Die große Verunsicherung

„El pueblo unido jamás será vencido!“ („Das vereinte Volk kann niemals besiegt werden“) – seit Jahrzehnten wird diese Liedzeile bei Demonstrationen, Versammlungen und Arbeitskämpfen in Lateinamerika gerufen und beschworen. Keine Frage, „das vereinte Volk“ steht in der politischen Symbolik Lateinamerikas links. Und nicht nur in der Symbolik: zahlreich sind die Beispiele von linken Bewegungen, die „das Volk“, womit stets die verarmte und unterdrückte Bevölkerungsmehrheit gemeint ist, tatsächlich zu einem bedeutenden Teil hinter sich vereinen konnten. Der populäre Kampfruf ist jedoch, vielleicht fällt dies in heutigen Tagen besonders auf, merklich defensiv: Wir können nicht besiegt werden, aber – selbst vereint – können wir auch nicht siegen. Die Geschichte der lateinamerikanischen Linken ist keinesfalls nur eine Geschichte des Scheiterns und der Niederlagen. Nüchtern betrachtet sind allerdings auch nur wenige Siege zu verzeichnen.

Von Moskau nach Havanna

Eine Periodisierung der lateinamerikanischen Linken in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts setzt meist mit der kubanischen Revolution 1959 ein. Nicht mehr Moskau war länger Hauptbezugspunkt für die radikale Linke Lateinamerikas, sondern Havanna. Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara hatten gezeigt, dass eine Revolution in Lateinamerika möglich ist und damit die Funktionäre der traditionellen kommunistischen Parteien Lügen gestraft, die in ihrer „Zwei-Phasen-Theorie“ davon ausgingen, dass eine sozialistische Revolution in Lateinamerika erst nach einer Phase bürgerlich-demokratischer Herrschaft (einschließlich der stärkeren Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse) möglich sei – eine Debatte übrigens, die in den Folgejahren noch zu zahlreichen Spaltungen linker Parteien führen sollte.
Kuba hatte in den 60er Jahren eine kaum zu unterschätzende mobilisierende Wirkung auf linke Bewegungen in Lateinamerika, die längst nicht auf bewaffnete Gruppierungen beschränkt war. Linke Parteien, Gewerkschaften und Bauernbewegungen gewannen an Stärke und Einfluss, Studentenbewegungen radikalisierten sich. Und zumindest Teile der katholischen Kirche verabschiedeten sich von ihrem traditionellen Platz an den Fleischtöpfen der Herrschenden. Die Theologie der Befreiung und mit ihr unzählige Basisgemeinden entstanden und diskutierten darüber, wie ein gerechteres Diesseits zu erreichen sei. Auch der Tod Che Guevaras 1967 in Bolivien hatte mobilisierende Wirkung. Nicht das politisch-militärische Desaster beim Versuch einen Guerillafokus in den bolivianischen Anden aufzubauen stand im Vordergrund, sondern der Versuch, die Revolution in andere Länder des Subkontinents zu tragen, wurde gefeiert.
Bewaffnet oder unbewaffnet, die 60er Jahre waren in Lateinamerika ein Jahrzehnt des Aufbruchs. Das neue Jahrzehnt begann mit einem Durchbruch für die legale Linke: 1970 wurde Salvador Allende, Kandidat der Unidad Popular aus sozialistischen und kommunistischen Parteien, zum neuen Präsidenten Chiles gewählt. Schnell wurde das Andenland zu einem weiteren Beweis für den unaufhaltsamen Vormarsch linker Bewegungen in Lateinamerika.

Die Rolle der USA

Auf dem Vormarsch waren jedoch auch die USA mit ihrem Aufstandsbekämpfungsprogramm für ganz Lateinamerika. Hatte Präsident Kennedy 1961 die „Allianz für den Fortschritt“ noch als „friedliche Revolution der Hoffnung“ für Lateinamerika präsentiert, so zeigte sich sehr schnell, dass für die USA weder Frieden noch Hoffnung auf Entwicklung zählten, sondern es ihnen – neben der ökonomischen Durchdringung der lateinamerikanischen Märkte – ausschließlich darum ging, ein zweites Kuba in der westlichen Hemisphäre zu verhindern.
Es ist hinreichend bekannt, dass den USA dafür jedes Mittel recht war, die Mischung bestand zumeist aus wenig Zuckerbrot und viel Peitsche. Gemeinsam mit den nationalen Eliten und den Streitkräften setzten die USA auf Repression und beteiligten sich – unter anderem durch die CIA – an der Zerschlagung legaler und illegaler Oppositionsbewegungen beziehungsweise, wie im Fall Chiles, dem Sturz einer demokratisch gewählten Regierung. Die „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ lieferte die Grundlage für die Militärdiktaturen, die in den 70er Jahren in der Mehrzahl der Länder Lateinamerikas herrschten. In der „School of the Americas“ in der Kanalzone Pamanas bildeten die USA zehntausende Militärs aus – unter anderem in Foltertechniken – und sorgten dafür, dass diese die Interessen der USA als die ihren definierten.
Die linken Bewegungen insbesondere im Cono Sur waren in die Defensive geraten und enorm geschwächt: Zehntausende AktivistInnen wurden ermordet, hunderttausende mussten ins Exil. Nunmehr stand nicht mehr der Sozialismus auf der Tagesordnung, vielmehr waren die zweite Hälfte der 70er Jahre und die erste Hälfte der 80er Jahre vom Kampf um Demokratie und Menschenrechte geprägt. Eine Ausnahme bildeten Kolumbien und Zentralamerika, wo Guerillabewegungen an Einfluss gewannen. Der Triumph der sandinistischen Revolution 1979 in Nicaragua und die Möglichkeit eines Sieges der FMLN in El Salvador Anfang der 80er Jahre wurden in ganz Lateinamerika beachtet. Nicaragua wurde mit seinem selbst postulierten dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zum neuen Hoffnungsträger für die Linken des Subkontinents – zugleich aber auch zur Angriffsfläche der Supermacht im Norden.

Ein zweites Kuba

Nun war es doch zu einem zweiten Kuba gekommen und das auch noch im „eigenen Hinterhof“, als den die USA Zentralamerika schon immer sahen. Die Reaktion war umso gewalttätiger. Unter Präsident Reagan griff die US-Administration immer offener zu staatsterroristischen Methoden, wie unter anderem die Verminung nicaraguanischer Häfen durch die CIA 1984 zeigte. Im Namen von Freiheit und Demokratie schickten die USA die Contra in den Krieg gegen die sandinistische Regierung, zahlten hunderte von Millionen US-Dollar – unter anderem aus illegalen Drogengeschäften der CIA – für die Aufrüstung der freedom fighter und zerstörten die Chancen Nicaraguas, aus der enormen Unterentwicklung ausbrechen zu können.
Auch in der Unterstützung des Regimes in El Salvador kannten die USA keine finanziellen oder moralischen Grenzen – mit Ausnahme der massiven Entsendung eigener Truppen. Diese Restriktion, die noch aus dem Vietnam-Desaster herrührte – tausende GIs kehrten in Holzkisten zurück –, brachte die US-Strategen dazu, ihr Konzept der „Kriegsführung niedriger Intensität“ auszubauen und zu verfeinern. Milliarden von US-Dollar an Militär- und Wirtschaftshilfe reichten zwar nicht aus, um die salvadorianische Guerillabewegung FMLN zu besiegen, sie verhinderten aber deren Machtübernahme. Das militärische Patt und die Ausweglosigkeit der Lage führten Anfang 1992 nach zwölf Jahren Krieg mit über 70.000 Toten zu einem Friedensabkommen, in welchem die Guerilla im Gegenzug zur Reduzierung der Streitkräfte und der Zusicherung, sich am legalen politischen Leben beteiligen zu können, ihre Waffen abgab. An der extrem ungerechten Wirtschafts- und Sozialstruktur, die ein entscheidendes Moment für den Beginn des Krieges war, wurde nichts geändert.

Der Epochenbruch

Während die zentralamerikanischen Länder in den 80er Jahren von Guerilla- und Contrakrieg geprägt waren, stand in vielen südamerikanischen Ländern die Redemokratisierung auf der politischen Tagesordnung. Neben den traditionellen Parteien und Organisationen, die im Untergrund überlebt hatten, formierten sich neue Akteure: linke Parteien wie die PT in Brasilien, Frauenorganisationen, Menschenrechtsgruppen sowie lokal verwurzelte Initiativen wie zum Beispiel Stadtteilorganisationen.
Die soziale Mobilisierung gegen die Militärdiktaturen bildeten jedoch meist nicht den entscheidenden Faktor für den Rückzug der Streitkräfte in die Kasernen. Diese hatten nämlich ihre Schuldigkeit getan: die Linken waren geschwächt und die Ökonomien umgebaut. Die nachholende Industrialisierung, also der Ausbau der nationalen Produktionsstruktur, war ad acta gelegt. Die Militärregime hatten – ganz im Sinne einiger nationaler Eliten, der USA und der Internationalen Finanzorganisationen wie IWF und Weltbank – die Märkte geöffnet und exportorientierte Ökonomien durchgesetzt.
Die Krise und der Zerfall der sozialistischen Regime in Osteuropa 1989/90 markierten einen Epochenbruch und führten zu einer enormen Verunsicherung der lateinamerikanischen Linken. Diese Verunsicherung und Unklarheit hält bis heute an, auch wenn die Länder des real existierenden Sozialismus nicht, wie bei den traditionellen kommunistischen Parteien, der zentrale ideologische Bezugspunkt der meisten Linken waren. Der große Entwurf ist verloren gegangen, selbst Kuba hat an Ausstrahlungskraft verloren. Den USA ist es zwar bis heute nicht gelungen, Fidel Castro zu stürzen, doch haben sie nicht unwesentlich zu Wirtschaftskrise und Dollarisierung beigetragen. Beide lassen die Karibikinsel zusammen mit den fortbestehenden Einschränkungen der bürgerlichen Grundrechte immer weniger als Vorbild erscheinen.

Hoffnungsträger EZLN

Die Spielräume für emanzipatorische Politik sind heute deutlich geringer geworden, die Hegemonie der USA ist fast grenzenlos und die Möglichkeiten einer eigenständigen Wirtschaftspolitik in den Zeiten der Globalisierung sind noch begrenzter als früher. Einige linke Parteien, wie beispielsweise die Sozialistische Partei in Chile, betreiben in der Regierung eine neoliberale Wirtschaftspolitik und haben die Suche nach ökonomischen und sozialen Alternativentwürfen aufgegeben. Andere, wie die Frente Amplio in Uruguay oder die FMLN in El Salvador, haben zwar durchaus Chancen in absehbarer Zeit an die Regierung zu kommen, es deutet aber nur mehr wenig darauf hin, dass damit grundlegende Veränderungen verbunden wären.
Die Verunsicherung nach 1989/90 hat bei anderen Akteuren aber auch neue Handlungsoptionen eröffnet, eine gewisse Entideologisierung ermöglicht einen klareren Blick auf die Realität, und in manchen Fällen sind durchaus innovative politische und soziale Projekte entstanden. Das beste Beispiel dafür, wie diese Verunsicherung produktiv genutzt werden kann, ist die mexikanische EZLN, die zentrale politische Begriffe wie zum Beispiel Demokratie und Freiheit mit (neuen) Inhalten gefüllt hat. Eine Befreiungsbewegung, die nicht an die Macht will, comandantes, die sich vermummen, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, eine Kommandantin, die im mexikanischen Kongress über ihre Situation als Frau und Indígena berichtet – zweifelsohne, die EZLN ist eine durch und durch andere und neue Bewegung.
Mit dem Anspruch radikaler Veränderung sind in den 90er Jahren aber auch andere Bewegungen entstanden und einflussreich geworden. Nicht immer sind sie so bekannt, wie die brasilianische Landlosenbewegung MST oder die ecuadorianische CONAIE, und oft agieren sie nur auf regionaler oder lokaler Ebene. Ihre Bedeutung sollte deshalb jedoch nicht gering geschätzt werden. Weder Revolution noch Sozialismus stehen heute mehr auf der Tagesordnung, doch der Horizont politischen Denkens ist damit nicht unbedingt kleiner geworden.
Haben die Linken in Lateinamerika Zukunft? Welche Perspektiven haben sie? Und vor allem: Haben linke Bewegungen zeitgemäße Antworten auf die Probleme ihrer Gesellschaften? Zugegeben, es ist keine leichte Aufgabe, Antworten auf diese Fragen zu finden. Die Lateinamerika Nachrichten berichten seit nunmehr 28 Jahren immer wieder auch über „die Linke“, oder besser: „die Linken“ in Lateinamerika. Angefangen von der Unidad Popular in Chile über die Befreiungsbewegungen Zentralamerikas bis hin zur EZLN in Mexiko – die Konjunkturen der linken Bewegungen Lateinamerikas haben unsere Berichterstattung entscheidend geprägt.
Natürlich können wir keine umfassenden Antworten auf oben genannte Fragen in einer Zeit geben, in der „linke“ Gewissheiten und Eindeutigkeiten abhanden gekommen sind. Und: dass diese verloren gegangen sind ist in vielen Fällen gar nicht so schlecht, wie einige Beispiele zeigen, über die in diesem Schwerpunkt berichtet wird.

Das Paradies der Straflosigkeit

In den Morgenstunden des 18. Mai 1976 dringen sechs bewaffnete Männer in die Wohnung des uruguayischen Abgeordneten und ehemaligen Parlamentspräsidenten Gutiérrez Ruiz ein, der auf Grund seiner oppositionellen Haltung zur Militärdiktatur in seinem Heimatland seit einiger Zeit in Buenos Aires im Exil lebt. Gutierrez Ruíz wird festgenommen und die Männer in Zivil tragen sieben Koffer gefüllt mit Wertsachen aus seiner Wohnung. Ein Wachmann, der einschreiten will, wird mit den Worten zurückgewiesen,dass es sich um „eine gemeinsame Aktion von Polizei und Armee“ handele. Zwei Stunden später wird auch der populäre Politiker des Frente Amplio Zelmar Michelini entführt, der sich aus den selben Gründen im argentinischen Exil befindet. Am 20. Mai findet man ein Auto mit den Leichen der uruguayischen Oppositionellen und zweier weiterer Personen. Nachdem erst Angehörige linker Guerrillabewegungen aus Argentinien und Uruguay für die Morde verantwortlich gemacht werden, dringen wenig später Äußerungen, die von einer „Operation des uruguayischen Militärs“ sprechen, an die Öffentlichkeit.

43 verschwundene Uruguayer in Argentinien

Zwanzig Jahre später, im Jahr 1996, sagt eine Zeugin vor der Menschenrechtskomission des uruguayischen Repräsentantenhauses aus, dass ein gewisser Leutnant Mattos in einem 1976 geführtem Gespräch geäußert habe, dass er damals mit dem speziellen Auftrag Michelini und Gutierrez Ruíz zu entführen und umzubringen, nach Buenos Aires gereist sei.
Trotz dieser klaren Indizien hat es bis heute, da sich die Morde zum 25. Mal jähren, keinerlei Ermittlungen, geschweige denn Bestrafungen der Verantwortlichen gegeben. Der Fall steht wegen des hohen Bekanntheitsgrades seiner Opfer symbolisch für das Verschwinden und die Ermordung von 40 weiteren uruguayischen Exilierten in Argentinien, wo die Militärs, drei Jahre nach Uruguay und Chile, im März 1976 ebenfalls die Macht übernommen hatten. Anlässlich des 25. Jahrestages der Verbrechen wurde in Buenos Aires am 20. Mai eine Gedenkplatte enthüllt, die an die uruguayischen Opfer der staatlichen Repression in Argentinien erinnern soll. An der Zeremonie nahmen auch Rafael Michelini, Sohn des ermordeten Zelmar Michelini und Vorsitzender des sozialdemokratischen Nuevo Espacio, der Bürgermeister von Montevideo Mariano Arana (Frente Amplio) und der Regierungschef der Stadt Buenos Aires Aníbal Ibarra teil. Dieser betonte in seiner Rede die weit reichende Koordinierung des „antisubversiven Kampfes“ zwischen den verschiedenen südamerikanischen Militärdiktaturen, die durch die Ermordung von uruguayischen Oppositionellen unter aktiver Mithilfe der argentinischen Regierung erneut unter Beweis gestellt werde.

Entführte Wahrheit und verbotene Erinnerung

Auch in Uruguay ist der 20. Mai seit fünf Jahren Tag des Erinnerns an die Verschwundenen und des Protestes gegen die andauernde Straflosigkeit. Dieses Jahr nahmen 70.000 Personen an einem Schweigemarsch durch das Zentrum Montevideos unter dem Motto „Ohne entführte Wahrheit, ohne verbotene Erinnerung“ teil, zu dem der Frente Amplio, der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT und verschiedene Menschenrechtsorganisationen aufgerufen hatten. Uruguay gilt als „Paradies der Straflosigkeit“, denn es ist das einzige Land des Cono Sur in dem bisher kein einziges Ermittlungsverfahren wegen der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur eröffnet wurde. 1986, ein Jahr nach Rückkehr des Landes zur Demokratie, verabschiedete das Parlament ein umfassendes Amnestiegesetz, welches 1989 durch ein Referendum vom Volk bestätigt wurde. Das Gesetz verbietet jegliche Strafverfolgung von politischen Verbrechen, die zwischen 1973 und 1985 begangen wurden. Der Artikel 4 des Gesetzes jedoch verpflichtet den Staat zu einer bedingungslosen Aufklärung der Schicksale aller damals Verschwundenen. Diese Aufgabe wurde der Militärstaatsanwaltschaft übergeben, mit der Folge, dass nicht ein einziger Fall aufgeklärt wird. Die ehemaligen Präsidenten Sanguinetti und Lacalle hatten während ihrer Amtszeiten alle Bestrebungen zur Einhaltung des Artikels behindert.
Im November 1999 war der Kandidat des konservativen Partido Colorado Jorge Batlle unter anderem mit dem Versprechen zum Präsidenten gewählt worden, sich verstärkt um die Aufarbeitung der Vergangenheit zu kümmern. Daraufhin begann im August des vergangenen Jahres die Arbeit einer so genannten Friedenskommission, deren Auftrag hauptsächlich in der Aufklärung der Schicksale der 170 verschwundenen Oppositionellen in Uruguay besteht. Die Kommission, deren Vorsitzender Carlos Ramela ein Vertreter des Partido Colorado ist, wird auch von vielen linken Politikern als wichtiger Schritt gewürdigt, denn sie stellt die erste offizielle Anerkennung der Existenz eines derartigen Problems von staatlicher Seite dar. Sie besitzt jedoch weitaus weniger Kompetenzen als vergleichbare Kommissionen in Chile, El Salvador oder Südafrika. Die Friedenskommission „lädt zur Aufklärung ein“, hat aber keine Sanktionsmöglichkeiten, wenn die Zusammenarbeit von den Tätern verweigert wird. Auch eine Identifikation der Schuldigen wird ausdrücklich ausgeschlossen.

