang des Bedarfs an natürlichem Dünger trug zu dem raschen Ende von Chacabuco bei, sondern vor allem die hohen Stromkosten beim Betrieb dieser Anlage. Ab 1930 begann nämlich die US-Firma Guggenheim & Sons mit dem Aufbau neuer Werke, in denen unter Ausnutzung der Sonnenwärme mit wesentlich weniger Energie Salpeter aus minderwertigerem Rohmaterial gewonnen werden konnte. Die damals gegründeten Werke Pedro de Valdivia, María Elena und Coya sind als einzige bis jetzt in Betrieb und bilden das Rückgrat der heutigen Salpeterindustrie Chiles. Chacabuco dagegen stellte schon 1938 die Produktion ein. Ein Teil der Geschäftsleitung verblieb in der Stadt, so daß die Infrastruktur lange erhalten blieb. Die Armee schlug hier regelmäßig bei Manövern ihre Zelte auf.
Dadurch war die Salpeterstadt auch 33 Jahre nach Einstellung der Produktion noch in einem hervorragenden Zustand, als sie die Unidad-Popular-Regierung von Salvador Allende 1971 unter Denkmalschutz stellte. Der zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, Waldo Suárez, konnte damals nicht ahnen, daß er nur zwei Jahre später als einer der ersten Häftlinge in das neu gegründete Gefangenenlager der Militärdiktatur in Chacabuco verschleppt werden sollte. Erst zwei Tage vor seinem Tod entließen ihn die Militärs aus der Gefangenschaft, schwerkrank wurde er nach Antofagasta gebracht, um dort zu sterben. Mehr als 3000 politische Gefangene wurden nach dem 10. November 1973 monatelang in dem Lager festgehalten, unter ihnen der Präsident des Abgeordnetenhauses. Der Journalist Guillermo Torres war fast ein Jahr in Chacabuco, bevor er ausreisen konnte und in Ostberlin politisches Asyl fand. Heute arbeitet er halbtags als Pressereferent im Rathaus von Santiago und die übrige Zeit als Redakteur bei der Tageszeitung La Nación. Er begrüßt die Initiative des Goethe-Instituts, denn die Erinnerung muß wachgehalten werden, auch und gerade wenn sie so belastend ist. “Das schlimmste war,” so erinnert er sich, “daß den Soldaten eingeimpft wurde, wir wären ganz gefährliche Verbrecher. Aber nach ein oder zwei Wochen hatten sie gemerkt, daß wir ganz normale, ganz harmlose Menschen waren. Darum wurde das Wachpersonal jeden Monat ausgewechselt.”

