Ein Präsident unter Zugzwang

Was ist passiert? Ein Kom­mando einer Guerillaorganisa­tion, deren Untergang von Präsi­dent Fujimori längst als Erfolg verbucht worden ist, landet den perfekten Coup: Der japanische Kaiser hat Geburtstag, die di­plomatische und politische High Society Limas findet sich zum Empfang des japanischen Bot­schafters in dessen Villa ein. Keine Telenovela hätte es phan­tasievoller ausmalen können: In Frack und Abendkleid, mit dem Sektglas in der Hand sehen sich die hohen Gäste auf einmal kaum zwanzig schwer bewaff­neten Guerilleros und Guerilleras gegenüber. Sogar Mutter, Bruder und Schwester des Präsidenten sind anfangs unter den Geiseln, bis das MRTA-Kommando als erste Maßnahme alle Frauen und Alten aus der Residenz entläßt.
Eine solche Aktion beinhaltet ein anderes Maß an Peinlichkeit für den peruanischen Präsidenten als jeder Bombenanschlag auf eine staatliche Institution. Fuji­mori, dessen größter Pluspunkt in der Öffentlichkeit immer der Sieg über den Terrorismus war, wird vorgeführt. Ausgerechnet die Residenz des Botschafters aus demjenigen Land wird zum Ziel, das für die politischen Pläne des bekanntermaßen selbst japanischstämmigen Präsidenten strategische Bedeutung als Ka­pitalgeber hat. Gleich mehrere, für die MRTA ideale Faktoren kommen da zusammen: Die Gei­seln sind teilweise international und/oder prominent, Medienin­teresse ist also garantiert; die Geiseln sind so hochrangig, daß tatsächlich eine Hemmschwelle für eine gewaltsame Stürmung bestehen muß und vor allem: Das Gelände ist exterritorial, Fujimori darf ohne Zustimmung Japans gar nicht stürmen lassen.

Und es gibt sie doch

Peinlich ist für Fujimori dazu, wer der Gegner ist. Die MRTA spielte in der Antiterrorpolitik Fujimoris immer eine unterge­ordnete Rolle. Der Hauptfeind war Sendero Luminoso, der “Leuchtende Pfad”. Die Ausein­andersetzung mit Sendero kul­minierte 1993 in einer großen In­szenierung: Sendero-“Präsident” Abimael Guzmán schrieb aus dem Gefängnis seine berühmten Briefe an Fujimori, in denen er das Ende des bewaffneten Kampfes anbot. Fujimori schloß de facto ein Abkommen mit ihm, von Präsident zu Präsident. Als dagegen MRTA-Chef Víctor Polay nach seinem Ausbruch wieder verhaftet wurde, präsen­tierte Fujimori dieses zwar selbstverständlich als großen Er­folg, nie aber erreichten Polay und die MRTA, von Fujimori als starker Gegner so anerkannt zu werden, wie das mit Guzmán und Sendero Luminoso geschah. Fujimori und Guzmán kämpften in der gleichen Gewichtsklasse, die erfolgreiche Botschaftsbeset­zung der MRTA aber läßt Fuji­mori wie einen Schwergewichts­boxer erscheinen, dem ein wen­diges Leichtgewicht gerade eine schallende Ohrfeige verpaßt hat.
Für einen Präsidenten wie Fujimori, der sich in der öffentli­chen Meinung ganz auf das Image vom starken Präsidenten stützt, muß ein Vorfall wie die­ser ein Desaster sein. Umso wichtiger für Fujimori, ob er we­nigstens beim Ausgang der Gei­selnahme das Gesicht wahren kann. Er hat letztlich die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder verärgert er wichtige internationale Partner, oder er zeigt innenpolitisch fatale Schwäche.
Es darf angenommen werden, daß Fujimori, hätte er die Ent­scheidung selbst in der Hand, wohl eine Stürmung versucht hätte. Entebbe und Mogadishu stünden Pate. Eigene oder aus­ländische Spezialeinheiten kön­n­ten dies zweifellos schaffen, nicht aber ohne Tote unter den Geiseln. Vor allem aber sperrt sich offensichtlich Japan gegen diese Option. Gegen den erklär­ten japanischen Willen das Ge­lände der Residenz zu stürmen, hieße, internationale Regeln zu verletzen und Japan auf eine Art und Weise zu brüskieren, die zu­künftige Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik wohl unmög­lich machen würde. Kein Wun­der, daß Fujimori angesichts der ökonomischen Bedeutung Japans bisher auf diese Option verzich­tet.
Wenn keine gewaltsame “Lö­sung” angesteuert werden soll, bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder spielt der Präsident auf Zeit und versucht, die Besetzer zu zermürben, oder es werden Verhandlungen tatsächlich mit der Absicht geführt, zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Op­tionen schließen sich nicht aus, im Moment fünf Wochen nach der Besetzung, scheinen jeden­falls von Seiten der Regierung beide Elemente im Spiel zu sein. Die Frage ist nur, wo die Priori­täten des Präsidenten liegen. Bisher ließ er nur andeuten, daß freies Geleit für die Geiselneh­mer und deren Abreise in ein Exilland eine Option sein könn­ten. Für das MRTA-Kommando ist das eine sicherlich inakzep­table Position, ihnen geht es schließlich um das Schicksal der inhaftierten MRTA-Mitkämpf­er­In­nen.
Dazu stellt sich die Frage, welche Folgen es hätte, würden zumindest einige der MRTA-Ge­fangenen freigelassen und mit den Geiselnehmern ins Exil ge­flogen. Abgesehen vom prinzi­piellen Problem, keine Nachah­mungen provozieren zu wollen, wäre das politische Risiko aus der Sicht der peruanischen Re­gierung überraschend gering. Mit großer Wahrscheinlichkeit wür­den die Freigelassenen im Exil­land bleiben und vielleicht ein­mal später, nach dem Ende der Ära Fujimori, die Gelegenheit nutzen, eine legale politische Kraft in Peru aufzubauen. Denn vieles spricht dafür, daß die Gei­selnehmer sich der Tatsache be­wußt sind, daß eine bewaffnete politische Option wie die MRTA in der peruanischen Gesellschaft keinen Rückhalt und gegenwär­tig auch keine Zukunftsaussich­ten hat.
Das MRTA-Kommando will mit der Geiselnahme wohl wirk­lich “nur” die Inhaftierten oder wenigstens einige von ihnen freipressen. Die Forderungen der Geiselnehmer sind nur an dem einzigen Punkt der Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen kon­kret. Alles, was an politischen Forderungen von der Presse ver­breitet wurde, ist von unverbind­licher Allgemeinheit. Nicht ein­mal der Sturz der Regierung bzw. des Präsidenten taucht auf der Liste auf.
Diese Beschränkung läßt sich historisch erklären. Die MRTA hat seit ihrer Gründung die Er­fahrung machen müssen, daß sie in Peru zu einer politischen Nebenrolle verurteilt ist. Die ideologisch durchtrainierte ultra-maoistische Konkurrenz von Sendero Luminoso sorgte mit ih­rem kompromißlosen Kampf da­für, daß sich die MRTA nicht nur gegenüber der Verfolgung durch staatliche Behörden, son­dern auch im revolutionären Spektrum verteidigen mußte. In ihrer besten Zeit verfügte die MRTA über nennenswerten Ein­fluß in einigen Regionen im Osten Perus am Übergang der Anden zum amazonischen Regenwald, besonders im nordöstlichen De­partement San Martín. Dazu kam eine gewisse Basis in der Haupt­stadt Lima. Dabei blieben sie allerdings immer eine Minder­heit, obwohl sie doch für sich in Anspruch nahmen, Interessen “des Volkes” zu vertreten.
Sendero Luminoso hatte es einfacher, mit fehlender Unter­stützung der Massen umzugehen. Durch ideologische Radikalität ließ es sich gut von der Realität abstrahieren. Die Senderisten glaubten sich im Besitz der ein­zig seligmachenden historischen Wahrheit. Wenn nicht die Mehr­heit des Volkes mit ihnen kämpfte, war das kein Problem der Ideologie, sondern eines der richtigen Erziehung – oder besser gesagt: Indoktrinierung – der Massen, die durch Gewalt zu ih­rem “Glück” gezwungen werden sollten.

Guerilla ohne Zukunft?

Die MRTA dagegen, orien­tiert an den revolutionären Er­fahrungen in Kuba und Mittel­amerika, war aus ihrem Ver­ständnis von Volksbewegung und Revolution darauf angewie­sen, die Massen wirklich zu ge­winnen. Damit scheiterte die MRTA auf der ganzen Linie. Peru in den 80er und 90er Jahren war und ist nicht ein Staat in Familienbesitz wie das somozi­stische Nicaragua. Dort wurde die Revolution möglich, weil von Bauern bis Bürgertum in fast allen Sektoren der Gesellschaft Konsens herrschte, daß Somoza weg muß. In Peru konnte die MRTA sogar auf der politischen Linken nur eine kleine Minder­heit für sich einnehmen, ganz zu schweigen von anderen gesell­schaftlichen Kräften. Als die MRTA Mitte der 80er Jahre auf der Bildfläche erschien, war die linke politische Welt in Peru dicht bevölkert von Parteien, Ba­sisgruppen, selbstorganisierten Strukturen, die gar nicht daran dachten, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Genauer gesagt, die MRTA entstand aus diesem Spektrum als Ausdruck einer Minderheit, die nicht an die Handlungsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie glaubte und eine bewaffnete Op­tion dagegen setzen wollte. Wäh­renddessen befand sich die Ver­einigte Linke, “Izquierda Unida” auf dem Höhepunkt ihres Ein­flusses und sammelte einen großen Teil des linken Spek­trums in ihrem Umfeld. Vorherr­schend war in dieser Zeit der Kampf um Mehrheiten bei Wahlen, die Suche nach Eini­gung der Linken in einem Wahl­bündnis, en vogue war Selbstor­ganisation auf lokaler Ebene – nicht aber bewaffneter Kampf.
Das Wahlbündnis Izquierda Unida sollte nach 1985 schnell seinen Einfluß verlieren. Nach 1990 ereilte es das Schicksal al­ler traditionellen politischen Parteien: der Absturz in die Be­deutungslosigkeit gegenüber dem übermächtigen Präsidenten Fujimori. Für die MRTA brachte dies allerdings keinen politischen Raumgewinn mit sich. Im Ge­genteil: Je schneller sich die Gewaltspirale im Lande zwi­schen Militär und Polizei, Sen­dero Luminoso und der MRTA drehte, umso mehr wuchs in großen Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach Frieden und – angesichts des Vormarsches der Senderisten – auch die Bereit­schaft, die Regierung beim “Kampf gegen die Subversion” zu unterstützen.
Präsident Fujimori hätte sich des Problems MRTA also schon lange elegant entledigen können, entweder über Gespräche mit den Inhaftierten in Richtung auf Amnestie und Wiedereingliede­rung ins politische Leben – das mittelamerikanische Modell – oder durch eine frühzeitige Exil­regelung für die MRTA-Spitzen. Fujimori hat es nicht für nötig gehalten. Rache an den “Terror­isten” war ihm wichtiger als der politische Ausgleich, nun hat er die Quittung bekommen. Es bleibt nur zu hoffen, daß Fu­jimori bei der letztlichen Ent­scheidung über das weitere Vor­gehen in der Geiselkrise seine persönlichen politischen Interes­sen und Eitelkeiten zurückstellt und pragmatisch handelt. Oder sollte er doch darauf hoffen, nach langer Zermürbung die Be­setzer entweder zur Aufgabe zu bewegen oder mit minimalen Verlusten die Botschaft stürmen lassen zu können? Ein hochris­kantes Spiel. So, wie es zu Re­daktionsschluß dieser Ausgabe aus­sieht, könnte nur ein Ver­hand­lungskompromiß zwischen Re­gierung und Geiselnehmern für ein unblutiges Ende der Be­set­zung sorgen.

KASTEN

Die MRTA – wer ist das und was will sie?

Eine sozialistische Gesellschaft, die unabhän­gig von ausländischem Kapital ist, das will die Mo­vi­miento Revolucionario Tupac Amaru (Re­vo­lu­tionäre Bewegung Tupac Amaru, MRTA). 1984 von Victor Polay Campos mitge­gründet, ide­ologisch in der Tradition von Kuba und Mit­tel­amerika stehend, kämpft die MRTA seit über ei­nem Jahrzehnt gewaltsam gegen den pe­ru­a­ni­schen Staat. Ihr Kampf soll in eine “…kontinentale Re­volution münden, die als Teil der Weltrevolu­tion…” verstanden wird.
Mit ihrem Namen beruft sich die Bewegung auf den mestizischen Inka-Nachkommen Tupac Ama­ru II, eigentlich José Gabriel Condorcanqui (*1743, +1781), einer der wichtigsten Führer der Indígena-Aufstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hundets.
Die Mitglieder der MRTA stammen aus der marxistischen Linken aus Abspaltungen verschie­dener Parteien. Hinsichtlich der militärischen Strategie geht die MRTA davon aus, daß “der Krieg von den Massen gemacht wird, … der revo­lu­tionäre Krieg und der Aufstand verflechten sich zu einem einzigen Prozeß”. Deswegen will die MRTA die Selbstverteidigung des Volkes und die Entstehung von bewaffneten Milizen vorantrei­ben. Die Massen sollen über die Unterstützung der Ge­werkschaften und durch Gründungen von Nach­barschaftsinitiativen erreicht werden.
Die “Blütezeit” der MRTA war gegen Ende der 80er Jahre, vor allem allem im Nordosten Pe­rus: Im November und Dezember 1988 wurden ver­schiedene Dörfer, hauptsächlich im Departe­ment San Martín, eingenommen. Zur Strategie der MRTA gehört es, daß auf gewaltsame Aktio­nen, wie die Einnahme von Dörfern, friedliche Kund­gebungen folgen, in denen die Bevölkerung über Vorgehen und Absichten der Rebellen in­formiert wird.
Die MRTA operierte sowohl auf dem Land wie in der Stadt. So wurde in Lima am 22. No­vember 1988 die Präfektur von Lima mit Rake­tenwerfern attackiert, Luxusrestaurants wurden bombardiert, nachdem kurz zuvor, zusammen mit streikenden Gewerkschaftern, ein Anschlag auf das Büro der Nationalen Minengesellschaft statt­gefunden hatte.
Das Jahr 1989 begann schlecht für die MRTA-Revolutionäre. Am 3.Februar wurde ihr Anführer Victor Polay Campos festgenommen, und zwei Monate später geriet eine Gruppe der MRTA in einen Hinterhalt des Militärs. Es gab 45 Tote auf Seiten der Rebellen. Kurz darauf fiel Ex-Verteidi­gungsminister General Albujar auf offe­ner Straße einem MRTA-Anschlag zum Opfer, außerdem ent­führte die MRTA wirtschaftlich oder politisch hochstehende Persönlichkeiten. Diese Aktionen wurden von Anschlägen auf US-ame­rikanische Erdölfirmen begleitet.
Das durch gelungenen Entführungen zur Ver­fü­gung stehende Geld diente zur Ausrüstung der Gue­rilla, ebenso fanden aber auch immer wieder Ver­teilungen von Lebensmitteln in den Armen­vier­tel Limas statt.
Am 9. Juli 1990 floh Victor Polay Campos zu­sam­men mit anderen Häftlingen durch einen 300 m langen, von außen gegrabenen Tunnel aus dem Hoch­sicherheitsgefängnis von Lima; einer der spek­takulärsten Erfolge der MRTA in den 90er Jah­ren.
Während des Wahlkampfes um die Präsident­schaft 1990 verübte die MRTA unter anderem einen Anschlag auf Mario Vargas Llosa und seine Familie, den diese jedoch unbeschadet überstan­den.
Nachdem Fujimori die Wahlen von 1990 ge­wonnen hatte, verlangte die MRTA auf ihrem 3. Treffen des Zentralkomitees die Vereinigung al­ler progressiven Kräfte gegen eine Regierung, die “… nur die Interessen der großen Monopole und die des Imperialismus” vertritt. Sendero Lumi­noso hingegen bezeichnete die MRTA als kon­ter­re­volu­tionär, als zuwenig radikal, so wie alle Or­ga­nisa­tionen, die sich nicht Sendero unter­ordnen woll­ten.
Fujimori löste 1992 das Parlament auf, in dem die Opposition die Mehrheit hatte, setzte die Ver­fassung außer Kraft und räumte dem Militär mehr Freiraum ein. Unter dieser Anti-Terror-Politik nahmen die Anschläge seitens der MRTA 1993 bis 1995 stark ab, zudem wurde 1992 der Anfüh­rer der MRTA Victor Polay Campos wieder fest­ge­nom­men.
Polay Campos wurde zu lebenslanger Haft ver­urteilt. Nestor Cerpa Cartolini, der letzte noch in Freiheit befindliche Führer der MRTA, über­nimmt das Kommando. Er ist gegenwärtig der Anführer der Rebellen, die die Residenz des ja­panischen Botschafters besetzt halten.
Kathleen Newill

“Die Regierung Fujimori befindet sich mit dem Rücken an der Wand”

Warum hat das MRTA ausge­rechnet die japanische Bot­schaft ausgewählt?