Neue Fronten

Die eingeschränkten Möglichkeiten der Friedenskommission haben eine Debatte über deren Sinn ausgelöst, in deren Verlauf es zu einer bis vor kurzem undenkbaren Frontenbildung gekommen ist. Die neuen Gräben verlaufen nicht mehr wie die gesamten letzten 15 Jahre zwischen linker Opposition und konservativer Regierung, sondern sind nun innerhalb der Linken zu finden. Während die Parteiführung des Frente Amplio unter Tabaré Vázquez zu Geduld aufruft und mit der Kommission zusammenarbeitet, wird diese von vielen Menschenrechtlern und Vertretern des linken Randes des Frente scharf kritisiert und ihr Sinn in Frage gestellt. Die Differenzen wurden besonders bei einer Protestaktion vor dem Verteidigungsministerium am 16.April deutlich, bei der auf die Verantwortung des Staates für die Verbrechen aufmerksam gemacht werden sollte. Zu der Aktion hatten ausschließlich außerparlamentarische Gruppierungen aufgerufen. Zu Gast war auch die legendäre Vertreterin der argentinischen Madres de la Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, die in ihrer Rede äußerte, dass die Kommissionen nur eine Demobilisierung des Wiederstandes und die Konsolidierung der Straflosigkeit mit sich bringen würden. In den Reaktionen auf die Demonstration fanden sich führende Politiker des FA in einer Reihe mit Vertretern der Regierung, der Friedenskommission und des Militärs wieder. Von Tabaré Vázquez, der die Aktion als „wenig hilfreich für die Aufklärungsarbeit“ bezeichnete, über Regierungssprecher, die die Aktivisten aufforderten, nicht die Demokratie zu gefährden, bis hin zu Militärs, die von „politisierten Anschuldigungen“ sprachen, die nur dazu bestimmt seien „ehrenhafte Soldaten zu diskreditieren, die für die Verteidigung der Institutionen des Staates auch ihr Leben gelassen hätten“; der Tenor der Ablehnung war nicht zu überhören.

Unkonventionelle Methoden

Im Zuge der stark polarisierten Debatte meldeten sich auch wieder verstärkt hohe Vertreter der uruguayischen Streitkräfte mit den altbekannten Argumenten zu Wort. Am „Tag der in Verteidigung der Institutionen Gefallenen“, der erstmals in Zeiten der Militärdiktatur begangen wurde und dann von Ex-Präsident Sanguinetti wieder eingeführt wurde, betonte der Leutnant Edison Linares die Notwendigkeit des antisubversiven Kampfes und rechtfertigte die damals angewandten „unkonventionellen Methoden“ mit einer mangelnden Unterstützungen durch andere Institutionen des Staates. Gleichzeitig wurde vor der akuten Bedrohung durch subversive Kräfte gewarnt, die jederzeit wieder auferstehen könnten, weshalb man sich immer noch im Kriegszustand befände.
Doch auch auf der anderen Seite hat sich der Ton verschärft. Seit einigen Monaten wird verstärkt auf die aus Argentinien importierte Aktionsform des escrache zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um Protestaktionen vor den Domizilen von erwiesenen Menschenrechtsverbrechern, die dazu bestimmt sind, die Nachbarschaft für das Thema zu sensibilisieren. Besonders im Fokus der Aktivisten stand dabei in den letzen Wochen der Leutnant a.D. José ‘Nino’ Gavazzo, der als Chef eines militärischen Geheimdienstes für die Entführung, Folterung und Ermordung von vielen UruguayerInnen im Ausland verantwortlich sein soll. Ihm konnte auch eine direkte Beteiligung an der Entführung des Sohnes der Uruguayerin Sara Méndez, Simón Riquelo, im Jahr 1976 in Argentinien nachgewiesen werden. Der unermüdliche Kampf der Mutter hat inzwischen internationale Bekanntheit erlangt (siehe nachfolgenden Artikel).

Das Ende der Straflosigkeit?

Dieser Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit erfährt nun auch in Uruguay nach Jahren des Stillstandes einen neuen Impuls. Vor wenigen Tagen fand in Uruguay ein internationaler Juristenkongress statt. Dort wurde zum ersten Mal die Möglichkeit angesprochen, die Fälle der ‘Verschwundenen’ vor ein internationales Strafgericht zu bringen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Uruguay im Jahr 1994 im Rahmen einer Versammlung der Organisation Amerikanischer Staaten eine Interamerikanische Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen unterzeichnet hat. Dieses internationale Abkommen wurde 1996 zu uruguayischem Gesetz und etabliert die Rechtsnorm, dass Entführungen als permanente Verbrechen gelten, solange der aktuelle Aufenthaltsort der Opfer unbekannt bleibt. Die Anwendung dieses Gesetzes müsste also eine sofortige Strafverfolgung der damaligen Täter nach sich ziehen. Diese Perspektive stößt in Uruguay erwartungsgemäß auf heftigen Widerspruch. Dadurch, dass das Amnestiegesetz durch ein Referendum vom Volk abgesegnet worden sei, besäße es mehr Legitimation als ein internationales Abkommen, so hört man. Hier gilt jedoch eigentlich der Rechtsgrundsatz, dass wenn sich zwei Gesetze widersprechen,das jüngere von beiden angewandt werden muss, ganz egal wie dieses nun zu Stande gekommen sein mag. Das ist in diesem Fall nicht das Amnestiegesetz.
Bei den Fürsprechern eines radikalen Wandels im Umgang Uruguays mit seiner jüngeren Vergangenheit, handelt es sich nicht nur um Familienangehörige der Opfer und Vertreter der uruguayischen Linken. Rückendeckung kommt auch von ideologisch völlig unverdächtiger Seite. Das Menschenrechtskomitee der UNO ließ vor kurzer Zeit verlauten: „Die Amnestiegesetze sind nicht kompatibel mit den internationalen Verpflichtungen eines Staates, wenn sie für die Straflosigkeit derart ernsthafter Verbrechen sorgen.“ Das Ende der Straflosigkeit in Uruguay? Es bleibt zu hoffen, dass die Globalisierung auf dem Gebiet der Rechtssprechung ebenso schnell voranschreiten wird wie auf dem der Wirtschaft .

Wo ist Simón?

Seit Mai befindet sich Sara Méndez aus Uruguay auf einer Europareise, um über die Suche nach ihrem seit 1976 „verschwundenen“ Sohn Símon zu informieren und um Unterstützung dafür zu gewinnen, politischen Druck auf den uruguayischen Präsidenten Jorge Batlle auszuüben. Der Präsident als Oberbefehlshaber der Streitkräfte hat bisher keine Anstrengungen unternommen, um die namentlich bekannten verantwortlichen Militärs zur Aussage zu zwingen. Vielmehr besteht weiter der Eindruck, dass der Schweigepakt mit den Militärs auch vom neuen Präsidenten eingehalten wird.
Sara Méndez geriet Anfang der 70er Jahre in das Visier der Repressionsorgane und flüchtete kurz vor dem Militärputsch 1973 aus Uruguay nach Argentinien. 1976 putschten auch dort die Militärs. Im Juni 1976 brachte sie in Buenos Aires ihren Sohn zur Welt, den sie unter ihrem Decknamen als Símon Riquelo registrieren ließ.

Alte Bekannte

„Als der Staatsstreich stattfand, hatte ich wie viele andere Uruguayer Zuflucht in Buenos Aires gefunden, ich lebte dort seit dreieinhalb Jahren. Am 13. Juli 1976 stürmten circa 15 Zivilpersonen meine Wohnung. Der Verantwortliche stellte sich vor und fragte mich, ob ich ihn kennen würde. Natürlich kannte ich ihn, da Major José ‘Niño’ Gavazzo seit 1972 für die Repression in Uruguay verantwortlich war. Als sie mich aus meiner Wohnung herausschleppten, hinderten sie mich daran, meinen Sohn mitzunehmen. Das war das letzte Mal, dass ich Simón gesehen habe,“ erinnert sich Méndez.
Méndez wird in das Folterzentrum Automotores Orletti in Buenos Aires verschleppt. Von dort wird sie mit zwanzig weiteren Landsleuten von den uruguayischen Militärs heimlich in ihr Heimatland zurückgebracht. Grundlage dieser Aktion ist die „Operación Cóndor“, auf die sich sechs lateinamerikanische Diktaturen verständigt hatten, um die Länder übergreifenden Aktionen der Militärs und Geheimdienste zu koordinieren. In Uruguay wird eine erneute Verhaftung „inszeniert“ und Sara Méndez von einem Militärgericht zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.
„Was uns das Leben gerettet hat, war der Umstand, dass die Militärs in Uruguay wegen des steigenden Drucks aus den USA im Vorfeld der Wahl von Präsident Jimmy Carter ‘lebende Subversive’ brauchten. Also wurde unsere Verhaftung noch einmal inszeniert. Während der vier Monate, die wir bis dahin in Uruguay ‘klandestin’ verhaftet waren, erfuhren wir, dass in Argentinien weitere UruguayInnener verhaftet worden waren. Von denen überlebte niemand.“

Angst vor der Wahrheit

1981 beginnt Sara Méndez unmittelbar nach ihrer Entlassung aus der Haft mit der Suche nach ihrem Sohn. Dabei arbeitet sie mit den Großmüttern der Plaza de Mayo in Buenos Aires zusammen und versucht auch auf juristischem Wege Informationen zu bekommen. 1986 erhält sie einen ersten Hinweis. Vermutet wird, dass Simón als Adoptivkind in einer uruguayischen Familie lebt.
„1989 übergaben wir diesen Hinweis der Justiz. Der Kampf darum, auf juristischem Wege eine DNA-Analyse zu erzwingen, dauerte zehn Jahre und war letztlich nicht erfolgreich. 1999 wurde mein Gesuch endgültig abgelehnt. Erst im Frühjahr 2000 überredete der neue Präsident Batlle die Familie, einem Test zuzustimmen. Zuvor hatte er allerdings von den Militärs Hinweise darauf erhalten, dass der Jugendliche nicht Simón wäre. Der DNA-Test wurde durchgeführt und fiel negativ aus. Wir standen wieder am absoluten Nullpunkt.“
Einer Strafverfolgung der für das „Verschwinden“ von Simón verantwortlichen Täter steht das uruguayische Amnestiegesetz aus dem Jahr 1986 entgegen. „Der Staatsterrorismus der Militärdiktatur hat im uruguayischen Volk tiefe Wunden hinterlassen. Bis heute herrscht immer noch eine gewisse Angst. Die Tatsache, dass das Amnestiegesetz in Uruguay durch ein Referendum vom Volk noch bestätigt wurde, hat die Situation im Land natürlich schwieriger gemacht.“ 1989 sollte das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruches des Staates“ mit Hilfe eines Referendums zu Fall gebracht werden. Der Regierung gelang es allerdings durch die Drohung mit einer erneuten Militärdiktatur, die UruguayerInnen soweit einzuschüchtern, dass die Abstimmung knapp scheiterte und das Amnestiegesetz damit bestätigt wurde.
„Die Tatsache, dass die uruguayischen Regierungen sich so lange geweigert haben, das Problem der ‘Verschwundenen’ anzusprechen, hat dazu geführt, dass Uruguay eines der rückständigsten Länder in Bezug auf dieses Thema ist. Diese Rückständigkeit hat letztlich für Batlle den Ausschlag gegeben, die Friedenskommission per Dekret einzusetzen. Sie hat allerdings lediglich das Mandat, die vorliegenden Informationen zusammenzutragen, kann also keine weiteren Untersuchungen erzwingen. Auf parlamentarischer Ebene wird die Kommission nur von der Opposition, dem Linksbündnis Frente Amplio und der sozialdemokratischen Fünf-Prozent-Partei Nuevo Espacio unterstützt. Die beiden traditionellen Parteien Colorados und Blancos, die das Regierungsbündnis stellen, haben kein Interesse an der Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur. Mehr noch, Batlle wird in seinem eigenen Lager unter Druck gesetzt.“

Die Täter sind bekannt

Im Fall Simón Riquelo sind die Täter bekannt. Sie wurden von mehr als 20 ZeugInnen in Uruguay wie auch in Argentinien identifiziert. Bis heute leben der Entführer, Major José Gavazzo und sein Vorgesetzter im militärischen Geheimdienst Juan Antonio Rodríguez Buratti, allerdings frei im Land und werden nicht behelligt. Stattdessen wird von offizieller Seite harsche Kritik an Sara Méndez geübt. Vom Vorsitzenden der Friedenskommission Carlos Ramela wurde sie bereits als Lügnerin bezeichnet. Er warf ihr vor, nicht mit der Kommission zusammenzuarbeiten und nicht an Aufklärung, sondern nur an einem politischen Skandal interessiert zu sein. Die schlechten Beziehungen zwischen Méndez und der Kommission sind auch darauf zurückzuführen, dass vor einiger Zeit Mitglieder des Gremiums gezielt Fehlinformationen gestreut hatten, nach denen Simón schon lange Zeit tot sei. Dies ist ein beliebtes Mittel, um Angehörige bei der Suche nach den Opfern zu entmutigen und zur Aufgabe zu bewegen.

Solidarität mit Sara

Für Méndez steht fest: „Bis heute hat Präsident Batlle kein wirkliches Interesse an Aufklärung. Er möchte das Thema möglichst schnell vom Tisch haben. Dabei hatte er insbesondere im Fall der ‘verschwundenen’ Kinder Unterstützung versprochen. Aufklärung konnte nur durch internationalen Druck erreicht werden, wie im Fall des argentinischen Dichters Juan Gelman, dem es letztes Jahr gelang, die Tochter seines ermordeten Sohnes zu identifizieren.“ Während ihrer Europareise traf Sara Mendéz mit vielen MenschenrechtlerInnen und PolitikerInnen zusammen und erhielt Unterstützung für ihr Anliegen. So traf sie sich in Frankreich unter anderem mit Danielle Mitterand und Gesundheitsminister Bernard Kouchner. Der Gründer von Ärzte ohne Grenzen war bereits in den siebziger Jahren nach Uruguay gereist, um sich dort über die Lage der politischen Gefangenen zu informieren. Mendéz machte auch eine Zeugenaussage bei dem französischem Richter Roger Leloir, der seit einiger Zeit an Verfahren gegen argentinische Militärs arbeitet. Nach ihren Gesprächen mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Frankreich, Belgien und Holland soll im Juli eine Resolution zu ihrem Fall im Europäischen Parlament eingebracht werden. In Deutschland kam kein Termin mit einem politischen Verantwortlichen zustande. „Keine Zeit!“ lautete die offizielle Begründung. Die nächsten Stationen ihrer Europareise sind die Schweiz und Spanien. Dort steht unter anderem auch ein Gespräch mit Richter Baltasar Garzón auf dem Programm.

Wir sind wieder da!!

Während der Friedensverhandlungen Anfang der 90er Jahre waren die Punkte betreffs der Streitkräfte und deren unzählige Menschenrechtsverletzungen nicht grundlos heikel und zeitraubend. Nach langen Monaten gab die FMLN nach und die Armee blieb als solche bestehen. Weder wurde sie abgeschafft, noch mit außenstehenden Elementen angereichert. Im Gegenzug hielt sich die Armee recht genau an das Abkommen, verkleinerte sich, schluckte das stagnierende Budget jahrelang ohne Widerrede und zog sich in die Kasernen zurück.
Politisch und moralisch belegte eine unabhängige Wahrheitskommission die Verantwortung von Armee und Polizei für über 90 Prozent der begangenen Menschenrechtsverletzungen während des Krieges. Strafverfolgungen allerdings wurde mit einer Blitzamnestie vorgebeugt, deren Gültigkeit bis heute umstritten ist (Argentinien läßt grüßen). Die geschassten Generäle verließen die Armee durch die Hintertür, wurden allerdings großzügig abgefunden und gehen heute als Geschäftsleute ihren Interessen nach. Dass die Armee sich mit ihrer neuen Rolle abgefunden hat und diese entsprechend spielt, wurde im Lande allgemein anerkannt und als ein Erfolg des Friedensprozesses gewertet.

1998: Mitch verursacht Überschwemmungen

Im November 1998 überflutete der Lempafluss nach den Niederschlägen, die der Wirbelsturm Mitch verursacht hatte, weite Landstriche im Mündungsgebiet. Hunderte von Familien wurden abgeschnitten. Die linken Gemeinderegierungen und die in dieser ehemaligen Guerillahochburg arbeitenden NRO sowie Basisorganisationen forderten den Einsatz von Hubschraubern. Indem die Armee nicht nur zahlreiche Luftrettungen durchführte, sondern Hilfsaktionen auch mit Lastwagen und Soldaten unterstütze, kam sie auf alle Titelseiten.
Die “selbstverständliche“ Bereitschaft der Armee, die Polizei in ihren Bemühungen gegen die Kriminalität zu unterstützen, stieß in dieser Zeit nur auf schwache Proteste. Der Großteil der Leute hat im gewalttätigsten Land Lateinamerikas Angst vor Delinquenten und die Armee vermittelte eine vermeintliche Sicherheit.