Pulverfaß in der Wüste

Das Militär gab das Gefangenenlager Chacabuco Ende 1976 auf, doch der Ort blieb noch bis 1989 oder 90 in Händen der Armee. Der lange schwelende Grenzkonflikt mit Argentinien hätte in den 80er Jahren beinahe zum offenen Krieg mit dem Nachbarland geführt. “Chacabuco verwandelte sich damals von einem Gefangenenlager in das größte Pulverfaß der Wüste,” erklärt Roberto Zaldívar vor einem riesigen Schuppen voller verrosteter Maschinen, “hier lagerte das gesamte Kriegsgerät für eine Invasion in Nordargentinien. Nach dem Ende der Diktatur stand der verlassene Ort eine Zeitlang allen offen, es wurde gestohlen, geplündert, zerstört und gesprengt.” Die häufigen Erdbeben in dieser Region taten ein übriges. Chacabuco verfiel binnen kurzer Zeit und verwandelte sich in die Ruinenstadt, die heute den Besucher mit ihren vielen Geheimnissen und allgegenwärtigen Spuren der Vergangenhheit in ihren Bann zieht. Nur das Theater am zentralen Platz erstrahlt seit kurzem in neuem Glanz und erinnert an das kulturelle Leben vergangener Tage.
In den abgeschiedenen Städten, in denen die Menschen den Unbillen des lebensfeindlichen Wüstenklimas trotzten, waren kulturelle Veranstaltungen eine überaus willkommene Abwechslung. In der Regel standen sie allen BewohnerInnen gleichermaßen offen. Zweifellos ein Ergebnis der langen sozialen Kämpfe. Zwar waren die sozialen Unterschiede zwischen Firmenleitung und Arbeitern auch in Chacabuco offensichtlich. Dennoch konnten die englischen Betreiber nicht mehr an den Erfahrungen jahrzehntelanger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vorbeigehen. Die wilden Jahre des unregulierten Kapitalismus waren auch in Chile vorerst vorüber. Die Forderungen einer starken Gewerkschaftsbewegung und erste Ansätze einer effektiven Sozialgesetzgebung in Chile zwangen die Lautaro Nitrate Company, ihren Arbeitern akzeptable Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu bieten. Das war während des gut 50jährigen Salpeterbooms beileibe nicht immer so. “Die Salpetergeschichte war sehr blutig”, erklärt der Wärter Roberto beim gemeinsamen Rundgang durch die Ruinenstadt. “Aber gleichzeitig hat sie es möglich gemacht, das dieses Land trotz aller Vergeudung vorwärts kommen konnte.”
Die Geschichte des weißen Goldes ist geprägt durch die jahrzehntelange Ausbeutung der Arbeitskräfte, die überwiegend aus Zentral- und Südchile stammten und sich zumeist als Tagelöhner verdingen mußten. Die Abhängigkeit vom Werk und dessen Besitzer war vollkommen: Der Lohn wurde in fichas bezahlt, einer Art Lagergeld, das ausschließlich in dem ebenfalls werkseigenen Laden, der pulpería, ausgegeben werden konnte. Die Waren wurden dort üblicherweise zu überhöhten Preisen angeboten, unabhängige Händler ließ die Werksleitung regelmäßig vertreiben. Wer aufmüpfig wurde oder mehr Lohn verlangte, wurde kurzerhand entlassen und verlor damit automatisch seine werkseigene Unterkunft. Die Unternehmer in der Pampa bekämpften jeden Versuch der Arbeiter, sich zu organisieren, und zerschlugen anfangs auch alle entstehenden Gewerkschaften. Ging der starken Schwankungen unterworfene Salpeterabsatz im fernen Europa zurück, mußten viele Arbeiter wieder auf die Haciendas zurückkehren und dort für einen Hungerlohn weiterarbeiten. Die Schwerstarbeit in der trockensten Wüste der Welt, tagsüber unter der sengenden Sonne und nachts bei schneidender Kälte, wurde um ein Mehrfaches besser bezahlt als in der Landwirtschaft. Der durchschnittliche Tageslohn eines Salpeterarbeiters lag bei 6,13 Pesos, wenn er 300 Tage im Jahr arbeitete, brachte er 1838 Pesos zusammen, umgerechnet gerade einmal 82 Pfund Sterling.