Japan ist heute eine wirt­schaftliche Macht, die eine wichtige Rolle in der internatio­nalen Politik und besonders auch in Lateinamerika einnehmen will. … [Japan] betrachtet Fuji­mori als seine Speerspitze. In der Folge entstand ein Interessen­konflikt zwischen den USA und Japan in Peru. Daher hat Japan, um seine Stellung in Peru zu fe­stigen und auszubauen, auch den schmutzigen Krieg finanziert. Der japanischen Regierung war es auch gleichgültig, daß zwei japa­nische Ent­wicklungshelfer durch Paramilitärs ermordet wur­den. Sie ist tief verwickelt in die Unterstützung dieses mörde­rischen Regimes. Daher hat die Nationale Leitung der MRTA beschlossen, an der Stelle zuzu­schlagen, die der Diktatur die größten Schmerzen zubereiten würde.

Wird die Aktion in der Bot­schafterresidenz die Machtbasis Fujimoris konsolidieren, oder Spaltungen hervorrufen?

Die Regierung Fujimori be­findet sich mit dem Rücken an der Wand. Alle, die mit der Re­gierung zusammenarbeiten, Un­ternehmer, Politiker oder Mili­tärs, sind sich nun im klaren dar­über, daß ihre Integrität in Ge­fahr ist. Sollten sie einmal Kriegsgefan­gene der MRTA sein, wird diese Regierung nichts für ihr Leben tun.

Welche Größe hat die MRTA heute?

Zahlen kann ich aus Sicher­heitsgründen nicht nennen. Aber unsere Kräfte sind im gesamten Land präsent. Die MRTA ist auf verschiedenen Ebenen organi­siert. Es gibt Einheiten in ländli­chen Gebieten, Spezialeinheiten, Kommandos und Milizen. Ge­mäß unserer Vorstellung sind unsere Mitglieder auch vielfältig aktiv, in der Propaganda, als Gewerkschaftsaktivisten, in so­zialen Bewegungen und als Gue­rilla.

Die peruanische Regierung und besonders Präsident Fuji­mori hatten ihren Sieg über die Guerilla in Peru verkündet. Das entspricht ganz offensichtlich nicht der Wahrheit?!

Ja, die Regierung Fujimori hat sich als der große Sieger über die bewaffneten Bewegungen darge­stellt. Dabei haben besonders zwei Faktoren eine Rolle ge­spielt: erstens, daß Abimael Guzman einen Friedensvertrag mit der Regierung unterschrie­ben hat und zweitens der takti­sche Rückzug der MRTA. We­gen der großen militärischen Of­fensiven der peruanischen Ar­mee und der Repression der Be­völkerung, beschlossen wir den Großteil der politischen und mi­litärischen Strukturen auf die ländlichen Gebieten im Zentrum Perus, in der Selva Central, zu konzen­trie­ren. Im rest­lichen Land blieben nur Kommando- und Milizstrukturen, die eine in­tensive politische und organisa­torische Arbeit in Stadtteilen, mit Bauern und mit Arbeitern, durchführten. Das hat die Regie­rung zu der trügerischen Ein­schätzung geführt, daß die Gue­rillabewegungen, vor allem die MRTA, besiegt worden seien. Heute sieht sich die Regierung der Situation gegenüber, daß die MRTA nie so angeschlagen war, wie es der Staat glaubte. Das hat sich auch in der Anzahl von Ak­tionen des MRTA auf dem Land gezeigt, mit denen der Armee harte Schläge versetzt wurden. Die Regierung hat versucht, das zu vertuschen, aber es ist ihr nicht gelungen. Der Bevölkerung ist klar geworden, daß die Regie­rung die Guerilla nicht besiegt hat und daß die neoliberale Poli­tik nur noch mehr Armut verur­sacht. Seit Ende ’95 ist sie dabei langsam ihre Organisierungs- und Mo­bilisierungsfähigkeit wie­der zurückzuerobern.

Auch Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) soll sich in einigen Gegenden reorganisiert haben, militärisch aktiv sein und sogar seine Linie geändert haben.

Der Friedensvertrag hat zu ei­nem schwerwiegenden Spal­tungsprozeß innerhalb von Sen­dero geführt. Der Teil, der den bewaffneten Kampf fortsetzen will, hat Aktionen der bewaffne­ten Propaganda und Kontakt mit der Bevölkerung durchgeführt, wie sie Sendero bei der MRTA früher kritisiert hat. Aber trotz der scheinbaren Korrektur ihrer politischen Methoden, setzt Sen­dero auch seine traditionellen Methoden weiterhin ein. So etwa die Ermordung des Gewerk­schafters Pascual Arozado im März ’96. Die Angriffe auf alle, die sich ihnen entgegenstellen oder einfach nur nicht mit ihnen übereinstimmen, werden fortge­setzt. Es gibt innerhalb von Sen­dero Luminoso einen Kampf zwischen zwei Linien. Die eine will begangene Fehler korrigie­ren und sich auf die Seite der Revolution stellen, die andere will die Aktionen fortsetzen, die in der Praxis mit der Politik der Regierung übereinstimmen.

Wie ist das augenblickliche Verhältnis zwischen Sendero und der MRTA? In der Vergan­genheit soll es sogar Angriffe von Sendero auf die MRTA ge­geben haben.

Sendero ist eine sehr aus­schließende Kraft, sie sehen ihre Ideologie als die einzig Wahre an und empfinden sich als allei­nige Fahnenträger der peruani­schen Revolution. Daher haben sie auch nie die Existenz anderer revolutionärer Organisationen akzeptiert. Sendero hat uns häu­fig als Hauptfeind betrachtet und sogar Hinterhalte für MRTA-Einheiten gelegt und MRTA-Genossen brutal gefoltert. In Fall des MRTA-Comandante Carlos Arrango war ein ganzes Dorf Zeuge seiner Ermordung durch Sendero. Arrango hielt sich heimlich in einem Dorf auf, das von Sendero besetzt wurde. Als sie ihn als MRTA-Comandanten erkannten, folterten sie ihn erst brutal, rissen ihm die Augen, die Zunge und die Hoden raus, bevor er starb. Das sind Verbrechen, die in keiner Weise verstanden oder gerechtfertigt werden können und widersprechen dem Vorge­hen von Revolutionären.

Wie sind die Perspektiven für die MRTA?

Die MRTA ist als eine Bewe­gung entstanden. In ihr kommen verschiedene
soziale Sektoren des Landes zusammen: Frauen und Männer aus der Stadt und vom Land, Intellektuelle, Gläu­bige usw., die gesamte Gesell­schaft. Wir sind Kinder des Vol­kes, bestehen aufgrund des Vol­kes und vertreten seine Interes­sen. Natürlich verlangt die Transformation einer Gesell­schaft die Zerstörung des alten Staates und den Aufbau eines neuen. Das bedeutet, daß man die Macht übernehmen muß. Wenn du wirklich die Probleme der Bevölkerung lösen willst, mußt du den Staat zerstören und die Macht übernehmen. Aber sie muß dann in den Händen der Ar­beiter von Stadt und Land liegen. Es muß eine partizipative Demo­kratie geben, Mechanismen der Volksmacht müssen hervorge­bracht werden. Und das prakti­zieren wir seit Jahren.

… soll sie doch selbst etwas tun

Schwarze, Arbeiterin, Frau – das vielstrapazierte Schema der “dreifachen Unterdrückung” drängt sich auf, aber Schablonen haben im Erzählen von Delia Zamudio keinen Platz. Sie berichtet nicht nur von ihrer Rolle als Gewerkschaftlerin und Feministin, sondern erzählt von ihrer Kindheit, von alltäglicher Gewalt in der Familie und am Arbeitsplatz, sie spricht über ihre Beziehungen und über Versuche, sich weiterzubilden. Dabei wird ihre Schilderung nie eindimensional, und darin liegt die Stärke der kaum 100 Seiten umfassenden Autobiographie. Delia Zamudio zeichnet ein dichtes, vielschichtiges Bild von sich und ihrer Gesellschaft, sowohl, wenn sie von ihrem Privatleben erzählt, als auch in den Berichten vom politischen Engagement in Gewerkschaften und Frauenbewegung.
So spricht Delia Zamudio nicht nur von den Machos in der Gewerkschaftsspitze, sondern auch von den Schwierigkeiten, als schwarze Arbeiterin in der Frauenbewegung ihren Platz zu finden. Beim lateinamerikanischen Feministischen Treffen 1985 in Brasilien ist ein Workshop “Frau und Arbeit” nicht vorgesehen, beim nächsten Treffen 1987 wird sie von der peruanischen Delegation geschnitten, nachdem sie offen über Massaker in Peru gesprochen hat.
In den 80er Jahren fanden autobiographische Berichte aus Lateinamerika in der deutschen Linken große Verbreitung. Damals machte vor allem das Bedürfnis, “authentische Zeugnisse von den Unterdrückten” zu vernehmen, Bücher wie das von Domitila Chungara aus den bolivianischen Minen zu alternativen Bestsellern. Die deutsche Ausgabe von Delia Zamudios Buch trifft jetzt auf ein verändertes Publikum: Akzeptieren manche mit bemerkenswerter Leichtigkeit den Status Quo des Neoliberalismus in Lateinamerika, befinden sich andere verklärend-nostalgisch auf der Suche nach neuen Objekten für ihre vereinsamte Solidarität. Delia Zamudios Buch ernüchtert demgegenüber im positiven Sinne: Sie verklärt kein “Subjekt des Widerstandes”, aber sie erzählt vom politischen und privaten Alltag im real existierenden Kapitalismus in Peru, von Machtverhältnissen und von der Gewalt, die die ganze Gesellschaft durchzieht: ein Stück Realität eben.

Delia Zamudio: Frauenhaut – Eine Autobiographie, hg. von Katharina Müller und Reinhart Hoß. Neuer ISP-Verlag, Köln, ISBN 3-929008-29-7; Atlantik, Bremen, ISBN 3-926529-12-1; Oktober 1996, 144 S.

Die Gewerkschaften und der MERCOSUR

Der MERCOSUR birgt viele Ge­fahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Län­der. Der Druck der Welt­markt­kon­kurrenz veranlaßt die Re­gie­run­gen der MERCOSUR-Staa­ten, die nationale Wirt­schafts­po-litik maximal auf die Be­dürfnisse der inländischen Un­ternehmen aus­zurichten. Die In­teressen der ar-beitenden Be­völ­kerung fallen so wieder ein­mal unter den Tisch. Die Aus­gangs­situation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mit­gliedsstaaten von ho­her Arbeits­losigkeit betroffen. Schwarzar­beit und das Vorent­halten von So­zi­alleistungen ste­hen ebenso auf der Tagesord­nung wie un­sichere Arbeitsplätze und Ein­stellungen außerhalb der ta­rif­li­chen Bestimmungen und Ar­beits­gesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Ar­beitslosigkeit heute fast 20 Pro­zent. Die Regierung Menem hat mit Über­nahme liberaler Pro­gram­ma­tik die traditionelle Funktion der Peronisten, die so­zialen In­teressen der Bevöl­kerung zu ver­treten, aufgegeben. Große Be­völ­ker­ungsgruppen ver­fügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Ver­schlechterung ihrer Lebens­be­dingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft die­se Ent­wicklung zur Zeit noch im Zu­sammenspiel mit den ar­gen­ti­ni­schen Großunternehme­rIn­nen. So unterstützt die Regie­rung das von UnternehmerInnen­seite ge­for­derte Arbeitsflexibili­sie­rungs­pa­ket. Inhalt ist die Auf­hebung von flächendeckenden Tarifver­hand­lun­gen und -verträgen. Diese sollen zu­künf­tig in­ner­halb einzelner Un­ternehmen ge­führt werden. Zu­dem werden die Entschädigungs­re­gelungen bei Ent­lassungen mo­difiziert. Die Verwirklichung des MER­CO­SUR ist Teil der neo­liberalen Wen­de der Regie­rung Me­nems, die insbesondere auch mit um­fas­senden Privatisie­run­gen ar­gen­tinischer Staatsun­ter­nehmen einhergeht. So ent­stan­den in den letzten Jahren neue privat­wirt­schaftliche Mo­nopol- und Oligo­pol­gruppen, die häufig mit aus­län­dischen Unter­nehmen ver­floch­ten sind. Diese Gruppen pro­fi­tieren in erster Li­nie von der Au­ßenöffnungspoli­tik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzu­pas­sen.
Für den MERCOSUR insge­samt gilt, daß durch die unter­schiedlichen Lohnniveaus der Mit­gliedsländer (zum Beispiel lag der Mindest­lohn in Argen­tinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Stand­ort­verla­ge­rungen und Sozial­dump­ing zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte Wander­ar­beitneh­merInnen nicht nur aus den Mit­gliedsstaaten kommen, son­dern auch aus den Anrainer­staaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozi­alabkommen in Sicht. Auch die Ar­beit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spie­len. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offi­zielle Arbeitsmarkt keine Per­spektive und da­mit keine Existenzgrund­la­ge mehr bietet. Diese Ent­wick­lung wird durch die wachsende Konkurrenz zwi­schen den Un­ter­neh­men noch verschärft. Ent­las­sungswellen und Betriebs­schlie­ßungen bezie­hungsweise -ver­le­gun­gen sind als Folge dieser Markt­konstellation absehbar.

Gegenmacht durch Gewerkschaften?

Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach ge­sellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argenti­nien sind eine der gesellschaftli­chen Gruppen, die überhaupt Stel­lung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MER­CO­SUR-Projektes genommen ha­ben. Indes sind die wirtschaft­li­chen und politischen Bedin­gun­gen, die den argentinischen Syn­dikalismus entstehen ließen, im Lau­fe der Zeit fast vollstän­dig ver­schwunden.
Das grundlegende Modell der Ge­werk­schaftsbewegung ent­stand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Den­ken und Handeln nach euro­pä­ischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerk­schaf­ten, die sich in großen Dach­verbänden zusammen­schlossen.
Die Einflußnahme der Ge­werk­schaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höhe­ren Löh­nen und sozialen Absi­cherungen nieder. Und das in ei­nem wirt­schaftlichen Sze­nario, in dem die Löhne mit ihrer Wir­kung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Ent­wick­lungsfak­tor erachtet wur­den, da sie, inmitten einer binnenmarkt­orien­tierten Öko­nomie, in die “eigenen” Unternehmen zurück­flos­sen. Zu­sätzlich zeichnete sich Ar­gen­tinien bis in die sieb­ziger Jahre infolge wachsender Indu­stria­lisierung durch eine sehr ge­ringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerk­schafts­bewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine star­ke und mächtige institutio­nelle Funktion. Trotz der Staats­streiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wieder­holten Zeiten der Repression hat die­se vom Peronismus geschaf­fene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehn­ten hat sich die politische und wirt­schaftliche Landschaft im Co­no Sur verändert. Nicht zu­letzt die Schaffung des MER­COSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öff­nung ih­rer Ökono­mien für ausländ­ische Produkte und ausländ­isches Ka­pital an­streben. Die Löhne wer­den nun nur noch als Kosten­faktor gese­hen, die Bedeutung als Nachfra­ge­faktor wird ver­nachlässigt. Die so­zialen Kosten der Wirtschafts­politik der Regie­rung Menem sind enorm: Die Reallöhne in In­dustrie und Bau­gewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Pro­zent gefallen. Der Wohlfahrts­staat wurde de­mon­tiert: Schul­bil­dung und die Gesundheitsver­sor­gung sind für gro­ße Bevölke­rungsschichten un­erschwinglich ge­worden. Kein Wun­der, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens bezie­hen.
Infolge dem Schrum­p­fen der Produktions­sek­to­ren in den letz­ten Jahr­zehnten, verkleinerte sich die Klasse der In­dustriearbeiterIn­nen, die in ab­soluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Ar­gentiniens immer weniger Be­deutung hat.
In Argentinien war in den letz­ten 40 Jahren der Dachver­band CGT ohne Konkurrenz und pfleg­te immer sehr enge Bezie­hungen mit den Regierungen. Jahr­zehntelang galt der argenti­nische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonfor­men, kooperativistischen, par­tei­ab­hängigen Gewerk­schafts­mo­dells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offi­zielle Gewerkschafts­verbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Ar­gentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumin­dest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Kon­zept der Interessengruppen­ver­tre­tung, in­dem sie sogenannte In­dividualmitglieder, zum Bei­spiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT ver­steht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nati­onaler Ebene und dutzend­weise Un­ter­gliederungen im Landesin­nern.
Bis in die 80er Jahre organi­sierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordi­na­do­ra de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Ge­werk­schaftsver­bände Argen­tini­ens, Boliviens, Brasiliens, Chi­les, Paraguays und Uruguays um­faßt.
Im Hinblick auf die zu er­wartenden sozialen Folgen ver­ur­sachte der MERCOSUR große Ver­unsicherung: Welche Ar­beits­markteffekte, welche Loh­n­entwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungs­schichten ver­ändern? In Argenti­nien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Ka­pi­tal­gü­terindustrie durch den MER­COSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich An­fang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Aus­gleich struktureller Ungleichge­wich­te,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als Haupt­vertreterInnen in den MER­COSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtli­chen Bestimmungen aller Länder an das internationale Ar­beits­recht, sprich die Normen der In­ter­na­tionalen Arbeits­orga­ni­sa-tion ILO. Angestrebt wird eine So­zi­alcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaft­li­che Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und In­formationsstandes über den MER­COSUR.
Entweder gehen diese Aussa­gen und Forderungen an den ge­sell­schaftlichen Problemen vor­bei oder sie sind so allgemein ge­halten, daß die Gewerkschaf­ten keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MER­CO­SUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurück­zu­führen, daß die Schnelligkeit des Integrati­onsprozesses die ver­schie­denen Gewerkschafts­ver­bän­de über­rascht und deshalb über­fordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS be­stand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kur­zem und verfügte über keine kon­kreten gemeinsamen Hand­lungs­strategien. Bis heute be­wah­ren die Gewerkschaftsver­bän­de ihre nationale Ausrich­tung.
Entscheidend für die Schwä­che der Gewerkschaften ist au­ßerdem, daß sie unter fehlender An­erkennung in der Bevölke­rung leiden. Im Falle Argentini­ens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dach­ver­bandes, der in der CCSCS or­ganisiert ist, Korruption, unde­mokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteres­sen vorgeworfen.