Vom Retter in der Not …

Mit rund 30.000 SoldatInnen (es gibt auch einige Frauen) ist die Armee nach wie vor erheblich umfangreicher als zum Beispiel die Polizei. Da kommt es der Zentralregierung natürlich gelegen, diese Kapazitäten zu nutzen, denn im ersten Moment werden die Staatsfinanzen dadurch nicht beansprucht.
Nach den verheerenden Erdbeben im Januar und Februar dieses Jahres setzte die Armee ihre wenigen, aus Kriegszeiten verbliebenen Hubschrauber ein. Allerorts begann die Armee Präsenz zu markieren. Zuerst fragten sie noch respektvoll die „señores alcaldes“, ob es diesen auch genehm sei, wenn die Soldaten bei der Trümmerräumung helfen würden.
Mittlerweile ist dies nicht mehr nötig. Die Armee hat sich wieder legitimiert und wird allerseits in den höchsten Tönen gelobt. Selbstlos unterstützt sie die, von der Regierung privatisierte – aber an ARENA nahe stehende Unternehmen vergebene – Koordination der Hilfsleistungen und gewährt mit grimmig behelmten Militärpolizisten die Sicherheit der durchgeführten Hilfsgütertransporte. Dass General Perdomo, verantwortlich für die Abwicklung der Operation, von einem französischen Gericht wegen Mordes an der Krankenschwester Madeleine Lagedec international zur Verhaftung ausgeschrieben ist, scheint dabei niemanden zu stören.
Das Wohnproblem ist nach den beiden Erdbeben, die 20 Prozent der Bevölkerung obdachlos gemacht haben, zu dem wichtigsten Punkt für den Wiederaufbau des Landes avanciert. Auch hier darf die Armee nicht fehlen. Mit 15 Millionen US-Dollar sollen rund 70.000 provisorische Behausungen von Armeeangehörigen vorfabriziert und installiert werden. Weitere Wohneinheiten werden von Häftlingen gefertigt. Dass dafür auch noch ein Wohnbauministerium existiert, schien niemandem aufgefallen zu sein. Dessen Budget wurde für 2001 nicht erhöht und stagniert bei umgerechnet fünf Millionen US-Dollar.
Währenddessen haben in San Cayetano Istepeque und in Tepetitán 1384 Familien mit durchschnittlich 5 bis 6 Mitgliedern das zweifelhafte Glück, die kommende Regenzeit in Wellblechbaracken von 3 auf 4 Metern erwarten zu dürfen, die im Volksmund „Mikrowellengrills genannt werden.
Da alles militärisch organisiert ist, bleibt weder Zeit, die Leute zu fragen, ob sie Wünsche anzubringen hätten, noch deren Mitarbeit zu organisieren. Die Koordination mit den Gemeinderegierungen und anderen lokalen Akteuren wird – außer für die Einladung zur Einweihung – überhaupt nicht gesucht.
Nun bleibt die Armee allerdings nicht hier stehen, sondern blickt forsch in die Zukunft. So hat derselbe General Perdomo im Namen der Streitkräfte bereits die Aufgabe übernommen, anläßlich der mit Sicherheit eintretenden Notsituationen in der von Mai bis November dauernden Regenzeit, die offiziellen Flüchtlingslager einzurichten und zu verwalten.
Diese neuen Aufgaben werden damit von einer, ihrem Mandat nach denkbar ungeeigneten Institution betrieben. Denn lokal abgestützte, demokratischere und basisorientierte Kapazitäten könnten nicht nur in Krisensituationen schneller, effizienter und bedürfnissorientierter reagieren. Stattdessen wird nun eine zentralstaatliche Stelle gestärkt, die historisch für die Unterdrückung der Bevölkerungsmehrheit und zahllose Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist.

… zur omnipräsenten Institution

Laut einer Zeitungsmeldung vom 5. April hat das Straßenbauministerium der Armee 51 Straßenbaumaschinen übergeben, damit sie in jedem Teil des Landes eingesetzt werden können. Dies ist unter anderem die Folge einer Personalreduktion von rund 5000 auf 700 Angestellte (durch massive Frühpensionierungen und abgefundene Entlassungen) in eben diesem Ministerium – gerade einmal 45 Tage nach dem schweren Erdbeben. Somit sind die Gemeinderegierungen zukünftig gezwungen bei der Armee anzuklopfen um anzufragen, ob diese vielleicht Zeit und Lust hätte, gewisse Straßen zu reparieren.
Eine weitere Schlagzeile derselben Woche titelt, dass nun “die Armee gegen Entführerbanden” eingesetzt werden soll. Die Häufung von Entführungen, vor allem auch von Mitgliedern reicher Familien – die Mittelschicht bezahlt und reicht meistens gar keine Klage ein –, hat die offiziellen Kreise aufgeschreckt. Angesichts der bewusst herbeigeführten Unfähigkeit einer kastrierten, militarisierten und politisierten Polizei und eines korrumpierten und ineffizienten Justizwesens ist die Armee einmal mehr der Rettungsanker.
Bereits seit Jahren begleiten Soldaten die Polizei – in einem Verhältnis von sechs zu eins – auf Patrouille im Landesinnern. Eine seriöse Auswertung darüber hat nie stattgefunden. Aber die Tatsache, dass die Kriminalität weiterhin eine der Hauptsorgen der Bevölkerung ist, könnte als Indiz für die relative Erfolglosigkeit dienen. Andererseits kann die Armee so ihr Prestige verbessern und die Bevölkerung wieder an Olivgrün im Straßenbild gewöhnen.

Alles hat seinen Preis

Die grundsätzliche Frage, ob für Häuserbau, Nahrungsmittelverteilung, Luftrettung, etc. überhaupt eine Armee benötigt wird, ist allerdings noch nicht beantwortet. Auch nicht die Frage nach dem Preis. Diesen beginnen die Militärs nun zu berrechnen.
Neue Helikopter würden sie in erster Linie benötigen, da die Hilfsoperationen diese arg in Mitleidenschaft gezogen hätten. Und so macht sich die Verteidigungskommission des Parlaments auf, die USA um neue Helikopter anzubetteln. Denn diese wurden schon zu Kriegszeiten jeweils gratis geliefert. Selbst die FMLN-ParlamentarierInnen stimmen in diesen Chor ein.
Und auch aus der so genannten Zivilgesellschaft sind keine kritischen Stimmen zu vernehmen. 30 Millionen sollen die sechs neuen Hubschrauber (ohne die militärische Ausrüstung) kosten – knapp ein Drittel des aktuellen Jahresbudgets der Armee. Dabei ist keine Rede davon, dass diese Luftfahrzeuge viel sinnvoller der Polizei, einer Katastrophenschutzorganisation oder wem auch immer zur Verfügung gestellt werden könnten.
Die Militärs haben durchaus strategische Interessen zu vertreten. Im Jahre 2004 sind in El Salvador Präsidentschaftswahlen und falls sich die Linke nicht erneut zerstreitet, könnte das Land einen historischen Wechsel erleben. Die Wunden des vergangenen Krieges sind bei weitem nicht verheilt und – Argentinien, Uruguay und Chile lassen grüssen – weite Kreise könnten Gerechtigkeit und damit Verfahren und Verurteilungen gegen die Haupttäter einfordern. Eine in der Bevölkerung breit verankerte, nützliche und omnipräsente Armee wäre unter diesen Umständen sehr viel weniger angreifbar.
Mittel- und langfristig befindet sich die salvadorianische Gesellschaft in einer tiefen wirtschaftlichen und moralischen Krise, die durch die Erdbeben noch zusätzlich verschärft wurde. Die stetige massive Migration – bereits rund 20 Prozent der Bevölkerung leben unter anderem in den USA, schicken jeden achten US-Dollar des Bruttosozialproduktes quasi als Geschenk ins Land an ihre Familien – zerrüttet die Gesellschaft und zerstört die letzten Reste von kultureller Identität.

Sehnsucht nach der starken Hand

Gegenüber einer ineffizienten Polizei und einem korrumpierten Justizapparat scheint die einheitlich und effizient auftretende Armee für viele die richtige Adresse um eine harte Hand gegen die grassierende Kriminalität einzufordern. Denn nicht wenige erinnern sich positiv an die Militärdiktatur von Martínez, der vor 60 Jahren noch Dieben die Hand abhacken ließ.
Dass er anläßlich eines Indianeraufstandes 1932 auch noch 30.000 Indigenas umbringen ließ, ist im Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung kaum verankert. Sie lassen die Sehnsucht nach Identifikationsfiguren deutlich werden.
Aber weder vom Präsidenten noch von irgendeiner anderen Person aus der völlig verrufenen politischen Klasse fühlen sich die meisten SalvadorianerInnen vertreten. Die katholische Kirche erinnert sich unter dem Opus Dei Erzbischof Saenz Lacalle mit Wehmut an den gesellschaftlichen Einfluss von Monseñor Romero, und die sozialen Organisationen sind schwach, zersplittert und teilweise in der Vergangenheit gefangen.
Diese Abwesenheit von nationalen Identifikationsfiguren, sei es im guten oder schlechten Sinne, bereitet somit, zusammen mit der tief greifenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise, das Terrain für die Armee vor. Denn es besteht die Gefahr, dass sie sich angesichts des Rufes nach harter Hand und Verlässlichkeit in Zukunft erneut als Retter der Nation aufspielen und präsentieren wird.

Gewerkschaften im Sog des Neoliberalismus

Lateinamerika ist ein gefährliches Pflaster für Gewerkschaftsaktivitäten, darauf weist der Jahresreport 2000 des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften hin. Gewalt kennzeichnet in hohem Maße die meisten der 23 beobachteten Staaten. Mit 90 Hinrichtungen hält Lateinamerika den grausamen Rekord bei der Ermordung von Gewerkschaftsmitgliedern in deren Kampf für Gerechtigkeit. Mehr als zwei Drittel aller weltweit inhaftierten GewerkschaftsaktivistInnen sitzen in Lateinamerika hinter Gittern. Eine Vielzahl wird von Todesschwadronen bedroht, viele werden verschleppt und ermordet. Und während sich die jeweiligen Regierungen gegenüber Korruption, allgemeiner Kriminalität und florierendem Drogenhandel oft hilflos zeigen, wird demgegenüber die Repression gegen jede Form der Gewerkschaftsarbeit umsichtig organisiert.
In der Vergangenheit spielten Gewerkschaften in der politischen Arena der meisten lateinamerikanischen Staaten eine bedeutende Rolle. Unter der Ägide einer nationalen binnenmarktorientierten Industrieentwicklung konnten sie bedeutende Mitgliederzugewinne verzeichnen. Mit dem Übergang zu diktatorischen Regimes in den 70er Jahren wurden jedoch auch die Gewerkschaften, sofern sie sich nicht vom Staatsapparat kooptieren ließen, einer scharfen Repression unterworfen. In dieser Zeit wurden Zehntausende von GewerkschafterInnen in Chile, Brasilien, Argentinien und Uruguay inhaftiert, gefoltert und ermordet. Der Beitrag von Boris Kanzleiter über die verschwundenen GewerkschafterInnen von Mercedes Benz in Buenos Aires erinnert an diese düstere Zeit und beleuchtet die aktuellen Auseinandersetzungen um eine Wiedergutmachung.
Mit dem Übergang zu Demokratieregimen ab Mitte der 80er Jahre waren auch die Gewerkschaften mit einer erheblich veränderten Industriepolitik konfrontiert, die im Zeichen des Neoliberalismus weltmarktoffen durchgeführt wurde und zum großen Teil die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Industriestrukturen zerstörte. Der Beitrag von Martin Ling skizziert diese Entwicklung hin zur geplanten amerikanischen Freihandelszone FTAA. Silvia Portella untersucht in ihrem Bericht „Mercosur“ die Wirkungen der angestrebten Wirtschaftsunion zwischen Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien auf Formen der gewerkschaftlichen Organisation.
In einem gewerkschaftlichen Organisierungsprozess ist jedoch nicht nur die in der jeweiligen Industriestruktur angelegte objektive Notwendigkeit des Zusammenschlusses von lohnabhängig Beschäftigten angelegt. In diesem Sinne kann auch der Bericht von Doris Meißner über die erfolgreich begonnene Zusammenarbeit zwischen der deutschen und der brasilianischen ChemiearbeiterInnengewerkschaft gelesen werden. Der Beitrag von Tina Frank und Nina Kleiber zeigt die vielfältigen Handlungsbarrieren, die Beschäftigte überwinden müssen, die sich als nicht-klassische Gewerkschaftsgruppe organisieren wollen: Die Landarbeiterinnen und Hausangestellten in Brasilien. Sie arbeiten darin die Bedeutung des strukturellen Ausschlusses von Frauen aus einer patriarchal dominierten Gesellschaft heraus.
Der Bericht von Rudi Pfeifer über die heutige Situation von BananenplantagenarbeiterInnen führt uns jedoch vor Augen, dass in bestimmten Regionen Lateinamerikas sehr direkte und bedrohliche Formen von Brutalität der Unternehmen nach wie vor zum gewerkschaftlichen Existenzkampf gehören. Thomas Greven beleuchtet in seinem Beitrag das widersprüchliche Verhältnis zwischen US-amerikanischen und lateinamerikanischen Gewerkschaften. Der in den 90er Jahren gewählte Gewerkschaftschef Sweney verdankt sein Amt nicht zuletzt den Organisierungserfolgen der Dienstleistungsgewerkschaft Service Employees International Union (SEIU) bei den lateinamerikanischen MigrantInnen. Dennoch macht Greven deutlich, daß Solidarität selten und oft nur sehr schwer von oben organisiert werden kann, sondern eher von unten wachsen muss.
In dem letzten Beitrag des vorliegenden Schwerpunktteils setzt sich Dieter Boris in einer Rezension mit der jüngst erschienen instruktiven Studie von Rainer Dombois und Ludger Pries auseinander. Mit skeptischem Unterton bewertet er die von den Autoren in den „Neuen Arbeitsregimes im Transformationsprozess Lateinamerikas“ auch positiv betrachteten politischen Gestaltungsspielräume.
Diese Schwerpunktausgabe ist in Zusammenarbeit mit dem Nord-Süd-Netz des DGB-Bildungswerks e.V. entstanden. Die LN-Redaktion bedankt sich für die gute Zusammenarbeit. Die Fotos stammen von David Bacon.

Einfluss der Gewerkschaften im Mercosur

Anders als andere vergleichbare Handelsabkommen konnte der Mercosur immer mit der Unterstützung wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Akteure rechnen, die trotz Kritik – wie im Fall der Gewerkschaften – im Rahmen ihrer Möglichkeiten direkt an seiner Entwicklung mitwirkten. Obwohl es zu einer Verschlechterung der sozialen Situation in den Mitgliedsländern gekommen ist, hat dies dazu beigetragen, die Mitwirkung der Zivilgesellschaft bei den Verhandlungen im Mercosur zu vergrößern.

Erben einer Militärherrschaft

In Argentinien, Chile und Uruguay (Länder des Cono Sur) kam es zu einer verstärkten Präsenz der Gewerkschaften auf der politischen Bühne, vor allem vor dem Hintergrund der Redemokratisierung der jeweiligen Regierungen. Sie übernahmen als Erben einer Militärherrschaft ökonomische Modelle, die sich an neoliberalen Regierungsprogrammen orientierten. Die damit einhergehende Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes machte die Gewerkschaften mobil. Sie standen vor einer wirtschaftlichen Entwicklung, die sowohl eine stärkere Unterordnung der Region in das globale Gefüge bedeutete, als auch einen Weg zur Stärkung ihrer Position bei den Verhandlungen über die Auslandsschulden markierte. Deswegen entschieden sich die Gewerkschaften der Länder des Mercosur, vereinigt m Dachverband Coordenadora de Centrais Sindicais do Cono Sur (CCSCS), den Prozess von Anfang an zu begleiten und sich einzumischen.

