Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters

Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.

Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.

Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.

Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.

Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”

Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.

Lateinamerika im Fußballfieber

Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?

Die Vorstellung mit Kolumbien zu begin­nen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstan­den. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbia­nern im Rückspiel in Buenos Aires Histo­risches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Ge­schichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthu­siastisch feiernden AnhängerInnen. Über­schäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleit­erscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Prä­sident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Or­den des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußball­fachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Kniever­letzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wie­der fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.

Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”

Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haar­tracht, die er als Ausdruck seiner Lebens­freude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spiel­zeug und nicht als schnöder Arbeitsgegen­stand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Tech­nik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schla­gen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unum­schränkt anerkannt, wird er als Anspiel­station permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondi­tion von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinter­herrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerika­meister­schaft) im letzten Jahr zeigte er neben den ge­wohnten techni­schen Kabinettstückchen auch unge­wohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Matu­rana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Län­der­spiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätz­liche Berechtigung. Die Wertschätzung ist in­des nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jah­res gewählt.

Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie

In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deut­schen Fans ist er durch seine Schauspiel­einlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wie­der quicklebendig auf dem Platz aufzutau­chen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Aus­gleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valder­rama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spa­nischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Rich­tig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folg­lich kehrte er 1992 nach Kolumbien zu­rück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Ka­ribikküste. Mit dem dortigen Klub Atlé­tico Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Viel­leicht doch von europäischem Effizienz­denken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Bunt­heit?

Mexiko – Heimvorteil im Gringoland

An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Me­xiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfeh­lung ruchbar wurde, folgte die empfindli­che Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausschei­dung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalter­land USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmung­vollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal ge­schlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spie­lenden Hugo Sanchez den Rang abgelau­fen hat.

Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleider­kombinationen”

Der jetzige US- und ehemalige mexikani­sche Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumin­dest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Aus­gleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschie­den zu sichern. “Das Ganze ist keine in­szenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma be­freit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Tor­wart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Ver­einsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Hei­matstadt Acapulco. Andere Berichte kol­portieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.

Kleider machen Leute

Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Gren­zen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefal­lenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkom­binationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.

Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft

Bolivien hatte nun wahrlich bei der Pro­gnose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fuß­ballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Boli­vien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mann­schaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der impo­santen Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war ge­schafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exil­gemeinden Washington-Georgetown, Bu­enos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstam­men der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staats­sekretär für Sport Rolando Aguilera ge­gründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.

“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler

Seine Ausbildung an der Tahuichi-Aka­demie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Sea­mos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Mög­lichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bo­livar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spani­sche Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhand­nehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bo­livar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienst­möglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chile­nische “Exil” bei Colo Colo Santiago su­chen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mit­wirken in der Schlußphase der Meister­schaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Er­öffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.

Argentinien

Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerika­meister (1993) natürlich Top­favorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Ar­gentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Ar­gentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien be­streiten, um das Ticket für die USA zu er­halten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Natio­nalteam zurück. Trotz mangelhafter Fit­ness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Ar­gentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.

“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokain­sünder” – der Mythos Maradona

Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlag­zeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstrit­ten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen sei­ner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argenti­nien sprach er sich für das Mitte-Links­Bündnis Frente Grande aus.

Teures Wunderkind

Seine von zahlreichen Rekorden und Er­folgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Ein­wechselspieler der Argentinos Juniors Bu­enos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablö­sesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablöse­summe von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportli­che Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.

Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose

Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbst­bewußtseins gegenüber den reichen Städ­ten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiasti­scher gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragen­der Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular ent­fernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte er­klärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, lö­ste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekom­men. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.

Maradona auf der Flucht – die Tragik

Maradona, der sich anfangs in seiner un­antastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Mei­sterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewie­sen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entflie­hen. Er floh weiter. Zunächst vor der ita­lienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spiel­sperre wegen Dopings wollte er seine Kar­riere bei Boca Juniors Buenos Aires fort­setzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Ma­radona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Mara­dona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm ge­mäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zu­sammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder An­gebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.

Brasilien

Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teil­genommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Welt­meisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als In­begriff für Fußballkunst und Fußballzau­ber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay be­rief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmer­star Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestrit­ten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.

Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”

“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schie­ßen.” Romário hat sein Vorhaben ein­drucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er die­ses Jahr souveräner Schützenkönig. In Eu­ropa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Auf­merksamkeit auf sich. Sein darauffolgen­der Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die unge­wöhnliche Finanzierungsart für Schlag­zeilen. Philips hatte von der brasiliani­schen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romá­rios (Vasco da Gama) erhielt im Gegen­zug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.

Der launische Strafraumkönig

Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast aus­schließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplat­zes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nun­mal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjäger­qualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasiliani­schen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museums­reife”. Seinen Stürmerkollegen in der Na­tio­nalmannschaft, Muller, kriti­sierte er hef­tig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé rea­gierte gelassen: “Manchmal sagt man in Eu­ropa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südame­rika be­richtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Super­stars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte ei­nen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoff­nungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários For­derung nach einem Stammplatz zu sei­ner Ver­bannung geführt. Jetzt hält ganz Bra­silien in der Hoffnung still, daß Romá­rio Bra­silien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.

Henkel läßt weiterschnüffeln – fast überall

Auf dem International Forum for Child Welfare sprachen sich im letzten Jahr 45 Nationen für ein gemeinsames Vorgehen gegen die “zunehmende Zerstörung des lateinamerikanischen Kindes durch die Droge Klebstoff’ aus. Zudem wurde in vielen Veröffentlichungen vor den gesundheitlichen Folgeschäden der Klebstoffschnüffelei gewarnt. So schreibt Uwe von Dücker als Ergebnis seiner Untersuchung zur Aufdeckung der Schicksale lateinamerikanischer Straßenkinder im ded-Brief (Deutscher Entwicklungsdienst) 3/93: “Man weiß heute, daß Klebstoff, Lösungsmittel, Aerosole, Narkotine und ähnliche Stoffe Rauschmittel ganz besonderer Art sind. ihr Suchtpotential war je- doch den Herstellern so nicht bekannt. Bei dem Klebstoff handelt es sich um ein dem deutschen “Pattex” ähnliches Produkt, das in Lateinamerika unter unterschiedlichen Markenbezeichnungen vertrieben wird: In Argentinien ist es “Poxiran”, in Chile “Neopren”, in Peru “terocal”. […I Medizinische Untersuchungen über die Folgen der Klebstoffschnüffelei fanden wir trotz unserer regelmäßigen Nachfragen bei den die Straßenkinder behandelnden Ärzten in Lateinamerika nicht. Die Ärzte berichten uns jedoch von irreparablen Schädigungen der Stimmbänder, der Lunge, der Nieren, und der Zerebralfunktionen. Bei regelmäßiger Inhalation würden sich diese Schädigungen in besorgniserregender Geschwindigkeit verstärken und bereits nach einem Jahr als bleibende Behinderungen manifestieren.”
Uwe von Dücker ist Mitbegründer und Vorsitzender der “Internationalen Gesellschaft zur Förderung des lateinamerikanischen Kindes -educación para todos e.V.”.
Diese Organisation schrieb zusammen mit dem “deutschen Kinderschutzbund” und “CODECAL”, einem pädagogischen Ausbildungszentrum aus Bogota, im vergangenen September zum ersten Mal den Henkel-Konzern an: “Wir vertreten das Ziel, den allerorts in Lateinamerika auf die Straßen strömenden Kindern zu einer menschenwürdigen Zukunft zu verhelfen. Hierbei versuchen wir die am stärksten betroffene Gruppe, die auf der Straße lebenden Kinder, zu erreichen, und mit gezielten Programmen der Sozialarbeit zu unterstützen.” Weiter fordern sie eine Stellungnahme Henkels zu der weltweiten Produktion von Klebstoff und der Möglichkeit einer Entgiftung oder Einstellung der Produktion.
Henkel antwortet daraufhin: “Wir haben entschieden, zum 01.10.94 alle dem Endverbraucher in Zentralamerika angebotenen Kontaktkleber lösungsmittelfrei zu produzieren und auf den Markt zu bringen. Wir sind uns bewußt, daß wir damit einen Teil der Kunden aus dem Kleingewerbe verlieren werden, sind aber bereit, diese Verluste hinzunehmen.”
“Educación para todos” nahm diese Entscheidung zwar mit “Genugtung” entgegen, wies aber entschieden darauf hin, daß sich die Entgiftung von Pattex nicht allein auf den mittelamerikanischen Raum beziehen kann, wo Henkel nach eigenen Angaben nur mit 5-7 Prozent an der Klebstoffproduktion beteiligt ist. Es bleibt also abzuwarten, ob es Henkel nun wirklich um die Gesundheit der Straßenkinder geht, oder es sich einzig und allein um eine imageaufbessemde Alibiaktion handelt.
Vom 12.-17. September wird zum Thema Streetwork mit Straßenkindern ein internationaler Kongreß in Santiago/Chile stattfinden. Dort wird das zunehmende Problem der Klebstoffschnüffelei
zentrales Thema sein.