Chilenische Salpeteraristokratie

Damit kam eine Familie der chilenischen Salpeterdynastie allerdings keine zwei Tage aus. Um es ihren Unternehmerkollegen aus England oder Deutschland gleichzutun, zogen viele der neuen Reichen dorthin, wo sie nach ihrer europaorientieren Auffassung standesgemäß leben konnten, nämlich nach Paris oder London. Auf 20000 Pfund werden die jährlichen Ausgaben einer einzelnen Familie geschätzt, allein im Jahr 1913 verpraßte die chilenische Salpeteraristokratie eine Million Pfund in den europäischen Metropolen. Der Grundstoff für Düngemittel und Sprengstoff warf in dieser Zeit ungeheure Profite ab. Der Große Norden Chiles, das sind die Provinzen Atacama und Tarapacá, war wirtschaftlicher und auch kultureller Mittelpunkt des Landes. Hier wurde das große Geld gemacht, nicht in Santiago oder auf den riesigen Haciendas im Süden. Den wohltemperierten Küstenort Iquique wählten die meisten britischen, chilenischen und später auch die deutschen Werksbesitzer zum Domizil. Sie lebten in ebenso großzügigen wie luftigen Palästen, die mit italienischem Marmor und kalifornischem Teakholz ausgestattet waren, gingen abends ins Theater, in dem sogar Caruso auftrat, oder tafelten im luxuriös ausgestatteten Spanischen Club.
Der Gegensatz zwischen der reichen Unternehmerkaste und den Lohnarbeitern konnte kaum eklatanter sein, und durch die enge Nachbarschaft in den Salpeterwerken war er für alle sicht- und spürbar. Um die Jahrhundertwende entstanden trotz massiver Attacken der Arbeitgeber erste größere Gewerkschaften in der Salpeterindustrie, die bessere Bezahlung und menschlichere Arbeitsbedingungen forderten. 1912 entstand in Iquique die Sozialistische Arbeiterpartei, die bereits 1920 der Dritten Internationale beitrat und aus der die mächtigste und größte kommunistische Partei in Lateinamerika hervorgehen sollte. Die Streiks häuften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts. Der Staat konnte zwar in einigen Fällen vermittelnd eingreifen, meistens schlug er sich jedoch auf die Seite der Unternehmer. Soldaten wurden als Streikbrecher eingesetzt, Armee oder Polizei griffen in 40 Prozent aller Streiks ein. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.
Der grausamste Militäreinsatz fand 1907 statt, als ein friedlich verlaufender Massenstreik in der nordchilenischen Hafenstadt blutig niedergeschlagen wurde. Es war kein gutes Jahr für die Salpeterindustrie. Die Ausfuhren gingen zurück. Die Konsequenz waren Massenentlassungen und Lohnkürzungen. In der Provinz Tarapacá traten daraufhin Salpeter-, Hafen und Transportarbeiter in den Ausstand, bald wurden alle oficinas der Region bestreikt. In Scharen zogen die Arbeiter, größtenteils mit der ganzen Familie, in die 40.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt. Ihre Forderungen erscheinen nach heutigem Verständnis recht gemäßigt: Lohnerhöhung oder Anpassung der Einkommen an das englische Pfund, Einlösung der fichas im Wert von 1:1 gegen Pesos, Kontrolle und Aufhebung des Monopols der firmeneigenen pulperías, Entschädigung bei fristloser Entlassung und Unfallschutzmaßnahmen. 10-15.000 Salitreros überschwemmten die Hafenstadt Iquique, in der sich die Gewinner des Salpeterbooms ihrem luxuriösen Leben hingaben. Mit ihren täglichen Demonstrationen legten sie den Verkehr und den Handel lahm, doch die überwiegend britischen Unternehmensleitungen waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Auf ihr Drängen verhängte die Regierung drei Tage vor Weihnachten 1907 den Ausnahmezustand. Der Militärkommandant ließ die Schule Santa María, die den Streikenden als Unterkunft diente, noch am selben Tag umstellen. Als sie sich weigerten, das Gebäude zu verlassen, eröffnete er das Feuer auf die unbewaffnete Menge. Mindestens 500 Menschen, nach anderen Schätzungen mehrere Tausend, fanden bei dem Massaker den Tod.
Der Aspekt der kämpferischen Sozialbewegung liegt den Betreibern der Gedenkstätte Chacabuco besonders am Herzen. Doch damit steht das Goethe-Institut ziemlich alleine da. Sieben Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur rührt kaum jemand an den dunkelsten Kapiteln der jüngeren chilenischen Vergangenheit. Michael de la Fontaine hat seine Werbung für das Projekt der Stimmung angepaßt. “Ich verkaufe in den letzten drei Jahren auch unter den höchsten Autoritäten Chacabuco als Beispiel der jüngsten Industriegeschichte,” gibt er unumwunden zu. “Für mich steht aber fest, daß ein solches schillerndes historisches Denkmal in mehreren Funktionen zum Leben erweckt werden muß: Als Kultur- und Industriedenkmal, als soziale Gedenkstätte und nicht zuletzt als touristisches Zentrum. Darüber kann, salopp gesagt, das empfindlichste Kapitel der jüngeren chilenischen Vergangenheit mitverkauft werden.”