Unkoordinierte Proteste

Im Zusammenspiel mit dem Ver­sagen traditioneller Gewerk­schafts- strategien scheinen ange­sichts des freien Spiels der Markt­kräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außen­öffnung kaum erfolgreiche Kon­zepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäf­tigung im Informellen Sektor so­wie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerk­schaf­ten zunehmend zu ständi­schen Ver­tretungen immer klei­ner wer­dender Interessensgruppen wer­den.
Die Angst der Bevölkerung in Ar­gentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares gewor­den.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unterneh­mens­interessen nur sehr schwa­chen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ge­werk­schaftsmitglieder eine mo­bili­sierbare Basis, wie sich unter an­derem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den So­zi­al­abbau gezeigt hat. Aufse­hen hat auch die einige Minuten dau­ernde “Dunkelheit” in Bue­nos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Pro­testmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unko­ordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuel­len Aktionen. Schon in den Zei­ten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Un­ruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plün­derungen von Supermärkten mün­deten. Diese Form von Pro­test wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentini­schen Hauptstadt plünderten. Ei­ne Protestaktion, die durch die An­kündigung erneuter Kündi­gungs­wellen und Rentenkürzun­gen durch Präsident Menem aus­gelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht al­so Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR auf­grund seiner Durchsetzung “von o­ben” nur ver­schärft werden kön­nen. Ein neu­er Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, kön­nte bei den (gewerkschaftlich ori­entierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Ar­gen­tinien ge­bildet haben und die ein ständi­sches Interessenver­tre­tungs­konzept abzulehnen be­ginnen.

KASTEN

MERCOSUR

Anders als frühere Integrati­onsprojekte in La­tein­amerika, die hauptsächlich auf den Ab­schluß ei­ner Freihandelszone ab­zielten, ist der MER­CO­SUR aus­drücklich nicht als Instrument eines de­fen­siven Regionalismus kon­zipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Para­guay und Uruguay in As­un­c­ión, Paraguay, den Vertrag, der den MER­CO­SUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR soll­te die suk­zes­sive ökonomi­sche Integration der beteiligten Staa­ten über die Etap­pen Frei­han­dels­zone, ge­mein­same Zollunion und ge­mein­sa­mer Markt sein. Mit dem Ver­trag von Asunción ent­stand ab dem 1. Januar 1996 der Bin­nen­markt für den freien Waren-, Diens­tleistungs- und Ka­pi­tal­ver­kehr. Jedoch offe­riert der Ver­trag jedem Land ei­ne Schutzklausel, um zeit­wei­lig Im­portquoten für bestimmte Güter fest­zu­setzen, falls eine Branche durch den drastischen An­stieg der Einfuhren aus ande­ren Mit­gliedsländern schwere Schä­den bei Produktion und Be­schäftigung erleiden würde. Da­mit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MER­CO­SUR-Mitgliedsländer Rech­nung ge­tragen wer­den: An dem gemeinsamen Bruttoinlandspro­dukt im Entstehungsjahr hat Bra­silien einen An­teil von fast 80 Pro­zent, Ar­gentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unter­schiedlich strukturierte Volks­wirt­schaften treffen aufeinan­der: Während Kapital­gü­ter und lang­lebige Kon­sumgüter vor al­lem aus Bra­silien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Le­bens­mittel aus Argen­tinien kommen, sind Para­gu­ay und Uruguay über­wiegend Rohstoffexpor­teu­re. Die Parlamente al­ler vier Mitgliedsstaaten ha­ben den TRATADO DE ASUNCION in­ner­halb von acht Monaten nach seiner Unter­zeich­nung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft tre­ten konnte. Seit diesem Zeit­punkt haben die Ins­titutionen des MER­COSUR ihre Arbeit aufge­nom­men. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Ge­meinsamen Marktes” CMC. Exe­ku­tiv­organ ist die “Gruppe des Gemeinsamen Mark­tes” GMC. Die Bearbeitung “fach­lich-tech­ni­scher” Aspekte des In­tegrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf ver­schie­den­en Arbeits­gruppen statt. Diese AGs erar­beiten Vor­schläge, welche für die GMC jedoch nur Empfeh­lungs­charakter haben. Nur in der 11. Ar­beits­gruppe (“Arbeitsbezieh­ung­en, Beschäf­ti­gung, Soziale Si­cherheit”), die den ab­surden An­schein erweckt, daß diese An­ge­legenheiten un­ab-hän­gig von den 10 Fachge­bieten (wie zum Bei-spiel Land­wirtschaft und Steuerpolitik) be­trachtet werden könnten, haben die Gewerk­schafts­ver­bän­de ein formelles Rede- und Vorschlags­recht. Als fünf­tes Land des ame­rikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MER­COSUR beige­treten. Da­durch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaf­fen. Außer­dem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbe­reitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Ge­gensatz zu früheren wirt­schaftlichen Inte­gra­tions­pro­jek­ten in Latein­amerika die Ziel­setzung sich nicht nur auf Zoll­präferenzen beschränkt, son­dern auch die politi­schen Gren­zen am Schluß überflüssig ge­worden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Je­doch hat – weder im voraus noch innerhalb des ge­schaf­fenen Institutionen­gebäudes – eine Kon-sul­tierung gesell­schaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensfüh­run­gen stattgefunden. Die Schaf­fung ei­nes gemeinsamen Gremi­ums, wie zum Beispiel ein ge­meinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion ein­neh­men könn­te, ist auch länger­fristig für den MER­COSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die süd­amerikanische Ant­wort auf die weltweite kapitali­stische Dynamik, in der sich zur Zeit re­gionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die natio­nalen Unternehmen für den in­ternationalen Wettbewerb stär­ken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähi­ger kosten­sen­ken­der Produkti­onskonzepte. Besonders großen An­reiz bietet die neue Freihan­delszone den mul­ti­na­ti­onalen Kon­zernen. Diese können nun ihre Pro­duktionen zentralisieren und dabei den kos­tengünstigten Standort wählen. Innerhalb der welt­weiten kapitalistischen Ar­beitsteilung kommt dem MER­COSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf stei­gende Exporte in die Indu­strienationen an­ge­wiesen. Sie er­füllen die Funktion eines “Hin­ter­hofes”, in denen die Multis profitabler pro­duzieren kön­nen. Der MERCOSUR, des­sen Mit­gliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen tra­di­ti­onell stark mit den USA verflochten sind, be­deutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Da­raus erklärt sich auch die sehr wach­same Hal­tung der Europäischen Union, die schon erste Ver­handlungen mit MERCOSUR-Ver­tre­terInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MER­COSUR-EUROPÄISCHE UN­ION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Ab­satz­markt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen wer­den.

Scheitern in der Autowerkstatt

“Bis vor die Tür des Lebens” habe sie das “verführerische Monster seines Schreibens” ge­trieben, beschreibt es Viviane Steiner. Die chilenische Schau­spielerin und Theater-Regisseu­rin hat in diesem Herbst in San­tiago Heiner Müllers Werk “Medea Material” inszeniert. In der Estación Mapocho wurde die Bühne in die Mitte des Saales verlegt, auf der verschiedene Szenen simultan gespielt wur­den. Die Zuschauer saßen auf drei verschiedenen Niveaus. Eher klassisch war hingegen die Inszenierung von “Quartett” durch Rodrigo Pérez in der Co­media. Zwei der renom­miertesten Schauspieler des Landes ließ der junge Regisseur als Haß-Liebes-Paar gegenein­ander antreten, voller Pathos und in üppig-historischen Kostümen. Und dann war da noch der Berli­ner Theater-Regisseur Alexander Stillmark, der zur gleichen Zeit eigens nach Chile gekommen war, um mit dem chilenischen Teatro La Memoria den “Auftrag” zu inszenieren. Auf einer leeren Bühne, auf der die ganz in weiß gekleideten Schau­spieler noch von den an die Wand projizierten Lichtbildern überlagert wurden.
Warum diese Heiner-Müller-Euphorie? Darüber machten sich bei einem Seminar des Goethe-Instituts in Santiago Ende No­vember Theaterleute aus ganz Lateinamerika Gedanken. Mül­lers Werk besteht aus Fragmen­ten – und das scheint ihn interna­tional so interessant zu machen. Revolution, Gewalt, Unterdrük­kung, das gibt es auf der ganzen Welt, und Müllers Texte lassen den Interpretierenden genug Luft, das Werk mit ihren ganz eigenen Erfahrungen auszuklei­den. In Lateinamerika gilt Heiner Müller keineswegs als einer, der sich an deutsch-deutschen oder europäischen Konflikten festge­bissen hat. Vielmehr reizen hier­zulande die Metaphern des Deut­schen, die Platz für die latein­amerikanische Wirklichkeit schaffen. Müller behandelt das Thema eines Landes, seines Landes, aber wie er es be­schreibt, gilt es für alle Länder.

“Hamletmaschine” in Ecuador

“Europäisches Theater mit Platzangebot”, so bezeichnet es der Berliner Literaturprofessor Frank Hörngk. Müllers Werke lassen sich nicht einfach spielen, sie müssen erkämpft werden. Sie müssen in Amerika wiederge­funden werden. So berichtet der argentinische Theaterregisseur Luis Fernando Lobo, wie er sich mit seiner Truppe im Argenti­nien des Jahres 1994, bei stünd­lich steigender Inflation, auf die Suche nach einem Raum des Scheiterns und der Niederlage gemacht hat. Ein Raum, in dem “Der Auftrag” sich entfalten konnte. Sie fanden ihn schließ­lich am Rande von Buenos Aires in einer Autowerkstatt, in die seit Monaten kein Auto mehr ge­bracht wurde. Von dieser Wirk­lichkeit ausgehend, so Lobo, ge­lang es ihnen dann, Zugang zu Heiner Müller zu finden.
Ende der 80er Jahre wurde Heiner Müller das erste Mal in Argentinien aufgeführt. Danach tauchten seine Stücke immer wieder auf den Spielplänen der kleineren Theater auf. Die Schauspieler hatten Gefallen an der Herausforderung gefunden. Das Publikum tat sich etwas schwerer, war es doch an leich­tere Kost gewöhnt. So wurde “Hamletmaschine” im Jahre 1991 in Quito ein großer Rein­fall, 1995 gab es in Ecuador einen neuen Heiner Müller-Ver­such mit “Der Auftrag” – diesmal mit Erfolg. Das Land befand sich mitten in einer schweren Krise, ein Minister nach dem anderen strauchelte im korrupten Regie­rungssystem, die Erdölarbeiter verharrten im Hungerstreik. Eine kaputte Welt, wie von Müller skizziert. In Quito hing in dieser Zeit ein Hauch von Revolution in der Luft, in der der Aufschrei “Unsere Hure, die Freiheit” (“Der Auftrag”) nicht ungehört verhallte.
Die Gewalt und der Kampf gegen die Unterdrückung, the­matisiert in Müllers Werken, ist in Chile auch sieben Jahre nach dem Ende des Pinochet-Regimes noch präsent. Mit seinen Szena­rien von Leere, Hoffnungs- und Ratlosigkeit trifft der deutsche Autor genau den Nerv der Zeit. Viele, die über Jahrzehnte gegen die Diktatur gekämpft haben, hat die Demokratisierung des Lan­des 1990 in eine Orientierungs­losigkeit fallen lassen. Zufrieden sind sie mit den Zuständen kei­neswegs, doch wie schwer fällt es, den Kampf, nachdem das Ziel doch eigentlich erreicht sein müßte, wieder aufzunehmen.
Die Dritte Welt hat bei Mül­ler, ähnlich wie bei Brecht, die Funktion, die europäische Tradi­tion in Frage zu stellen, meint der Berliner Regisseur Alexan­der Stillmark. Drei ganz unter­schiedliche Personen finden sich im “Auftrag” in Jamaica zur Sklavenbefreiung zusammen. Zur Zeit der französischen Re­volution, den Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit noch im Ohr, sehen sie sich vor die konkrete Frage gestellt: Sind wir denn gleich? Die Dritte Welt, das ist bei Müller gleichzeitig Auf­bruch und Zurücknahme, das Aufgeben einer Hoffnung. So geht es in “Der Auftrag” um den Aufstand in der Dritten Welt, um die “Schwarze Revolution”. Der schwarze Sasportas ist der neue Hoffnungsträger der Geschichte – und kommt schließlich um.
Jeder kann nach Meinung von Stillmark zum Sklaven Sasportas in “Der Auftrag” werden – weit über die soziale Metapher hinaus einfach aus dem Gefühl heraus, mißachtet zu werden. Sasportas ist der, der bis zuletzt an die große Revolution als Allheil­mittel, als Utopie glaubt und schließlich dafür stirbt. Daneben Debussant, der mitten im Stück die Bühne verläßt, weil er keinen Weg mehr sieht, der individuell konsequent bleibt. Und schließ­lich Galudec, der seinen revolu­tionären Auftrag zurückgibt. Für Hörngk ist das Müllers allge­meines revolutionäres Ver­mächtnis: Die Bitte zur Entlas­sung aus dem Auftrag. “Der Auftrag”, Mitte der 70er Jahre geschrieben, beschreibt die Selbstverleugnung des Individu­ums in der Revolution. Aber dann ist gerade das Abnehmen der Maske, das Gesicht-Zeigen in Zeiten der Niederlage die ein­zige Alternative zum Verrat.
Als Lichtbilder im Hinter­grund der Inszenierung hat Stillmark Impressionen aus Chambuco gewählt, Eindrücke aus der öden, harten und verlas­senen Salpeterwüste. Daneben Momentaufnahmen von der Bombardierung der Moneda in Santiago, deutsche KZ-Häft­linge, zerstörte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, das Stadion in Santiago nach dem Putsch, die Totenmaske Ul­rike Meinhofs. “Müller stellt uns alle vor die gleiche Barbarei”, beschreibt es ein Seminarteil­nehmer. Und dennoch gibt es un­terschiedliche Arten, damit um­zu­gehen. Müller hat dafür den Humor, die Ironie.