“Homo Elendsviertel” in Peru

“Der dritte Sendero: Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen” hat der Züricher Rotpunktverlag die deutsche Übersetzung betitelt. Ein vielversprechen­der Auftakt für alle, die weder im Terror Sendero Luminosos noch im hemmungs­losen Kapitalismus Fujimoris eine demo­kratische Perspektive entdecken können. Nur hält das Buch nicht, was der Titel verspricht. Zunächst einmal schreibt Jean-Michel Rodrigo nur über Lima, die Pro­vinz ist kein Thema. Sendero Luminoso wird ebenso in einem Unterabschnitt ab­gehandelt wie die Regierungszeit von Fu­jimori. Letzteres kann nicht überraschen, baut Rodrigo doch den größten Teil des Buches auf einem längeren Peru-Aufent­halt Ende der 80er Jahre auf, noch vor dem Regierungsantritt Fujimoris. Daraus resultiert auch die große Schwäche seiner Beschreibungen Limas. Der Reportagestil suggeriert Aktualität, aber wenn Rodrigo von Hyperinflation und von Spekulation mit Lebensmitteln berichtet, ist das längst Geschichte und hat mit den Problemen des täglichen Lebens im heutigen Lima nicht mehr viel zu tun.
Jean-Michel Rodrigo geht es in bester lin­ker Tradition um “das Volk”. Die vier Ka­pitel beschäftigen sich mit den Landbeset­zungen in Lima und mit der Organisation des Überlebens. Kapitel 3 trägt die schwülstige Überschrift “Die wiederge­fundene Ehre der Frauen”, und im letzten Kapitel “Die Wegkreuzungen” erscheinen schließlich auch die Akteure, die Peru in den letzten Jahren geprägt haben: die Neoliberalen und Sendero Luminoso.
Susan George, Leiterin des “Transnational Institute Amsterdam”, schreibt in ihrem Vorwort: “Sie werden in diesem Buch …[keine] kindliche Linksromantik fin­den…”. Sie muß ein anderes Buch gelesen haben, denn sobald es um “das Volk” geht, romantisiert es heftig auf fast jeder Seite. Da beschwört Rodrigo mit Ausru­fungszeichen “die Solidarität des bäuerli­chen Kollektivs”, die auch in der Stadt funktioniere, und das für seine Selbstver­waltung berühmte limenische Stadtviertel Villa El Salvador wird “von 300.000 un­beugsamen Menschen bewohnt”. Asterix läßt grüßen. “Sieben Jahre lang bin ich durch die Elendsviertel von Lima gezo­gen”, so Rodrigo, “In diesem Buch lasse ich die Menschen so oft wie möglich zu Wort kommen. Ich habe mich bemüht, die Spontaneität ihrer Berichte zu respektie­ren… .” Lange Originalzitate hat Rodrigo zwar in seinen Text eingebaut, aber er re­duziert die existierenden Menschen zur Schablone, eben zur Gattung “Homo Elendsviertel”: eine Schablone für die Träume eines linken Intellektuellen vom “guten und solidarischen Volk”. Eine Schablone, die nichts über Peru, aber viel über einen Jean-Michel Rodrigo aussagt, der in sieben Jahren offenbar nur gesehen hat, was er sehen wollte.
Gerade einmal in Randbemerkungen er­scheinen zum Beispiel die heftigen Kon­flikte zwischen StraßenhändlerInnen um die guten Standplätze, wie sie in Lima an der Tagesordnung sind. Mit keinem Wort erwähnt Rodrigo, wie viele Bewoh­nerInnen der pueblos jóvenes die linken politischen Sprüche nicht mehr hören können, wie tief ihr Mißtrauen gegen alle “Politik” ist, weil sie gerade von denen, die ständig von Solidarität und Kampf re­deten, so oft enttäuscht worden sind. Ver­geblich warten die LeserInnen auf Erhel­lendes, wie angesichts der Krise der “Volksbewegungen” die von ihnen ausge­hende Alternative aussehen könnte. Eine Krise im übrigen, die nicht erst mit Fuji­mori begann, sondern 1989 längst schon offensichtlich war. Jean-Michel Rodrigo stört es nicht. Er konstruiert Heldinnen und Helden, solidarisch und kämpferisch: Sozialkitsch pur.
Der Anspruch, die BewohnerInnen der Vorstädte Limas als Menschen ernst zu nehmen, bleibt dabei auf der Strecke. Ge­meinsamen Kampf um Land und Wasser, um das Recht, auf der Straße zu verkaufen und um Bildung gibt es immer noch, trotz aller Krise der “Volksorganisationen”. Aber Rodrigo stellt sich gar nicht erst die Frage, unter welchen besonderen Bedin­gungen, aus welchen individuellen Strate­gien heraus solches kollektives Handeln entsteht. Oder eben auch oft nicht entsteht. Was im “Dritten Sendero” übrigbleibt, ist nur noch schwärmerische Verklärung, ein Mythos, aber kein Bild von Realität.

Jean Michel Rodrigo: “Der Dritte Sendero. Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen”. Rotpunkt­verlag, Zürich 1993

Editorial Ausgabe 238 – April 1994

Auf dem Redaktionstisch liegen sie re­gelmäßig: die Aufrufe und “Urgent Acti­ons” in Sachen Menschenrechtsverletzun­gen von politischen Aktionsgruppen aller Art. “A wurde verhaftet, B ist verschwun­den, bitte richten Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von …” – eine Fülle von Einzelschicksalen verlangt nach Öffentlichkeit. Sofort veröffentlichen? Der Zuspruch in der Redaktion hält sich in Grenzen, verdichten sich die vielen Ein­zelfälle doch immer wieder zur Kernaus­sage “es ist alles weiterhin so schlimm wie schon seit Jahren”. Und mit der Schlag­zeile “Nichts Neues” ist nun einmal keine Leserin zum Weiterlesen zu bewegen.
Ob­wohl die Fälle mit Namensnennung, Schilderung der persönlichen Geschichte des Betroffenen und mit konkreter Hand­lungsanweisung geliefert werden, bleiben sie merkwürdig anonym. Die Texte wirken oft, als seien gegenüber früheren Aufrufen nur das Land und der Name des Betroffe­nen geändert worden. Der Telegrammstil der Schilderungen läßt die Schicksale austauschbar erscheinen.
Nur wenige Fälle von Menschenrechts­verletzungen werden zum nachrichtenre­levanten Thema. So zum Beispiel in Fällen spektakulärer Grausamkeit: Ein Massaker mit 50 Toten in zehn Minuten ist eine Nachricht, 50 tote Straßenkinder im Ver­lauf mehrerer Monate bleiben im Hinter­grund. Oder ein Menschenrechtsfall führt zu politischen Konsequenzen wie jüngst in Peru. Die verkohlten Leichen eines Pro­fessors und von neun StudentInnen der Universität “La Cantuta” werden gefun­den; die Morde wurden offensichtlich 1992 von Militärs begangen. Spektakulär daran war nicht die Tatsache der Morde, sondern die Art und Weise, wie Präsident Fujimori den Fall der Militärgerichtsbar­keit zuschob und damit den Rücktritt sei­nes Premierministers provozierte.
Aufschlußreicher wird es, wenn Men­schenrechtsverletzungen zu gesellschaftli­chen Entwicklungen in Bezug gesetzt wer­den können. In Lateinamerika haben sich Art, Häufigkeit und Zielgruppe von Men­schenrechtsverletzungen verändert. Wa­ren es in den achtziger Jahren noch die politischen GegnerInnen der Diktaturen, die zu Opfern wurden, nimmt beispiels­weise Brasilien heute eine traurige Spitzenposi­tion bei Menschenrechtsverlet­zungen neuen Typs ein: “soziale Säube­rungen”, das Ausmerzen derer, deren Exi­stenz die Wohlhabenden stört: Straßen­kinder, Ob­dachlose etc..
Amnesty International hat am 15. März eine weltweite Kampagne gegen Men­schenrechtsverletzungen in Kolumbien eingeleitet. Eine Mappe mit Einzelfallbe­schreibungen gehört zu den Unterlagen, vor allem aber umfangreiches Material über die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Sollte Amnesty es im Rahmen einer solchen Kampagne schaffen, gesellschaftliche Zusammen­hänge in bezug auf Menschenrechtsverlet­zungen auch in der täglichen Kleinarbeit zum Thema zu machen? Die Kampagne könnte zu einem Beispiel werden, wie mit dem Thema der individuellen Menschen­rechte jenseits von endlosen Einzelfall­Listen und von Sensationssuche umgegan­gen werden kann.
Vielleicht bliebe dann auch noch die Zeit, ein paar Briefe zum einen oder anderen Einzelfall abzuschicken. Auch wenn nicht gleich die ganze Welt rettet, wer einen Menschen rettet, wie Oskar Schindler (der mit der Liste) mit auf den Weg gegeben wird, bleibt doch der eine Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.

“Wie schwer es ist, Gott zu sein”

Auf der Suche nach dem Schwert der Wahrheit

Die Kinder der betrogenen Sinnen auf Rache

Wie so oft in unserem Land muß man bis zu den Anfängen zurückgehen. Die Entstehung Perus und den Triumph der Eroberer könnte man unter anderem als Ergebnis ei­ner Manipulation der Kommunikation sehen. Bei der Begegnung von Cajamarca, die dieses Land 1532 entstehen ließ und besser als Hinterhalt von Cajamarca zu bezeichnen wäre, erscheint Pater Valverde mit einem Buch, der Bibel, in der Hand und sagt zu Atahualpa: “Dies ist das Wort Gottes”. Der Inka, des Lesens und Schreibens unkundig, hält sich das Buch ans Ohr, hört kein Wort, wirft die Bibel auf den Boden und “rechtfertigt” für die Spanier mit dieser Tat die Eroberung.
Vom ersten Augenblick an diente so die Beherrschung der spanischen Sprache, das Lesen und Schreiben als Instrument der Herrschaft. Es gibt eine Überlieferung von Ricardo Palma, über die Max Hernández berichtet: Ein Konquistador, der in Pachacá­mac Melonen anbaut, schickt einige reife Früchte als Geschenk an einen in Lima lebenden Freund. Den damit beauftragten Indios gibt er einen Brief mit und warnt sie davor, von den Melonen zu essen, der Brief würde sie verraten. Auf halbem Wege, versucht durch Hunger und den Duft der unbekannten Frucht, verstecken die Indios sorgfältig das Papier und essen einige Melonen im Vertrauen darauf, daß der Brief es ja nicht gesehen haben konnte. Die Überlieferung schließt mit dem Erstaunen dieser Indios über die Kraft des geschriebenen Wortes, als der Empfänger ihnen genau sagt, wieviele Melonen sie gegessen haben.
So entsteht eine Gesellschaft, die auf Betrug beruht, ermög­licht u.a. durch das Monopol derer, die die spanische Sprache in Wort und Schrift beherrschen. Seitdem schwanken die unterworfenen Völker zwischen Resignation und Rebellion, zwei extreme Pole, die in Wirklichkeit höchst ambivalent auftreten.
Die Resignation hat sogar in Mythen Eingang gefunden. Eine Variante des Inkarrí-Mythos sagt zum Beispiel, die “mistis”, die mestizischen Provinzeliten, seien ein Betrug der Schöpfung. Sie seien die letz­ten Söhne Gottes und bildeten sich viel darauf ein. Gott habe ihnen die Gabe gegeben, Spanisch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Dadurch “können sie tun, wozu sie Lust haben”. Ihre Herrschaft ist also willkürlich, sie ist die totale Beherr­schung.