Erste Schritte auf offiziellem Parkett

Aufgrund des Drucks der Gewerkschaften wurden im März 1992 mit der Gründung der „Arbeitsgruppe Arbeitsbedingungen, Beschäftigung und Soziale Sicherheit“ arbeitnehmerrelevante Themen in den internationalen Handelsvertrag aufgenommen. Aber die Mitwirkung der Gewerkschaften ging weit über Arbeitnehmerthemen hinaus.
Wenn auch nur als offizieller Beobachter, fing die CCSCS 1993 in offiziellen Verhandlungen an, auch andere makroökonomische politische Vorschläge zu unterbreiten, die beispielsweise den Außenhandel, Herkunftsvorschriften und Förderpolitik betrafen. Diese Entwicklung erweiterte den Spielraum der Debatten der CCSCS ganz entscheidend und zeigte die Notwendigkeit, ein globales Projekt der Integration und Aufnahme in den Weltmarkt auf den Weg zu bringen.
Doch wie kamen die Gewerkschaften zu einem einheitlichen Vorgehen? Vielleicht dadurch, dass sie gegen ein konkretes Programm mobilisierten, das von den Regierungen verhandelt wurde. Ein gemeinsames Vorgehen war die grundlegende Waffe, um den gewerkschaftlichen Einfluss zu verbessern.
Als im Dezember 1994 mit der Unterzeichnung das Protokoll von Ouro Preto unterzeichnet wurde, hatten die Gewerkschaften noch kein Instrument zum Schutz der Sozial- und Arbeitsrechte durchsetzen können. Aber sie erreichten eine stärkere Demokratisierung des Verhandlungsprozesses. Sie setzten die Gründung des Foro Consultivo Econômico-Social do Mercosur (FCES) durch, eines Beratungsorgans, das soziale und ökonomische Akteure mit dem wichtigsten Verhandlungsgremium des Mercosur an einen Tisch bringt.
Da es bezeichnenderweise nur wenige Verhandlungen in gewerkschaftsrelevanten Bereichen gab, war die Präsenz der Gewerkschaften dementsprechend schwach. Zudem nahm das Gewicht der Gewerkschaften durch die Restrukturierung der Produktion, stärkere Flexibilisierung und zunehmende Arbeitslosigkeit stark ab. In den Jahren 1996 und 1997 gewann der gewerkschaftliche Kampf auf nationaler Ebene wieder an Fahrt, und auch auf der Ebene des Mercosur kam es zu einigen interessanten Ergebnissen. Nach einem Treffen der Gewerkschaftspräsidenten Ende 1997 wurde Arbeits- und Sozialrechten und der Demokratisierung im Mercosur mehr Nachdruck verliehen.
Mit der erneuten Stärkung der Gewerkschaften sah es auch nach Fortschritten in der „Arbeitsgruppe Arbeitsbedingungen, Beschäftigung und Soziale Sicherheit“ aus. Die CCSCS präsentierte dort als zwei zentrale Forderungen die Verabschiedung einer Declaração Sociolaboral (Erklärung über Sozial- und Arbeitsrechte) und die Schaffung einer Aufsichtsinstanz auf dem Arbeitsmarkt, die 1998 auch angenommen wurden. Außerdem verschlechterten sich die Beschäftigungssituation und die sozialen Verhältnisse zusehends, was der CCSCS neuen Zuspruch brachte.
Zwei große Ereignisse fanden statt: der Aufzug am 1. Mai, an der Grenze zwischen Uruguay und Brasilien mit mehr als zehntausend Menschen und der erste Gewerkschafts-Gipfel des Mercosur in Montevideo im Dezember 1998, an dem etwa 400 GewerkschaftsvertreterInnen aus 16 verschiedenen Wirtschaftszweigen teilnahmen.
Auch im letzten Jahr kam es zu neuen Mobilmachungen und zum zweiten Gewerkschafts-Gipfel im Dezember in Florianópolis, an dem beinahe doppelt so viele Gewerkschaftsvertreter mitwirkten. Die TeilnehmerInnen übten übereinstimmend Kritik an den ökonomischen Modellen, die von den vier Ländern des Mercosur übernommen wurden und ihren sozialen Folgen. Außerdem verurteilten sie das Freihandelsabkommen FTAA (Free Trade Area of the Americas) und unterstützten die Vertiefung des Integrationsprozesses, um so die Beziehung zu anderen Handelsblöcken zu stärken.
Eine der grundlegenden Forderungen des Kongresses an den derzeitigen Koordinator des Mer-cosur, Botschafter Botafogo, war es, vor dem Beitritt zu FTAA alle Regierungen zur Organisation einer Volksabstimmung zu verpflichten. Dieser Vorschlag ist bereits in den Parlamenten der vier Mercosur-Staaten vorgestellt worden, und seine Unterstützung dehnt sich auch auf die übrigen Staaten der americas aus.
Durch die öffentliche Verkündung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez auf dem Treffen von Quebec, vor dem Beitritt zur FTAA solch ein Referendum zu organisieren, gewinnt diese Forderung immens an Kraft.

Gibt es wirklich Fortschritte?

Für eine(n) außenstehende(n) BeobachterIn stellt sich nach den hier gegebenen Eindrücken unmittelbar die Frage: Gibt es Erfolge? Erkennt der Mercosur den Arbeitsschutz und die Verbesserung der Sozialnormen an?
Bei Themen der Arbeitsplatzschaffung, Lohnverbesserung und Verbesserung der Arbeitskonditionen ist die Antwort Nein. Die soziale Situation der vier Länder hat sich wahrnehmbar verschlechtert, und bis heute fördern die Maßnahmen, die der Mercosur zustande gebracht hat, im Grunde nur die großen Firmen und das internationale Finanzkapital. Jedoch haben die Gewerkschaften im Mercosur – abgesehen von ihrer derzeitigen Schwäche – wichtige Bereiche erobert. Wenn diese weiterhin ausgebaut werden, können sie den Weg zu einem größeren Organisations- und Mobilisierungsgrad ebnen und zu realen sozialen und ökonomischen Errungenschaften führen.

Soziale Themen an höchster Stelle

Die Declaração Sociolaboral ist inhaltlich zurückhaltender als die nationalen Gesetzgebungen formuliert und darüber hinaus nicht bindend. Aber sie wurde von den Gewerkschaften angenommen, weil sie die Schaffung des ersten dreigeteilten Kontrollorgans für ihre Umsetzung vorsieht – die Comissão Sociolaboral. Dies wurde nur möglich, weil sie im Vertrag von Asunción noch nicht vorgesehen war und eine direkte Verbindung zur obersten Verhandlungsinstanz des Mercosur hat, also nicht den Arbeitsministerien untergeordnet ist. So können soziale Themen an höchster Stelle eingebracht werden.

Hintertür Tarifverträge

Außerdem gibt es gute Möglichkeiten, mit Tarifverhandlungen auf bi- oder trinationaler Ebene weiterzukommen. Es gibt bereits einen Tarifvertrag zwischen den Volkswagenniederlassungen in Argentinien und Brasilien und ihren Gewerkschaften. Trotz der rechtlichen Unterschiede zwischen den Tarifverträgen sind durch die Erklärung Anfänge geschaffen, die die Wirksamkeit von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen in den Verhandlungen auf supranationaler Ebene stärkt. Die Tarifverhandlungen könnten auch Fakten schaffen, die mittelfristig eine rechtliche Gestalt annehmen, welche in die Deklaration oder das juristische Grundgerüst des Mercosur übernommen werden kann. Damit das umgesetzt wird, müssen die Gewerkschaften offensichtlich ihre organisatorischen Pläne weiterverfolgen und auch weiterhin Druck ausüben.

Gewerkschaftliche Mitwirkung ausschlaggebend

Ein weiterer wichtiger Erfolg ist die Einrichtung einer Aufsichtsinstanz im Arbeitsmarkt des Mercosur – ein eher technisches Organ, das den Arbeitsministerien untergeordnet ist, aber dreiteilig geleitet wird. Diese Aufsicht könnte neben ihrer Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt bei Themen der Beschäftigung, Qualität der Beschäftigung, Migration etc. Möglichkeiten zu Debatten und politischen Verhandlungen eröffnen und Richtlinien zu staatlicher Förderpolitik erstellen. Auch hier ist die gewerkschaftliche Mitwirkung ausschlaggebend.
Zu guter Letzt gibt es die Einflussmöglichkeit im Foro Consultivo Econômico Social do Mercosur (FCES), in dem derzeit zwar beinahe nur gewerkschaftliche und unternehmerische Organisationen sitzen, das aber Raum zum Austausch gewerkschaftlicher Organisationen mit anderen Institutionen der Zivilgesellschaft liefern könnte. Auf diese Weise können die Gewerkschaften an Bedeutung gewinnen, wenn das FCES im Mercosur auf dem Gebiet demokratischer Fortschritte Gewicht bekommt.

Übersetzung: Laurissa Mühlich

KASTEN

Einige Erläuterungen zum Mercosur

Der Mercado Común del Sur (Gemeinsamer Markt des Südens) ist ein geschützter Handelsblock, mit dem Ziel, einen gemeinsamen Markt zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay aufzubauen. Er wurde mit dem Vertrag von Asunción im März 1991 gegründet.
Im Mercosur leben über 200 Millionen Menschen, von denen 80 Millionen ökonomisch aktiv sind. Das Pro-Kopf-Einkommen ist dort höher als im Rest des lateinamerikanischen Kontinents. Der Mercosur ist international der viertgrößte Handelsblock; in ihm werden 54 Prozent des lateinamerikanischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Brasilien und Argentinien sind von den Mitgliedsstaaten, zusammen mit Mexiko, die Länder, die in Lateinamerika die meisten ausländischen Investitionen anziehen.
1994 wurde mit dem Protokoll von Ouro Preto die Freihandelszone beschlossen. Die Entwicklung der Zollunion wurde in Gang gesetzt, doch sie hat sich bis heute nicht über einen gemeinsamen Außenzoll hinaus weiterentwickelt. Aufgrund interner wirtschaftlicher Krisen in Argentinien und Brasilien ist dieser bereits mehrfach punktuell erhöht worden.
Im ökonomischen Blickwinkel ist der Mercosur zweifellos ein erfolgreiches Unternehmen. In den letzten 10 Jahren ist der Handel innerhalb des Wirtschaftsblocks um das Vierfache gestiegen: Von 5,1 Milliarden US-Dollar 1991 auf 20,7 Milliarden US-Dollar 1997. In den Jahren 1998 und 1999 brach der wirtschaftliche Austausch aufgrund der internationalen Finanzkrise, die insbesondere Argentinien und Brasilien traf, stark ein. Er erholte sich allerdings im letzten Jahr etwa auf das Niveau von 1997. Brasilien ist der größte Importeur im Wirtschaftsraum Mercosur – zudem betrugen die Ausfuhren an den Mercosur 1999 bereits 14,1 Prozent der gesamten brasilianischen Exporte. Für die anderen Mitgliedsstaaten ist die Bedeutung des Mercosur noch größer. 1999 machte der intraregionale Handel 30,3 Prozent der Ausfuhren Argentiniens aus. Für Paraguay waren es 41,4 Prozent und für Uruguay sogar 45 Prozent.
Zur Zeit durchlebt der Mercosur seine härteste Bewährungsprobe, die durch den Druck bei den FTAA-Verhandlungen (Free Trade Area of the Americas) und die argentinische Wirtschaftskrise ausgelöst wurde.

Daimlers „verschwundene“ Gewerkschafter

Por la memoria „Für die Erinnerung“ steht auf einem schlichten Flugblatt, das ehemalige Beschäftigte der Daimler Niederlassung in González Catán verteilen. „Für das Verschwinden und den Tod unserer Kollegen ist die Militärdiktatur verantwortlich. Mercedes war Komplize“, heißt es auf dem kopierten Blatt, das die Gewerkschafter ihren Kollegen in die Hand drücken bis sie der Mercedes-Werksschutz vertreibt. Eine Szene aus Argentinien heute.
Die Schatten der sieben Diktaturjahre zwischen 1976 und 1983 sind lang, und die Erinnerung an die Verbrechen ist auch heute noch schwierig. 30.000 Oppositionelle wurden damals von Polizei und Militär verschleppt, gefoltert und ermordet. Die Täter leben noch, kaum einer musste sich je vor Gericht verantworten. Doch die Angehörigen der Opfer fordern Aufklärung. Nicht nur über den Verbleib der oftmals bis heute „Verschwundenen“, sondern auch über die Täter und die Hintergründe der Repression.
Die Schatten des Krieges gegen die Opposition reichen bis nach Stuttgart. Dort muss sich die Konzernzentrale der DaimlerChrysler AG überlegen, wie sie mit einem unangenehmen Kapitel der Firmengeschichte fertig wird, ohne einen allzu großen Imageschaden davonzutragen. Mindestens 13 vielleicht sogar bis zu 20 unbequemer Gewerkschafter soll sich der Konzern mit Hilfe von Polizei und Militär in den Monaten nach dem Putsch vom 24. März 1976 entledigt haben.

Werksleiter kooperierte mit den Militärs

Das sagen Gewerkschafter, die damals mit dem Leben davon gekommen sind. Der ehemalige Betriebsrat Héctor Ratto bezeugt sogar, wie am 12. August 1977 in seiner Gegenwart der Werksleiter Juan Tasselkraut die Adresse seines Kollegen Diego Nuñez an Militärs weitergegeben hat. Zuletzt wiederholte er diese Aussage bei einer konsularischen Vernehmung in der deutschen Botschaft in Buenos Aires im März. Tasselkraut streitet den Vorwurf zwar ab, aber in der Nacht nach der Ratto Zeuge der Adressenweitergabe wurde, holten Uniformierten Nuñez zu Hause ab. Seitdem fehlt jedes Lebenszeichen von ihm. Héctor Ratto selbst wurde an jenem Tag von Tasselkraut auf dem Werksgelände an Militärs übergeben, die ihn in das berüchtigte Folterzentrum Campo de Mayo verschleppten. Zwei Jahre später kam er frei. Neben nur einem Anderen, ist er der einzige Überlebende unter den verhafteten Daimler-Gewerkschaftern. Jetzt möchte er wissen, was damals passiert ist und wer für den Tod seiner Kollegen verantwortlich ist.
Juan Tasselkraut ist noch immer in leitender Funktion für Daimler in Argentinien tätig. Das zumindest bestätigte Konzernchef Schrempp auf Nachfrage des Dachverbands Kritischer AktionärInnen während der Hauptversammlung in Berlin. Mittlerweile lässt sich Tasselkraut verleugnen, wenn Journalisten ihn sprechen wollen. Vor zwei Jahren hatte er der Journalistin Gaby Weber, die den Fällen der verschwundenen Gewerkschaftern auf die Spur gekommen ist, noch gesagt: „Wer Argentinien damals mehr oder weniger kannte, wusste, dass Menschenrechte verletzt und Menschen eliminiert wurden.“ Jetzt läuft gegen den deutschen Staatsbürger Tasselkraut ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Nürnberg. Die Anzeige, die der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der Héctor Ratto juristisch vertritt, erstattet hat, lautet auf „Mord, Geiselnahme und Gefährliche Körperverletzung“. Viele Indizien sprechen dafür, dass auch andere führende Daimler-Manager damals wussten, wie in Argentinien gegen die Gewerkschafter vorgegangen wurde.

Haftbefehl gegen Tasselkraut soll beantragt werden

Nachdem neben Ratto im März noch zwei andere Zeugen zum Fall ausgesagt haben, kündigte Rechtsanwalt Kaleck an, in den nächsten Wochen einen Haftbefehl gegen Tasselkraut beantragen zu wollen. „Alle Aussagen bestätigen unsere Annahme, dass Daimler eng mit den Militärs kooperierte“, meint Kaleck.
Nachdem die Konzernzentrale monatelang versuchte, die Vorwürfe auszusitzen und Journalisten, die sich nach Details des Falls erkundigten, von der Pressesprecherin Ursula Merzig mit Bemerkungen wie „das ist doch schon so lange her“ oder „hören sie doch endlich mit Ihrer Kampagne auf“, abgespeist wurden, gerät der Daimler-Vorstand seit vergangenem Herbst unter verstärkten Druck. Am 27. November beschlossen die Betriebsräte des Daimler Stammwerkes in Stuttgart-Untertürkheim eine Resolution, in der sie vom Konzernvorstand „umgehend eine eindeutige Stellungnahme und klare Positionierung“ fordern. Auch die IG-Metall aus der Neckarstadt schloss sich der Forderung an. „Offensichtlich haben Führungskräfte der damaligen Daimler-Benz AG mit der argentinischen Militärdiktatur zusammen gearbeitet, um betriebliche Interessenvertreter dem Terror auszuliefern“, schreibt der 1. Bevollmächtigte Jürgen Stamm in einer Stellungnahme. Die Daimler Chefetage sah sich zu einer ersten Reaktion genötigt. Personalvorstand Günter Fleig kündigte nach einem Gespräch mit dem Betriebsratsvorsitzenden Helmut Lense eine Stellungnahme zum Fragenkatalog der Stuttgarter Gewerkschafter an. Diese erfolgte dann aber doch nicht.

Folterer im Werkschutz

Der Grund liegt nahe. Es dürfte Daimler schwer fallen, sich ohne Schuldeingeständnis aus der Affäre zu ziehen. Zu zahlreich sind mittlerweile die Indizien, die auf eine direkte Verwicklung leitender Mitarbeiter in die Repression gegen die Gewerkschafter deuten. Kürzlich konnte die in Uruguay lebende Gaby Weber herausfinden, dass der ehemalige Werkschutzchef Rubén Luis Lavallén bis kurz vor seiner Einstellung durch Daimler im Juli 1978, Kommandant genau der Polizeiwache war, in dem einer der beiden überlebenden Gewerkschafter gefoltert wurde. Auf Nachfrage, ob dem Konzern bekannt gewesen sei, dass Lavallén ein Folterer gewesen sei, bevor er eingestellt wurde, antwortete die Pressestelle am 30. Oktober vergangenen Jahres: „Es ist durchaus üblich, dass Unternehmen Werkschutzpersonal rekrutieren, das vorher im Polizeidienst tätig war, weil die Qualifikationsanforderungen ähnlich sind.“
Dass sich Lavallén während seiner Tätigkeit als Chef der Polizeiwache San Justo auch das zweijährige Kind eines zuvor zu Tode gefolterten Ehepaars aneignete, wurde dem Konzern angeblich erst 1984 bekannt, nachdem die Presse darauf aufmerksam geworden war. Lavallén wurde entlassen, nicht ohne ihm allerdings ein Zeugnis auf den weiteren Weg zu geben, das ihm bestätigte, seine Arbeit „optimal und vertrauenswürdig“ verrichtet zu haben. Was damit gemeint war, bringt ein ehemaliger Daimler-Arbeiter auf den Punkt: „Die linken Betriebsräte wurden ermordet, ein Repressor zum Sicherheitschef ernannt – da widersprach im Werk niemand mehr.“

Daimler-Manager wurde entführt

Ein Hintergrund für das brutale Vorgehen der Daimler-Geschäftsleitung gegen die Gewerkschafter – vermutet Frau Weber – könnte in einem Entführungsfall vom Oktober 1975, einem halben Jahr vor dem Putsch liegen. In mitten heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen in den letzten Amtsmonaten Isabel Peróns entführten die linksgerichteten Guerilleros der Montoneros den deutschen Mercedes-Manager Heinrich Metz. Als Bedingung für seine Freilassung verlangten sie die Wiedereinstellung von 115 Daimler-ArbeiterInnen, die während eines Streiks vom Konzern gefeuert worden waren. Außerdem forderten die Guerilleros die Entrichtung einer „Geldstrafe“.
Nachdem der Konzern den Forderungen der Montoneros tatsächlich nachgekommen war, wurde Metz freigelassen. Der Mercedes Geschäftsführer Rubén Cuevas, der den Montoneros das Lösegeld für Metz übergab, war bereits kurz nach der Entführung bei der Bundespolizei in Buenos Aires erschienen. Dort hat er mehrere Mercedes-ArbeiterInnen beschuldigt „Kommunisten“ zu sein und Kontakte zur Guerilla zu unterhalten. Unter anderem denunzierte er den aktiven Gewerkschafter Marcelino Olasiregui. Dieser hatte sich als Betriebsrat mit der Chefetage angelegt und war bereits 1969 entlassen worden. Nach einer Aussage von Metz wurde Olasiregui im April 1987, zehn Jahre nach der Entführung, verhaftet. Doch Olasiregui beteuerte seine Unschuld. Als er begnadigt werden sollte, lehnte er dies ab und verlangte einen Prozess. In diesem wurde er tatsächlich freigesprochen.