Aufzug nach Peru

Da steht ein Mann im Fahr­stuhl, ein Büroangestellter, die Aktentasche fest an die gerade zurechtgerückte Krawatte ge­drückt. Auf dem Weg zum Chef. Stolz, gleich einen wichtigen Auftrag zu bekommen. Verzwei­felt, weil ihm plötzlich, ir­gendwo zwischen dem vierten und zwanzigsten Stock, die Zeit wegrennt und seine Mission, noch bevor sie begonnen hat, scheitert. Daß weniger als fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit zu erscheinen schon beinahe die totale Niederlage bedeutet, wie soll man das in einem süd­amerikanischen Land vermit­teln?
Stillmark läßt in seiner Insze­nierung den Deutschen Deutsch sprechen und setzt einen Über­setzer daneben – der angesichts dieser nicht nachvollziehbaren Ängste seine professionelle Ge­lassenheit verliert und auch mal fragend die Stimme hebt. Schließlich landet der Ange­stellte statt beim Chef mit sei­nem Aufzug irgendwo in Peru, sein Auftrag ist passé, doch das Publikum hat sich köstlich amü­siert.
Das Scheitern, das sich in Heiner Müllers Texten wider­spiegelt, ist das Scheitern einer europäischen Linken, die von ei­ner sozialistischen Emanzipation geträumt hatte. Den Glauben an die Revolution hatte Müller al­lerdings schon lange verloren, im ungarischen Herbst 1956. Der späte Müller hat denn auch noch die letzte Hoffnung aufgegeben. Findet sich in den frühen Texten immmer noch ein Moment der Perspektive, eine mögliche Lö­sung, so zeichnet die späten Werke das verlorengegangene Vertrauen in Veränderbarkeit und auch eine Ratlosigkeit aus. “Verdammt noch mal, der wußte nichts mehr!”, so Hörngk. Der letzte Traumtext, Oktober 1995, beschreibt einen hilflosen Heiner Müller im Betonloch, hoch über ihm die kleine Tochter, die noch nicht hineingefallen ist.
Das ist die Hoffnung, die Müller bleibt- die Hoffnung auf die Nachwelt. Eine Aufforderung weiterzumachen, sich stets aufs Neue – nicht nur in Deutschland – an seinen Texten zu reiben. Und sie in aktuelle Kontexte zu stel­len, ohne dabei europäisch sein zu wollen. “Müller zu spielen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat an Müller”, mahnte der Berliner Literaturprofessor und Freund Heiner Müllers die jungen Schauspieler in Chile.

Brecht plus Artaud

Herr Pérez, Sie sind Chilene und haben “Quartett” von Heiner Müller in Santiago de Chile inszeniert. Wie sind Sie auf Heiner Müller gekommen?

Ich habe Heiner Müller in Deutschland kennen­gelernt, und auch seine Texte, die mir ungeheuer interessant und auch beunruhigend erschienen. Und gleichzeitig auch unheimlich komplex.

Warum haben Sie dann aus der Vielzahl von Müllers Stücken gerade “Quartett” ausgewählt?

Ich hatte vorher keinerlei Zugang zu Müllers Texten, da sie in deutscher Sprache erschienen. Der erste Text, der sich mir schließlich erschlossen hat, war “Quartett”. So kam mir die Idee, eine Ver­sion hiervon in Chile zu inszenieren, denn soweit mir bekannt war, war bisher von Müller nichts in Chile aufgeführt worden. Dabei ist Müller einer der Großen, wenn nicht der Große dieses Jahrhun­derts, nicht nur im Hinblick auf die Dramaturgie in Deutschland, sondern weltweit. “Quartett” reizte mich auch, weil der Text nicht ganz so fragmenta­risch ist. Deshalb schien er mir ideal, um mit dem Autor hier in Chile zu beginnen. Weil Heiner Müller eben komplex ist – und wunderbar.

Komplex, fragmentarisch… ist es schwierig, einen solchen Autor in Chile einzuführen?

Ich glaube nicht. Ich denke, daß die Schwierig­keit eher im Ideentheater als solchen liegt, nicht nur in Chile, sondern in ganz Lateinamerika. Es geht darum, den Leuten eine andere Sprache nahe­zubringen, die Fähigkeit, neue, ungewohnte Ideen zu denken. Und diese Funktion erfüllt “Quartett” für mich. Ich weiß nicht, ob es einfach oder schwierig ist, glaube aber, es war wichtig, hier einen Weg zu öffnen, und wenn er einmal offen ist, in dieser Richtung weiterzugehen.

Sie bezeichnen Heiner Müller als einen der Großen des Jahrhunderts. Warum?

Ich weiß, daß ich ein wenig übertreibe – nun gut, ich bin Lateinamerikaner. Ich denke, er ist ei­ner, dem es gelingt, zu vereinigen. Und das ist für mich das wichtigste am Ende eines Jahrhunderts, das von sehr großen Schrecken geprägt ist. Ein Jahrhundert, in dem Menschen brutal ihre Herr­schaft über andere Menschen ausüben. Ein Jahr­hundert, in dem einem Menschen brutal durch die Hand eines anderen Menschen das Leben genommen wird. Und am Ende eines solchen Jahr­hunderts ist es Müller meiner Meinung nach ge­lungen, die beiden wichtigsten Strömungen des Theaters zu vereinen. Das sind Brecht und Artaud – Verstand und Leidenschaft. Und in diesem Sinne ist es ihm gelungen, über das Bisherige hinauszu­gehen.

Das Werk Heiner Müllers ist demnach also kein sehr deutsches Werk, das nur in Deutsch­land verstanden wird?

Heiner Müllers Ursprung ist ein Land, das mei­ner Meinung nach die realgewordenen Ängste die­ses Jahrhunderts in Europa konzentriert. Dort wur­den die Greueltaten des Jahrhunderts verübt, un­glaublich Schreckliches, das natürlich genausogut auch an einem anderen Ort stattfinden könnte. Ich meine damit, die Menschheit sucht sich einen Ort, an dem diese Schreckensängste Wirklichkeit wer­den, und dies geschah eben in Deutschland. Jen­seits von der konkreten politischen Lage dort. Und das macht diesen Schrecken wieder universal.

Sie waren eine Zeitlang in Deutschland. Macht es das für Sie einfacher, das Werk von Heiner Müller zu verstehen? Aufgrund der Tatsache, daß Sie Deutschland, das deutsche Theater kennen?

Mehr als die Kenntnis des Theaters ist es die Kenntnis der Straßen. Das Kennenlernen einer Stadt wie Berlin – mit wie auch ohne Mauer. In die S-Bahn einsteigen und “auf der anderen Seite” wieder aussteigen. Friedrichstraße – das ist eine andere Welt, das ist “der Osten”. Da liegt dieser Schrecken aus den Werken Heiner Müllers spürbar in der Luft.

Nochmal zu “Quartett”. Heiner Müller hat die Szene in einen Bunker nach dem Dritten Welt­krieg verlegt, aber das klingt in Ihrer Inszenie­rung nur ganz sacht an.

Der Krieg hier tritt nicht so unmittelbar in Er­scheinung wie der europäische Krieg – ein Krieg im eigenen Haus. Heiner Müller sagte selbst, daß sein Werk absolut von dem Ort abhängt, an dem es inszeniert wird. Also vom sozialen, kulturellen und politischen Kontext, in dem das Werk gespielt wird. Aus meiner Sicht, als Chilene, denke ich, daß der von mir gewählte Ort der Handlung der rich­tige ist, um das Stück in dieser Kultur aufzuführen. Alles andere wäre europäisch: Mitten im Schutt und Valmont mit einem Hakenkreuz. Aber das ist nicht hier, das ist nicht Chile.

Zu Ihrer Inszenierung gibt es die Kritik, sie re­duziere das Werk auf eine Liebesbeziehung. Was sagen Sie dazu?

Neben dem gerade genannten politischen Ele­ment gibt es noch ein zweites, mit dem ich diese Idee des verliebten Paares grundsätzlich aufbre­chen wollte: Die Besetzung. Alfredo Castro und Delfina Guzman sind zwei große chilenische Schauspieler aus zwei unterschiedlichen Genera­tionen (ich gehöre bereits der nächsten an), die meiner Auffassung nach die wichtigsten in der Ge­schichte dieses Landes sind. Mittels der zwei kämpferischen Persönlichkeiten, die diese beiden Schauspieler verkörpern, prallen zwei Strömungen aufeinander, die sich in Chile anscheinend nicht versöhnen ließen. Und hier ist der politische Kommentar. Wer sind diese beiden, die sich da einander stellen, die sich nicht verstecken, die sich gegenübertreten mit ihrer unterschiedlichen Art, Theater zu spielen? Das ist eine Reflexion über das Theater innerhalb des Theaters.

Die beiden Schauspieler waren zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne?

Richtig. Und niemand hätte erwartet, diese bei­den jemals zusammen in einem Stück zu sehen, denn sie vertreten zwei entgegengesetzte Strömun­gen.

Sie sind selbst auch Darsteller in La Misión (“Der Auftrag”), einem anderen Stück von Hei­ner Müller, das hier in Santiago mit dem deut­schen Regisseur Alexander Stillmark inszeniert wurde. Wie sind Ihre Erfahrungen mit dieser chilenisch-deutschen Zusammenarbeit?

Ich glaube nicht groß an Unterschiede zwischen deutschem und chilenischem Theater. Ich glaube, es gibt Regisseure und Schauspieler. Es war für mich die Arbeit mit einem neuen Regisseur. Dabei ging es besonders um die Beziehung, die der Schauspieler zum Text hat, nicht der Schauspieler zur Person.

In La Misión spielen sie den Mann im Aufzug. Diese Überpünktlichkeit, dieses Duckmäuseri­sche mutet “typisch deutsch” an. Ist es Ihnen schwergefallen, diesen Büroangestellten zu spie­len?

Mehr noch als in Personen versetzt man sich in Situationen. Und diese Situation lebt von der Iro­nie, die ich auch gemeinsam mit Alexander ent­deckt habe. Der Kommentar zu unserem Theater in Chile ist immer, daß wir zuviel weinen. Das stimmt, wir weinen viel, ihr in Deutschland weint weniger. Ihr seid dem Schrecken näher als dem Schmerz. Wir sind dem Schmerz näher. Wir hatten hier in Chile unseren eigenen Krieg, einen bewuß­ten Krieg mit viel Idealismus. Aber in Deutschland nicht. Dort fielen die Bomben in die Häuser, und Du mußtest fliehen, um nicht zu verbrennen. Es gab kein Zurück, das war das Schreckliche. Die Beziehung zu Schmerz und Schrecken ist also eine unterschiedliche. Diese Erkenntnis hat mir sehr für die Szene im Aufzug geholfen. Ich habe gelernt, daß man einen Text auch über die Ironie erreichen kann und nicht unbedingt durch Schmerz.

Und die Idee, diese Szene in deutsch zu spielen und einen Übersetzer daneben zu setzen? Diesen Ausländer, der so absurde Gedankengänge über­setzen muß?

Die Ironie verdoppelt sich. Zusätzlich verstärkt sie sich noch, wenn ich, mit dunkler Hautfarbe, ab­solut ein Lateinamerikaner, sage: Ich, Europäer. Ich blicke ein bißchen von oben herab auf Peru, aber gleichzeitig bin ich Peru. Da wird vieles ver­dreht. Die Idee ist, die Dinge auf den Kopf zu stellen: Durch eine Tür eintreten und durch eine andere wieder zurückzukehren. Meiner Meinung nach ist dies die Basis für das, was Ironie im Theater sein könnte: Sich durch Humor vom Text distanzieren, damit sich der Text verständlich ma­chen kann.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Auf dem Weg in die Zivilgesellschaft

Anders als seine Nachbarn Guatemala, El Salvador und Nicaragua hat Honduras in den achtziger Jahren keinen Bürgerkrieg durchlitten. Nach Zehn- oder Hunderttausenden zählende Ermordete, Verschwundene oder Flüchtlinge blieben diesem Land damit erspart. Dennoch konnte von funktionierender Demokratie keine Rede sein, und mit der Einhaltung der Menschenrechte nahmen es Militär und Polizei nicht ernster als anderswo.
Honduras lag aus Sicht der USA strategisch ideal, um von dort in die Konflikte in Nicaragua und El Salvador einzugreifen. Das Land nahm im Konzept der Nationalen Sicherheit, das die Reagan-Administration in Zentralamerika durchzuführen versuchte, einen wichtigen Platz ein. Die honduranischen “Sicherheitskräfte” standen dabei in direktem Auftrag der nordamerikanischen Kollegen und setzten deren Vorgaben um. Damit war klar: Jede Opposition, die die Legitimität des Militärs in Frage stellte und es einer zivilen Macht untergeordnet sehen wollte, wurde rücksichtslos bekämpft. Politische Gegner, vor allem aus der Linken, verschwinden zu lassen, zu foltern und/oder zu ermorden, gehörte daher auch in Honduras zur Tagesordnung.
Die Aufarbeitung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch Militärs ist dem Engagement einzelner Gruppen und Personen zu verdanken und hat juristisch und, was für die honduranische Gesellschaft insgesamt vielleicht noch wichtiger ist, moralisch einige bemerkenswerte Konsequenzen nach sich gezogen. Aufsehenerregend war, daß das unabhängige honduranische Menschenrechtskomitee Codeh unter seinem Leiter Ramón Custodio 1988 beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof einen Prozeß gegen das Land Honduras wegen Entführung und Ermordung zweier Personen in Gang brachte – und Honduras tatsächlich verurteilt wurde. Es war das erste Mal, daß vor diesm Gericht ein Land wegen Menschenrechtsverletzungen der Armee für schuldig befunden wurde. Das Urteil, in dem Honduras zur Bestrafung der Täter und zur finanziellen Entschädigung der Opfer verpflichtet wurde, blieb zwar in der Praxis weitgehend wirkungslos. Auf die Verfolgung der Täter wurde stillschweigend verzichtet, und die festgesetzte Entschädigungssumme brauchte nach einer Geldentwertung nur teilweise gezahlt zu werden. Insofern ist zu Euphorie kein Anlaß. Aber dieses Urteil war erst der Anfang.
Leo Valladares und sein Büro hatten ganze Arbeit geleistet. Der 1992 ins Amt berufene Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung legte im Dezember 1993 einen tausendseitigen Bericht vor, in dem belegt wurde, daß zwischen 1979 und 1989 184 Menschen “verschwanden”. Der Impuls, der von diesem Bericht ausging, war enorm. Daß er nicht von oppositioneller Seite kam, sondern vom Beauftragten der Regierung selbst, erhöhte die Chance, mit dem Bericht Druck auf die Justiz und das Militär ausüben zu können. Und er war und ist Grundlage für die tatsächliche strafrechtliche Verfolgung der Täter.

Tausend Seiten Aufklärung

Der Codeh, das unabhängige Menschenrechtsbüro unter Ramón Custodio, hat den Bericht von Valladares als einen Anfang anerkannt – und dokumentiert seinerseits 140 Fälle von “Verschwundenen”, die auf das Konto des inzwischen aufgelösten Sonderbataillons 3-16 der Armee gehen. Die Verbrechen, wegen derer Honduras 1988 angeklagt wurde, sind zwei dieser 140 gewesen.
Ohne daß von Regierungsseite Bereitschaft signalisiert worden wäre, irgendwelche Untersuchungen und Verfahren gegen Militärs zuzulassen, wäre der Aufklärungsprozeß insgesamt allerdings kaum denkbar und noch viel weniger politisch machbar gewesen. Insofern war es ein Glücksfall, daß Carlos Roberto Reina Anfang 1994 sein Amt antrat. Reina war vorher am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig und hatte für seine Präsidentschaft eine “moralische Revolution” versprochen. Er brachte jene notwendige Bereitschaft mit und hat sich in den bereits angestoßenen Reformprozeß eingeklinkt, in dem die Macht des Militärs begrenzt und wenigstens eine gewisse Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht werden sollte.