Mit Prometheus Spanisch lernen

Die andere Haltung ist die der Rebellion, die sich ihrerseits zwischen zwei gegensätzlichen Polen bewegt: dem Rückzug der Andenkultur auf sich selbst, also die Ablehnung des “Okzidents”, oder der Aneignung der Herrschaftsinstrumente der Sieger. Beide Elemente lassen sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Bewegung des Takiy Onqoy zu Beginn des 17. Jahrhunderts stellt ein Beispiel für den Rückzug dar. Aber mit der entgegengesetzten Haltung gibt es zum Beispiel Manco Inca II., der versucht, eine Kavallerie aufzustellen und im Kampf gegen die Spanier Feuerwaffen einzusetzen. Túpac Amaru II steht ebenfalls dieser Position näher, Túpac Katari, der ersteren. Der entscheidene Punkt ist, daß im 20. Jahrhundert die Form der Rebellion vorherrscht, die versucht, sich die Machtinstrumente der Herrschenden anzueignen, darunter auch ein Schlüsselinstrument: die Erziehung. Den “mistis” das Monopol ihrer Kenntnisse zu entreißen, kommt der Tat des Prometheus gleich, den Göttern das Feuer zu rauben. Hier und heute nimmt die Bevölkerung des Hochlandes denen, die sich wie Götter aufführten und so die totale Herrschaft ausübten, ihr Monopol auf die spanische Sprache.
Die Vehemenz, mit der die andine Bevölkerung im Laufe dieses Jahrhunderts die Eroberung der Bildung betreibt, ist außergewöhnlich. Nach Zahlen von CEPAL (1985) über die Reichweite des Bildungssektors, rückt Peru unter den lateinamerikanischen Ländern vom 14. Platz im Jahr 1960 auf den 4. Platz 1980 auf. In den nach Definition der UNO etwa 70 “Ländern mit mittlerem Entwicklungsstand” steigt der Prozentsatz der Jugendlichen zwischen 18 und 25 Jahren mit höherer Schulbildung zwischen 1960 und 1980 von 17 auf 52 Prozent an, im gleichen Zeitraum steigt er in Peru von 19 auf 76 Prozent. Dieser Bildungsschub übertrifft nicht nur weit die Anstrengun­gen des Staates, sondern entwickelt sich zu einer Gegenströmung zur Rückzugstendenz des Staates, denn seit Mitte der 60er Jahre nehmen die Aufwendungen des Staates für den Bildungssektor relativ ab (Degregori 1989). Wir gehen also von der Hypothese aus, daß der Drang nach Bildung in der andinen Bevölkerung stärker ist als in den kreolischen Unterschichten.

Was zählt, ist die Wahrheit

Aber was sucht diese andine Bevölkerung in der Bildung? Sicherlich suchen sie praktische Instrumente für ihren Kampf gegen die “mistis” und die lokalen Machthaber und wollen sich einen Platz in der “nationalen Gesellschaft” verschaffen. Sie wollen lesen, schreiben und rechnen lernen. Aber darüberhinaus suchen sie die Wahrheit. Verschie­dene Zeugnisse, die gerade in Ayacucho, dem Ursprungsort des Leuchtenden Pfades, während einer für unser Thema sehr wichtigen Phase gesammelt wurden, können diese Behauptung untermauern. 1969 entstand in Ayacucho und Huanta eine bedeu­tende Bewegung, die die Wiedereinführung des kostenlosen Unter­richts forderte, der von der Regierung Velasco abgeschafft worden war. So waren die jungen Oberschüler der Auslöser, aber auf dem Höhepunkt der Bewegung nahmen Bauern die Stadt Huanta ein, und in Ayacucho fand ein massiver Aufstand der städtischen Unterschichten statt. Kurz darauf fragte Aracelio Castillo einen Bauernführer aus Huanta, wie er die Situation der Bauernschaft sehe. Dieser antwortete:

Klar, verglichen mit den Zusammenstößen in früheren Zeiten ist es heute schon etwas besser. Aber es ist Schulung nötig, jemand müßte eine Orientierung geben, Ausbildungskurse müßten stattfinden …., um zu sehen, wie wir am besten vorankommen und gegen den Betrug und die Entrechtung vorgehen können, sonst werden wir arm und ausgebeutet bleiben.”

Sich weiterbilden bedeutet also soviel wie “sich vom Betrug befreien”. Bildung bekommt damit einen systemsprengenden Charakter. Ein Führer aus einem Vorort von Ayacucho sagt Castillo kurz nach der Bewegung von 1969:
“Es hat Mobilisierungen gegeben, als sie unsere Universität San Cristóbal de Huamanga schließen wollten. Andere nennen die Universität einen Ort, an dem gute Christen verdorben werden… anstatt zu sagen, daß die Universität uns die Augen öffnet, daß wir dort etwas Neues, etwas Objektives lernen. Das gefällt ihnen nicht, es paßt den anderen absolut nicht, weil sie wollen, daß wir weiterhin betrogen werden…”
Diesem Betrug, der auf die Eroberung und Kolonialisierung zurückgeht, würde sich die “objektive Wahrheit” entgegenstellen, zu der man durch die Bildung gelangen kann. Als die Bewegung für den kostenfreien Unterricht in vollem Gange war, erschien in einem Kommuniqué der “Front zur Verteidigung des Volkes von Ayacucho” folgende Formulierung:
“Die Militärjunta hat den kostenlosen Unterricht abgeschafft, weil sie genau weiß, daß, wenn die Kinder der Arbeiter und Bauern ihre Augen öffnen, ihre Macht und ihr Reichtum gefährdet sind”
Die traditionelle Macht, die nicht nur auf dem Monopol der Produktionsmittel, sondern dazu auf dem Monopol des Wissens und dessen betrügerischem Gebrauch beruht, zerfällt in dem Maße, wie die Beherrschten beide Monopole brechen. Deswegen erscheint die Schulbildung als Überwindung des Betrugs und folglich als Aufstand und “Gefahr” für die Herrschenden.
Auch wenn der Kampf für den Unterricht auf sozialer Ebene offensichtlich demokratisierende Effekte hat, bringt er nicht notwendigerweise einen demokratisch qualitativen Fortschritt in allen politischen und kulturellen Bereichen mit sich. Wenn wir zum Beispiel auf die Äußerungen des Führers aus Huanta zurückkommen, sehen wir, daß die Landbevölkerung “Schulung benötigt”, daß von einem implizit Außenstehenden “Orientierung gegeben werden muß”. Die alte hierarchische Ordnung wird so auf die Beziehung Lehrer (Mestize/Städter) – Schüler (Bauer/Indio) übertragen. Die massive Vermittlung von Bildung läßt sich also durchführen, ohne substanziell die Vorstellung der traditionellen Gesellschaft aufzugeben. Das Resultat wäre keine befreiende, son­dern eine autoritäre Erziehung.

Wissen = Fortschritt = Tugend

Als Castillo denselben Bauernführer fragt: “welche Ziele würden Sie der bäuerlichen Bevölkerung von Huanta wünschen?”, wird die Komplexität der bäuerlichen Vorstellungen noch deutlicher:
“Das oberste Ziel ist der Fortschritt der Landbevölkerung. Das hieße eben, daß ihre Mitarbeiter oder besser gesagt ihre Führer eine Richtung vorgeben würden, um den Fortschritt zu erreichen, nach meiner Vorstellung, und dabei die Laster zu vermeiden, die die Bauern haben, die Laster wie Schnaps, Coca und Zigaretten, wenn es damit so weitergeht, werden wir nie ein besseres Leben erreichen.”
Die Assoziation von Unwissen und Laster hielten wir für ein Erbe der oligarchischen Ideologie, aber wir sehen, daß sie auch Teil der bäuerlichen Denkweise sein kann, wo sich das vehemente Fortschrittstreben mit der Forderung nach einer konservativen moralischen Ordnung (Ablehnung von Alkohol, Coca und Zigarretten) und Vorstellungen von der Notwendigkeit eines “Führers” vermischt, der sie zu den angestrebten Zielen führen möge. In welchem Maße liegt es an der Gesprächssituation mit dem Professor Castillo, daß der Bauer die Notwendigkeit einer Orientierung von außen betont? Wir wissen es nicht, aber in jedem Fall scheinen diese Wünsche sowohl durch die Angebote einiger protestantischer Gruppierungen als auch durch den Leuchtenden Pfad befriedigt werden zu können.
Fest steht, daß die logische Folge der Forderung nach einem Führer von außen die Entwicklung eines Caudillo-Lehrer-Modells ist, wie es von Sendero Luminoso repräsentiert wird. Nach diesen Äußerungen sind auch der moralisierende Charakter Senderos und seine Strafen für Ehebrecher und Trinker besser zu verstehen. Ebensowenig verwundert der Erfolg, den in den 70er Jahren die Marxismus-Handbücher, so z.B. von Politzer, Martha Harnecker und besonders von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, an den Universitäten des Landes hatten. Denn es sind die Kinder der Betrogenen. – junge Leute andiner Herkunft aus den Provinzen -, die damals massenweise an die Universität gehen und dort auf den Marxismus-Leninismus in einer stark vereinfachten Version treffen, definiert als einzige “wissenschaftliche Wahrheit” und legitimiert durch die Bezugnahme auf die Klassiker (“Lehrer”) des Marxismus als Prinzip der Autorität. Diese Wissenschaft fordert eine neue, aber strikt hierarchische Ordnung, in der sie durch den Beitritt zur Partei und ihrer Wahrheit von der Basis bis zum Gipfel der sozialen Pyramide aufsteigen können (Dies betrifft auch die Pyramide des Wissens, handelt es sich doch um Studenten).

Neue Gottheit Wissenschaft

Wir könnten uns fragen, ob sich nicht in diesem so großen Bedürfnis nach Ordnung und Fortschritt in einem noch teilweise ständischen, traditionellen Kontext eine der Wurzeln der fast religiösen Wissenschaftsgläubigkeit bei Sendero Luminoso findet. Für Sendero ist “die Ideologie des Proletariats… wissenschaftlich, exakt und allmäch­tig” oder, wie es in offiziellen Dokumenten formuliert wird: “allmächtig, weil sie wahr ist”. Hier liegt eine der Wurzeln des Personenkultes und der religiösen Überhöhung des “pensamiento Gonzalo”, des Denkens des Vorsitzenden. Der Caudillo-Lehrer ist die fleischgewordene Bildung und damit Führer, Wahrheit und Tugend, weil nach Sendero die proletarische Ideologie, wie man sieht, quasi göttliche Züge trägt. Somit stehen wir einer neuen Gott­heit gegenüber, die fähig ist, diese alten Götter Wiracochas zu stürzen, die die Menschen jahrhundertelang der “totalen Herrschaft” unterworfen haben.
Wenn generell der Zugang zur Bildung bedeutet, den Betrug zu durchbrechen, suchen die Studenten an der Universität mit großem Einsatz noch mehr als die Wahrheit, nämlich Kohärenz. Warum?

Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes

“Er warf noch einen Blick in den Spiegel, in sein hageres, fast blutleeres Gesicht. Dann brach er auf, ohne Eile. War nicht der Nebel tiefer und dichter? […] Schließlich bog er ab und kam auf den Platz des schönen Todes. Geduldig wartete er, bis die Fußgänger sich zerstreut hatten und das Mysterium wieder auftrat. Er wußte genau, daß es eine überwältigende Stärke erlangen würde. Und so kam es auch.” An diesem Abend noch gleitet José María de Alesio hinüber in das Reich des Todes. In der Hand “eine üppige, schöne Blume, in der später jemand eine Amazonasblume” erkennt.
Edgardo Rivera Martínez erzählt in “Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes” eine Geschichte vom Sterben. Melancholisch, poetisch, jedoch nicht traurig.
“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes”, so heißt auch die jetzt im Verlag edition día erschienene Anthologie peruanischer ErzählerInnen. Sie wurde von Luis Fayad und Kurt Scharf für das Berliner Haus der Kulturen der Welt herausgegeben. Siebzehn AutorInnen haben ihre in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entstandenen Geschichten hier veröffentlicht.
Die LeserInnen werden in Lima umhergeführt: von den Oberschichtsvierteln zu den Mittelstandsdiscos, von einem Café im Zentrum in eine Penthousewohnung, in die Vorstädte. Von der Grenze zu Ecuador nach Ayacucho, Arequipa und schließlich nach Europa. So unterschiedlich wie diese Orte, so vielseitig sind auch die Erzählungen selbst.
In “Ein harter Knochen” von Cronwell Jara Jiménez geht es um die Ehre, um Rivalität zwischen Männern und um eine Frau. “Celodonio, du weinst wie ein Weib. Und du stirbst aus Todesangst. Du verdienst, in Weiberröcken zu sterben.” Schlimmer kann eine Beleidigung nicht sein. Schon blitzt der Dolch. Der Junge, der diese Vorgänge erzählt, tut dies als scheinbar Unbeteiligter – selbst wenn er von seinen Tränen spricht. Jara Jiménez beschreibt die Welt der Indígenas ohne Schwarzweißmalerei und ohne Pathos.
Ehre und Rache stehen im Mittelpunkt der beiden Erzählungen “Die Kleider einer Dame” von Alonso Cueto und “Hinter der Calle Toledo” von Teresa Ruiz Rosas. Hier sind es jedoch die Frauen, die die Männer strafen – berechnend und ruhig. Das Aufbegehren gegen die Willkür und Überheblichkeit des anderen Geschlechts findet dabei seinen Ausdruck in Lima ebenso wie im kleinstädtischen Arequipa. Beide Male wählt die Frau die radikale Lösung, die in ihren Augen die einzige ist.
Auch in “Arachne” von José Alberto Bravo de Rueda ist es eine Frau, die sich von ihrem Geliebten verraten fühlt und sich an ihm rächt. Wie in “Hinter der Calle Toledo” spielt bei der Disharmonie der Partner auch der Konflikt zwischen städtischem und ländlichem Lebens eine Rolle.
Durch ihre expressive Sprache zeichnen sich die beiden sehr kurzen Erzählungen von Carmen Ollé und Miguel Barreda Delgado aus. Hier wird deutlich, wie sich Zusammenhänge in der Großstadt auflösen. In “Lince und der letzte Sommer” reiht die Autorin Gedankenfetzen aneinander, setzt mit fast lyrischen Ausführungen an, um sich dann selbst ironisch zu unterbrechen: “Leider haben mich meine Freunde samt meiner Schwermut satt”.
“Ein Telefon ist für mich gefährlicher als ein Maschinengewehr; es tötet leise” – Barreda Delgados Erzählung “Alle Welt liebt dich, wenn du tot bist” drückt die Einsamkeit in der anonymen Großstadt aus, die hier schließlich in den Tod führt. Die Überlagerung von Erinnerung und Gegenwart prägt Julio Ramón Ribeyros Geschichte “Die Jakarandabäume”. Es gelingt ihm, der Stadt Ayacucho einen mystischen, ehrwürdigen, aber auch kleinbürgerlichen Charakter zu verleihen, obwohl die Stadt nur als Bühne für die Erinnerungswelt erscheint.
Träume und Phantasien lassen in “Der schwarze Pianist” von Carlos Calderón Fajardo reale und irreale Welten ineinanderfließen. “Es war an einem Oktobertag im Jahre 1976, ich war ein einsamer Südamerikaner, der in einer Welt lebte, zu der er zwar gehörte, der er aber dennoch völlig fremd war.” Schauplatz ist Europa, Belgien. Ein Student erzählt von den merkwürdigen Jobs, mit denen er sich über Wasser hält. Die zufällige Begegnung mit einem schwarzen Mitreisenden und ein Plakat beflügeln seine Vorstellung von einer geheimen Seelenverwandtschaft der Fremden. Den Herausgebern ist es gelungen, viele Facetten der aktuellen peruanischen Literatur zusammenzustellen und dabei auch AutorInnen zu berücksichtigen, die in Deutschland unbekannt sind. Ein besonderes Lob verdient auch das Vorwort, das, ohne schulmeisterlich zu sein, einen kurzen Überblick über die peruanische Literatur gibt. Natürlich bleibt dieser Überblick sehr oberflächlich, unterliegt dabei aber nicht der Gefahr, einfach nur flach zu wirken. Die Erzählungen sind jede für sich ein kleines Lesevergnügen (obwohl es natürlich “Lieblingsgeschichten” gibt), alle zusammen sind besonders für diejenigen, die nicht mit der peruanischen Literatur vertraut sind, ein guter Einstieg.

“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes. Erzählungen aus dem peruanischen Alltag”; hrsg. v. Luis Fayad und Kurt Scharf im Auftrag des Hauses der Kulturen der Welt, edition diá 1994, 191 Seiten; 34 Mark

Indígenas, Ölkonzerne und der Regenwald

Die Geschichte des Erdöls und ihrer Ölmultis

Ecuador gehört zu den erdölexportierenden Staaten und war von 1971 bis 1992 Mitglied der OPEC. Zwischen den Anden und der östlichen Landesgrenze zu Peru ist es zu finden, das schwarze Gold. Dieses Gebiet, genannt “Oriente” oder “Amazonasregion”, war bis Anfang der 70er Jahre von der “Zivilisation” verschont geblieben. Besiedelt vom Indígena-Volk der Huaorani (auch unter dem Namen Aucas bekannt) hatte der Regenwald und die dort lebenden seltenen Tiere nichts zu befürchten. Nach der Entdeckung des Erdöls in der Amazonasregion vergab die damalige Militärregierung die Konzessionen zur Ausbeutung vor allem an die US-amerikanische Gesellschaft Texaco. Straßen wurden gebaut, SiedlerInnen zogen nach, breitangelegte Rodungen begannen und somit die Natur und damit der Lebensraum der Indígenas zerstört. Texaco unterlag kaum einer Kontrolle und dementsprechend ist auch heute der Zustand des Gebietes. Texaco, City (eine Gesellschaft mit Sitz auf den Bahamas) und die staatliche PETROECUADOR sind die Hauptakteure im Ölgeschäft Ecuadors und auch die Hauptverantwortlichen der entstandenen Umweltschäden. 1992 lief die Ölförderkonzession von Texaco aus. Mittlerweile wird der Multi verklagt, und inzwischen fordern nicht nur Ökologie- und Indígenagruppen Schadensersatz, sondern auch die ecuadorianische Regierung.
Der Ölexport hat eine große Bedeutung für Ecuador. Er macht 60% der Exporterlöse aus und finanziert zu 48% den Staatshaushalt. In dem Amazonasgebiet operieren heute außer PETROECUADOR etwa ein Dutzend ausländischer Ölkonzerne. Die Umweltauflagen und Gesetze zum Schutz des Regenwaldes sind nicht ausreichend oder werden umgangen. 30% des ecuadorianischen Amazonasgebietes wurden schon zerstört. Naturreservate und Nationalparks werden nicht ausgenommen, die letzten Bioreservate Ecuadors werden geopfert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht allerdings: die Ölreserven Ecuadors im Amazonasgebiet werden im Jahre 2010 erschöpft sein.

MAXUS und der Yasuni-Nationalpark

MAXUS operiert schon seit 20 Jahren im Yasuni-Nationalpark. Der Ölmulti hat nicht nur die Förderrechte von CONOCO übernommen, sondern auch den “Plan ambiental de CONOCO para el Bloque 16 dentro del Parque nacional de Yasuni” (Umweltrichtlinien für den Block 16 im Yasuni-Nationalpark). Das Vorlegen eines derartigen Planes ist für alle ausländischen Ölkonzerne zwingend vorgeschrieben. Nach einer Studie des Comité Ecológico-ESPOL ist der besagte Plan allerdings völlig unzureichend für den Schutz des Nationalparks, der von der UNESCO zur “Reserva Mundial de la Biosfera” deklariert wurde.
Die von CONOCO begonnene Zubringerstraße (vgl. LN 235) wird von MAXUS weitergebaut und soll im Jahre 1998 beendet sein. Nach dem offiziellen Plan wird mit dem Bau der Straße eine Waldfläche von 1050 ha zerstört werden. Das entspricht etwa einem Sechstel des gesamten Nationalparks.
Der Ölmulti MAXUS operiert außer in seiner Heimat Dallas/Texas noch in weiteren zwölf Ländern. In der Vergangenheit benutzte er den Namen “Diamond Shamrock Corporation” (Sitz: New Jersey) Nach Angaben der ecuadorianischen Zeitschrift “Infotrop” produzierte die Firma zwischen 1951 und 1969 Herbizide und Entlaubungsmittel, die im Vietnamkrieg eingesetzt wurden. 1984 wurden er zu einer Schadensersatzzahlung an die sogenannten “Agent Orange”-Opfer von 23 Millionen Dollar verklagt. Nur fünf Jahre später “verdienten” er allerdings bei der Reinigung und Entgiftung der Produktionsstätten 26 Millionen Dollar. Die Negativschlagzeilen in diesem Zusammenhang veranlaßten die Manager, eine Namensänderung vorzunehmen. Der Yaruni-Nationalpark wird bei dieser Firma, ob nun MAXUS oder “Diamond Shamrock Corporation” keine großen Überlebenschancen haben.