Eine Million US-Dollar in die eigene Tasche?

Während führende Daimler-MitarbeiterInnen die Entführung Metz´ möglicherweise zum Anlass nahmen an den GewerkschafterInnen im Werk Rache zu üben, stellt sich eine weitere Frage. Was ist mit dem Lösegeld tatsächlich geschehen? Laut einer nicht dementierten Meldung der Tageszeitung Die Welt handelte es sich um 7,5 Millionen US-Dollar, 1975 etwa 20 Millionen DM, zum damaligen Zeitpunkt „das höchste Lösegeld (…), das je von Deutschen erpresst wurde.“ Die argentinischen Mercedes Direktoren Rubén Cuevas und Pedro Adolfo Elias wollen aber nur vier Millionen US-Dollar übergeben haben, wie sie in einer richterlichen Aussage 1985 angaben. Der Guerillero, der das Geld entgegen nahm, möchte dagegen nur zwei Millionen Dollar bekommen haben, wie Julio Alsogaray gegenüber Frau Weber bekannte.
Es stellt sich nun die Frage, welche Angabe die richtige ist und wer sich eventuell das Geld für welche Zwecke in die Tasche steckte. „Bis heute ist unklar, ob Daimler-Benz, heute DaimlerChrysler, das Finanzamt betrogen hat und den Steuerzahler das Lösegeld für Heinrich Metz berappen ließ. Immerhin bestätigt der ehemalige Mercedes-Mitarbeiter Klaus Oertel, dass das Finanzamt das Lösegeld damals als notwendige Betriebsausgabe anerkannt hat. So sparte der Konzern 12 Prozent Gewerbesteuer und 56 Prozent Körperschaftssteuer. Wenn also die Firma 7,5 Millionen Dollar beim Fiskus geltend gemacht hat, bedeutet das eine Steuerersparnis von über 5 Millionen. Abzüglich der 4 Millionen, die Daimler seinen argentinischen Geschäftsführern Cuevas und de Elías überreichte, ergebe das einen Reingewinn von über 1 Million US-Dollar. Eine ansehnliche Summe, die in den Taschen von Daimler-Managern gelandet sein muss“, schreibt Frau Weber in der Tageszeitung taz.
Was damals genau geschah wird solange nicht restlos aufzuklären sein, wie sich Daimler weigert Auskünfte zu geben. Unzweifelhaft ist allerdings, dass Daimler, wie viele andere transnationale Unternehmen in Argentinien, dem Putsch der Generäle laut applaudierte. Die Begründung liefern die Stuttgarter Autobauer in ihrem im Putschjahr 1976 veröffentlichte Geschäftsbericht: „Unser Engagement in Argentinien war auf Grund der labilen politischen Situation und der wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten beträchtlichen Risiken ausgesetzt“, heißt es dort. Und weiter: „Dank der inzwischen erreichten allgemeinen Fortschritte in der Ordnung der Arbeitsverhältnisse des Landes wird für 1976 wieder ein positives Ergebnis erwartet.“

Schadensersatzklage der Daimler-Gewerkschafter

In diesen lapidar scheinenden Sätzen wird zumindest der politische Hintergrund der Hatz auf die GewerkschafterInnen deutlich. Das meint jedenfalls Juan Carlos Capurro, ein Anwalt des argentinischen Gewerkschaftsdachverbandes CTA, der eine Schadensersatzklage der Daimler-Gewerkschafter vertritt. Anwalt Capurro geht davon aus, dass es den Militärs 1976 um die Durchsetzung eines bestimmten wirtschaftspolitischen Projektes ging, dem die Gewerkschaften entgegenstanden. Mulitnationale Konzerne hätten bewusst mit dem Terrorregime kooperiert, sagt er. Denn in den Jahren vor dem Militärputsch war in Argentinien eine oppositionelle Gewerkschaftsbewegung angewachsen, die auf die Wirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre mit sich radikalisierenden sozialen Forderungen und Protesten reagierte.

Lebendige Demokratie in Brasilien

Ein zierlicher Mann mit schwarzem Schnauzbart und in dezentem Anzug bahnt sich den Weg durch die bunte Menge von AktivistInnen aus aller Welt. Rote Fahnen werden geschwenkt, „Olívio, Olívio“-Sprechchöre erschallen in der riesigen Halle der Katholischen Universität von Porto Alegre. Auf der Abschlussveranstaltung des Weltsozialforums erhält kaum jemand mehr Beifall als der Gastgeber: Olívio Dutra, 58, Gouverneur des Bundesstaates Rio Grande do Sul. Dutra gehört zur Gründergeneration der brasilianischen Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die soeben ihren 21. Geburtstag gefeiert hat und die wichtigste Linkspartei Lateinamerikas ist.
GewerkschafterInnen, progressive Christen, demokratische Sozialisten, orthodoxe und unorthodoxe Linke. Trotzkisten und BasisaktivistInnen aus einer Unzahl von Strömungen schlossen sich zu einer Partei „neuen Typs“ zusammen, die heute mehr WählerInnen hinter sich weiß denn je zuvor.
Porto Alegre war 1988 die erste Landeshauptstadt, in der ein PT-Politiker zum Bürgermeister gewählt wurde – eben Olívio Dutra. Die Kassen waren leer, die Gegnerzahl im einheimischen Establishment enorm. Also machte sich die kommunale PT-Spitze daran, ihre „Isolation zu durchbrechen“, so Luciano Brunet vom „Bürgerbüro der Beziehungen zur Gemeinschaft“. In Zusammenarbeit mit der Basisbewegung aus den Armenvierteln entstand die „Orçamento Participativo (OP)“, zu deutsch etwa „Partizipative Haushaltsaufstellung“, die inzwischen zum Markenzeichen von Porto Alegre und manch anderer PT-regierten Stadt geworden ist. „Wir fingen an, den Mangel transparent zu verwalten“, erzählt Brunet. „Die Bevölkerung wurde nach Prioritäten bei der Stadtentwicklung gefragt, die wenigen Mittel in den bedürftigten Stadtvierteln konzentriert“. Nach diesen beiden Prinzipien funktioniert die OP bis heute.

Eine Favela neu gebaut

Ab März werden auf Bürgerversammlungen in 16 Bezirken nun wieder die örtlichen Prioritäten festgelegt. Soll eine Kinderkrippe gebaut werden? Oder ist die Renovierung des Kulturzentrums wichtiger? Oder vielleicht doch die Asphaltierung zweier Nebenstraßen? Parallel dazu beraten VertreterInnen von Basisbewegungen auf fünf thematischen Foren über die Struktur der Investitionen im Stadthaushalt – derzeit etwa 15 Prozent des gesamten Etats, von dem der Löwenanteil noch aus laufenden Kosten, wie den Gehältern der städtischen Angestellten besteht. Die Bürger- und Delegiertenversammlungen erarbeiten jedes Jahr bis Ende September konkrete Investitionspläne, wobei die Exekutive nur den Umfang der bereitstehenden Mittel bekannt gibt. Der Bürgermeister präsentiert dann die Vorschläge unverändert dem Stadtparlament, das bis Ende November den Jahreshaushalt verabschiedet.
Im vergangenen Jahr waren rund 30 000 Menschen an der OP für den Jahresetat 2001 beteiligt – von 1,4 Millionen EinwohnerInnen insgesamt. Durch diese Form der direkten Mitbestimmung sind Korruption und Vetternwirtschaft, ein Grundübel der brasilianischen Politik, in Porto Alegre so gut wie unbekannt. Konservative Kritiker beklagen, dass Mitglieder der Arbeiterpartei den gesamten Prozess dominieren. Die PT verstoße gegen in der Verfassung vorgegebene Mechanismen der repräsentativen Demokratie, behauptet etwa der emeritierte Politologe José Giusti Tavares. Für ihn ist die OP ein „Machtinstrument der PT“. Das Wahlvolk scheint es nicht zu stören: Vor wenigen Monaten erzielte der jetzige Bürgermeister Tarso Genro, der bereits von 1992 bis 1995 im Amt war, in der Stichwahl 63 Prozent der Stimmen.
Ein konkretes Beispiel, wie sich die Bürgerbeteiligung auszahlen kann, ist der Wohnkomplex Lupicínio Rodrigues im Zentrum Porto Alegres. Noch vor drei Jahren befand sich an gleicher Stelle ein Armenviertel, eine „ziemlich wilde Favela“, wie Valdemar de Oliveira meint. Unter der Leitung des umtriebigen Vorsitzenden der örtlichen Bürgervereinigung erstritten sich die 80 Familien auf den OP-Versammlungen ihres Bezirks die Haushaltsmittel für den Neubau des Viertels. Während der Übergangszeit von einem knappen Jahr wohnten sie in großen Schuppen. Auch heute stehen Oliveira mit seiner vierköpfigen Familie nur zwei Stockwerke mit 30 Quadratmetern zur Verfügung, aber die Anlage hat jetzt einen Kindergarten und einen Gesundheitsposten. Das Gemeinschaftszentrum wird gerade eingerichtet. „In der kommenden OP-Runde wollen wir erreichen, dass vor dem Viertel eine Polizeistation eingerichtet wird“, sagt Oliveira, der vor 15 Jahren aus dem Hinterland von Rio Grande do Sul auf Arbeitssuche nach Porto Alegre gekommen ist. Gleich neben dem Gemeinschaftszentrum befindet sich ein städtisches Obdachlosenasyl, wo bis zu 40 „Straßenbewohner“ vorübergehend untergebracht werden. Hier wartet die sechzigjährige Delcy da Silva, die im nahegelegenen Stadtpark wohnt, auf ein warmes Essen. „Das Asyl ist nicht schlecht, aber es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, klagt sie. Die Stadtregierung könne die sozialen Probleme nur lindern, räumt auch Luciano Brunet ein. „Natürlich wirkt sich die Wirtschaftskrise, vor allem die Arbeitslosigkeit, auch auf Porto Alegre aus“, sagt er. Die brasilianischen Kommunen erhielten nur 17 Prozent der gesamten Steuereinnahmen Brasiliens – im Gegensatz zu Europa, wo dieser Anteil im Schnitt drei Mal so hoch sei.

Rio Grande do Sul – größer als Uruguay

Seit zwei Jahren steht Olívio Dutra der Landesregierung von Rio Grande do Sul vor. Das südlichste Bundesland Brasiliens ist mit 280 000 Quadratkilometern größer als der Nachbar Uruguay oder die alte BRD – allerdings wohnen hier nur 11 Millionen Menschen. Nun setzt die PT-Landesregierung die OP auch im kompletten, weitgehend ländlich geprägten Staat um – eine „aufregende Erfahrung“, wie Iria Charão, die Ministerin für die „Beziehungen zu den Gemeinschaften“ meint. Die vitale 56-Jährige macht nach eigenem Bekunden seit ihrem Hauptschulabschluss vor 42 Jahren Basisarbeit und gehört zu Dutras MitarbeiterInnen der ersten Stunde. Mit ihrem 50-köpfigen Team hat sie die ehemalige Residenz der Vizegouverneure bezogen, den neoklassizistisch angehauchten Palacinho („kleinen Palast“). „Die OP ist ein einziger großer Volksbildungsprozess“, schwärmt die Ministerin. 190 000 Menschen hätten sich im ersten Jahr beteiligt, dann erwirkte ein Abgeordneter der Opposition ein zeitweiliges Verbot, die OP mit staatlichen Mitteln zu propagieren. „Danach setzten wir auf Mund-zu-Mund-Propaganda und sammelten Spenden für den Kauf der nötigen Materialien“, berichtet Charão. Und so sei trotz aller Behinderungen die Beteiligung im vergangenen Jahr noch einmal um 50 Prozent gestiegen. In den 497 Gemeinden finden alljährlich Bürgerversammlungen statt. „Für viele Menschen ist das die erste Chance gewesen, direkt mit RegierungsvertreterInnen zu reden“, so die Ministerin, die Wert darauf legt, den Prozess so oft wie nur irgend möglich vor Ort zu begleiten. „Bei den Kaingang-Indianern oder in so mancher Gemeinde mit deutschstämmiger Bevölkerung werden die Redebeiträge hin- und herübersetzt.“ Auch die Widerstände von Provinzfürsten, die ihre Pfründen in Gefahr sahen, hätten nachgelassen.

Originelle Lösungen bei knapper Kasse

Allerdings würden noch längst nicht alle Vorgaben der insgesamt 14000 Delegierten umgesetzt; etwa der Vorschlag, bei 30 Großunternehmen zusätzliche Steuern einzutreiben. Die Opposition, die im Landesparlament die Mehrheit hat, stellte sich quer. Alle Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, lässt auch der enge finanzielle Spielraum auf Landesebene nicht zu. Selbst politische Gegner der PT räumen jedoch ein, dass die hohe Transparenz bei den Entscheidungsprozessen zu einer effektiveren Nutzung der knappen Haushaltsmittel geführt hat. „Dadurch, dass die staatlichen Ausschreibungen offengelegt werden, sparen wir manchmal bis zu 30 Prozent. Korruption ist praktisch unmöglich geworden“, sagt Iria Charão. „Außerdem fühlen sich die Menschen einbezogen und schlagen deswegen oft originelle oder kostengünstigere Lösungen vor.” Der Politikwissenschaftler Denis Rosenfield von der Bundesuniversität Rio Grande do Sul lobt die durch die OP bestimmte Sozialpolitik der Landesregierung. Doch andere Bereiche, etwa die Bildungs- und Forschungspolitik, würden im Gegenzug vernachlässigt. Auch für die Ansiedelung neuer Firmen sei kein stimmiges Konzept vorhanden.
Die von der UNO und anderen internationalen Organisationen gepriesene OP hat in dutzenden brasilianischer Städte Schule gemacht und stößt auch in Metropolen wie Barcelona, Bologna, Montevideo und Buenos Aires auf großes Interesse. Die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva, Trägerin des alternativen Nobelpreises, bezeichnete Rio Grande do Sul gar als „den wahrscheinlich weltweit einzigen Ort, wo die Regierung macht, was die Bevölkerung will.“ Verständlich also, warum die InitiatorInnen des Weltsozialforums sich letztes Jahr für den Veranstaltungsort Porto Alegre entschieden. Natürlich nutzten die Gastgeber, die das Forum personell und finanziell nach Kräften unterstützten, die Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Die OP wurde in mehreren überfüllten Workshops vorgestellt; mehrfach traten Olívio Dutra, PT-Ehrenvorsitzender Lula, und andere Parteigrößen auf. Zusätzlich organisierte Bürgermeister Tarso Genro ein Treffen progressiver Bürgermeister „für die soziale Integration“. Die lautstarke Präsenz der „Petistas“ (Anhänger der PT) und ihr Druck auf das Organisationskomitee, auch das kommende Treffen der Globalisierungskritiker in Porto Alegre auszurichten, wäre allerdings beinahe nach hinten losgegangen: Buchstäblich erst in letzter Minute fiel die Entscheidung für eine Neuauflage 2002 zu gleicher Zeit am gleichen Ort. Als sie bekannt gegeben wurde, feierten Tausende. Denn der Erfolg des diesjährigen Weltsozialforums machte Lust auf mehr. Nach dem intensiven Austausch von vielen Menschen aus aller Welt wird es im kommenden Jahr nun darauf ankommen, gemeinsam effektive Vorschläge für eine andere Weltordnung zu erarbeiten – und wo könnte das besser gelingen als in Porto Alegre, der Hauptstadt der partizipativen Demokratie.

Alternativen zum Neoliberalismus

Harmonischer hätte die Eröffnung des Weltsozialforums kaum verlaufen können: Unter strahlendem Himmel feierten Tausende von Globalisierungskritikern in Porto Alegre den Auftakt der Anti-Davos-Veranstaltung – mit einer Theaterinszenierung, einem Open Air-Konzert und einem Marsch „gegen den Neoliberalismus und für das Leben“.
Die erste Pressekonferenz hatte der Gast Bernard Cassen bestritten: Drei zentrale Vorschläge, so der Chefredakteur der „Le Monde diplomatique“, werden auf dem Weltsozialforum in der brasilianischen Hafenstadt Porto Alegre diskutiert: ein Schuldenerlass für die Länder des Südens, die Besteuerung internationaler Finanztransaktionen und die Notwendigkeit, die öffentlichen Rentensysteme aufzuwerten. „Es ist ein historischer Moment“, sagte er. „In Seattle, Washington und Prag haben die sozialen Bewegungen nein gesagt, nein zum Internationalen Währungsfonds, zur Weltbank und zur Welthandelsorganisation. Jetzt gehen wir zu einer konstruktiven Haltung über und werden neue Perspektiven aufzeigen.“
Sechs Tage lang diskutierten rund 2.700 Delegierte aus sozialen Bewegungen, nichtstaatlichen Organisationen, Gewerkschaften und Indígenaorganisationen über Produktion und Handel, die Verteilung des Reichtums und Nachhaltigkeit, Demokratisierungsstrategien und das internationale Finanzsystem, kurz: eine „andere Welt“.