Militärs vor dem Zivilgericht

Wichtiger Meilenstein in diesem Prozeß war noch vor Reinas Amtszeit der Parlamentsbeschluß vom 29. Juni 1993, der eigentlich nichts weiter tat, als geltendes Recht zu bestätigen – Recht jedoch, das bis dahin stets mißachtet worden war. Es ging um die Amnestierbarkeit von Menschenrechtsverbrechen, die die Militärs begangen hatten. Und damit um genau den Knackpunkt, an dem schon mehrere Versuche der strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Verbrechen in anderen lateinamerikanischen Ländern gescheitert sind. Kern des Parlamentsbeschlusses ist, daß bereits ausgesprochene Amnestien für Armeeangehörige keine Gültigkeit haben, wenn es sich bei den Verbrechen um “gewöhnliche”, also zivilrechtliche handelt. Aus dem zivilrechtlichen Rahmen fallen nur politische Delikte, die auf Beseitigung oder Gefährdung der Staatsmacht abzielen. Bei den Menschenrechtsverletzungen war das jedoch nie das Ziel der Täter. Damit ist der Weg frei für die Diskussion um den Charakter einzelner Straftaten und – bei deren Anerkennung als “gewöhnliches” Delikt – ihre Aufarbeitung vor einem zivilen Gericht.
Einige dieser Prozesse sind in den letzten Jahren tatsächlich in Gang gekommen. Begonnen hatte es mit zwei Prozessen schon im Sommer 1993: In einem wurde ein ranghöherer Militär vor Gericht gebracht, der die Verantwortung für ein Massaker trug, im anderen ein Urteil gegen einen Oberst und einen Hauptmann wegen Vergewaltigung eines Mädchens gefällt.
Im Juli 1995 wurde dann das bislang spektakulärste Verfahren gegen 10 Offiziere des erwähnten Batailons 3-16 eröffnet, die in die Entführung und Folterung von sechs HonduranerInnen im Jahre 1982 verwickelt sind. Die Militärspitze ließ zwar nach Prozeßbeginn als Drohgebärde Panzer durch die Hauptstadt Tegucigalpa rollen, streute Putschgerüchte und nahm ihre damals noch in Dienst befindlichen “Kameraden” in Schutz. Dennoch scheint sie letzten Endes den juristischen Prozeß im besonderen und die Demokratisierung im allgemeinen hinzunehmen. Zumindest hat sie sich trotz aller Hindernisse, die sie der Verbrechensaufklärung in den Weg legt, im Prinzip zur verfassungsmäßigen Ordnung bekannt.
In der Aktualität findet ein Tauziehen zwischen den verschiedenen politischen Kräften statt.
Dadurch wird einerseits ein Fortschreiten der Aufklärung immer wieder gebremst. Beispiel dafür sind die Morde an führenden Militärs, die über Einzelheiten von konkreten Fällen Bescheid wissen; man nennt sie auch “menschliche Akten”. Mit ihnen gehen wichtige Zeugenaussagen verloren, so daß die Vermutung naheliegt, daß die Morde von denjenigen Militärs in Auftrag gegeben werden, die sich gefährdet sehen. Für diese Annahme spricht vor allem auch, daß die Morde in zwei Wellen stattfanden: die erste im Oktober 1995, als die Haftbefehle im erwähnten Prozeß gegen die zehn Offiziere erlassen wurden, die zweite im Juni und Juli 1996, gleichfalls im Kontext von Haftbefehlen aus einem 96er Prozeß.
Die Aufklärung dieser Morde geht schleppend voran. Der Codeh wirft Präsident Reina vor, sich nicht ernsthaft um die Aufklärung zu bemühen und generell zu lasch gegen jüngst begangene Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Auch an anderer Stelle kam die Aufarbeitung kürzlich ins Stocken. Menschenrechtsombudsmann Leo Valladares hatte versucht, Licht in den Hintergrund der Verbrechen von Anfang der achtziger Jahre zu bringen. Damals waren neben US-amerikanischen Militärs auch dreizehn argentinische Spezialisten für Aufstandsbekämpfung in Honduras tätig gewesen. Die argentinische Regierung hat Mitte Oktober abgelehnt, Informationen über die Verwicklung ihrer Landsleute an Honduras weiterzugeben.
Trotz all dieser Erschwernisse gibt es jedoch zahlreiche positive Tendenzen. So haben Dokumente, die Valladares vom US State Departement erhalten hat, einige Erkenntnisse gebracht. Ihnen zufolge könnten mehr als die bisher bekannten 184 Fälle von “Verschwundenen” dokumentarisch nachweisbar sein.
Weiterhin haben seit 1995 Exhumierungen von außergerichtlich Ermordeten in Honduras stattgefunden. Diese zogen nicht nur erste juristische Konsequenzen nach sich, sondern riefen auch in der Bevölkerung Entsetzen hervor.
Honduras ist demzufolge längst in Bewegung geraten. Das Geflecht von Spannungen und Interessen, das sich dabei herausgebildet hat, ist zwar nicht leicht durchschaubar, und Prognosen sind nur schwer zu treffen: Offen ist, was passieren würde, wenn Präsident Reina bei einem Machtwechsel von einem weniger reformwilligen Politker abgelöst werden sollte. Offen ist auch, ob sich die Armeeführung tatsächlich auf Dauer die Beschneidung ihrer Macht gefallen läßt, die Reina zur Zeit mit aller Konsequenz betreibt. Mit Sicherheit lässt sich aber feststellen, daß Honduras mit seinen Menschenrechtsgruppen über einen Motor verfügt, der wichtige, fundamentale Arbeit geleistet hat und von dem noch viel zu erhoffen ist.

KASTEN:
Zum Thema Straflosigkeit

Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, auch impunity oder impunidad, bedeutet etwa, daß die russischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Tschetschenien keine strafrechtlichen Folgen für die Täter haben. Weder für den Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Boris Jelzin, noch für die – häufig nur Befehlen gehorchenden – Täter. Oder, daß der Oberbefehlshaber und politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, trotz eines internationalen Haftbefehls bis heute noch nicht vor dem Haager Jugoslawien-Gerichtshof steht. Impunidad bedeutet auch, daß staatlich gedeckte, initiierte oder geförderte Menschenrechtsverletzungen oder Menschlichkeitsverbrechen ungesühnt bleiben. Straflosigkeit hat schließlich auch eine rein persönliche Seite: Ehemalige Opfer treffen auf ehemalige Täter in Zeiten demokratischer Normalität, sei es auf der Straße oder anderswo; sie fühlen sich ohnmächtig und wütend.
Die Gründe der impunidad sind vielfältig und komplex. Menschenrechtsverbrechen werden regelmäßig nicht verfolgt, weil es am Verfolgungswillen und -interesse der darin verwikkelten Staatsführung fehlt. In vielen lateinamerikanischen Ländern behindern die staatlichen Sicherheitskräfte etwa massiv zivile Ermittlungen, indem sie Zeuginnen einschüchtern, Beweismittel vernichten etc., oder sie erschweren die Ermittlungen schon dadurch, daß sie die Taten anonym begehen (Benutzung von Fahrzeugen ohne Kennzeichen, Tragen von Zivilkleidung). Über diese faktischen Ursachen der Nichtverfolgung hinaus gibt es jedoch auch normative Ursachen. Entweder werden umfassende Generalamnestien oder amnestieähnliche Regelungen erlassen (so in Peru, Chile und Argentinien) oder die extensive Zuweisung von Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen – so es denn überhaupt zu Verfahren kommt – an die Militärgerichtsbarkeit erweist sich als zentraler Faktor der Straflosigkeit. Einzelne strafrechtliche Regelungen, etwa die Anerkennung des Handelns auf Befehl als Strafausschlußgrund, runden das Bild ab.
Die beschriebenen nationalen Straflosigkeitsmechanismen stehen freilich in krassem Gegensatz zum geltenden Völkerstrafrecht. Zwar existieren noch keine völkervertraglichen Bestrafungspflichten, doch folgt aus einer Analyse des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, daß bestimmte schwere Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Folter, extralegale Hinrichtungen und das sogenannte Verschwindenlassen von Personen, Verfolgungs- und Bestrafungspflichten unterliegen. Für diese Auffassung lassen sich nicht nur eine beträchtliche Zahl völkerrechtlicher Quellen anführen (vor allem Beschlüsse von UN-Organisationen und Staatenvertretern) sondern auch eine umfassende völkerstrafrechtliche Spruchpraxis. Sie reicht vom Nürnberger Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher bis zum jüngsten Beschluß des Haager Jugoslawien-Gerichtshofs im Fall Tadic.
Demzufolge sind Amnestien oder amnestieähnliche Regelungen zwar nicht unter allen Umständen ausgeschlossen – Art.6 Abs.5 des zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen erlaubt sie etwa nach Beendigung der Feindseligkeiten zum Zwecke der nationalen Versöhnung. Doch unterliegen sie relativ klaren völkerrechtlichen Schranken. So kann eine umfassende Amnestie von schweren Menschenrechtsverletzungen (Verletzungen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit), die zudem die eigenen Sicherheitskräfte begünstigt, nur als völkerrechtswidrig bezeichnet werden. Ebenso gebietet das geltende Völkerstrafrecht eine Reform der Militärgerichtsbarkeit. Nur noch ausschließlich militärische Dienstvergehen dürfen danach in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit fallen, während allgemeine Straftaten, zu denen Menschenrechtsverletzungen zählen, vor die zivilen Strafgerichte gehören.
Das Völkerstrafrecht allein wird Menschenrechtsverletzungen sicherlich niemals verhindern können. Es enthält jedoch schon heute Regeln, die die Verantwortlichen als internationale Verbrecher stigmatisieren und ächten können. Diese zum großen Teil noch ungeschriebenen Regeln müssen zusammengeführt und in einem für alle Rechtsordnungen tragbaren Regelwerk kodifiziert werden. Mit der Verabschiedung eines Entwurfs für einen Internationalen Strafgerichtshof im Jahre 1994 und eines internationalen Strafgesetzbuchs im Jahre 1996 durch die ILC sowie entsprechende Alternativ-Entwürfe wurde entsprechende Vorarbeit geleistet. Es geht nun darum, sie zu verbessern.

Kai Ambos

Von Kai Ambos ist erschienen: Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur impunidad in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht. edition iuscrim, Freiburg i.Br., 1996, ISBN 3-86113-987-7.

Singapur als Vorbild

Der Dienstleistungsstandort Panama ist gekennzeichnet durch: den Kanal, die Freihandelszone in Colón (ein Umschlagplatz für Waren, die nach ganz Lateinamerika reexportiert werden), das internationale Bankzentrum (mit dem zusätzlich zu Menschen und Waren Kapital in und über Panama bewegt wird) sowie die Ölpipeline vom Atlantik zum Pazifik, Briefkastenfirmen und Billigflaggen.
Heute versuchen die führenden Kräfte des Landes, an der im Zuge der Globalisierung zunehmenden Bewegung von Waren und Kapital teilzuhaben und verstärkt von ihr zu profitieren. Sie glauben, daß der Welthandel weiter expandieren wird, vor allem als Folge des Exportwachstums asiatischer Länder wie China und Indien. Das dürfte den Transport durch den Kanal erhöhen. Panama würde davon auch als Warenumschlagplatz profitieren. Dem Bankenzentrum soll die Intensivierung der Kapitalströme zugute kommen. Zusätzlich wird eine Strategie propagiert, die den Nutzen speziell des Kanals und der Kanalzone für das Land verstärken soll, indem ihr Enklavencharakter begrenzt wird.
Der Kontext ist in der Tat historisch: Wie in den Torrijos-Carter-Verträgen vorgesehen, wird der Kanal und die sich auf beiden Seiten anschließende etwa acht Kilometer breite Kanalzone, die ebenfalls Hoheitsgebiet der USA ist, am 31. Dezember 1999 um 12 Uhr mittags von Panama übernommen. Gleichzeitig soll vertragsgemäß die Übergabe der US-Militärbasen in der Kanalzone abgeschlossen sein.

Der Kanal geht in die Hände Panamas über

Gegenwärtig bringt der Kanal Panama jährlich etwa 100 Millionen US-Dollar in Form der der Royalties ein, die an die Kanalkommission gezahlt werden müssen. Außerdem kommen noch die Löhne für die etwa 8000 panamaischen Beschäftigten hinzu. Im Mai und August dieses Jahres fanden unter Schirmherrschaft der UNO zwei nationale Konferenzen mit RepräsentantInnen von Regierung, Parteien und der Zivilgesellschaft statt – Titel: “Panamá 2000” -, auf denen die Übernahme des Kanals als nationale Aufgabe definiert und die Erfordernisse bezüglich der gesellschaftlichen Entwicklung diskutiert wurden. Damit sollte ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden, unter anderem, um den Kanal aus den politischen und sozialen Konflikten herauszuhalten.
Für 1997 ist eine hochrangige internationale Konferenz über die zukünftige Nutzung des Kanals geplant. Mit ihr will die panamaische Regierung auch möglichen Befürchtungen über eine ineffiziente Verwaltung nach dem Jahre 1999 entgegentreten; diese waren aufgrund des heruntergekommenen Zustandes vieler bereits von Panama übernommener Gebäude entstanden.
Zwischenzeitlich soll der Transit durch den Kanal mittels der gegenwärtig stattfindenden Erweiterung der schmalsten Stelle, Gaillard Cut oder Corte de Culebra genannt, beschleunigt werden. Da Schiffe, deren Ausmaße die für eine Kanaldurchquerung mögliche Maximalgröße überschreiten, zahlenmäßig im Seeverkehr immer mehr zunehmen, wird jetzt der Bau einer größeren, dritten Schleusenstufe befürwortet. Als Baubeginn werden die Jahre 2000, 2005 oder 2010 gehandelt.
Außerdem werden andere Transitwege ausgebaut, so eine neue Autobahn zwischen Panama-Stadt und Colón und die aus dem 19. Jahrhundert stammende transisthmische Bahnlinie, die reaktiviert werden soll. Schließlich sollen bestehende Häfen modernisiert und neue für Containerfrachtschiffe gebaut werden.

Was wird aus den US-Militärbasen?

Nach einer Studie panamaischer Wirtschaftswissenschaftler bringen die noch bestehenden US-Militärbasen Panama jährlich etwa 180 Mio. US-Dollar ein – vor allem über den Ankauf von Waren und Dienstleistungen (154 Millionen US Dollar) und die Lohn- und Gehaltszahlungen an die etwa 3500 panamaischen Zivilbeschäftigten (25 Millionen US Dollar). Aus diesem Grunde werden in Panama die Stimmen immer lauter, die einen Verbleib der Basen befürworten. Nach einigen Umfragen ist es sogar die Mehrheit.
Wie nicht anders zu erwarten, gibt es auch in den USA Stimmen, die sich gegen einen vollständigen Rückzug wenden. Auf Initiative des Senators Helms forderte der Senat die Regierung auf, den Torrijos-Carter-Verträge neu zu verhandeln. Zur Begründung wird die strategische Bedeutung der Basen bei der Kontrolle des Drogenhandels genannt. Um zunächst eine einheitliche Position der verschiedenen US-Behörden zu formulieren und damit in spätere Verhandlungen zu gehen, wurde eine Arbeitsgruppe gebildet. Ihr Vorsitzender ist John Negroponte, der als US-Botschafter in Honduras während der Reagan-Administration eine wichtige Rolle bei der Organisation des Contra-Krieges gegen Nicaragua spielte. Später, als Botschafter auf den Philippinen, war er an den Verhandlungen um die Schließung der dortigen US-Basen beteiligt.
Der offizielle panamaische Standpunkt ist, daß der Torrijos-Carter-Vertrag erfüllt werden müsse. Allerdings wäre es denkbar, daß einige Basen unter neuen Konditionen erhalten bleiben. Dazu zählt vor allem die Zahlung von Miete für ihre Nutzung, welche die US-Regierung allerdings ablehnt. Außerdem hat Präsident Pérez Balladares den Ländern der Rio-Gruppe vorgeschlagen, nach der Übergabe der Luftwaffenbasis Fort Howard dort ein multinationales Anti-Drogenzentrum einzurichten. Bereits seit 1992 entfaltet das US-Militär dort Anti-Drogenaktivitäten, zum Beispiel kontrollieren AWACS-Flugzeuge den Flugverkehr in der Region.
Verbindungsoffiziere aus Kolumbien, Peru und Venezuela sorgen dafür, daß die Anti-Drogenpolitik schon heute international bestückt ist. Die Fortführung des Anti-Drogenzentrums wäre ein Erfolg der umstrittenen US-Strategie, den lateinamerikanischen Militärs die Drogenbekämpfung als neue zentrale Aufgabe schmackhaft zu machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der ehemalige Befehlshaber des Südkommandos in Panama, Barry McCaffrey, jetzt oberster Drogenbekämpfer unter der Regierung Clinton. Noch sträuben sich allerdings viele lateinamerikanische Militärs gegen diese neue Funktion.
Die wirtschaftlichen Motive machen die panamaische Regierung verhandlungsbereit. Informelle Gespräche sollen bereits stattgefunden haben. Mit der Ernennung eines Unterhändlers auf panamaischer Seite ist in nächster Zeit zu rechnen. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, daß zwei bis drei Basen mit Kommunikations- und Überwachungsfunktionen erhalten bleiben.
Der Wert des vom US-Militär zu übergebenden Bodens samt Liegenschaften wird auf 4,6 Millarden US-Dollar geschätzt, eine angemessene Nutzung vorausgesetzt. Um die Verwertung der ehemaligen Kanalzone zu organisieren, wurde die Autoridad de la Región Interoceánica (ARI) gegründet, an deren Spitze der panamaische Ex-Präsident Nicolás Ardito Barletta steht. Ihre Strategie stützt sich zunächst auf Verbesserung der Transitwege und stärkere Verflechtung der panamaischen Wirtschaft mit der internationalen Schiffahrt, zum Beispiel durch den Verkauf von Treibstoff und Lebensmitteln sowie Reparaturleistungen. Außerdem sind drei weitere Pfeiler vorgesehen.