Anmerkung: In den LN 235 gaben wir die Adresse von CONOCO an, wohin ihr Protestschreiben senden solltet. Da dieser Ölmulti aus dem Amazonasölgeschäft ausgestiegen ist, erledigt sich natürlich das diesbezügliche Protestschreiben. Protestschreiben daher bitte jetzt an:
MAXUS
717 N.- Harwoodstreet

75202 Dallas
USA

Kasten:

Indígenas wehren sich gegen Ölverseuchung

Auf dem Internationalen Kongreß zur Situation indigener Völker in Lateinamerika, der im Dezember 1993 in Berlin stattfand, berich¬tete Galo Villamil von der Verseuchung der Gewässer von 18 indiani¬schen Gemeinschaften. Die Gemeinschaften, die sich im Amazonasgebiet, in der Provinz Pastaza be¬finden, müssen nun Regenwasser sammeln, um nicht zu verdursten. Dort bohrt seit nunmehr einem Jahr die US-amerikanische Firma ARCO nach Öl. Mitglieder einer Indígena-Organisation von Pastaza namens OPIP besetzten nun dieses Erdölfeld, den Block 10 (siehe Schaubild). Ihnen war ein Gespräch mit der Firma ARCO zugesagt worden, um die sozialen und ökologischen Bedingungen der Ölförde¬rung abzuklären. Dieses Gespräch war jedoch in dem Moment abgesagt worden, als große Ölfunde gemacht wurden. Seit 1967 – als erstmals Öl im ecuadoreanischen Amazonasgebiet gefunden wurde – hat dort eine zunehmende Zerstörung um sich gegriffen. 1972 wurde eine 500 km lange Pipeline zu den Raffinerien an der Pazifikküste fertiggestellt. Durch sie floß bisher der Inhalt von eineinhalb Mil¬liarden Fässern Rohöl zum Pazifik. Mehr als die Hälfte des Staatshaushaltes wird durch die Einnah¬men aus dem Ölgeschäft bestritten. Die Folgen für die Umwelt sind immens: Zwischen 1972 und 1989 sind insgesamt 16,8 Millionen Gallonen Öl aus der Pipeline ausgetreten, d.h. die dreifache Menge des beim Exxon-Valdez-Unglück ins Nordmeer geflossenen Öls. Und die Erschließung neuer Ölfelder geht weiter. Gegenwärtig werden auf einer Fläche von 3 Millionen Hektar Probebohrungen vorge¬nommen. Des weiteren werden mit Probesprengungen lohnende Gebiete seismologisch ausfindig ge¬macht. Dafür hat mensch 1300 Hubschrauberlandeplätze im tropischen Regenwald angelegt.

Editorial Ausgabe 234 – Dezember 1993

Eine Bananenschale schwimmt in einer kleinen Pfütze, die der Tankwagen hinter-lassen hat. Einmal die Woche bringt er Wasser. Ein Luxusgut -zu Wucherpreisen. Hütten, konstruiert aus Strohmatten und ein paar Ziegelsteinen. Obendrauf Dächer aus Wellblech und immer wieder Fernsehantennen. Das penetrante Knattern des Stromgenerators ist zu hören. Ein kollektiver Seufzer aus vielen tausend Bäuchen überflutet die Poblacion. 20.59 Uhr.
Gerade eben hat Maria beschlossen, die Untreue ihres Geliebten Jorge mit Flucht zu bestrafen. Der anschließende Werbe- block geht in einer vieltausendstimmigen Diskussion unter. Zweifel, ob sie Jorge nicht noch eine weitere Chance hätte geben sollen, schwirren noch lange über den Dächern Villa EI Salvadors, Lima, Peru. In Villa E1 Salvador wurde der Fernseher unter großen Mühen über den informellen Markt organisiert. Kein fließend Wasser, aber in vielen Hütten ein Fernseher …
Wenn von Medien in Lateinamerika die Rede ist, dominiert in den Köpfen vieler Europäerlnnen die romantische Vorstellung von Indios im brasilianischen Dschungel, die mit hypnotisiertem Blick ein quäkendes Transistorradio beäugen. In etwas weniger klischeehafter Form gibt es natürlich immer noch dieses “Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen “. Doch in wachsendem Ausmaß globalisiert sich die Medienkultur.
Es ist viel über die Kolonisierung der Köpfe geredet und geschrieben worden, über die sexistischen und rassistischen Botschaften der Medienbilder. Von Donald Duck bis Dallas reichte die Palette der Exportschlager, die in Lateinamerika von der Kulturkritik so richtig auseinander- genommen wurden. Alle Hoffnung lag auf einer authentischen, lateinamerikanischen Medienkultur, die nach dem Sieg über den medialen Yankee-Imperialismus beginnen sollte. Heute ist Ernüchterung eingekehrt. Wenn, wie es Thomas W. Fatheuer in “lch glotz TV ” beschreibt, kein Ereignis Brasilien so sehr beschäftigt wie die letzte Folge einer Telenovela, muß neu nachgedacht werden. Ist die Telenovela das lateinamerikanische Derivat der Volksopiate? Gila Klindworth zeigt in “Der Telenovela-Streit “,wie kontrovers die Diskussionen in der Novela-Fabrik Mexiko verlaufen.
Die Welle der Kommenialisierung hat Lateinamerika erfaßt. Radio Venceremos und Radio Farabundo Martí, die einstigen Guerillasender der FMLN in EI Salvador, kämpfen nun um Werbegelder, wie Reimar Paul in “Kommerzialisierung ohne Aus-verkauf” zeit. Mehr denn je produzieren Lateinamerinerlnnen heute für Lateinamerikanerlnnen. Trotzdem sind Bereiche wie der einstmals starke lateinamerikanische Film in großen Schwierigkeiten -Bettina Bremme beschreibt den “Gerupften Vogel”. In den USA boomt derweil das spanischsprachige Fernsehen. Eine “Grenzenlose Zukunft ” bei “Begrenzten In-halten” hat Martin Ziegele entdeckt, als er sich durch die Programme zappte.
Der Neoliberalismus schlägt sich auch im Mediensektor in einer beispiellosen Welle der Deregulierung und Privatisierung nieder. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Alternativmedien in diesem Tohuwabohu veranschaulicht Deidre McFa-dyen’s “Rein in die öffentliche Debatte”. Die “Vernetzung lateinamerikanischer Nachichtenagenturen” könnte eine Antwort darauf sein; “ein schwieriges Unter-fangen” meint Andreas Behn. Wie Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen mutet der Kampf der kommunalen Radios in Chile gegen die neue Radiogesetzgebung an -das “Recht des Stärkeren” hat Joachim Göske dort gefunden.

Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.

Zuviel gesiegt

Das ganze Jahr hindurch hatte der “CCD”, der “Demokratische Verfassungsgebende Kongreß”, getagt, nun lag dem Volke am 31.Oktober das Ergebnis seiner Arbeit zur Abstimmung vor: der Entwurf für eine neue peruanische Verfassung. Überraschungen enthält dieser nicht, hatte Fujimori doch bei der Wahl des Kongresses im November letzten Jahres mit nicht unbedingt demokratischen Mitteln klare Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten sichergestellt. Und so erschienen denn auch alle öffentlich umstrittenen Anliegen des Präsidenten in der Vorlage: die Stärkung der präsidentiellen Macht gegenüber dem Parlament, die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Möglichkeit der einmaligen Wiederwahl des Präsidenten bis hin zu einer maximalen Amtszeit von zehn Jahren. Vor allem der letztgenannte Punkt setzte Fujimori heftiger Kritik aus, denn man darf davon ausgehen, daß er an sich selbst als ersten Nutznießer dieser Verfassungsänderung denkt.

Der “Präsident von Lima”

Für Fujimori war das Referendum damit auch schon ein erster Vorlauf für die Präsidentschaftswahl 1995. Mit der knappen Zustimmung der peruanischen Bevölkerung am 31.Oktober ist der Weg für eine erneute Kandidatur zwar formal frei, aber Fujimori kann mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Nur in der Hauptstadt Lima konnte er mit über 60% noch eine solide Mehrheit erreichen, während in vielen anderen Departements das “No” gewann. Schon tituliert die Zeitschrift “Sí” Fujimori als “Präsidenten von Lima”.
Drei Jahre lang hatte er es immer wieder geschafft, im richtigen Moment durch spektakuläre Erfolge Popularitätswerte von über 70% zu erzielen, obwohl er seinen WählerInnen einiges zumutete. Angefangen mit dem wirtschaftlichen Schockprogramm 1990 bis zu seinem “Selbstputsch” am 5.April 1992, als er Parlament und Obersten Gerichtshof auflöste, enthielt seine Regierungszeit allerhand Schwerverdauliches. Aber Fujimori traf mit seinem Auftreten meist ins Schwarze der öffentlichen Meinung. Bei seinem Putsch präsentierte er sich als starker Präsident, der mit dem korrupten Sumpf in Parlament und Justiz aufräumt. Den Höhepunkt des Erfolges bildete der 12.September 1992: Abimael Guzmán wurde verhaftet.
In jedem Fall konnte Fujimori für das Referendum auf die ungewollte Unterstützung der Opposition zählen. Die Kampagne für das “No” war ein Zankapfel zwischen mehreren Oppositionsparteien, von denen pikanterweise ausgerechnet die Ex-Regierungspartei von 1985 bis 1990, Alan Garcías populistische APRA, Führungsansprüche anmeldete. Die bloße Erwähnung der APRA sorgt bei der großen Mehrheit der PeruanerInnen nach wie vor für spontanes Entsetzen, so gesehen konnte die APRA-Spitze Fujimori keinen größeren Gefallen tun, als sich öffentlich vehement gegen den Verfassungsentwurf auszusprechen.