Die Idee zum Anti-Gipfel

Eine andere Welt als jene, deren Fortsetzung zeitgleich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos geplant wurde. Seit 1971 treffen sich in den Schweizer Bergen alljährlich Manager, Banker und Staatschefs zum Gedankenaustausch. „Zu diesem Zeitpunkt war ich letztes Jahr in Paris“, erzählte der brasilianische Unternehmer Oded Grajew. „Und dann dachte ich: Warum kein Sozialforum?“. Mit der Idee rannte er bei Bernard Cassen offene Türen ein. Auch der Tagungsort war schnell gefunden: Porto Alegre, das seit zwölf Jahren von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) regiert wird, gilt als Vorreiter einer erfolgreichen bürgerorientierten Kommunalpolitik.
Logistische Unterstützung leistete neben der Stadtverwaltung die ebenfalls von der PT gestellte Regierung des Bundesstaates. So lud Bürgermeister Tarso Genro Persönlichkeiten aus aller Welt zu einer Veranstaltung, auf der über die Möglichkeiten von kommunaler Sozialpolitik debattiert werden sollte. So waren unter den Prominenten aus Politik, Wissenschaft und Kultur zum Beispiel Algeriens Ex-Präsident Ahmed Ben Bella, der PT-Ehrenvorsitzende Luiz Inacio Lula da Silva, Danielle Mitterrand, der ägyptische Ökonom Samir Amin, der Schriftsteller Eduardo Galeano aus Uruguay und sein chilenischer Kollege Ariel Dorfman und – last but not least – die Bauernsprecher José Bové aus Frankreich und João Pedro Stedile von der brasilianischen Landlosenbewegung MST.
Den eigentlichen Charakter als Basisveranstaltung erfuhr das Forum in den über 400 Workshops, auf den Camps für Indigenas und Jugendliche und auf den Fahrten auf die Landlosencamps in der näheren Umgebung.

Internationale Vernetzung

„Wenn wir die internationale Vernetzung vorantreiben können, haben wir unser Hauptziel erreicht,“ meinte Marco Aurélio Weissheimer vom Organisationskomitee. In der Kritik an genmanipulierten Lebensmitteln sieht er ein Paradebeispiel dafür, wie ganz unterschiedliche Gruppen aus verschiedenen Ländern zusammengeführt werden könnten – Bauern, Umweltschützer und Verbraucher.

Französischer Besuch

José Bové, bekannt durch seine militanten Aktionen gegen McDonalds, war letztes Jahr noch in Davos. „Doch alle Fragen, die wir dort den Vertretern der Multis gestellt haben, wurden von der Polizei mit Tränengas beantwortet“, sagte er. „In Porto Alegre können wir uns wenigstens unterhalten“. Die Landwirtschaft müsse wieder auf den internen Verbrauch ausgerichtet werden, Exportsubventionen seien schädlich.
Auffällig war die große Zahl französischer Teilnehmer. Christophe Aguiton vom Bündnis zur Kontrolle der Finanzmärkte „ATTAC“ erklärte das mit der „kulturellen Affinität“ zu Lateinamerika, aber vor allem damit, das die „sozialen Kämpfe“ in Frankreich derzeit besonders intensiv geführt würden. Selbst zwei Minister aus der Regierung Jospin waren angereist.
Eine Steilvorlage für die Organisatoren lieferte Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso, als er die Versammelten mit den Maschinenstürmern des 19. Jahrhunderts verglich: „Es ist unmöglich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die Telekommunikation, die schnellen Informationen im Finanzbereich zu verhindern“, so das Staatsoberhaupt. Auch kritisierte er die Unterstützung des Treffens durch die von der Arbeiterpartei PT geführte Landesregierung von Rio Grande do Sul mit etwa einer Million Mark. Gouverneur Olívio Dutra konterte, die Zentralregierung habe sich Brasiliens Teilnahme an der EXPO 18 Millionen Mark kosten lassen.

Plädoyer für ein anderes Brasilien und eine andere Welt

In seinem Grußwort auf der Eröffnungsveranstaltung im überfüllten Auditorium der Katholischen Universität kritisierte Dutra das „Einheitsdenken“, das derzeit die internationale Politik bestimme. Statt eines „Minimalstaats im Dienst einiger weniger Interessengruppen“ befürworte er einen „beweglichen, effizienten Staat“, der die Mehrheit der Bevölkerung in den Mittelpunkt der Politik stelle. „Nicht nur eine andere Welt ist nötig und möglich“, sagte Dutra in Anspielung auf das Tagungsmotto, „sondern auch ein anderes Brasilien, das in der Welt nicht nur für Armut, niedrige Lebensqualität, soziale Ungleichheit, Einkommenskonzentration und Missachtung von Natur und Menschenrechten bekannt ist.“

Jubel und rote Fahnen

4.000 Zuschauer aus 120 Ländern bejubelten Dutras Rede ebenso begeistert wie die dramatische Umsetzung des Mottos „Eine andere Welt ist möglich“ durch eine Truppe brasilianischer Arbeits- und Landloser. Anschließend marschierten etwa 15.000 Menschen mit vielen roten Fahnen durch das Stadtzentrum Porto Alegres und obwohl das Organisationskomitee aus Angst vor negativen Schlagzeilen dazu aufrief, Kundgebungen vor ausländischen Banken oder McDonalds zu unterlassen, kam es nur zu einer Eier-, Tinten- und Mehlattacke auf eine Filiale des US-amerikanischen Hamburgerkonzerns, und vor den Banken Boston und Santander gingen je eine spanische und eine US-Flagge in Flammen auf.
Nach dem Marsch eröffnete dann Lokalmatador Leonardo auf dem Festivalgelände am Guaíba-Fluss einen Reigen von fünf Open Air-Konzerten, den die kubanische Gruppe Síntesis als Ende des ersten Tages von Porto Alegre beschloss.

Immer tiefer hinein in die Krise

Die ökonomische Situation hat sich in letzter Zeit massiv verschlechtert: 1999 ist das Bruttoinlandsprodukt um 3,2 Prozent gesunken und in den ersten beiden Quartalen des Jahres 2000 fiel es um weitere zwei Prozent, auch ist die Arbeitslosigkeit um vier Prozent auf 14,7 Prozent gestiegen. Die Exporte gehen weiter zurück, während die Importe zunehmen. Eine Situation, die das Land kaum noch verkraften kann. Dazu kommt die Abhängigkeit von Argentinien. Die prekäre wirtschaftliche Situation des großen Nachbarn färbt auch direkt auf die Republik östlich des Río Uruguay ab, wie das Land offiziell heißt. Die Arbeitskämpfe haben sich nach einer Untersuchung der katholischen Universität im Oktober im Vergleich zum Vormonat vervierfacht, wobei unter anderem im Oktober und November über Wochen hinweg die Universitäten und Schulen besetzt wurden. Gefordert wurde eine Erhöhung des staatlichen Bildungsetats. Eine Einigung konnte nicht erzielt werden, da sich die Regierung weigerte auf die Forderungen einzugehen. (Siehe nachfolgenden Artikel) Auch das öffentliche Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Angestellte und DozentInnen befinden sich im unbefristeten Streik und einzelne Kliniken werden besetzt. Auch hier deutet sich keine kurzfristige Lösung an.
Am 6. Dezember begann bereits der zweite Generalstreik seit Beginn der Amtszeit des liberal-konservativen Präsidenten Jorge Batlle vor neun Monaten. Die Gewerkschaften mobilisierten gegen die Verabschiedung des Staatshaushaltes und fordern einen „gerechten Haushalt, bessere Löhne, den Erhalt der Arbeitsplätze, mehr Mittel für die Bildung und die öffentliche Gesundheit und Zugang zu besseren Wohnungen.“ Für 24 Stunden soll der öffentliche Transport, die Dienstleistungen, das Gesundheitssystem, das Bildungswesen etc. stillgelegt werden. Für den Präsidenten sind das alles überholte Rituale: „Streiks bringen absolut nichts mehr.“
Vor fünf Monaten, beim ersten Generalstreik seiner Amtszeit appellierte er an die Gewerkschaften, „eine professionellere Methode zu wählen und mit den Arbeitgebern und dem Staat zu diskutieren.“ Bei fast allen Arbeitskämpfen geht es hauptsächlich um Lohnforderungen. So verdient einE DozentIn an der Universität kaum mehr als 400 US-Dollar monatlich und viele ArbeiterInnen müssen mit weniger als 300 US-Dollar im Monat auskommen. Von denjenigen, die darauf angewiesen sind, Produkte auf der Straße zu verkaufen, ganz zu schweigen. Und gerade diese rund 60.000 Personen treibt der Staat mit seinem Vorschlag auf diesen Straßenhandel eine Steuer zu erheben, nach Ansicht des Vorsitzenden der Vereinigung der ambulanten VerkäuferInnen weiter in die Verzweiflung.

Die Aftosa – Die Maul- und Klauenseuche

Außer dem negativen Wirtschaftswachstum und der sozialen Spannungen, die Uruguay zur Zeit zu schaffen machen, wird das Land nun auch noch von der Maul- und Klauenseuche heimgesucht.
Im Oktober 2000 tauchte sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder im Norden des Landes an der Grenze zu Brasilien auf. Diese Infektionskrankheit ist zwar für den Menschen ungefährlich, aber das Fleisch der betroffenen Tiere kann nicht mehr verwertet werden. Die Grenzen wurden geschlossen, ganze Landstriche wurden unter Quarantäne gestellt, mehr als 20.000 Rinder wurden allein in einer einzigen Provinz vernichtet. Für die Fleischindustrie, immer noch eine der wichtigsten Exportindustrien des Landes, bedeutet dies, dass nur noch zwei von vormals 40 Märkten, nämlich Brasilien und Israel, geöffnet bleiben. Weder in die USA noch in die Europäischen Union oder nach Argentinien dürfen uruguayische Fleischprodukte zur Zeit ausgeführt werden. Eine Katastrophe für ein Land, das so stolz auf seine Gaucho-Tradition ist.
Für den Anthropologen Javier Taks hat dieses Phänomen auch mit der aktuellen politischen Situation in der Gesellschaft zu tun: „Dem betroffenem Züchter war das Problem seit langem bekannt, aber in einem System, in dem ein gnadenloser Wettbewerb herrscht, zählt nur noch das eigene Überleben. Das was Uruguay einmal ausgezeichnet hat, das Mitdenken für das Gemeinwohl und die Solidarität, ist kaum noch vorhanden. Die Folgen für die uruguayische Viehzucht müssen dem Züchter bewusst gewesen sein, trotzdem hat er auftretende Fälle nicht gemeldet.“
In der Folge der Aftosa-Krise reagierte die Regierung unvorbereitet. Um von den eigenen Versäumnissen abzulenken wurde dem Schmuggel an den Grenzen zu Brasilien der Kampf angesagt. Für viele gleicht dieser Kampf einem Strohfeuer, das keine nachhaltige Wirkung haben wird, da viele Funktionäre und Angehörige der Grenzpolizei selbst in den Schmuggel verwickelt sind.

Schmuggel und Korruption

Seit Jahrzehnten sind Schmuggel und Korruption die zwei Hauptprobleme der Wirtschaft in Uruguay. Fast wöchentlich werden neue Korruptionsfälle aufgedeckt, bei der Hafenverwaltung, bei Banken etc. Schmuggelgüter sind im Land allgegenwärtig. Jedes Jahr gehen dem Staat so Millionen von Geldern verloren, was besonders für den kleinsten Mitgliedsstaat des Mercosur ein Riesenproblem darstellt. In nahezu allen Sektoren ist der Anteil der illegal ins Land eingeführten Waren sehr hoch. Die fehlende Kaufkraft durch nicht ausgezahlte Löhne bzw. immer weiter fallendes Durchschnittseinkommen und immer geringere Eigenproduktion im Land lassen vielen Menschen gar keine Wahl. „Nicht mal mehr Kaugummis, Bonbons oder Zahnpasta wird hier hergestellt, fast alles kommt aus Brasilien ins Land,“ erklärt ein ambulanter Verkäufer, der selbst mehr als 30 Jahre bei einer Baufirma beschäftigt war und seit vier Jahren durch den Verkauf überlebt. Seit Wochen wird über eine Notstandsgesetzgebung debattiert, deren endgültige Entscheidung ist aber noch nicht gefallen. Die Besitzverhältnisse im Land polarisieren sich und der traditionell starke Mittelstand beginnt sich aufzulösen. Viele Angehörige der Mittelschicht sind auch diejenigen, die das Land verlassen wollen.

El Bajón – Eine neue Emigrationswelle

Die Hiobsbotschaften nehmen für viele kein Ende. Eine Tageszeitung sprach sogar schon von den sieben biblischen Plagen, die über das Land kommen. Die Situation ist für viele Menschen deprimierend, es „herrscht Stillstand im Land“ und fast alle reden von der Emigration. Die Schlangen vor den Passämtern sind oft mehrere Hundert Meter lang. Da ein Reisepass sehr teuer ist, ist zu vermuten, dass viele wirklich entschlossen sind, ihrem Land den Rücken zu zukehren.
Für Uruguay ist auch das nicht neu. Mehr als zehn Prozent der im Land Geborenen wohnen heute außerhalb Uruguays. Unter den 20 bis 30-Jährigen wollen mehr als 30 Prozent das Land demnächst verlassen. Die bevorzugten Zielländer sind dabei die USA, Kanada, Australien, Spanien und Italien. Die boomende Wirtschaft in den USA braucht dringend Arbeitskräfte, auch deshalb wurde vor kurzem die Visa-Pflicht für UruguayerInnen aufgehoben. Für 90 Tage können nun allee, die einen gültigen Reisepass besitzen, als TouristInnen oder Geschäftsreisende einreisen. Mittlerweile haben fast alle Familien Verwandte in Miami, New York oder Los Angeles, die wiederum weitere Uruguayos/as nach sich ziehen.
Auch das sich im wirtschaftlichen Aufschwung befindende Spanien ist für viele sehr attraktiv. Trotz der rigiden Einreisebestimmungen in der Europäischen Union finden viele einen Weg, mit einem TouristInnenvisum einzureisen oder sie haben im besten Falle von ihren Eltern oder Großeltern her einen zweiten, europäischen Pass.
Es ist jedoch nicht nur die schlechte ökonomische Situation im Land, sondern auch der politische Stillstand, der viele in die Emigration treibt. „Noch vier Jahre diese Regierung und nichts wird sich ändern, das halte ich nicht aus. Ich will nicht, dass meine Jugend weiter so vorübergeht, ich will etwas erleben und etwas erreichen. Hier bekomme ich dazu keine Chance,“ so eine 24-jährige aus der Provinz, die als Reinigungskraft nach New Jersey gehen will.
Viel Positives gibt es somit zur Zeit aus Uruguay nicht zu berichten, nicht einmal aus der Meterologie: sogar der Winter war eine Katastrophe: scheißkalt.

“Einsturzgefahr!“

Ende Oktober 1999 ging das linke Bündnis Encuentro Progresista-Frente Amplio (EP-FA) mit 39, 5 Prozent der Stimmen erstmals als stärkste Partei aus den nationalen Wahlen hervor. Tabaré Vázquez, ehemaliger Bürgermeister von Montevideo und Präsidentschaftskandidat der EP-FA, hatte gute Chancen auch die Stichwahlen vom 28. November desselben Jahres zu gewinnen. Doch ein Bündnis des zweitplatzierten Kandidaten der Liberalen Colorado-Partei Jorge Batlle mit den deutlich unterlegenen konservativen “Blancas” verhinderte schließlich einen Wahlsieg der Linken und Batlle wurde zum neuen Präsidenten Uruguays gewählt.
Ein Jahr später hält eine massive Streik- und Protestwelle, getragen von SchülerInnen und Studierenden, das Land in Atem. Es geht den Protestierenden nicht etwa um eine weitergehende Erhöhung des Bildungsbudgets auf die von der UNESCO empfohlenen 6 Prozent, sondern schlicht und einfach um die Einhaltung der von der Regierung eingegangenen Verpflichtungen. Der Zustand der Schulen und die allgemeinen Lernbedingungen sind miserabel. Die Proteste nahmen ihren Anfang, als am 29. August in Montevideo das Liceo Zorrilla von SekundarschülerInnen besetzt wurde. Sie forderten außer den erwähnten 4,5 Prozent die Zurücknahme einer Reihe von neuen Schulgesetzen, die unter anderem ein verschärftes Verhaltensreglement sowie die Einschränkung der Versammlungsfreiheit der SchülerInnen beinhalten. Im Oktober 2000 folgten weitere Schulbesetzungen in der Hauptstadt und erstmals auch im Landesinneren. Und am 24. Oktober schloss sich die zentrale Vertretung der StudentInnen der staatlichen Universidad de la República den Protesten an. Der unbefristete Generalstreik wurde beschlossen und mehrere Institute besetzt.