Pläne für ein Singapur am Kanal

Pfeiler eins: In freien Produktionszonen an den Kanalausgängen sollen maquila-Betriebe angesiedelt werden, deren Standortvorteil die verkehrsgünstige Lage ist. In der ehemaligen Militärbasis Fort Davis wurde – mit taiwanesischen Geldern – bereits mit dem Bau eines Industrieparks begonnen.
Pfeiler zwei: Die “feineren” Gegenden der Militärbasen, wie Viertel der Offiziersfamilien, sollen einem “gehobenen” Tourismus dienen, etwa als Anlaufpunkt für Kreuzfahrten. Es wird auch an “Öko-Tourismus” in den Nationalparks gedacht, die zur Stabilisierung des Wasserhaushalts um den Kanal liegen.
Pfeiler drei: Nach dem Vorbild des seit langem in Panama ansässigen Smithsonian-Instituts sollen Forschungseinrichtungen und eine internationale Universität Tropenforschung betreiben. Unternehmen sollen sich in Panama mit der Erfassung des genetischen Reichtums der Region beschäftigen.
Als Vorbild für die angestrebte wachstumsintensive Integration gilt der Stadtstaat Singapur. Ganz im Zuge der globalen Tendenzen wird in der Privatwirtschaft der treibende Akteur gesehen. Nachdem die “Post-Invasions-Regierung” Endara mit ihren Liberalisierungs- und Privatisierungsplänen nicht sehr weit kam, ist es ironischerweise die vom General Torrijos gegründete PRD unter dem Präsidenten Ernesto Pérez Balladares, die die gleiche Strategie offensichtlich erfolgreicher verfolgt. Die Hauptkandidaten für die Privatisierung sind die Häfen und die staatlichen Telekommunikations- und Strommonopole.
Mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation und einem, wenn auch graduellen, Zollabbau sollen auch die Landwirtschaft und die Industrie verstärkt in den Weltmarkt eingebunden werden. Sie sollen sich auf den Export orientieren, am besten in Verbindung mit ausländischem Kapital. Beide Sektoren erwirtschaften einschließlich der Bauwirtschaft lediglich etwa ein Viertel des Bruttosozialprodukts, stellen jedoch knapp 40 Prozent der Arbeitsplätze.
Die Globalisierung und der Vormarsch der Dienstleistungen in der Weltwirtschaft bieten der Wirtschaft Panamas neue Chancen. Mit dem Ausbau und der Diversifizierung der Transitfunktion wird Panama wohl auch gegenüber möglichen Konkurrenten (zumindest in Mexiko, Honduras, Nicaragua und Costa Rica wird hin und wieder vom Bau transisthmischer Bahn- oder Straßenverbindungen gesprochen, die einen Teil der über Panama laufenden Transporte abschöpfen sollen) seine Position behaupten können. Eine stärkere Verflechtung mit den Transitaktivitäten würde die nationale Wertschöpfung steigern.
Die aktuelle Strategie zur Wahrnehmung dieser Chancen trifft allerdings auch auf Unwägbarkeiten. So stagnierten in den letzten Jahren trotz wachsenden Verkehrs die Investitionen zur Instandhaltung des Kanals. Dies könnte bedeuten, daß die Investitionen, die nach der Übergabe des Kanals fällig sind, deutlich höher sein müssen als erwartet. Außerdem erhöht der Ausbau des Kanals seinen Wasserbedarf drastisch. Schon bei den alten Schleusen “kostet” eine Kanaldurchquerung etwa 200 Millionen Liter Süßwasser. Der Kanals ist jetzt schon sehr sensibel gegenüber Klimaschwankungen, die kaum allein durch die Wiederaufforstungsprojekte und die Verhinderung der Abholzung in seiner unmittelbaren Umgebung kontrolliert werden können.
Andere bereits bestehende Pfeiler des Dienstleistungszentrums Panama, wie die Freihandelszone in Colón und das internationale Bankenzentrum, sind von den Globalisierungstendenzen eher negativ betroffen. Das Gewicht der Freihandelszone, in der etwa 13.000 Menschen arbeiten, wird wohl trotz expandierenden regionalen Handels eher abnehmen. Gründe sind die generellen Liberalisierung des Aussenhandels, die Verbilligung des Transportes, die Umstellung von Firmenstrategien (“just-in-time”) und die wachsenden Konkurrenz durch ähnliche Einrichtungen in anderen Ländern. Auch das Bankenzentrum unterliegt verschärfter Konkurrenz und hat – von der Krise 1988/89 schwer getroffen – bis 1995 nicht wieder das Aktivitätsniveau von Mitte der achtziger Jahre erreicht.
Wichtiger ist jedoch die Frage, welches die sozialen Folgen des “Modells Singapur” sind. Panama liegt in der Ungleichheit der Einkommensverteilung in Lateinamerika mit an der Spitze, was zum Teil am Nebeneinander von lukrativen, aber wenig arbeitsintensiven Tätigkeiten und solchen mit niedriger Produktivität und niedrigem Arbeitseinkommen liegt. Die offizielle Strategie hat kein Rezept für die Teile Panamas, die in der den Kanal umschließenden Zentralregion (Provinzen Panamá und Colón) liegen. Das Original-Singapur hatte auch keines, hatte es allerdings auch nicht nötig. In Panama leben jedoch etwa 40 Prozent der Bevölkerung in diesen Regionen.
Aber auch für die Bevölkerung der Zentralregion sind die Aussichten nicht uneingeschränkt rosig. Die Zollsenkungen dürften zumindest kurzfristig Produktionsrückgänge und Arbeitsplatzverluste in der Industrie bewirken. Es bleibt abzuwarten, ob die maquila-Industrie die versprochenen Arbeitsplätze schafft. Bei dem in regionalem Vergleich relativ hohen Lohnniveau müßte die Konkurrenzfähigkeit über die Qualifizierung der Beschäftigten und eine effiziente Infrastruktur gesucht werden.
Bislang ist jedenfalls ein Großteil der Bevölkerung auch der Región Metropolitana von den Segnungen der Dienstleistungswirtschaft ausgeschlossen, was sich in einer Arbeitslosenrate von rund 16 Prozent und einem großen informellen Sektor ausdrückt. So ist es kaum verwunderlich, daß es in der Hafenstadt Colón am Atlantikausgang des Kanals wie schon häufiger in den Jahren zuvor im Juli 1996 erneut zu massiven Protesten gegen die herrschende Arbeitslosigkeit kam.
Während es bei den Auseinandersetzungen in Colón darum geht, an den globalen Integrationsprozessen teilzuhaben – und sei es über einen Arbeitsplatz -, entwickelt sich ein anderer sozialer Konflikt zwischen lokalen und globalen Interessen. Im seinem Mittelpunkt stehen die wieder ausgegrabenen Pläne zur Ausbeutung der Kupfervorkommen des Cerro Colorado im Westen des Landes. Er gilt als eine der größten Kupferreserven der Welt und liegt in einem Gebiet, das die Ngobe-Buglé (oder Guaymies), das größte indianische Volk Panamas, für ihre teilautonome Region (Comarca) beanspruchen. Mit einem Marsch nach Panama-Stadt demonstrierten sie Ende Oktober ihren Widerstand gegen das Projekt.
Neben der Schwächung der nationalen Integration – sowohl sozial als auch geographisch – steht durch das “Modell Singapur” auch die Zukunft der regionalen Integration in Frage. Seit Anfang der neunziger Jahre nimmt Panama an den zentralamerikanischen Gipfeltreffen teil, 1996 beteiligte sich Pérez Balladeres auch am Gipfel der Länder des Andenpakts. Wie die verstärkte Kooperation mit den lateinamerikanischen Nachbarn mit der globalen Orientierung des “Modells Singapur” vereint werden soll, bleibt allerdings noch ein Geheimnis.

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Der Friedenspreis ist ein Politikum

Das literarische Werk von Vargas Llosa ist von hoher Qualität, daran besteht kein Zweifel. Daß seine Bücher millionenfach verkauft wurden und werden, hat mit bestsellerischer Seichtigkeit nichts zu tun, ist nicht allein Erfolg gekonnter Vermarktung und liegt auch nicht daran, daß er wie viele andere mit reißerischen Texten auf Modeströmungen reagiert hätte. Die Langlebigkeit der Bücher, ihre detaillierte literaturwissenschaftliche Rezeption und nicht zuletzt die Dekorierung des Autors mit hohen Preisen sind Argumente dafür, Vargas Llosa als einen der wichtigsten Schriftsteller Lateinamerikas zu bezeichnen. Daran wird sich nichts mehr ändern. Gewiß: Die sagenhafte Beredsamkeit, sein Charme bei Interviews und Reden, seine faszinierende Weltgewandtheit erinnern gelegentlich an Showtalente, machen einen vielleicht manchmal mißtrauisch und begründen den Verdacht, ganz so weit könne es mit der unerbittlichen Berufung zum Schriftsteller doch nicht her sein. Aber wenn man sich dann wieder in einen seiner Romane hineinliest und nicht mehr davon wegkommt, ist man still und möchte nichts gesagt haben. So weit, so gut.
Doch die Sache hat einen Haken. Denn der Preis beschränkt sich ausdrücklich nicht auf die Würdigung des literarischen Werks einer Person, sondern hat als Friedenspreis eine politische Dimension. Mehr noch: gerade auf die kommt es an, das unterscheidet diesen Preis von den zahllosen anderen. Und die Verleihung auf der weltweit bedeutendsten Buchmesse macht aus dem Preis ein vielbeachtetes Votum für die literarischen und politischen, ästhetischen und ethischen Äußerungen eines Autors, den der Deutsche Buchhandel sich erwählt. An diesem Punkt wird es schwierig.

Seine politischen Positionen gehen ins Extrem

Vargas Llosa hat, was seine politischen Positionen angeht, zu zwei zentralen Erkenntnissen gefunden: daß Diktaturen jeder Art, sei es von rechts oder links, verdammungswürdig sind, mit ihnen alle Autoritarismen, Despotien und Nationalismen, und daß zu einer globalen Durchsetzung liberaler Prinzipien keine Alternative besteht.
Der Wendepunkt für den jungen, vom revolutionären Kuba begeisterten Sozialisten kam bekanntlich 1968. Die schockierenden August-Ereignisse in Prag und der “Fall Padilla”, jener Maulkorb für den kubanischen Poeten Heberto Padilla, mit der Fidel Castro der Hoffnung auf einen demokratischen, pluralistischen Sozialismus einen herben Dämpfer verpaßte, brachten Vargas Llosa zu der Überzeugung: daß es den sozialistischen Regimen an Demokratie mangelte war keine Kinderkrankheit, sondern Prinzip. In der Folge wurde er zu einem wortgewaltigen Anticastristen, was er bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstrich (die Rede bei der Preisverleihung in Frankfurt bildet da keine Ausnahme). Mit den Konsequenzen fand er sich ab: In seiner heftigen, bisweilen sehr emotionalen Kritik, beispielsweise an García Márquez, den er als Hure Castros bezeichnete, oder an Günter Grass, dem er Rassismus vorwarf – darin mochten ihm viele nicht mehr folgen.
Mit Recht, denn seine Position zum Sozialismus schlug ins Extrem aus. Nicht nur, daß er sich gegen den stalinistischen Terror “sozialistischer” Regime gewandt hätte, auch dem nicaraguanischen Projekt konnte er nichts abgewinnen. Und den Zapatistenaufstand sah er in der gleichen Perspektive, als “reaktionäre und anachronistische Bewegung, noch autoritärer und obsoleter als die PRI” (taz, 17.1. 92). Denn Vargas Llosa zufolge sind es die linken Guerillas gewesen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika die vielen Putsche von rechts überhaupt erst provoziert haben und die aus Scheindemokratien Militärdiktaturen werden ließen. Das klingt nach Ernst Nolte, der ja in der sowjetischen Dikatur Stalins die Ursache für die nationalsozialistische gesehen hat.
Vargas Llosa macht sich unglaubwürdig, wenn er sich immer wieder vehement für Demokratie und gegen Gewalt ausspricht und bei seiner Kritik an der Linken die Tatsache ignoriert, daß die Rebellionen nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern aus der generationenlangen Erfahrung, daß die Demokratie in Lateinamerika oft eine Farce war und jegliche Formen gesellschaftlicher Mitbestimmung immer wieder brutal verhindert wurden. Vargas Llosa setzt blind westliche Demokratien und lateinamerikanische Schambedeckungsversuche repressiver Oligarchien ineins. Das ist Universalismus eigener, zweifelhafter Art.
Dieser Universalismus findet seine logische Fortsetzung darin, wie sich Mario Vargas Llosa die Zukunft der Welt vorstellt: Er denkt, knapp gesagt, ultraliberal. In seinem Präsidentschaftswahlkampf in Peru 1990 hat er das vielfach zu erkennen gegeben. Dem politischen Kommentator Vargas Llosa ging und geht es nicht um einen Ausgleich, einen Mittelweg, sondern – wiederum – ums Ganze. Seine politischen Leitbilder sind zum einen Margaret Thatcher, deren Politik er als wahrhaft revolutionär ansieht, weil sie die BürgerInnen von der staatlichen Bevormundung befreit und ihnen ihre Selbstverantwortlichkeit zurückgegeben habe. Zum anderen verfaßte er einen Wahlaufruf für den nunmehrigen spanischen Regierungschef Aznar. Den forderte er auf, von seinem im Wahlkampf gegebenen Versprechen, den Wohlfahrtsstaat zu erhalten, abzugehen – was Aznar ja nun auch konsequent befolgt. Mit den Sozialleistungen hat es Vargas Llosa jedenfalls nicht; das Niveau der südostasiatischen “Tiger” würde für Spanien genügen, meint er. Und wer sich ihm in seiner neoliberalen Konsequenz nicht anschließt, muß sich – beispielsweise in El País – als “Idiot” beschimpfen lassen.

Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich

Wie er die Sache sieht, mag ein Ausschnitt aus einem Interview verdeutlichen (Der Spiegel, 15/96): “Die große Frage ist: Kann eine Gesellschaft ihr soziales Netz noch verstärken und trotzdem auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben? Ich glaube, nein. Das Auffangsystem, das mit viel Idealismus und Großzügigkeit errichtet wurde, ist heute nicht mehr realistisch. Daran festzuhalten wird zum unüberwindlichen Hindernis, wenn es darum geht, Märkte zu erhalten oder gar zu erweitern. Andererseits schafft die Internationalisierung der Wirtschaft phantastische Möglichkeiten für arme Länder. Ich glaube, Politiker haben die Pflicht zu erklären, daß die Reform weg von staatlichen Subventionen hin zur Eigeninitiative der Bürger nicht länger aufgeschoben werden kann.” Wohlgemerkt, Vargas Llosa bezieht sich nicht nur auf, sagen wir mal, Schweden, sondern auch auf Peru.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels macht mit der Entscheidung deutlich, wohin seiner Meinung nach die Reise gehen soll. Es braucht nicht dabei zu bleiben, daß der Sozialstaat (wir reden von der westlichen Welt) durch Effizienz gesichert wird, er darf demontiert werden – der Markt wird’s schon regeln, und die Straßenkinder in Lima (die schließt Vargas Llosa nolens volens mit ein) sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Auf alle Fälle sind sie weniger wichtig als das Funktionieren der Wirtschaft, das steht ohnehin und seit langem fest.
Mario Vargas Llosa, der immer betont hat, daß es für einen ernsthaften Schriftsteller Bedingung ist, “Zustimmung, Unterordnung und offizielle Komplizenschaft” zu vermeiden, ist längst zum Komplizen geworden. Das naive Vertrauen, daß sich nach einer wie auch immer gearteten Übergangsphase die sozialen Probleme in der perfekt funktionierenden neoliberalen “Ordnung” von selbst lösen, hilft keinem weiter – und erinnert fatal an eben jene Versprechungen von einer besseren Welt, die Vargas Llosa am Sozialismus so heftig kritisiert hatte.
In seiner Rede zur Friedenspreisverleihung bezeichnete sich der Geehrte als Dinosaurier, der die gute Literatur gegen die Massenschwemme an “Literatur light” und visuellen Medien verteidige. Das klingt gut, aber es sind doch recht selbstgefällige Krokodilstränen, die Vargsa Llosa da vergießt. Er nimmt politisch in Kauf, daß durch Strukturanpassungsmaßnahmen die soziale Misere zunimmt – nicht nur die soziale Misere als abstraktes Phänomen, sondern als ganz konkrete Entmündigung von immer mehr Menschen. Es ist absurd und peinlich, angesichts zunehmender Armut, wachsenden Analphabetismus und der sich verschlechternden medizinischen Versorgung davon zu schwärmen, daß die Mitbestimmung aller am Gemeinwesen zunehme. Das Gegenteil ist der Fall, und für gute Literatur hat dann auch kaum noch einer etwas übrig.
Noch einmal Mario Vargas Llosa im erwähnten Spiegel-Interview: “Literatur sollte sich von dem anstecken lassen, was draußen passiert, sonst wird sie trivial und dekadent.” Eben.