Halbherzige deutsche Beteiligung

Auf Widerstand stieß das Chacabuco-Projekt nicht nur in Chile. Auch von deutscher Seite gab es mehr Behinderungen als Unterstützung. Zwar betont Michael de la Fontaine die Rolle der deutschen Botschaft als Wortführerin in Sachen Restaurierung und verweist darauf, daß mit Restaurierungsgeldern im Umfang von 200.000 DM aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amts ein beachtlicher Batzen Geld in die chilenische Wüste gesetzt wird. Dabei verschweigt er allerdings die Schwiergkeiten, die es mit der diplomatischen Vertretung in Santiago gab. Das Engagement für das Chacabuco-Projekt war bestenfalls gering. Botschafter Werner Reichenbaum konterkariert geradezu die hinter dem Chacabuco-Projekt stehende Idee. In seinem Grußwort zu Beginn des eigens dazu vom Goethe-Institut herausgegebenen Buches “Chacabuco – Stimmen in der Wüste” hebt er die Bedeutung des Ortes als Industriedenkmal hervor, von dem Gefangenenlager spricht er mit keinem Wort. Offenbar fühlt sich die deutsche Diplomatie in Santiago immer noch einer unheilvollen Tradition verbunden. Im Unterschied zu anderen europäischen Botschaften vermied die deutsche immer kritische Töne gegenüber den uniformierten Machthabern um General Pinochet.
Die Parallelen der Vergangenheitsbewältigung drängen sich an Hand des Chacabuco-Projekts auf. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland steht eine ernsthafte Aufarbeitung der jüngeren Geschichte immer noch aus. In Chile hat keine Abrechnung mit dem Militärregime stattgefunden, jeder noch so zaghafte Versuch wird durch lautes Säbelrasseln der nie entmachteten Armee im Keim erstickt. Und die Bevölkerung will endlich ihre neue Freiheit genießen können, kollektiver Gedächtnisschwund macht sich breit. “Ein großer Teil der Gesellschaft will nur eins: vergessen!”, meint denn auch Projektinitiator Dieter Strauß. “Die Vergangenheit will nicht vergehen. Weder in Chile noch in Deutschland! Und schon gar nicht die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen.”
In dieser Frage eine Hilfestellung zu geben und die Vergangenheit wach zu halten, dazu ist die Gedenkstätte Chacabuco wie geschaffen. Mahnend erhebt sich der dunkelbraune Schornstein in den strahlend blauen, wolkenlosen Himmel. Überdimensionalen Skeletten gleich ragen die Werkshallen und Wohnhäuser in die staubtrockene Luft. Seit kurzem beginnt sich dieses Fossil der Industrialisierung wieder mit Leben zu füllen. In einmaliger Lage, vor dem Panorama der schneebedeckten Andenkordillere, entsteht eine außergewöhnliche touristische Attraktion. In- und ausländische Besuchergruppen, Schulklassen und Einzelreisende sind hier zu einem kurzen Abstecher von der Panamericana eingeladen, um sich für einige Stunden in vergangene Zeiten versetzen lassen. Derzeit fehlt es allerdings noch an der notwendigsten touristischen Infrastruktur. Solange es keine Restaurants und Übernachtungsmöglichkeiten gibt, ist das ehrgeizige Projekt insgesamt gefährdet. Michael de la Fontaine vom Goethe-Institut bringt es auf den Punkt: “Wir können uns erst aus Chacabuco zurückziehen, wenn es ein McDonalds gibt!”

… soll sie doch selbst etwas tun

Schwarze, Arbeiterin, Frau – das vielstrapazierte Schema der “dreifachen Unterdrückung” drängt sich auf, aber Schablonen haben im Erzählen von Delia Zamudio keinen Platz. Sie berichtet nicht nur von ihrer Rolle als Gewerkschaftlerin und Feministin, sondern erzählt von ihrer Kindheit, von alltäglicher Gewalt in der Familie und am Arbeitsplatz, sie spricht über ihre Beziehungen und über Versuche, sich weiterzubilden. Dabei wird ihre Schilderung nie eindimensional, und darin liegt die Stärke der kaum 100 Seiten umfassenden Autobiographie. Delia Zamudio zeichnet ein dichtes, vielschichtiges Bild von sich und ihrer Gesellschaft, sowohl, wenn sie von ihrem Privatleben erzählt, als auch in den Berichten vom politischen Engagement in Gewerkschaften und Frauenbewegung.
So spricht Delia Zamudio nicht nur von den Machos in der Gewerkschaftsspitze, sondern auch von den Schwierigkeiten, als schwarze Arbeiterin in der Frauenbewegung ihren Platz zu finden. Beim lateinamerikanischen Feministischen Treffen 1985 in Brasilien ist ein Workshop “Frau und Arbeit” nicht vorgesehen, beim nächsten Treffen 1987 wird sie von der peruanischen Delegation geschnitten, nachdem sie offen über Massaker in Peru gesprochen hat.
In den 80er Jahren fanden autobiographische Berichte aus Lateinamerika in der deutschen Linken große Verbreitung. Damals machte vor allem das Bedürfnis, “authentische Zeugnisse von den Unterdrückten” zu vernehmen, Bücher wie das von Domitila Chungara aus den bolivianischen Minen zu alternativen Bestsellern. Die deutsche Ausgabe von Delia Zamudios Buch trifft jetzt auf ein verändertes Publikum: Akzeptieren manche mit bemerkenswerter Leichtigkeit den Status Quo des Neoliberalismus in Lateinamerika, befinden sich andere verklärend-nostalgisch auf der Suche nach neuen Objekten für ihre vereinsamte Solidarität. Delia Zamudios Buch ernüchtert demgegenüber im positiven Sinne: Sie verklärt kein “Subjekt des Widerstandes”, aber sie erzählt vom politischen und privaten Alltag im real existierenden Kapitalismus in Peru, von Machtverhältnissen und von der Gewalt, die die ganze Gesellschaft durchzieht: ein Stück Realität eben.

Delia Zamudio: Frauenhaut – Eine Autobiographie, hg. von Katharina Müller und Reinhart Hoß. Neuer ISP-Verlag, Köln, ISBN 3-929008-29-7; Atlantik, Bremen, ISBN 3-926529-12-1; Oktober 1996, 144 S.

Newsletter abonnieren