Neue Formen des Widerstandes

Der November war geprägt von einer Ausweitung der Aktionen auf die großen Gewerkschaften Uruguays. Unter dem Motto “Alle für die Universität” gingen Mitglieder der Universitäten, StudentInnen und SchülerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen, ArbeiterInnen und PolitikerInnen im Rahmen einer Massendemonstration auf die Straße. Der Dachverband der Gewerkschaften PIT-CNT führte am 10. November einen Generalstreik durch, und bis jetzt ist ein Ende der Protestaktionen nicht absehbar.
Der seit fast drei Monaten andauernde Konflikt beschäftigt die uruguayanische Öffentlichkeit nicht nur wegen seiner dramatischen Ausweitung, sondern auch wegen des Auftretens völlig neuer Formen des Widerstandes. Die Bewegung der SchülerInnen des Jahres 2000 hebt sich von den altbekannten Organisationsformen des StudentInnenprotestes in grundlegenden Fragen deutlich ab. Große Teile der etablierten Gesellschaft reagieren mit Ratlosigkeit und Unverständnis auf eine neue Generation von Jugendlichen, die die hierarchische Ausrichtung der Erwachsenenwelt prinzipiell in Frage stellt.
Der Soziologe Gustavo Leal beobachtet seit einigen Jahren das Verhältnis zwischen SchülerInnen und Behörden. Er arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation El Abrojo und ist außerdem Berater des Interamerikanischen Institutes des Kindes. Leal spricht in seiner Analyse der Vorkommnisse bewusst nicht von einer Schülerbewegung, sondern von „SchülerInnen in Bewegung“, und meint damit die Vielfalt der gestellten Forderungen. Jede einzelne Schule definiert ihre eigene Plattform und bewahrt trotz der notwendigen Koordination mit den anderen Instituten ein großes Maß an Autonomie. Diesen Wechsel von dem Modell einer zentralisierten Führungsebene zu den weitaus horizontaleren Organisationsformen der neuen Jugendbewegung führt der Soziologe auf die politische Entwicklung der letzten 15 Jahre zurück.
Die StudentInnenbewegung der 60er Jahre hatte auf einige wenige Schlüsselfiguren gesetzt, die eine bestimmte Haltung repräsentierten. Nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay im Jahr 1985 bis zum Anfang der 90er Jahre hatte dieses Modell der starken Führungspersönlichkeiten, die als Identifikationsfiguren für die Massen zu dienen hatten, in den sozialen Bewegungen seine maximale Ausprägung gefunden. Im Verlauf der 90-er Jahre hatten diese Organisationen jedoch verstärkt einen Verlust an Mitgliedern und politischem Gewicht zu verzeichnen. Viele lösten sich auf, was unter anderem auf den Untergang des sozialistischen Blockes nach dem Ende des kalten Krieges zurückzuführen ist.

Bruch mit alten Formen

Als Antwort auf diese Entwicklung kam dann ein verstärktes Streben nach mehr Demokratie und Autonomie, sowie eine größere Flexibilität in den Protestbewegungen. Dieser Bruch mit den alten Formen äußert sich vor allem in dem Prinzip der kollektiven Führung, welches die SchülerInnen praktizieren. Gustavo Leal vergleicht das Phänomen mit einer Rückkehr zu den griechischen Versammlungen, bei der die Mitsprache von unten das Hauptanliegen war. Es gibt weder allgemein akzeptierte Führungsgremien noch fest definierte VertreterInnen. Alles funktioniert nach den Regeln der Rotation. Die SprecherInnen, die die Verhandlungen mit den Behörden führen und der Presse gegenübertreten, wechseln täglich.
Die Weigerung der Jugendlichen der Forderung der Erwachsenen nach traditionellen Repräsentationsformen nachzukommen, verunsichert diese zutiefst. JournalistInnen und Beamte suchen vergeblich nach soliden Organisationen mit bekannten Gesichtern, so wie sie es von früher gewöhnt waren. Das führt zu einem akutem Kommunikationsproblem. Eine Gesellschaft, die auf neue Erscheinungen im Allgemeinen und die Jugend im Speziellen mit genereller Skepsis reagiert, ist mit Schülern konfrontiert, die gegenüber den Schulbehörden, den Medien und der Polizei tiefes Misstrauen empfinden.
Dieses Misstrauen hat viele Ursachen. Viele Aktivisten mussten schlechte Erfahrungen machen, nachdem sie ihre Identität bekannt gegeben hatten. Teil des reformierten Schulgesetzes ist die Einführung eines Strafkataloges, der die Bildung einer politischen Organisation und die Besetzung einer Schule als schwere Vergehen einstuft und entsprechend harte Sanktionen festschreibt. Politische Aktivität an der Schule kann sehr schnell Verweise und mehrmonatige Schulausschlüsse nach sich ziehen. Die mit der im Jahr 1996 verabschiedeten Bildungsreform eingeführten Gesetze sind Ausdruck einer autoritären Bildungspolitik, die vom ehemaligen Präsidenten Sanguinetti initiiert wurde und nun unter seinem Nachfolger und innerparteilichen Konkurrenten Batlle ihre Kontinuität findet. Der Bildungsminister Antonio Mercader vertritt im Umgang mit den Protestierenden die harte Linie, die seine Partei, die Blancos, in der Öffentlichkeit propagiert.
Journalisten sind in der Berichterstattung über die Proteste mit offener Feindseligkeit konfrontiert. Nur selten und ungerne werden Interviews gegeben. Man wirft der nationalen Presse mangelnde Objektivität und die systematische Verfälschung der von den Schülern gemachten Aussagen vor. Auch die Polizei hat bis jetzt weitgehend auf vertrauensbildende Maßnahmen verzichtet und sich auf die „filmische Dokumentation“ der Proteste konzentriert.
Diese Umstände brachten viele Jugendliche dazu, sich in der Öffentlichkeit nur noch vermummt zu zeigen, was einen weiteren Schrei der Empörung in der Erwachsenenwelt verursachte. Die Behörden verlangen zu wissen, mit wem sie sprechen, da sonst ein Dialog unmöglich sei, während die Schüler ihre Anonymität mit einem Mangel an Garantien für eine Nicht-Sanktionierung rechtfertigen.
Trotzdem beteuern sowohl Bildungsbehörden als auch die Regierung immer wieder ihr Verständnis und ihre Dialogbereitschaft. Selbst der Präsident sagt: „Mit den Schülern muss man reden.“ Auch das ist ein Novum: 1996 hatte es anlässlich der der anstehenden Bildungsreform ebenfalls zahlreiche Streiks und Schulbesetzungen gegeben. Damals war die Haltung der offiziellen Seite vollkommen kompromisslos, an einen Dialog war nicht einmal zu denken. Nach den ersten Besetzungen diesen Jahres wurde auf Initiative des Rates der Sekundarstufe eine Kommission einberufen, die zusammengesetzt aus Inspektoren, Lehrern und Schülern die Möglichkeiten einer eventuellen Änderung der umstrittenen Gesetze ausloten sollte. Jedoch bereits die Forderung der Schüler nach Beschlussfähigkeit der Kommission überspannte die Kompromissbereitschaft der Behörden und verhinderte von Anfang an die erhofften Verhandlungserfolge. Leal konstatiert hier im Vergleich zur Protestbewegung des Jahres 96 eine weitaus pragmatischere Ausrichtung der Schüler, die viel stärker auf konkrete Verhandlungsergebnisse fixiert seien.
Die breite Solidarisierung mit den Belangen der Sekundarschüler von Seiten der Studierenden und der Gewerkschaften ist auf den grundsätzlichen Charakter ihrer Forderungen zurückzuführen. Gustavo Leal verweist auf den Bruch der Konvention über die Rechte des Kindes, den die Beschneidung ihrer Meinungsfreiheit darstellt. Er fordert eine grundsätzliche Demokratisierung des Bildungssystems. Die Gewerkschaften nahmen die Auseinandersetzungen der letzten Wochen zum Anlass für eine Generalmobilisierung gegen die neoliberale Politik der neuen Regierung. Trotz völlig unterschiedlicher Geschichte und teilweise anderen Motiven verfügen auch StudentInnenbewegung und „SchülerInnen in Bewegung“ über eine gemeinsame Basis. Sie teilen die Forderung nach einer spürbaren Erhöhung des Bildungshaushaltes, der mit 2,9 Prozent des Bruttoinlandproduktes der niedrigste aller Länder Lateinamerikas ist. Der Ruf Uruguays als eine Hochburg der demokratischen Bildung ist damit längst nicht mehr gerechtfertigt.
Am 4. Dezember bestimmte eine Vielzahl von leuchtend gelben Bauhelmen das Bild von Montevideos zentraler Verkehrsader Avenida 18 de Julio. Hunderte Studenten hatten das Hauptgebäude der größten staatlichen Universität in eine riesige Baustelle verwandelt. Auf ihren Schildern stand: “Achtung, Einsturzgefahr!“

Der Autor dankt dem Instituto Cuesta Duarte, Montevideo, dessen Unterstützung bei der Recherche für den Beitrag unersetzlich war.

Von Tangueros und jungen Wilden

In den dreißig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wanderten rund sechs Millionen Menschen aus Europa in die Region um den Río de la Plata aus. In der Mehrzahl italienischer Abstammung, suchten sie ihr Glück im Raum Buenos Aires oder siedelten im Landesinneren. Die argentinische Bevölkerung wuchs in dieser Zeit von fast 2 Millionen auf nahezu 8 Millionen Menschen. Viele, die ihrer sozialen Situation in Europa entkommen wollten, fanden sich in ähnlichen Verhältnissen wieder.
In ihrem Buch Tango beschreiben die beiden AutorInnen Helena Rüegg und Arne Birkenstock die damalige soziale und politische Situation Argentiniens und der MigrantInnen: „Hacerse la América blieb ihr unerfüllter Traum…ihre bittere Sehnsucht. Der Tango griff diese Bitterkeit auf und verarbeitete sie.“ In drei Teilen zeichnen sie die Entstehung und Entwicklung des Tangos in Argentinien nach. Dabei ist im ersten Teil (1880 bis 1917) zunächst gar nicht vom Tango die Rede. Rüegg und Birkenstock entwerfen das politische und soziale Szenario Argentiniens am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie schildern, wie in der sich rasant entwickelnden Metropole Buenos Aires die MigrantInnen aus Europa auf die ihrerseits vom Land in die Stadt abgewanderte einheimische, kreolische Bevölkerung treffen. Wie sich ein besiedelter Gürtel um das Zentrum legt, in dem soziale Armut, räumliche Enge und Frauenmangel vorherrschen, und wie sich in diesem dynamischen Geflecht etwas Musikalisches entwickelt, das bald den Namen Tango tragen wird.
Seinem Ursprung zumTrotz war der Tango nie ein Protestsong gegen das soziale Elend. „Der Tango besingt keine sozialen Themen. Wenn er ein solches berührt, überträgt er es sofort auf die individuelle, persönliche Ebene. … Der Tango kennt nur Menschen aus Fleisch und Blut,“ zitieren sie den Tangoforscher José Gobello. Dennoch ist der Tango nicht einfach die Flucht aus der Realität. So beschreiben die AutorInnen in ihren Texten drei Figuren, deren Charaktere den Tango maßgeblich prägten: die Milonguita, die nach Argentinien verschleppte Prostituierte, den Cocoliche, den glücklosen italienischen Migranten und den Compadrito, den kreolischen Macho. Höchst spannend ist übrigens das Kapitel über Letzteren. Hier wird erörtert, wie sich der Tango als Tanz entwickelt haben könnte. Durch immer schwierigere Schrittfolgen hatten die jungen Kreolen die Möglichkeit, sich von den europäischen Einwanderern abzugrenzen. Spontan fällt einem die Rolle des heutigen breakdance ein.
Unterstrichen werden die Ausführungen durch wiederholt gut eingefügte Liedtexte. Insgesamt sind knapp 50 Tangotexte auf spanisch und deutscher Übersetzung im Buch verteilt. So bestätigt die Textanalyse zum einen die Aussagen der AutorInnen und zeigt zum anderen, was mit Lunfardo, der derben Sprache der Vorstadt, gemeint ist.

Ausflug nach Deutschland

Ein Instrument ist wie kein Zweites mit dem Tango verbunden: das Bandoneon. Ihm ist ein Kapitel gewidmet, das seinen Weg von Deutschland nach Südamerika zeigt, erklärt, wie es zum Klavier der kleinen Leute wird und warum ihm am Río de la Plata neue Klangfolgen entlockt werden.
Anfangs ist der Tango die verruchte Musik des Vorstadtgürtels. Sein Weg in das Zentrum von Buenos Aires führt über Paris. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwappt die erste Tangowelle nach Europa und erobert vor allem die Pariser Salons. Und da die obere Gesellschaftsschicht in Buenos Aires alles imitiert, was in Paris als schick gilt, überschlägt sich die Welle, kommt zurück und überflutet mit all ihrer vermeintlichen Vulgarität und dem Hauch des Kriminellen die Tanzsäle im reichen Stadtzentrum.

Namedropping

Diese Geschichte ist dem zweiten Teil (1917 bis 1955) des Buches vorbehalten. Auch hier wird chronologisch vorgegangen. Was aber im ersten Teil durch die Verbindung der sehr dichten Schilderung der gesellschaftlichen Entwicklung mit den sich daraus ergebenden Entstehungsbedingungen des Tango gelingt, gleitet im Zweiten zunehmend in eine ermüdende Aneinandereihung von Kurzbiografien ab. Die Namen von MusikerInnen, SängerInnen und TänzerInnen rauschen nur so vorbei, und als sei es damit nicht schon genug werden noch Zeitzeugen namentlich aufgerufen. Bleibt die Frage, warum die AutorInnen das Konzept der chronologischen Erzählung nicht gegen das der thematischen Zusammenfassung getauscht haben. So wird an unterschiedlichen Stellen die sich ändernde Zusammenstellung der Instrumente in den Orchestern beschrieben, anstatt dies in einem Kapitel zusammenzufassen.
Obwohl auch der dritte Teil der Chronologie (1955 bis 2000) folgt, behält man hier beim Lesen wieder die Übersicht, Dank der klaren Einteilung der Portaits. Ein Kapitel beschäftigt sich außerdem mit dem Pariser Exil argentinischer TangomusikerInnen während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983.
Den Abschluss bildet ein über 50 Seiten umfassender Serviceteil. Hier finden sich neben einer gut kommentierten Biblio- und Discografie auch zahlreiche Adressen rund um den Tango in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Argentinien und Uruguay. Und auch ein umfangreiches Personenregister, was dann wieder etwas versöhnlicher mit dem Namedropping stimmt. Bleibt als Zugabe noch die CD, die das Buch zum Hörerlebnis werden lässt. Von sechs der 21 Tangos sind die Texte zudem abgedruckt.

Arne Birkenstock / Helena Rüegg: Tango. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1999, 330 S., 39,- DM (Neuauflage Januar 2001, ca. 15. Euro).

KASTEN:
Fusion aus Tango und Jazz
Blas Rivera geht auf Tournee

Geboren ist er in Córdoba, Argentinien. Nach seinem Kompositionsstudium an der dortigen Musikhochschule ging Blas Rivera nach Boston, um sich ganz dem Jazz zu widmen – und fand den Tango. Seit 1987 lebt der Saxofonist und Komponist in Rio de Janeiro. Was für Astor Piazzolla das Bandoneon war ist für Blas Rivera das Saxofon. Wenn er sein Tenorsaxofon anstimmt, dann umarmen sich Jazz und Tango. Hier zu Lande liegen bald zwei CDs von ihm vor. Introdução nennt sich die 1999 erschienene Fusion aus Jazz und Tango. Anfang 2001 wird ein zweites Album vorgelegt, das allerdings aus Aufnahmen aus dem Jahre 1996 besteht. Hier hört man eindeutig jazzigere Klänge. Blas Rivera spielt eben jenseits der Schubladen. Auf die Frage, wie er auf Musikkritiken reagiere, sagte er einmal: „Die machen mir nichts. Die schlimmste Kritik, die sie mir mal gegeben haben, war ‘sos un pata dura’, so nennt man in Argentinien jemanden, der nicht gut Fußball spielen kann.“ Anfang 2001 geht Blas Rivera auf Tournee, und da wird er ganz sicher sein Saxofon spielen.
jüvo
CD: Blas Rivera Quintet: Introdução, 1999, Danza y Movimiento.

LFC – Los Fabulosos Cadillacs

Es war Mitte der achtziger Jahre, als man in Argentinien anfing, Ska zu hören. Eine vorher gänzlich unbekannte Gruppe befreundeter Musiker, die sich Los Fabulosos Cadillacs nannte, hatte gerade ein wenig Bekanntheit mit ihrer Single „Silencio Hospital“ erreicht. Zur selben Zeit erlebte auch der argentinische Rock ein Comeback, nicht zuletzt dank des unermüdlichen Senders Rock & Pop 106.3. Und immer wieder spielte man Klassiker wie Charly García und Spinetta, Fito Paez, Piero und Miguel Mateos Zas, Raúl Porchetto oder Alejandro Lerner. Mit dem Ende der brutalsten Militärdiktatur der Geschichte Argentiniens tauchten dort neue musikalische Strömungen auf: Manche wie etwa Soda Stereo oder Virus lehnten sich in ihrer romantisierenden Ästhetik an den Mainstream im Stil von Duran Duran oder David Bowie an – unter den Fittichen von Gruppen wie Sumo oder Los Abuelos de la Nada erwachte aber auch ein trashiger Sound zum Leben, inspiriert durch die britischen Varianten von Reggae, Punk und Ska (Madness, The Specials, The Clash).
Die erste Platte der Fabulosos Cadillacs, „Bares y Fondas“, kam 1986 in die Läden. Als ein Jahr später das Album „Yo te avisé“ folgte, war ein neuer Musikstil geboren. Der Song „El genio del dub“ ist bis heute aus der lateinamerikanischen Musik nicht mehr wegzudenken. Damals war es allerdings ein anderer Song, der die Charts und das argentinische Publikum eroberte: „Mi novia se cayó en un pozo ciego“.