Ganz normale Monster

Joaquín wächst unter Monstern auf. Der Direktor der Eliteschule prügelt ihn auf den blanken Hintern und masturbiert dabei. Im Jugendlager des Opus Dei, wo er auf Betreiben seiner tiefkatholischen Mutter gelandet ist, betatscht ihn einer der Laienbrüder, und sein eigener Vater, ständig bemüht, seinen Sohn zu einem richtigen Macho zu erziehen, schenkt ihm zum 15. Geburtstag einen Besuch im Puff. Dort klappt allerdings gar nichts, denn Joaquín kommt nicht in Fahrt. Immerhin gehört die Prostituierte zu den wenigen positiven Figuren und rät dem peinlich berührten Joaquín, es doch einfach mal mit Männern zu probieren.
Auf 500 Seiten breitet Bayly die Lebensgeschichte Joaquíns bis etwa zu seinem 30. Lebensjahr aus, läßt ihn als Kokser eine Drogenkarriere machen, aber vor allem geht es natürlich um sein Schwulsein. Alle denkbaren Vorurteile und Reaktionsweisen kommen in Gestalt verschiedener Freundinnen, Freunde, Liebhaber und Verwandten auf ihn zu, garniert immer wieder mit einer Prise Sex. Die Botschaft schwebt in dicken Lettern unübersehbar über dem ganzen Roman: Hinter der bürgerlichen Fassade lauern perverse Monster, Kinderschänder und Homophobe. Die Idylle der Wohlsituierten Limas ist gar keine Idylle.

Schablonen und Sex

So weit, so gut, das ist nicht wirklich überraschend, aber immerhin spricht Bayly aus, was sich alle anderen nur denken und das mit bemerkenswerter Offenheit. Nur leider bleiben Baylys Figuren dabei Schablonen. Niemand wird im Verlauf des Romans wirklich zur Persönlichkeit, jeder hat seine Rolle und sein Etikett in Sachen Vorurteile gegen Schwule: die Freundin nach dem Motto “schade eigentlich, Du siehst doch gut aus und könntest so viele Freundinnen haben”, der Liebhaber, der doch irgendwann standesgemäß heiraten und Kinder haben will, all die guten Bürger, die bei Gelegenheit gerne mal die Homo-Seite rauslassen, wenn’s keiner mitbekommt. Der Roman wird dabei schlichtweg langweilig, denn schon nach wenigen Sätzen des jeweiligen Dialogs ist klar, welche Schablone diesmal zum Tragen kommt, und im Zweifelsfall landet die Szene doch wieder beim immergleichen Thema, das hier genauso schablonenhaft abgehandelt wird wie die beteiligten Personen: Sex.
Es überrascht nicht, daß der Roman, als er 1994 unter dem Titel “No se lo digas a nadie” in Peru auf den Markt kam, zum Thema für die Klatschspalten wurde. Jaime Bayly ist durch seine viel gesehene Talkshow bekannt. Allein schon die Tatsache, daß ein Prominenter aus dem Fernsehen in einem Buch jede Menge Sex bietet, dazu auch noch schwulen Sex, sicherte ein breites Publikum.

Stoff für die Klatschspalten

Besondere literarische Qualität sagte dem Roman in Peru nach Kenntnis des Rezensenten damals niemand nach, Thema war vor allem die Frage: Ist dieser Roman autobiographisch und wenn ja, wer steckt real hinter den beschriebenen Personen? Ohne diese Frage befriedigend beantworten zu können, läßt sich jedenfalls feststellen: Die Parallelen zwischen der Figur Joaquín und dem real existierenden Jaime Bayly reichen aus, um Spekulationen Nahrung zu geben.
Bleibt die Frage, warum dieser Roman ins Deutsche übersetzt und hier veröffentlicht werden mußte. Der Ammann Verlag in Zürich bemüht sich um jüngere lateinamerikanische Autoren, so erschien in diesem Jahr dort auch “Das tägliche Nichts” der Kubanerin Zoé Valdés (vgl. LN 268). In einer Zeit, in der das öffentliche Interesse an Lateinamerika mehr und mehr abnimmt, ist es nur wünschenswert, daß dieses Engagement weiter ausgebaut wird. Auch in Peru sollten sich Werke von weniger prominenten AutorInnen finden lassen, die bei der Behandlung von gesellschaftlichen Tabus mehr mit dem Seziermesser als mit der Abrißbirne arbeiten.

Jaime Bayly: “Sag es keinem”. 510 Seiten, Ammann Verlag, Zürich, 1996

Der Rock, der aus dem Barrio kommt

Es ist ihre erste Auslandstournee überhaupt. Allerdings waren LOS MOJARROS bisher im eigenen Land überaus beschäftigt: Erst 1992 hatten sie ihr erstes Konzert, und schon ein Jahr später wurden sie eingeladen, die Musik für den Film “Anda, corre, vuele…” (Geh, lauf, flieg…) zu produzieren. Seither können sie über mangelnde Popularität nicht klagen. 1994 und 1995 machten sie die Musik für zwei beliebten Fernsehserien, und ihre CDs und Videos stehen in den Hitlisten weit oben.
Damit scheint zu gelingen, was LOS MOJARROS sich vorgenommen haben. Denn bisher war Rock in Peru eher eine Sache für Reiche, nichts für die Leute “aus dem Viertel”. In ihrer Musik wollen sie diesen Riß zwischen “weißem” Rock und der populären Musik, die eher von Mestizen und Indígenas gehört wird, kitten – es ist ein Riß, den sie als Mestizen am eigenen Leibe erfahren. Die Traditionen ihrer Vorfahren gehören genauso zu ihnen wie die Kultur der Großstadt. Um die alltäglichen Erfahrungen der Zerrissenheit geht es in ihren Texten, und aus der Musik kann man das heraushören. Sie sind auf der Suche nach einem lebenswerten Leben, natürlich nach Liebe, und nach soetwas wie Identität der jungen PeruanerInnen.
Ihre Musik bezeichnen sie selbst als mestizisch. Populäre Rhythmen wie Chicha, Huayno, Salsa und Vals werden aufgegriffen und mit frischem, druckvollem Rock gemischt. Dieses Konzept scheint anzukommen, denn es entspricht der Lebenswirklichkeit von Tausenden, die aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen sind – ebenso wie die Vorfahren der Band-Mitglieder. Sie wissen also, wovon sie reden. “Das Gute an LOS MOJARROS ist, daß wir die breite Masse verstehen, ohne darüber nachdenken zu müsen, weil wir Teil von ihr sind”, so Hernán Condori, Chef der Gruppe.
Auf ihrer Tournee durch Deutschland stellen sie ihre neue CD vor: “Opera salvaje para tribus urbanos”, Wilde Oper für Stadtvölker. 1997 geht es dann weiter mit einer Rockoper, die unter anderem beim Festival des lateinamerikanischen Theaters “Theater Adelante” in den USA gespielt werden soll.
Übrigens: Der Film “Anda, corre, vuele…” ist eine Koproduktion mit dem ZDF. Die deutsche Fassung hat den Titel “Gregorio und Juliana” und wird parallel zur Tournee in 19 deutschen Städten gezeigt.
P.S.: Es ist bedauerlich, daß die Tournee nicht auch irgendwo in Neufünfland Station macht. Sei es, daß das am mangelnden Engagement der Organisatoren oder an fehlender Bereitschaft der Kulturleute vor Ort liegt – Interesse an lateinamerikanischem Rock besteht nicht nur in Tübingen, Hamburg & Co.

“Ausharren oder Flüchten”