Vom Triumph ins Dilemma

Das wichtigste Element der Kampagne Fujimoris vor dem Referendum war die angebliche Kapitulation Sendero Luminosos. Sorgfältig hatte er die Veröffentlichung der Briefe Guzmáns inszeniert, um sich wieder einen Popularitätsschub in der öffentlichen Meinung zu verschaffen. Guzmán hatte dabei offensichtlich seine eigenen guten Gründe, das Spiel mitzuspielen (siehe LN 233). Fujimori, scheinbar im Besitz aller Trümpfe, könnte allerdings zu sorglos gepokert haben.
Peinlich genug war schon die Vorgeschichte. Unter Berufung auf vertrauliche Palastquellen hatten zwei große Zeitungen in Lima schon im Juli angekündigt, zum Nationalfeiertag am 28.Juli sei eine spektakuläre Äußerung von Abimael Guzmán zu erwarten, er werde die Kapitulation verkünden. Das ganze Land saß während der Präsidentenrede vor dem Fernseher, aber Fujimori erwähnte die Meldungen mit keinem Wort. Auch vor dem ersten Jahrestag der Festnahme Guzmáns am 12.September kochte wieder die Gerüchteküche. Als Fujimori am 1.Oktober vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen den ersten Brief Guzmáns präsentierte, war dieser zwar in Peru immer noch eine Sensation, aber trotzdem blieb der Eindruck, der Präsident habe mit den Guzmán-Briefen taktiert, um sie erst im für ihn geeigneten Moment des Verfassungswahlkampfes an die Öffentlichkeit zu bringen.
Mit seinem Triumphalismus angesichts der angeblichen Kapitulation Senderos hat sich Fujimori, ob es nun von Guzmán beabsichtigt war oder nicht, in ein Dilemma manövriert. Fujimori weiß, daß er mit seinem autoritären Regierungsstil auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung angewiesen ist, will er nicht im eigenen Land als einsamer Diktator dem protestierenden Volk gegenüberstehen. Um diese Unterstützung zu behalten, braucht er beides: den Sieg über Sendero Luminoso und die weitere bedrohliche Existenz der Guerilla.
Der Sieg ist die nachträgliche Rechtfertigung aller undemokratischen Maßnahmen. Die Bevölkerung hatte Sendero tatsächlich als so große Bedrohung wahrgenommen, daß sie fast jede beliebige Initiative des Präsidenten mehrheitlich mitzutragen bereit war, solange sie Erfolg gegen den Terrorismus versprach. Ohne eindeutige Erfolgsmeldung mußte die Popularität des Präsidenten bröckeln, deshalb die bombastische Inszenierung des Postverkehrs zwischen Hochsicherheitsgefängnis und Präsidentenpalast.
Darüberhinaus war der Erfolg essentiell für das wichtigste Ziel Fujimoris: Er mußte ein Signal an das bisher so investitionsunwillige internationale Kapital aussenden. Schon als er 1990 das Amt antrat, formulierte er zwei zentrale Anliegen: den Sieg über den Terrorismus und die Anwerbung massiver Investitionen aus dem Ausland. Das Kapital kommt erst, wenn der Ausnahmezustand von Stabilität abgelöst ist und damit die Investitionsrisiken vermindert werden. Nicht zufällig war es die internationale Bühne der UNO, die Fujimori für die Bekanntgabe des ersten Briefes nutzte.
Genauso wichtig wie der Sieg über Sendero ist für den Erfolg Fujimoris in der öffentlichen Meinung allerdings auch die Existenz des Terrorismus. In dem Maße wie das subjektive Gefühl der unmittelbaren Bedrohung durch den Terrorismus bei den Menschen abnimmt, sinkt auch die Selbstverständlichkeit der Unterstützung für den Präsidenten. Fujimori hat seinen Zweck gewissermaßen erfüllt, für die immer weitere Konzentration der Macht in seiner Person fehlt ihm zunehmend die Legitimation. Der Präsident ist dabei, einen der wichtigsten Pfeiler seiner Macht eigenhändig zu untergraben. Die Möglichkeit, mit einer Angstkampagne vor einem Wiederaufleben Senderos die öffentliche Meinung auf seiner Seite zu behalten, birgt ein hohes Risiko, denn in dieser Argumentation läge das Eingeständnis, daß der Sieg nicht ganz so triumphal war, wie noch vor kurzem verkündet. Unbeschädigt kann Alberto Fujimori kaum noch aus diesem Dilemma herauskommen.

Nicht alle Senderistas sind verhaftet

Noch schwieriger wird Fujimoris Position durch die jüngsten Attentate Sendero Luminosos. Die noch aktiven Kader unterstrichen im Vorfeld des Referendums mit einer ganzen Serie von Anschlägen, daß sie keineswegs an Aufgabe denken. Es ist unklar, wie schlagkräftig die Reste Sendero Luminosos noch sind, ob es ein gemeinsames Oberkommando gibt oder ob einzelne “Säulen” isoliert voneinander handeln. Über die Entwicklungen in den noch funktionierenden Strukturen Senderos nach den Briefen Guzmans kann nur spekuliert werden. Interne Spaltungen sind ebenso denkbar wie eine Distanzierung der neuen Sendero-Elite, wenn es sie denn gibt, von der verhafteten Führungsschicht.
Fest steht, daß die Briefe Guzmáns nicht eine allgemeine Demoralisierung der verbliebenen Senderisten bewirkt haben, daß sie aber ganz offensichtlich weit davon entfernt sind, die Kraft für eine neue umfassende Offensive aufzubringen.
Die Frage ist, wie die Lage nun von der Bevölkerung wahrgenommen wird und wie das so heftig umworbene internationale Kapital reagiert. Die neuen Attentate Senderos machen Fujimori nicht völlig unglaubwürdig, aber das Image des “starken, kompetenten Führers” ist schon angekratzt. Auch die potentiellen Investoren dürften mit Aufmerksamkeit registriert haben, daß der offizielle Diskurs Teile der Realität sorgfältig ausspart.

An der Leine der Streitkräfte

In der öffentlichen Meinung hat Fujimori, wie das Ergebnis des Referendums zeigt, seine Mehrheit noch nicht verloren. Aber Fujimori ist ein Präsident, der von kurzfristigen Konjunkturen lebt. Er hat keine stabile soziale Basis und keine starke, ihn stützende Partei. Eine solche Herrschaft ist auf die plebiszitäre Zustimmung der Bevölkerung angewiesen, egal, ob diese den Präsidenten aus tiefster Überzeugung oder als kleineres Übel unterstützt. Wenn, wie in Peru, der Großteil der Unterstützung aus der pragmatischen Entscheidung für das kleinere Übel resultiert, kommen dabei Mehrheiten heraus, die in kürzester Zeit wieder verlorengehen können. Für Fujimori heißt das, daß auch kleine Anzeichen von Mißerfolg und Schwäche schon zu einem rapiden Popularitätsverlust führen können.
Angesichts dieser Gefahr muß sich Fujimori verstärkt auf andere Stützen seiner Macht verlassen, vor allem auf die Militärs, die ihn bisher vorbehaltlos unterstützten. Sie aber fordern für ihre Unterstützung einen Preis: Der Präsident soll ihnen den Rücken gegenüber Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen freihalten. Der Fall der verätzten Leichen von La Cantuta könnte dabei für Fujimori zum Prüfstein werden.
Am 18.Juli 1992 waren neun StudentInnen und ein Professor der Universität La Cantuta in Lima entführt und ermordet worden. Erst ein anonymer Brief an eine peruanische Zeitschrift ein Jahr später sorgte dafür, daß die Überreste der Leichen gefunden wurden. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Täter aus den Streitkräften kamen. Fujimori weiß, daß international die Menschenrechtssituation in Peru sehr aufmerksam verfolgt wird. Negative Schlagzeilen sorgen schnell für eine schwächere Verhandlungsposition Perus gegenüber anderen Ländern und den großen internationalen Finanzinstitutionen. Auch zwischen der gewachsenen Abhängigkeit von den Militärs einerseits und dem internationalen Druck in Sachen Menschenrechten andererseits sind die Spielräume Fujimoris außerordentlich klein geworden.
Fujimori hatte, ebenso wie Abimael Guzmán, große Pläne zur Schaffung einer “neuen Demokratie”, eines neuen Staates, der die marode Parteiendemokratie ablösen sollte. Guzmán hat seine Pläne bereits verschieben müssen. Vielleicht liegt für Fujimori in dem Triumph, seine Präsidentschaft bis ins Jahr 2000 verfassungsrechtlich möglich gemacht zu haben, gleichzeitig der Anfang seines politischen Endes. Wer davon profitieren wird, ob die alten politischen Parteien oder andere Kandidaten, ist eine Frage für sich. Aber die Jahre der absoluten Herrschaft Fujimoris scheinen vorbei zu sein. Der Spielraum für andere politische Optionen, welcher Couleur auch immer, ist größer geworden.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Die ursprüngliche Fassung des Projekts, die Vorstellungen indigener Gemeinschaften und ihrer VertreterInnen enthielt, sollte der Gleichgültigkeit ein Ende setzen, mit der traditionell den ersten BewohnerInnen des Landes begegnet wurde. Mapuches, Aymaras, Rapa, Nui, Atacamenas, Collas, Kawshkar und Yamana stellen heute ein Zehntel der chilenischen Bevölkerung und leben meistens in extremer Armut. Die Vorstellungen der 998.000 Indigenas, in der Mehrzahl Mapuches, die zunächst zur Mitarbeit eingeladen worden waren, wurden schließlich im Zuge der Beratungen in beiden Kammern des Parlaments nicht berücksichtigt.
Zwei Jahre dauerte es, ehe die Deputiertenkammer und der Senat die Ley Indígena verabschiedeten, die der ursprünglichen Fassung der Gesetzesinitiative jedoch in entscheidenden Punkten nicht mehr entsprach. Auch wenn sich die PolitikerInnen aller Fraktionen damit brüsten, einen Konsens erreicht zu haben, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor die von Indígenas geforderte Anerkennung als eigenständige Völker verweigert wird.

Röntgenbild der Tauben

1990 kehrte Chile zur formalen Demokratie zurück. Der frisch gewählte Präsident, der Christdemokrat Patricio Aylwin, berief die “Sonderkommission indigener Völker” (Cepi), zu deren offiziellen Zielen es gehörte, den lange mißachteten Rechten indigener Völker Geltung zu verschaffen. Die Cepi stützte sich dabei auf ein Übereinkommen, das die spätere Regierungskoalition der “Parteien für die Demokratie” im Zuge ihres Wahlkampfes mit Indígena-Organisationen getroffen hatte. Die Concertación versprach damals “die verfassungsmäßige Anerkennung indigener Völker samt ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte”.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessenvertretungen von Indígenas bereitete die Cepi einen Entwurf für die neue Ley Indígena vor. Die VertreterInnen der verschiedenen Völker sowie BeraterInnen der Regierung behandelten Themen wie die Anerkennung einer eigenen Identität, die Landfrage, Wasserrechte und den Zugang zu einer Erziehung, die Kultur und Sprache der Indígenas fördert. Außerdem sollte es ermöglicht werden, Konflikte auf der Grundlage indigenen Gewohnheitsrechtes beizulegen. “Die schweren Versäumnisse der bisherigen Gesetzgebung sollten beseitigt werden. Es ging nicht nur darum, sich lediglich auf dem Papier gegen Rassismus zu wenden, sondern auch darum, die Geschichte dieses Landes zu bewältigen, die in höchstem Maße durch Intoleranz gegenüber den Existenzrechten indigener Völker geprägt war”, erklärt José Bengoa, der Direktor der Cepi. Seiner Meinung nach war der Gesetzentwurf, der im Oktober 1991 dem Parlament vorgelegt worden war, durch den Willen gekennzeichnet, den indigenen Völkern das Recht zuzugestehen, den Entwicklungsweg zu wählen, der in ihren eigenen Traditionen und Vorstellungen wurzelt. Ausgehend vom Prinzip der “positiven Diskriminierung” sollte die neue Gesetzgebung der ungerechten juristischen Praxis ein Ende bereiten, die Indígenas stets nur im Zusammenhang mit Besitzrechten auf Ländereien betrachtet hat.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Aylwin beabsichtigte, gemeinsam mit der Ley Indígena die Verfassung von 1980 zu verändern, die die Gleichheit aller ChilenInnen vor dem Gesetz festlegte. Hinter diesem Rechtsgrundsatz der von der Militärdiktatur hinterlassenen Verfassung verbirgt sich in Bezug auf indigene Völker das Prinzip: “Wir alle sind Chilenen”. Dieses dogmatische Gebot als wichtigster Baustein juristischer Interpretation verhindert die Anerkennung der Existenz indigener Völker in der chilenischen Verfassung.
In der ursprünglichen Version der Ley Indígena hieß es: “Der Staat wird sich für den juristischen Schutz und die Entwicklung der indigenen Völker einsetzen, die Bestandteile der chilenischen Nation sind”. Für Ricardo Navarrete von der Radikalen Partei, die dem Regierungsblock angehört, ist es unverzichtbar, “die Existenz indigener Völker ausdrücklich anzuerkennen, weil es sich bei ihnen um einen Bestandteil der Bevölkerung mit einem eigenen kulturellen Wert handelt”. Doch gerade der Begriff “Volk” war es, der die erste Fassung des Gesetzes scheitern ließ. Die politische Rechte lehnte diesen Begriff mit der Begründung ab, er gefährde die innere Sicherheit des Staates und verletze das Prinzip der einheitlichen chilenischen Identität. Sergio Diez, der Senator der rechten “Nationalen Erneuerung”, erklärte: “Ich bin ein entschiedener Anhänger der Integration aller Wurzeln des chilenischen Volkes in das chilenische Volk. Ich glaube, daß wir uns alle als Chilenen fühlen und uns in die nationale Gemeinschaft eingliedern wollen. Der Begriff ‘Volk’würde hingegen einer separatistischen Tendenz Vorschub leisten, die einer Politik zuwider läuft, die auf die harmonische Integration dieser Gruppen abzielt.”
Der politische Diskurs weckte in dramatischer Weise Erinnerungen an den Jahrhunderte währenden Versuch, “das Indigene auszumerzen”, die Indígenas koste es was es wolle zu assimilieren, einer in kultureller Hinsicht homogenen Gesellschaft zuzustreben. Statt im neuen Indígena-Gesetz von Völkern zu reden, wurde der unverfängliche Begriff “Gemeinschaft” oder “Ethnie” gewählt. Die Concertación mußte schließlich eingestehen, “daß die verfassungsgemäße Anerkennung der Existenz indigener Völker noch solange ausstehen wird, bis innerhalb der chilenischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein größeres Maß an Verständnis existiert”.
Unter den Indígenas, die sich an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfes beteiligt hatten, breiteten sich Mißtrauen und Enttäuschung aus. Cesar London von der Organisation “Xawun Ruca” stellte fest, “daß das Gesetzesverfahren von Anfang an von der politischen Macht bestimmt wurde, an der wir Mapuches nicht teilhaben”. Der Ratgeber der Cepi und Vertreter von Ad Mapu, José Santos Millao, fällte ein vernichtendes Urteil über das neue Gesetz: “Ohne die verfassungsmäßige Anerkennung als Volk samt Territorium wird uns auch das Recht auf politische Teilnahme verwehrt. Wir haben nicht mehr als ein Anhörungsrecht.”
Der fehlende politische Wille der ParlamentarierInnen hat die Ley Indígena zu einem Gesetzwerk gemacht, das weit hinter den Standards internationaler Rechtsprechung zurückbleibt. Viele lateinamerikanische Staaten verfügen über Verfassungen, in denen sich die Gesellschaften wenigstens auf dem Papier als pluriethnisch und -kulturell bezeichnen. In Panamá existiert dieser Verfassungsgrundsatz seit vierzig Jahren, und auch in Kolumbien, Brasilien, Nicaragua, Ecuador und Peru wird das Konzept unterschiedlicher Nationen in einem Staat akzeptiert. Der Druck internationaler Standards scheint die chilenische Politik nicht sonderlich zu beeindrucken. Noch während des Wahlkampfes versprach die Concertación, der “Konvention 169 über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten” der Internationalen Arbeitsorganisation beizutreten. In dieser Konvention wird “die Notwendigkeit anerkannt, den Schutz indigener Völker zu gewährleisten und ihren eigenständigen Charakter anzuerkennen”. Das zitierte Dokument stellt den fortschrittlichsten internationalen Vertrag in Bezug auf indigene Völker dar, weil es die traditionelle ethnozentrische, auf Assimilation gerichtete Perspektive überwindet und moderne Sichtweisen von Menschenrechten umsetzt. Noch immer wurde dieses Vertragswerk vom chilenischen Parlament nicht ratifiziert. Seit 1991 liegt die Ratifizierung auf Eis, enthält die Konvention doch dasselbe Konzept von indigenen Völkern, das jüngst die Nueva Ley Indígena zum Scheitern brachte.

Die wichtigsten Punkte der Ley Indígena

Offiziell trägt das neue Gesetz den Titel “Gesetz zum Schutz, zur Förderung und zur Entwicklung der Indigenas” und fügt sich in das Konzept “Ethnoentwicklung” ein, das auf den Möglichkeiten indigener Kultur aufbaut. Ein zentraler Gesichtspunkt des Gesetzes behandelt die Landfrage. Die Eigentumsrechte auf im Augenblick von Indígena-Gemeinschaften genutztem Land sollen abgesichert werden. Mit dem Verbot, Indígena-Land an Privatpersonen zu verkaufen, soll verhindert werden, daß diese Territorien über den Immobilienmarkt auf legale Art und Weise enteignet werden.
Der “Fonds für Land und Wasser” soll dazu dienen “Indígena-Ländereien” zu schützen, für deren angemessene Nutzung zu sorgen, ein ökologisches Gleichgewicht zu gewährleisten und auf die Ausweitung von Indígena-Eigentum hinzuwirken”. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung sollen die Indígenas die Schwierigkeiten des Minifundismus überwinden. Außerdem soll der Fonds dazu dienen, die Bodenqualität zu verbessern und Probleme der Bewässerung zu lösen. Die gesamte Indígena-Politik wird von der Nationalen Vereinigung Indigener Entwicklung (CONADI) koordiniert, die neben ihrer Zentrale in Araucania Zweigstellen überall im Land haben soll.
Darüber hinaus soll es unter Strafe gestellt werden, Indígenas aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Kultur zu beleidigen. Die Meldebehörden werden angewiesen, in den Geburtsregistern jene Namen festzuhalten, die Indígena-Eltern angeben. Dieser etwas grotesk anmutende Artikel soll der Politik der “Chilenisierung” vorbeugen, die vielfach von Verwaltungsbeamten betrieben wird.
In Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil sollen zweisprachige Schulen eingerichtet werden. Forderungen nach politischen Mitbestimmungsrechten wurden von der Rechten als angeblich verfassungwidrig abgelehnt. Immerhin stehe der Zugang zu politischen Ämtern allen ChilenInnen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Andererseits wurde ein Artikel angenommen, der besagt, “Indígenas sollen an der lokalen und regionalen Verwaltung beteiligt werden”.

Kritik der Mapuches an der neuen Gesetzgebung

Die Mapuche-Organisationen, die in der Cepi mitarbeiten, stimmen in der Einschätzung überein, daß die Landfrage nur unzureichend geklärt wurde. Dagoberto Cachána von Ad Mapu kritisiert, “daß das Gesetz uns nicht die Eigentumsrechte der Ländereien zubilligt, die uns auf der Grundlage damaliger Rechtssprechung weggenommen wurden. Darum wird das neue Gesetz für uns ebenso schädlich sein wie das alte.”
Im Hinblick auf den Schutz von Indígena-Territorien weist die neue Ley Indígena eine entscheidende Lücke auf. Nach ziviler Rechtssprechung existiert nach wie vor die Möglichkeit, Land für längstens neunundneunzig Jahre zu verpachten, was de facto einer völlig legalen Enteignung entsprechen würde. Der Erfolg dieses Gesetzes wird zudem entscheidend davon abhängen, mit welchen finanziellen Mitteln die Regierung bereit ist, für dessen Umsetzung zu sorgen. Nachdem das Finanzministerium für die Ausstattung des “Fonds für Land und Wasser” lediglich eine Zusage von 500.000 US-Dollar gemacht hat, muß an dieser Bereitschaft gezweifelt werden. Selbst die staatliche Behörde Cepi stellt in Frage, ob der Fonds für die Umsetzung der ehrgeizigen Zielsetzungen des Gesetzes ausreichen wird.

Die Indígena-Politik unter der Militärdiktatur

Jahrhundertelang wurden die Territorien der Indígenas unter dem Vorwand kolonialisiert, es existierten keine juristisch abgesicherten Besitztitel. Erst 1972 wurde unter Salvador Allende ein Gesetz erlassen, das Indígenas als eigenständige menschliche Wesen akzeptierte und nicht nur als Teil der von ihnen besessenen Ländereien. Dieser Fortschritt wurde mit dem Militärputsch von 1973 zunichte gemacht. Den Prinzipien des Neoliberalismus getreu ging es der Militärdiktatur vor allem darum, das Prinzip des Privateigentums durchzusetzen. 1978 wurde per Dekret der Prozeß der Zersplitterung von in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Ländereien beendet: “Von heute an gibt es weder Indígena-Land noch Indígenas”. Die Schöpfer dieses Dekrets gaben vor, mit der Einführung des Individualbesitzes den entscheidenden Schritt für den Fortschritt und die Modernisierung im ländlichen Bereich zu unternehmen. Sozialstudien in der Region Auracania zeigen jedoch, daß durch die Aufteilung der Ländereien ein Minifundismus gefördert wurde, der vielen Mapuche-Familien allenfalls das Existenzminimum sichert.
Im Interesse nationaler Politik wurden die Indígenas zu chilenischen Bauern und Bäuerinnen erklärt. Offiziell hieß es unter der Pinochet-Diktatur, “daß das eigentliche Problem der Mapuche nicht in ihrer kulturellen Andersartigkeit besteht, sondern im ihrem Mangel an Erziehung und Kultur”. Außerdem wurde hartnäckig die Position vertreten, in Chile gäbe es keinen Unterschied zwischen Indígenas und dem Rest der Bevölkerung. Ein bedeutender Anteil der Indígenas, hauptsächlich Mapuches, ist seit den fünfziger Jahren in die größeren Städte emigriert, um vor allem der Armut auf dem Land zu entfliehen. In den Städten sahen sie sich dem Druck ausgesetzt, ihre Tradition und ihre Sprache abzulegen. Sechsundsiebzig Prozent der Indígena-MigrantInnen ziehen nach Santiago und arbeiten dort mehrheitlich in Brotfabriken, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Ohne entsprechende Ausbildung und aufgrund ihrer Herkunft geringgeschätzt, vergrößern sie den marginalisierten Sektor der urbanen Bevölkerung.