Das Exil in Chile um­faßte rund 13.000 “deutsche Staats­bürger jü­dischen Glaubens”, rassisch Verfolgte des nationalsozia­listischen Regimes, und 300 politische Emigrant­Innen, auch unter ihnen zahlreiche deutsche Juden und Jüdin­nen, die ihr Fluchtziel größtenteils zwischen 1937 und 1939 erreichten.
Bis zur Reichspogrom­nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hoffte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, in Deutsch­land weiterleben zu kön­nen. Nach der ersten großen Fluchtbewegung des Jahres 1933 überwog bis ins Jahr 1936 der Entschluß, in der Heimat zu blei­ben. Danach stiegen die Flücht­lingszah­len, auch in die latein­ame­rikanischen Länder, deut­lich an. Der Prozeß der Loslösung von vertrauter Umgebung und gesicherten Lebensumständen brauchte Zeit. Dennoch gab es seit dem “Aprilboykott” gegen jüdische Geschäfte, An­walts- und Arztpraxen kaum noch eine jüdische Familie, in der nicht die Worte Flucht, Auswande­rung oder Emigration ge­fallen waren. Ihr Entschluß, Deutschland nicht zu ver­lassen, ist als ein Akt der Selbstbehauptung zu be­trachten. Bis 1938 ver­stärkte die außen- und wirtschaftspolitische Inter­essenpolitik des NS-Regi­mes die Hoffnung der deutsch-jüdischen Bevöl­ke­rung, daß sich das Re­gime auf eine rechtliche Aus­grenzung beschränken wür­de. Trotz der zuneh­menden ge­sellschaftlichen Aus­gren­zung und Isolation schien das öko­nomische Exis­tenzminimum ge­währ­leistet zu sein. Vor allem die ältere Generation, die der Kriegs­teilnehmer des Ersten Weltkrieges, hoffte, daß sich das Regime auf eine Dissimilation be­schränken würde. Zwischen der Al­ternative “Ausharren oder Flüchten” zu wählen, fiel der jüngeren Generation leichter. Sie erreichten frühzeitig die euro­pä­ischen Exilländer und die USA, während die ältere Genera­tion in südamerikanische Länder emi­grierte, die ihre Grenzen noch bis zuletzt offen hatten. So erklärt sich der hohe Alters­aufbau des chilenischen Exils: Über die Hälfte der Flüchtlinge war über 50 Jahre alt.
Die Immigrationsaffäre
Das Einwanderungsland Chile galt am Ende der dreißiger Jahre als vorbild­lich in seiner Haltung ge­genüber ImmigrantInnen. Es war die Rede vom “Ein­wan­de­rungsparadies Chi­le”. Im latein­amerika­nischen Vergleich nahm die Andenrepublik pro­portional zur Einwohnerzahl die größte Zahl der Flüchtlinge auf.
Zwei Phasen chilenischer Flüchtlingspolitik sind zwi­schen 1933 und 1941 auszumachen. Die erste, während der konser­va­tiven Regierung des Prä­sidenten Arturo Alessandris bis zum Herbst 1938, war von einer mehrfachen Verschärfung der Asylgesetzgebung ge­kenn­zeich­net. Diese Politik wurde als Re­aktion auf die Welt­wirt­schafts­krise be­zeichnet und mit dem Schutz des heimischen Ar­beits­marktes begründet. Re­strik­tionen wie die Quo­tierung der jüdischen Im­migration und die berufli­che Beschränkung auf Landwirte wiesen je­doch rassis­tische Ten­den­zen auf; bereits 1933 war ei­ne Einwan­derungsbe­schränkung der “semi­tischen Rasse” beab­sichtigt. 1937 wurde die Gesetz­ge­bung neuerlich ver­schärft. Nur noch Ver­wandte ersten Grades be­reits in Chile lebender Aus­län­derInnen sollten Visa erhalten. Die zweite Phase (von 1938 bis 1941) wäh­rend der Volks­front­regie­rung unter dem Prä­sidenten Pedro Aguirre Cerda cha­rak­te­ri­sierte demgegenüber eine groß­zügige, liberale Hand­habung der Asylge­setzgebung, die sich ne­ben Chile auch in anderen la­tein­ame­rikanischen Ländern ins­be­sondere von der Einwan­de­rungs­praxis der USA un­terschied.
Die politische Instru­men­ta­li­sierung der jüdi­schen Im­mi­gra­tion durch das seit 1938 verstärkt auf­tretende “Movi­miento Na­cio­nalsocialista de Chile” (MNS) und seinen “Füh­rer” Jorge Gon­zález von Marées erzwang 1940 den Rücktritt des Außen­mi­nisters der Volks­frontre­gierung.
Das MNS schürt
den Antisemitismus
Der Verlauf die­ser sogenannten “Immi­gra­tions­affäre” zeigte die Ge­fahren einer Politi­sierung der Asylgesetzge­bung. An­ti­se­mi­ti­sche Vor­urteile lebten auf, die vom MNS und ei­nigen konser­va­tiven Senatoren in den Par­la­mentsdebatten diskus­sions­fähig gemacht wurden und in der Pres­se weite Verbreitung fanden. Der Recht­fer­ti­gungs­zwang, den das MNS der Volks­frontre­gierung aufzwang, ging mit nationa­listischen Argu­men­ten (“Chile den Chile­nen”) ein­her und mün­dete in der Wahn­idee einer “jüdisch-kom­mu­ni­stischen Welt­verschwörung”.
Jorge González von Ma­rées erhob eine Verfas­sungsklage ge­gen den Au­ßenminister der Volksfront, Abraham Ortega, da er die Ehre der Nation mißachtet und Bestechungsgelder für “jüdi­sche Visa” angenom­men habe. Die Ergebnisse der eingesetzten Un­tersu­chungskommission reihten weder der Ab­ge­ord­ne­ten­kammer noch dem Senat aus, um der Anklage des “chi­le­ni­schen Führers” zu­zustimmen. Dennoch hatte das MNS seine politische Absicht erreicht, eine anti­se­mi­tische Stimmung in der Be­völ­ke­rung zu schüren.
Der Prozeß gegen den Au­ßen­minister offenbarte der (im übri­gen nach einem gescheiterten Putschversuch der chilenischen National­sozialisten mit den Stimmen des MNS) Volks­front­re­gie­rung, daß sich die ge­setz­lichen Einwanderungs­be­schrän­kungen – zum Glück der Ver­folgten – umgehen ließen, da sie nur mit großem bürokratischen Auf­wand kontrollierbar wa­ren. Zugleich aber de­monstrierte der Prozeß die schwerwiegenden Folgen einer lückenhaften Asyl­ge­setzgebung, die ihre Aus­führung wenigstens zum Teil dem Wohlwollen von Ein­zel­per­sonen anheim­stellte. Sie er­laubte es den chilenischen Konsuln, im Ausland vom Außenmini­sterium bereits er­teilte Visa zu blockieren. Durch ein ent­sprechendes “Informa­tions­schreiben” über die Person des An­tragstellers oder der An­trags­stellerin wurde der büro­kra­tische Apparat er­neut in Gang ge­setzt, wäh­rend den Verfolgten bereits die De­portation in ein Konzen­trationslager drohte. Häufig erwiesen sich die Konsuln als größtes “Emi­gra­tions­hindernis”, da sie dem na­tionalsozialisti­schen Regime durchaus positiv gegen­über­standen.
Der politische Druck der “Anti-Immigrationskampa­gne” zwang die Volks­frontregierung, ein Zeichen zu setzen, daß die Ge­setzgebung nicht will­kürlich auslegbar war: Mitte 1940 ver­hängte sie einen Ein­wan­de­rungs­stopp. Die hu­manitär be­gründete Asyl­praxis der Volks­front­re­gierung fiel damit politi­scher Interessenspolitik und ei­ner lückenhaften Asylge­setz­gebung zum Opfer, de­ren un­kon­trol­lier­bare Ver­fahrensregelung auf der an­deren Seite vielen Flücht­lin­gen das Leben rettete.
Die Fluchtbewegung aus dem “Dritten Reich” hätte längst vor Kriegsbeginn ei­ner flexibleren, internatio­nalen politischen Ant­wort bedurft. Zumindest für ei­nen kurzen Zeitraum ist die chi­lenische Volksfront­regie­rung diese Antwort nach der Flücht­lings-Kon­ferenz von Evian im Som­mer 1938 nicht schuldig geblieben.
Aus der Perspektive des Exils stellte sich das Auf­nahmeland Chile, obschon die Emi­grant­In­nen zu jenen “unbeliebten” ver­armten Flüchtlingen gehörten, als “vorteilhaft” heraus. Inso­fern kann der Integrations­prozeß in Chile im latein­amerikanischen Vergleich nicht als typisch be­zeichnet werden. So bot die Me­tro­pole Santiago den Flücht­lin­gen leichtere Integrati­ons­chan­cen als der Urwald Boliviens oder die Haupt­stadt La Paz, die viele ver­ließen, um nach Chile oder Argentinien weiterzuwan­dern. Im Gegensatz zu an­ti­se­mi­tischen Anfeindungen in Bo­li­vien erfuhren die Chile-Emi­grantInnen auch eine freund­lichere Auf­nahme.
Intgration und
Akkulturation in Chile
Der Ankunft folgte an erster Stelle die Wohnungs- oder Pen­sionssuche. Falls keine Ver­wandten oder Be­kannten in San­tiago und Valparaíso lebten und die Neuankömmlinge abholten, vermittelte die CHILEHI­CEM, eine jüdische Hilfs­organisation, häufig eine Adresse. Auf den­je­nigen, so der Wiener Emigrant Wal­ter Klein in seiner Auto­bio­graphie, dem es nicht gelang, “einen Landsmann für sich zu interessieren”, warteten Tage, Wochen, Monate “voller bitterer Not”, “bis es ihm glückte, ir­gendwo unterzuschlüpfen, im Hafen, auf dem Markt, als Haus­diener, als Landar­beiter, als irgendetwas.”
In den Pensionen, die zugleich zur Existenzsiche­rung früher ein­ge­troffener Flüchtlinge bei­tru­gen, wur­den Mittagstische an­ge­bo­ten, so daß man teures Essen im Restaurant ver­meiden konnte und den­noch Gelegenheit hatte, sich mit Bekannten oder Freun­den über Möglich­keiten eines Neubeginns, freie Arbeitstellen und Wohnungsmieten auszu­tau­schen. Die Pensions­zimmer wa­ren klein, manchmal ohne Fen­ster und mit bil­ligen Möbeln aus­gestattet. Aber sie hat­ten einen entscheidenden Vorteil: die Menschen konnten sich in deutscher Sprache verstän­digen. Al­lemal ein Um­schlagsplatz der Informa­tionen, entwic­kelten sich die Pensionen ebenso wie das Büro der CHILE­HICEM zur Nach­rich­ten­börse der deutschen Emi­gration.
Ökonomische und
soziale Integration
Den Pensionen und mö­blier­ten Zimmern folgte, wenn alles gut ging, der erste soziale Auf­stieg. Man wohnte zur Un­ter­mie­te oder teilte sich mit anderen ei­ne Wohnung, bis man schießlich ei­ne eigene mie­ten konnte oder sich in ei­nem besseren Stadtteil San­tiagos ein Wohnhaus kauf­te. Die ersten Monate be­standen aus Provisorien. Wer Umzugsgut verschiffen konnte, erst recht nach Kriegsbeginn, hatte großes Glück, wenn es auch manchmal absurd erschien, was man mit­ge­nommen hatte: Kopfkissen, Fe­der­betten, weißes Bettzeug, ein paar Tischtücher. Manche ba­stel­ten aus ihren Schiffs­kisten das erste Bett, den ersten Klei­der­schrank oder Küchentisch, der zugleich als provisorischer Arbeits­platz diente. Im “chi­le­n­i­schen Erfogsfall” ging der In­te­grationsprozeß von einer ersten Phase der Neuorientierung und Ar­beitssuche über in eine Phase größerer finanzieller Ab­sicherung und mündete schließ­lich in die Gründung einer neuen Existenz, die etwa dem gesell­schaftlichen Status vor der Flucht ent­sprach. Die Im­mi­grantIn­nen trafen auf günstige wirtschaftliche Bedingun­gen. Sie ließen sich in der Hauptstadt nie­der, und vie­len bot die her­stellende und verarbeitende Tex­tilin­dustrie den Neueinstieg ins Wirtschaftsleben, so daß sich ein ganzer, aus Deutschland bekann­ter In­dustrie- und Gewerbezweig re­produzierte.
Die Bilanz der ökono­mischen Integration fällt keineswegs nur positiv aus. Eine akademische Ausbil­dung, der Beruf des Rechtsanwaltes, Arztes oder auch Chemikers und Phar­ma­zeu­ten standen der Exi­stenz­gründung in Chile ebenso wie in Bolivien oder Peru in Wege. So arbeite­ten Rechstsanwälte als La­geristen, Büroangestellte, Ver­käufer von Erfrischun­gen und Schreibwaren. Ärz­te wurden Sanitäter, Kran­kenpfleger, Mas­seure, Begleiter von Fußball­grup­pen. Architekten wurden technische Zeichner und Innen­dekorateure; Apothe­ker arbei­te­ten in Drogerien und Labo­ra­to­rien als ge­wöhnliche Angestellte.
Vor allem fiel den Frauen eine besondere Bedeutung zu, deren Arbeitskraft manchmal ein Ab­sinken der Einwandererfamilien in die Armut verhindern half. In fast allen Veröffentlichun­gen über die Phase der Existenz­grün­dung im Exil findet sich der Hin­weis, daß Frauen die Hauptstüt­zen in finanzieller und emo­tio­na­ler Hinsicht waren. Psycho­logisch scheinen sie das Trauma der Flucht besser bewältigt zu haben und fanden sich in kürze­rer Zeit mit der Lebensumstel­lung zurecht. Frauen über­nah­men neben Haushalt und Kin­dern die Verant­wortung für den finanziel­len Unterhalt: sie wur­den Sekretärinnen, Gouvernan­ten, Lehrerinnen, er­öffneten Geschäfte, wurden Näherinnen, Kassiererin­nen, Verkäuferinnen und Buchhalterinnen. Auch die Pensionen wurden häufig von Frauen geführt.
Jüdischer Widerstand
im Exil
Im Jahr 1936 wurde das Komitee gegen den Anti­semi­tis­mus gegründet, das die Be­kämpfung solcher Tendenzen im Aufnahme­land Chile und Auf­klä­rungsarbeit über die natio­nal­sozialistische Rassenpo­litik zur Aufgabe hatte. Das Komitee wollte ohne jegli­che politische Parteilichkeit auf nationaler und interna­tionaler Ebene arbeiten und sich in der Tradition jüdi­schen Abwehrkampfes der Auf­klärungsarbeit widmen. Seine Tätigkeit blieb eher zu­rück­hal­tend. Die Immi­grantInnen wur­den dazu aufgefordert, sich nicht laut in deutscher Sprache zu un­ter­halten, bzw. in größe­ren Grup­pen in der Öffent­lichkeit auf­zu­tre­ten.
Synagoge in der Avenida Portugal in Santiago de Chile. Zwischen ’45 und ’94 funktionierte hier das Gemeindezentrum von B’ne Jisroel.
Eine weitere Aufgabe bestand darin, andere Or­ganisationen zu unterstüt­zen. Eine davon organi­sierte Handel und Industrie jü­discher Herkunft, um strategisch jene Marktbe­reiche aus­zu­schal­ten, die ansonsten von Nazis ge­nutzt wurden.
Chile: kein Wunschziel
Eine Bilanz der Akkul­tu­ra­tion, deren Probleme auch als ge­nerationsspezi­fisch zu cha­rak­te­risieren sind, muß die “Rück­wärtsgewandtheit des Exils” berücksichtigen.
Der Berufseinstieg fing nur zum Teil die durch die Flucht be­dingte soziale De­klassierung auf und ließ nicht immer den Wie­der­einstieg in eine bürgerliche Existenz erhoffen. Das Exil en­dete keineswegs mit dem Ab­schluß eines Arbeitsver­trages, der Eröffnung eines Geschäftes oder Kleinun­ternehmens in Chi­le. In Südamerika erkannte jeder sogleich die EmigrantInnen, und daß man überhaupt als Emigrant bezeichnet wurde, “das machte es umso schwerer, zum Im­mi­granten zu werden.”
Da die Europäer in den Län­dern Lateinamerikas den Ruf hö­herer Bildung genossen, kam die Bevöl­kerung den ImmigrantIn­nen zwar mit Respekt ent­gegen, allerdings ebenso mit ironischer Distanzie­rung von deutschem Fleiß und deutscher Pedanterie, Pünktlichtkeit und Ar­beit­sam­keit, aber auch Überheblichkeit. Dennoch zählten die Deutschen in Chile zur beliebtesten aus­län­dischen Minderheit: Wer heute unter EmigrantInnen zu wählen hätte, meinte der von 1939 bis 1943 amtie­rende US-ame­ri­kanische Botschafter in Chile Claude G. Bowers, der würde die Deutschen vorziehen.
Von den Einheimischen als Deutsche betrachtet, re­prä­sentierten die deutsch-jüdischen Emi­grantInnen die von Chile­nen als “typisch deutsch” bezeich­neten Tugenden. Dieser Rückzug brachte teilweise eine enorme Ab­grenzung gegenüber der chilenischen Kultur mit sich.
Indem sie die chilenische Staatsbürgerschaft erwar­ben, drückten die Immi­grantInnen zu­mindest in den ersten Jahren des Exils weniger ihre Dankbarkeit oder nationale Solidarität aus, als ihre Distanz zum Herkunftsland, das sie, wenn nicht bereits vor 1941, so doch seitdem kol­lektiv aus­gebürgert hatte. Sie wollten die allenfalls als Rehabilitation, keinesfalls jedoch als Wieder­gut­ma­chung zu bezeichnende Wie­der­einbürgerung nicht erwerben und sich nicht den hiermit ver­bun­denen , häufig ent­wür­di­gen­den und quälenden Ver­fahren aus­setzen, das sich über Jahre hin­ziehen konnte. Die Chile-Emi­grantInnen grif­fen die Frage der Staats­bürgerschaft insofern nicht im Kontext der Integration in das Exilland auf- viel­leicht, weil man erfahren hatte, wie we­nig die Staats­bürgerschaft zählen konnte.
Dennoch beantragte die zweite Generation der NS-Ver­folg­ten und ihre Kinder die chi­le­nische Staatsbür­gerschaft offen­bar weder sehr früh noch in über­wie­gender Mehrheit. Gründe hier­für sind nur mutzuma­ßen. Sie können wie in Ar­gentinien auf die unsiche­ren politischen Ver­hältnisse zurückzuführen sein, die viele ImmigrantInnen in La­teinamerika zur Wieder­an­nah­me der deutschen Staats­bür­ger­schaft veranlaß­ten. Im Jahr 1970 führte beispielsweise die Wahl Sal­vador Allendes zum Staats­prä­sidenten Chiles, die eine weit­aus stärkere Flucht­bewegung der deutsch­sprachigen Emigra­tion aus­löste, als der Putsch der Mi­li­tärs unter General Augusto Pi­nochet 1973, zu einem Anstieg der Wie­dereinbürgerungsanträge. Über 2.000 jüdische Emi­grant­Innen verließen 1970 in kür­ze­ster Zeit ihr Exilland.
“Selbstisolierung”
Den älteren jüdischen Emi­grant­Innen war und ist es be­wußt, daß sie trotz jahrelanger An­sässigkeit im Land “zu ihren ein­heimi­schen Nachbarn noch im­mer nicht den richtigen Kon­takt gefunden haben.” Handelte es sich um eine “Selbstisolierung”? Ein Teil der jüdischen Emi­grantInnen, von denen hier die Rede ist, schloß sich der 1938 gegründeten deutsch-jüdischen “B`ne Jisroel” an, um an ihrem Gemeindeleben, den Got­tesdiensten, Veranstal­tun­gen etc. teilzuhaben. Die Ge­mein­de übernahm die Funktion einer “Heimat in der Fremde” und gab den Flüchtlingen Halt und soziale Sicherheit. Die Teil­nahme beziehungsweise Mit­glied­schaft implizierte nur in gewissem Maße eine Hin­wendung zum religiösen Le­ben, in jedem Fall aber zu einem be­wußten Juden­tum und dessen na­tio­naler Heimat Israel.
Der eingangs erwähnte para­doxe Eindruck eines Rückzugs auf das Deutschtum sollte nicht vor­wiegend als Abgrenzung von der Kultur des Auf­nahmelandes, wel­che ein­zelnen häufig fremd ge­blie­ben ist, oder als “Ko­lo­ni­sten­mentalität” be­wertet werden. Die Emi­grantInnen bewahrten sich ein “deutsches Kulturle­ben”, von dem sie sich nicht trennen woll­ten, und über­brückten auf diese Weise die Fremdheit in der neuen Umgebung. Unter den deutsch-jüdischen Im­mi­grant­Innen der ersten bei­den Gene­rationen bil­dete sich viel­fach eine “drei­geteilte Identität” heraus: Man bekannte sich zum Juden­tum, fühlte sich der deutschen Kultur ver­bunden und be­trachtete das Auf­nahmeland weit über das Gefühl der Dank­bar­keit hin­aus als seine Heimat. Die chilenische Gesellschaft hat die­se Identität, wenn­gleich sie nach Auschwitz durchaus einer er­neuten Selbstversicherung be­durf­te, keinem Assi­mi­la­tions­druck ausgesetzt. Weitaus die Mehr­heit der deutsch-jü­di­schen Emi­grantInnen ist in Chile ge­blie­ben, eine Rückkehr nach Deutsch­land stand nicht zur Dis­kussion.

Von der Autorin liegt eine Dissertation über das “Exil in Chile” vor. Dort wird auch das politische Exil und die Haltung der deutschen Ko­lonie berücksichtigt.
Irmtrud Wojak, Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration wäh­rend des Nationalsozialis­mus 1933-1945, Berlin, METROPOL;1994)

Editorial Ausgabe 250 – April 1995

Als die sandinistische Armee Nicaraguas im Frühjahr 1988 in einer großangelegten Offensive die Contra-Banden aus dem Norden des Landes verjagte und dabei einigen Einheiten auch über die Grenze nach Honduras folgte, da dauerte es keine 24 Stunden, und die USA waren mit ihrer berüchtigten 82. Luftlandedivision zur Stelle – “auf Bitten” einer verschüchterten honduranischen Re­gierung, die zunächst gesagt hatte, sie wisse nichts von einer nicaraguanischen Invasion, nach acht Stunden Bearbeitung durch den US-Botschafter in Tegucigalpa aber dringend um Hilfe gegen den nicaraguanischen Einmarsch bat.
Als Nato-Partner Türkei Mitte März mit 35.000 Soldaten, unterstützt von der Luftwaffe und schwe­rer Artillerie auf der Su­che nach Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdi­stans (PKK) in den Nordirak einmarschierte, ließ die US-Regierung verlauten, sie habe “volles Ver­ständnis” für die “Sicherheitsbedürfnisse” der tür­kischen Seite, doch möge sich die türkische Armee bitte bald zu­rückziehen. Dabei hat die US-Regie­rung selbst Probleme, ihrer eigenen Öffentlichkeit zu erklä­ren, warum die Kurden im Nordirak seit dem Golfkrieg vor An­griffen des Irak geschützt werden, die türkische Armee aber im gleichen Ge­biet mit Kampfbom­bern mutmaßliche PKK-Lager unter Feuer neh­men darf und die aus Tür­kisch-Kurdi­stan geflohenen ZivilistInnen erneut verfolgt.
Nun war die US-Außenpolitik noch nie von mo­ralischen, ideologischen oder gar ethischen Grundsätzen geleitet, außer von dem Grundsatz der Machtausübung und deren Durchsetzung – und insofern würde all das nicht Wunder nehmen, wenn denn klar zu verstehen wäre, was die USA eigentlich strategisch in der Region erreichen wollen.
Da setzen die USA ein ums andere Mal im UN-Sicherheitsrat durch, daß das Embargo gegen den Irak wieder um einige Monate verlängert wird, obwohl Frankreich und andere Staaten längst auf dessen Aufhebung drängen. Da zeigt die US-Re­gierung volles Verständnis für die türkische Militär­offensive, während ein Republikaner im Unterhaus die Einstellung der Hilfe für die Türkei wegen der Menschenrechtsverletzungen fordert.
Die türkischen Generäle bauen darauf, daß die türkische Armee entweder selbst eine “Pufferzone” im Nordirak errichten kann oder aber die iraki­schen Militärs wieder die Kontrolle über die Schutzzone über­nehmen und die Grenze zur Türkei militärisch si­chern. Und so sind die USA nach ei­ner Politik, die ziellos irgendwie Einfluß sichern will, endgültig im Zugzwang. Das Ergebnis sind konfuse Reaktionen und unsicheres Umhertapsen auf diplomatischem Feld.
Die Europäische Union ist da keinen Deut bes­ser. Deutsche Waffen sind auch im Nordirak mit dabei, der Außenminister will davon mal wieder nichts wissen. Der Innenminister läßt sich zwar von den Menschenrechtsorganisationen der Tür­kei detailliert die Praktiken des Folterstaa­tes ge­genüber der kurdischen Bevölkerung be­schreiben, nur um daraufhin zu verkünden, natür­lich könne man Kurden dorthin abschieben. Der Weg der Türkei, so befürchten viele, könnte eini­ges mit dem Lateinamerikas der siebziger zu tun haben: Eine Gesellschaft, deren innerer Zu­stand von den Mi­litärs bestimmt wird, deren in­ternationale Position aber vom strategischen In­teresse der westlichen Partner abhängt.
Die letzten Jahre haben verschiedene Arten von Konflik­ten gezeigt: Den der Großmacht gegen die kleine. Hier beschränkt sich die internationale Reaktion auf diplomatisch formulierte “Sorge” – siehe Rußland/Tschetschenien, Türkei/Kurdistan. Den der kleinen untereinander an der Peripherie: Hier ist die Reaktion entweder Nichtstun (Sudan), ent­setztes Nichtstun (Ruanda), die eigenen Mili­tärs ausprobieren (Somalia) oder herzlich Lachen (Peru/Ecuador). Den der kleinen am Rande der Metropole, wo mit Flüchtlingen zu rechnen ist: Hier wird die Demo­kratie verteidigt (Haiti). Und den in strategisch wichtiger Lage, wo die Macht­interessen der neuen Weltmächte aufeinander­treffen: Es ist noch nicht ausgemacht, wie man damit umgeht (Ex-Jugoslawien).
Mit der Propaganda der “neuen Welt­ordnung”, der Verteidigung der friedlich vor sich hinträl­lernden Völkergemeinschaft gegen etwaige Ag­gressoren, wie noch im Golfkrieg verkündet, hat all das nichts zu tun – was zu erwarten war.

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