“Marri cliwe” – oder der Kriegsruf

Mit dem Beginn der siebziger Jahre entstand in Lateinamerika eine starke indigenistische Bewegung, die sich für die “ethnische Autonomie” einsetzte. Konzepte wie die “Integration aller Ethnien” wurden von dieser Bewegung abgelehnt, weil mit ihnen stets Ungleichheiten verschleiert wurden und sie als Vorwand dienten, indigenen Völkern eine fremde Kultur aufzuzwingen. Dem wurde das Recht entgegengestellt, kulturelle, ökonomische, soziale und politische Systeme zu entwickeln und zu bewahren, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Auf dem gesamten Kontinent neigte die indigenistische Bewegung dazu, Verbindungen zu Teilen der mestizischen Gesellschaft zu kappen. Die häufig eingegangenen Verbindungen mit Sektoren der Linken hatten nie dazu geführt, daß die Probleme von Indígenas losgelöst von der allgemeinen Problematik gesehen wurden. Im Unterschied zu seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten hat der Indigenismus in Chile in intellektuellen oder fortschrittlichen Kreisen kaum Widerhall gefunden. Das Scheitern der ursprünglichen Ley Indígena machte einmal mehr deutlich, daß es die chilenische Gesellschaft nicht vermag, ihr Verhältnis zu indigenen Völkern zu lösen.
Die Frage des Landbesitzes bleibt indessen das zentrale Moment bei der Mobilisierung der Indígenas. Notfalls auch mit Waffengewalt will der “Consejo de Todas las Tierras” die den Mapuche genommenen Ländereien zurückerlangen. Darüber hinaus verlangt der Consejo einen Status politischer Autonomie gegenüber dem chilenischen Staat. Die Haltung der Regierung lehnt der Rat vollständig ab. “Nachdem er bemerkt hat, daß man die Existenz der Indígenas nicht länger verleugnen kann, bittet der Staat heute um Verhandlungen, an denen zwar alle teilnehmen, aber nur wenige entscheiden. Der kulturelle Genozid drückt sich heute anders aus. Er trägt nicht länger das Merkmal physischer Gewalt, militärischer Intervention. Die Maßnahmen der Regierung laufen darauf hinaus, den kulturellen Zusammenhalt der Mapuche zu zerstören, und sie will die Regeln festlegen, nach denen wir mit ihr verhandeln sollen.”
In diesen Zusammenhang stellt der Consejo auch das neue Indígena-Gesetz. “Das Gesetz wurde uns von außen diktiert und ist ein wirkungsvolles Instrument des Kolonialismus, an dessen Herstellung leider auch Indígenas beteiligt waren. Indem sie uns den Status als Volk verweigern, drücken sie aus, daß es keine Gleichberechtigung mit den Chilenen gibt. Nach wie vor werden unsere Rechte verletzt, verweigert man unsere Existenz”, faßt Aucan Huilicaman zusammen. Das Versprechen, die Urbevölkerung Amerikas in ihren Rechten zu respektieren, wurde in Chile noch immer nicht erfüllt. Mit der Ley Indígena hat es wiederum die mestizische Bevölkerungsmehrheit versucht, die Geschichte der Indígenas zu schreiben – auch im 501. Jahr nach der sogenannten “Entdeckung” Amerikas.

gez. P. Gonzalo

Die Vermutungen, wie der Brief von Guzmán und Iparraguirre zustandegekommen sein kann, haben eines gemeinsam: niemand weiß Genaues außer denen, die daran beteiligt waren. Und die schweigen.
Eine beliebte Interpretation bei Fujimori-Fans ist die vom durch Einzelhaft psychisch gebrochenen Guzmán. Besonders die Zeitung Expreso vertritt offen triumphalistisch die spöttische These, ein Jahr Gefängnis hätten wohl ausgereicht, um den großen Führer zur völligen Kapitulation zu bewegen. Die AnhängerInnen Senderos dagegen hatten schon nach den Gerüchten vom Juli vorsorglich die Version verbreitet, Guzmán werde unter Drogen und Folter gegen seinen Willen zu solchen Äußerungen gezwungen, eine Meinung, die zum Teil auch außerhalb des Sendero-Spektrums ernstgenommen wird.
Andere suchen nach Gründen, die Guzmán zum Verfassen der Briefe bewegt haben könnten. Bei der Betrachtung des Wortlautes lassen sich dafür Indizien finden, wenn auch die Einschätzung zum jetzigen Zeitpunkt notwendigerweise spekulativ bleibt.
Die Briefe enthalten eine militärische Kapitulation, aber keine ideologische Kapitulation. Mit derselben wissenschaftlich-analytischen Kühle, mit der Guzmán die Notwendigkeit von einer Million Toten im Volkskrieg vertritt, stellt er fest, daß die Regierung es geschafft hat, militärisch entscheidende Erfolge zu erzielen. In seinem Brief vom 6. Oktober schreibt er: “Wir denken, daß sich die Kommunistische Partei Perus (Sendero Luminoso) in letzter Zeit mit neuen, ernsten und sehr komplexen Problemen bezüglich ihrer Führung konfrontiert sieht, und in diesem Bereich hat unsere Partei ihre schwerste Niederlage erlitten. Die Führungsfrage ist … entscheidend und wird in unserem Fall auf längere Sicht nicht zu lösen sein, was vor allem auf den weiteren Verlauf des Volkskrieges Auswirkungen hat.” Guzmán kommt nicht umhin, die Kohärenz der Strategie Fujimoris anzuerkennen: ” …seit diesem Datum (dem 5.April 1992, dem Selbstputsch Fujimoris) haben Sie unter ihrer politischen Führung eine systematische, kohärente Strategie auf verschiedenen Ebenen entwickelt, besonders auf dem Gebiet der geheimdienstlichen Tätigkeit und konnten reale Erfolge erzielen… Auf diese Weise haben Sie den Weg, der von ihnen vorgeschlagen wurde und unter Ihrer Führung vorangetrieben wird, gangbarer gemacht.”
Der Intellektuelle Guzmán analysiert die Situation und kommt zu dem Schluß, daß Fujimori sein Projekt in jeder Hinsicht mit großem Geschick in die Tat umgesetzt habe, militärisch, geheimdienstlich und politisch, aber auch, was die öffentliche Zustimmung angehe. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, Guzmán habe seine Überzeugungen aufgegeben – im Gegenteil. Die Wortwahl zeigt lediglich, daß ihn im Gegensatz zu vielen seiner AnhängerInnen die Fähigkeit zum klaren Nachdenken über die Realität nicht verlassen hat.
Wenn Guzmán auf der Grundlage solcher Gedankengänge Friedensverhandlungen vorschlägt, versucht er zu retten, was zu retten ist. Wenn der Volkskrieg Senderos wieder eine Chance haben soll, und von seiner Notwendigkeit ist Guzmán weiterhin überzeugt, braucht die Partei Zeit, um die eigenen Kader und das sogenannte Volksheer wieder aufzubauen. Ein Friedensabkommen könnte den notwendigen Raum schaffen. Guzmán kann dabei nur von der Hoffnung ausgehen, daß für einen Wiederaufbau der Strukturen Senderos unter anderer Führung noch genügend Kader in Freiheit sind. Vorausgesetzt, seine Isolation im Gefängnis ist effektiv, kann er über diese Hoffnung hinaus kein konkretes Bild über den aktuellen Zustand der Partei haben. Aber er ist offenbar entschlossen, diesen möglicherweise letzten Weg zur Rettung des Projektes Sendero zu gehen.
Die Gelegenheit dazu war günstig, denn Fujimori brauchte im Vorfeld des Referendums dringend die wahlkampfwirksamen Briefe aus dem Gefängnis von Callao. Daß Fujimori sie der Öffentlichkeit als völlige Kapitulation präsentieren würde, muß Guzmán nicht stören. In seinem geschlossenen ideologischen Konzept ist es nur logisch, daß die Gegensätze sich zuspitzen. Daß der seit dreizehn Jahren geführte Krieg gescheitert ist, wird in dieser Denkweise zu einer Etappe, ohne den Gedanken aufzugeben, daß sich weiterhin die Weltgeschichte mit zwangsläufiger Notwendigkeit auf die Revolution zubewegt. Die Gewißheit des Endsieges auf Seiten der Regierung und im öffentlichen Bewußtsein könnte die Bedingung dafür darstellen, den nächsten Anlauf zum revolutionären Kampf zu unternehmen.
Daß Fujimori als halb-demokratisch legitimierter Diktator de facto weiterregiert, paßt in das Bild. Ein erfolgreicherer Schlag gegen die ideologische Gewißheit der Senderisten wäre es, würde sich in Peru nach den Jahren des Krieges nicht ein autoritäres Präsidialregime, sondern eine leidlich funktionierende zivile Demokratie entwicklen. Guzmán weiß, daß das nicht die Vorstellungen Alberto Fujimoris sind. Und so unterzeichnet er seine Briefe weiter mit “Presidente Gonzalo”.

Kasten:

Der erste Brief Guzmáns im Wortlaut

Señor Presidente:
Acudimos a Usted en su condición de jefe del Estado Peruano para solicitarle celebrar conversaciones que conduzcan a un Acuerdo de Paz cuya aplicación lleve a concluir la guerra que por más de trece años vive el país. Damos este paso de gran transcendencia partiendo de nuestra ideología y principios de clase, cabalmente seguros de la necesidad histórica insoslayable del mismo y con la clara comprensión de que refleja lo que ha devenido una necesidad del pueblo, la nación y la sociedad peruana en su conjunto.
Sírvase, Señor Presidente, prestar atención a nuestra solicitud y acceder a ella.

Penal militar naval del Callao, 15 de setiembre de 1993
Abimael Guzmán Reinoso (P.Gonzalo)
Elena Albertina Iparraguirre Revoredo (C.Miriam)

Herr Präsident,
wir wenden uns an Sie in Ihrer Eigenschaft als Staatschef Perus, um Ihnen Gespräche hinsichtlich eines Friedensabkommens vorzuschlagen, dessen Anwendung den seit mehr als dreizehn Jahre dauernden Krieg beenden würde. Wir unternehmen diesen Schritt von großer Transzendenz ausgehend von unserer Ideologie und unseren Klasseninteressen, in fester Überzeugung seiner historischen Unausweichlichkeit und in völliger Klarheit darüber, daß er ein Bedürfnis des Volkes, der Nation und des peruanischen Staates in seiner Gesamtheit widerspiegelt.
Wir überlassen es Ihnen, sich mit unserem Vorschlag zu beschäftigen und auf ihn einzugehen.

Marinegefängnis Callao, 15. September

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

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