Lateinamerikanische Rhythmen im Skagewand

Ende der Achtziger bestimmen drei Strömungen die argentinische Rock-Szene Die „Klassiker“, die „Modernen“ und die „Reggae-Ska-Latinos“. Letztere wurden von den Cadillacs vorangetrieben genauso wie von Reggae-Gruppen wie Los Pericos, den Los Twist mit einer Art „Ska light“ und von Los Intocables, eine unverblümte, sozialkritische Variante des Ska am Río de la Plata. Auch die Auténticos Decadentes huldigen in ihren ersten Aufnahmen dem Ska. In der lateinamerikanischen Nachbarschaft bedienen sich die chilenischen Prisioneros und Desorden Público aus Venezuela der neuen Ska-Rhythmen, um ihre Songs auf Trab zu bringen.
In der dritten, 1988 erschienenen Platte der Cadillacs „Ritmo Mundial“experimentiert die Band verstärkt mit den „Heimatklängen“ des Kontinents, mischt traditionelle Rythmen nach Belieben mit Ska-Themen. Keine Geringere als die Salsa-Sängerin Celia Cruz begleitet Vicentico, den Bandleader in „Vasos Vacíos“. Dass eine solche Wendung in einem Land wie Argentinien, das seine kulturelle Eigenart beinahe zwanghaft aus europäischen Wurzeln ableitet, die Popularität der Cadillacs zunächst ein wenig schmälert, ist nicht verwunderlich. „El Satánico Dr. Cadillac“ (1989) und „Volumen 5“ (1990) schreiben diese Linie fort. Doch trotz einiger erfolgreicher Songs befinden sich die Cadillacs mit diesen Alben immer noch auf musikalischer Identitätssuche.

Das ganze Album ein Genuss

1992 erscheint das – nicht nur nach Ansicht des Autors, sondern auch der Gruppe – beste Album der Cadillacs: „El León“. Songs wie „El León Santillán“, „Gitana“, „Desaparecidos“ (eine hervorragende Cover-Version von Rubén Blades) oder „Siguiendo la Luna“ dominieren die Radiostationen. Das ganze Album ist ein Genuss: Jeder Song ein Hit – und doch wieder nicht, denn diese Lieder sind musikalisch und inhaltlich zu herausragend, als dass man sie mit der kommerziellen Kategorie des “Hits” umschreiben könnte. Und dennoch, paradox, aber wahr, ist dies die Cadillacs-Platte, die sich bis heute am schlechtesten verkauft.

Die El-Matador-Dosierung

Im Jahr 1993 erscheint ein „Best of“ der Cadillacs mit zwei bisher unveröffentlichten Songs: „El Matador“ und „Quinto Centenario“. „El Matador“ festigt den internationalen Ruf der Gruppe: Brasilianischer Batucada-Rhythmus, gemischt mit Reggae, Ska und zündenden, politisch anklagenden Texten. „El Matador“ beinhaltet offenbar die perfekte Kombination, die exakte Dosierung. Es ist die Mischung, die ihre Musik bis heute prägt.
Mit „Rey Azúcar“ wird den ungeduldigen Fans zwei Jahre später ein Album mit noch akzentuierteren lateinamerikanischen Klänge präsentiert. Das Lied „Mal Bicho“ wird sofort zum Hit. Auch wenn dieses Album in der Originalität des Stils nicht ganz mit „El León“ mithalten kann, zeichnet es sich durch seine potente Rhythmik aus. Der Einfluss von Flavio, dem Bassisten der Band, tritt stärker zu Tage. In einigen Themen und Passagen wird eine Annäherung an den Hardrock deutlich. In dieser Zeit wird die Globalisierung auch auf dem lateinamerikanischen Musikmarkt spürbar. Miami ist fortan die Achse, um die sich die kommerzielle Kulturproduktion Lateinamerikas dreht. Von dort wird die Latino-Ausgabe von MTV ausgestrahlt. Das hat einen radikalen Wechsel der Produktionsbedingungen und Musikkreisläufe auf dem Kontinent zur Folge.
Als es gerade so aussah, als ob sich die Cadillacs auf ihren Lorbeeren ausruhen würden, erschien überraschend ein neues Album: „Fabulosos Calavera“. Der erste Eindruck der altgedienten Fans war fürchterlich. Erst nach zwei- oder dreimaligem Hören, nachdem sich die eigenwilligen Themen im Ohr festgesetzt hatten, ließen sich die barocken, mit Metaphern überladenen Kompositionen verdauen. Die vertrauten Ska- und Latino-Klänge tauchen eher unvermittelt am Rande auf, mischen sich mit Flavios Hardcore. Jazz und Fugen gesellen sich hinzu, Musikfetzen der Siebziger mischen sich ein, Acid-Jazz, Punkrock, Pulp-Fiction-Klänge stiften willkommene Verwirrung, und auch die Präsenz des neuen Band-Gitarristen macht sich deutlich bemerkbar.
Der Tango, in Buenos Aires wieder schwer in Mode, hat die Cadillacs zu einem ganzen Thema im freien Stil Piazzollas inspiriert, und auch die Ästhetik des Plattencovers steht ganz im Zeichen des Tango. Dies ist die Band von Vicentico und Flavio, die Lieblingsgruppe von MTV Latina, musikalisch gereift und rentabel, eine Gruppe, die sich über das vergangene Jahrzehnt hinweg stetig entwickelt und auch von einigen ihrer Mitglieder getrennt hat.

Neues zum Millenium

Zum Wechsel des Milleniums und auch zum Ende einer politischen Epoche in Argentinien gab es praktisch keine argentinische Band, die nicht ein „Abschiedsalbum“ veröffentlichte. Die Cadillacs steuerte „La Marcha del Golazo Solitario“ (1999) bei, mit dem sie sehr nah an dessen Vorgänger bleiben. Insgesamt ist der Stil experimenteller und weniger einheitlich als auf „Calavera“, etwas kommerzieller orientiert, aber auch reich an subtilen Schattierungen. Eine runde Sache wird daraus erst durch die bemerkenswerte Qualität von Sound, Arrangements und melodischen Einfällen.

Die Tse-Tse-Fliege

Wirklich neu an dieser zuletzt veröffentlichten Produktion ist der wachsene Einfluss der „Murga“, ein Rhythmus, der während des Karnevals am Río de la Plata zu Hause ist. Lange Zeit wurde er hauptsächlich in Uruguay gespielt; jetzt hat ihn Buenos Aires wiederentdeckt und zur neuen Mode erklärt. Andere neue und erfolgreiche Bands wie La Mosca Tsé-Tsé oder Bersuit Bergarabat bedienen sich schon mit Erfolg dieser musikalischen Rezeptur.
Einige Songs der Cadillacs haben es inzwischen zu dem zweifelhaften Ruhm gebracht, als Jingles für Fernsehsendungen und Supermärkte oder als Fußballhymne herzuhalten: Zum Beispiel mit „En la vida no queremos sufrir, no, no…“ („Im Leben wollen wir nicht leiden, nein, nein…“), wie der Refrain des letzten Hits „La Vida“ besagt.
Nein, wer wollte das auch schon – aber was hecken die Cadillacs wohl gerade aus? Zuerst der Ska, dann eine eigenwillige Version lateinamerikanischer Musiken, schließlich eine reichhaltige Stilvielfalt aus Hardrock, Jazz, Tango und Murga. Und was kommt jetzt?

Übersetzung: Claudios Prößer

Beruf Grenzgänger

Als kleiner Junge hat Cristian sich immer gefragt, was das für ein Land sei, dort auf der anderen Seite des Flusses. Mit seiner Großmutter überquerte er zum ersten Mal den Río Paraná, den Grenzfluss zwischen Argentinien und Paraguay, der die beiden Städte Posadas und Encarnación trennt. Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Cristians Großmutter als pasera, als Grenzgängerin. Die Familie teilt sich die Arbeit auf: Die Einen holen die Ware in Encarnación, die Anderen verkaufen sie in Posadas. „Beim Grenzübergang zahlst du dem Zollbeamten ein paar Pesos, damit er dich passieren lässt. Wenn du Pech hast, nimmt er dir alles ab. Das hängt ganz davon ab, mit wem du es zu tun hast“, erzählt die alte Frau und zischt verächtlich durch die wenigen, ihr noch verbliebenen Zähne: „Die sind alle korrupt“. Gabi, Cristians älterer Bruder, ruft dazwischen: „Einem Freund nahmen sie das Auto ab, weil er keine Papiere hatte. Um es zurückzukriegen, hätte er den Wert des Autos zahlen müssen“.
Mit 18 hatte Cristian seine Familie verlassen, um sein Glück in Buenos Aires zu versuchen. Er heiratete und ist nun stolzer Familienvater. Der heute 21-Jährige arbeitet als Kellner in einem Restaurant, von morgens neun Uhr bis Mitternacht, sechs Tage in der Woche. Er bekommt dafür rund 500 US-Dollar monatlich. Das ist fast das Vierfache des durchschnittlichen Monatseinkommens in seiner Heimatprovinz Misiones.
Wie eine Umfrage des Sozialforschungsinstituts Equis kürzlich ergab, leben mindestens 7,4 Millionen ArgentinierInnen, rund 20 Prozent der Bevölkerung, von etwa 65 US-Dollar monatlich. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat weiter zugenommen: Unter den zehn Prozent der ärmsten ArgentinierInnen sank das durchschnittliche Einkommen laut Equis-Untersuchung in den vergangenen drei Jahrzehnten um 55 Prozent, das Einkommen des reichsten Zehntels der Bevölkerung stieg hingegen um fast 60 Prozent.
Zu dieser Polarisierung trug die neoliberale Privatisierungspolitik unter Ex-Präsident Carlos Menem (1989–1999) erheblich bei. Umso mehr verband die Mehrheit der ArgentinierInnen den Amtsantritt seines Nachfolgers Fernando de la Rúa im vergangenen Dezember mit neuen Hoffnungen. Doch der Optimismus ist verflogen. De la Rúas Sparpolitik, Lohnsenkungen bei den öffentlichen Angestellten, Steuererhöhungen und öffentliche Ausgabenkürzungen haben die nun schon zwei Jahre anhaltende Rezession verschärft und die Arbeitslosigkeit erneut steigen lassen. Die Arbeitslosenquote ist offiziell wieder auf mehr als 15 Prozent geklettert, die Wachstumsprognosen der Wirtschaft für das Jahr 2000 wurden inzwischen auf 0,6 Prozent nach unten korrigiert. Damit verzeichnet Argentinien in diesem Jahr die schwächste Wirtschaftsentwicklung unter den sieben größten Volkswirtschaften Lateinamerikas.
Besonders von Arbeitslosigkeit und Rezession betroffen sind die Provinzen im argentinischen Norden: In Salta, im Nordwesten des Landes, leben 56 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Ärmsten leben von wenig mehr als einem US-Dollar pro Tag, während die Abgeordneten im Regionalparlament mehr als 500.000 US-Dollar jährlich einstreichen. Im Frühjahr war es in acht Provinzen zu gewaltsamen Massenprotesten gekommen, unter anderem in Salta, Formosa und im Chaco (vgl. LN 312). Laut Artemio López von Equis fanden die Proteste vor allem in jenen Provinzen mit der größten Kluft zwischen gut verdienenden Abgeordneten und verarmten Massen statt.

Zwischen Posadas und Encarnación

Dass es in der nordöstlichen Grenzregion um Posadas noch nicht zu größeren Ausschreitungen gekommen ist, könnte daran liegen, dass ein Großteil der Bevölkerung im informellen Sektor, das heißt in diesem konkreten Fall im halblegalen bis illegalen Grenzhandel, tätig ist. So auch Cristians Familie, die noch am Ufer des Río Paraná lebt.
Für Cristians Eltern, seine fünf Brüder und die zahlreichen Verwandten hat der Paraná immer noch große Bedeutung. Zwei bis drei Mal täglich überqueren die Frauen den Fluss in das paraguayische Encarnación und kommen voll beladen zurück. In ihren Taschen bringen sie Zigaretten, Kleider und Haushaltswaren aus Paraguay mit, die sie dann auf dem Mercado La Placita, dem Markt von Posadas, verkaufen. Auf dem Markt gibt es alles von der Unterhose bis zum Büstenhalter, vom Spielzeug bis zu Armbanduhren und CDs.
Rund 11.000 Menschen überqueren täglich die Brücke Roque González de Santa Cruz. Drüben in Paraguay ist die Stange Zigaretten um die Hälfte billiger. Das Geschäft lohnt sich also. Doch richtig rentabel wird es erst, wenn man ein Auto hat: Für einen Kofferraum voll geschmuggelter Videokassetten springen schon einmal 100 bis 150 US-Dollar heraus.
Trotz Mercosur, dem gemeinsamen Markt von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, hat sich in der Provinz Misiones wenig geändert. Geschmuggelt wird weiterhin. Böse Zungen behaupten, dass die 32.000 EinwohnerInnen Encarnacións nur davon leben. Die „Perle des Südens“, wie die Stadt euphemistisch genannt wird, steckt tief in der Krise. In den vergangenen Jahren mussten zahlreiche Firmen, Geschäfte und Restaurants schließen. „Die Leute haben kein Geld. Nicht einmal für ein Huhn für den heimischen Kochtopf“, sagt Vicente, der seit seiner Geburt in Encarción lebt. Seine Frau habe ihn verlassen, nachdem hier alles den Bach runterging, erzählt er. „Nach Buenos Aires ist sie, wie viele Paraguayos“, vermutet der Mittvierziger. Doch in der argentinischen Hauptstadt erwartet die Zugezogenen wenig anderes als erneutes Elend. Für viele Menschen aus dem Norden, die die Illusion hatten, einen Job zu finden, endet die Reise in der Sackgasse aus Arbeitslosigkeit, Armutskriminalität und einem Leben in den Elendsvierteln der Megalopolis am Río de la Plata.
Cristian hat Glück gehabt: Mit seinem Verdienst und dem seiner Frau lässt es sich einigermaßen leben in der Hauptstadt. Wenn am Monatsende etwas Geld übrig bleibt, schickt er es seinen Verwandten nach Posadas. Oft muss er an sie denken.
Verändert hat sich in seiner Heimat nur wenig: Den Menschen an der Grenze bleibt nichts anderes übrig, als zu schmuggeln. Arbeitsplätze gibt es kaum und die wenigen sind zudem miserabel bezahlt. Wer nicht schmuggelt, ernennt sich selbst zum Zöllner: Hat ein pasero die Grenze einmal überquert, ist längst nicht alles überstanden. Dann kommen Diebesbanden, bewaffnete Wegelagerer, einige von ihnen sogar in falschen Uniformen, und fordern ihren Zoll. Besonders auf Lastwagen haben es die Grenzpiraten abgesehen. Dabei verschwinden mitunter ganze Ladungen. Die Diebe nehmen, was ihnen zwischen die Finger kommt: Handys, Hifi-Anlagen oder Fotoapparate, und auch schon mal eine Lieferung tiefgekühlter Hähnchen.
Die meisten Jugendlichen in Posadas sind arbeitslos, so auch Cristians Brüder. Wenn sie nicht gerade „organisieren“ gehen, hängen sie herum, trinken, vergnügen sich bei Cumbia-Musik mit Mädchen, oder gehen zum familieneigenen Schießstand, um ein bisschen auf leere Bierflaschen oder selbst gebastelte Zielscheiben zu ballern. Eine Waffe sei leicht zu bekommen, sagt Carolina, Cristians Frau. Sie weiß auch, dass die Männer der Familie einen Großteil ihres Geldes damit verdienen, Fernfahrern Wegegeld abzukassieren.
Rund 25 Kilometer von Posadas entfernt liegt Candelaria, ein Ort, der wie ausgestorben wirkt. Auf der Straße trifft man nur ein paar Rudel streunender Hunde und eine handvoll Polizisten. Vor allem nachts gehen sie auf Patrouille, denn hier ist der Río Paraná schmal und lädt zu nächtlichen Schmuggelfahrten ein. Jeder weiß, dass die Polizei kräftig am „Geschäft“ mitverdient. „Ganz Candelaria lebt vom Schwarzhandel“, gesteht ein vor sich hin dösender Kioskbesitzer.
Es sei gefährlicher geworden, sagt der Alte, der von seinen 50 US-Dollar Rente allein nicht leben kann. „Wenn es dunkel wird, traut sich niemand mehr auf die Straße. Eine Bande aus Paraguay treibt ihr Unwesen, angeführt von einer Frau. Kaum jemand hat sie jemals zu Gesicht bekommen. Aber wer ihr nicht passt, mit dem macht sie kurzen Prozess.“

Regenschirme und Schweineleder

Das Misstrauen zwischen ArgentinierInnen und ParaguayerInnen sitzt tief. Die paraguas (Regenschirme), wie Letztere genannt werden, seien alles Diebe, klagt der Mann am Kiosk: „Wenn du nicht Acht gibst, fallen sie über dich her.“ Und für die „Regenschirme“ sind die Argentinier curepís, das heißt in der Indianersprache Guaraní so etwas wie „Schweineleder“. Manche sagen auch schlicht „weiße Schweine“.
Zurück in der „geteilten Stadt“: Eine endlose Schlange von Autos bewegt sich zäh Richtung Argentinien. Die Hitze lähmt. Der Asphalt scheint zu kochen. Die argentinische Regierung hat die Kontrollen verschärfen lassen, nicht erst seit kürzlich ein Gendarm erschossen wurde. Immer mehr Schmuggler seien bewaffnet, heißt es. Die Polizei sucht nun verstärkt nach Rauschgift. In der oberen Liga der Schmuggler und Diebe wird mit gestohlenen Autos, Kleinkindern und Drogen gehandelt. Erst vor kurzem hatte die Polizei Marihuana im Wert von einer halben Million Dollar sicher gestellt. Auch einige ihrer Kollegen waren in den Deal verwickelt.
Argentinien hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur zum Umschlagplatz für Drogengelder entwickelt. Es ist auch zum Transitland für Kokain in Richtung Europa geworden. Unter den Sitzen der Autos vermuten die Polizeibeamten das „weiße Gold“. Doch mit den schärferen Kontrollen gehen der argentinischen Polizei vor allem mehr paseros ins Netz, kleine Fische, die sie schröpfen können, während die großen ungeschoren bleiben und ihre Yachten irgendwo in einem sicheren Hafen liegen haben.

Die Korruption macht Politik

Nach den Protesten in den Provinzen sah sich die argentinische Regierung zum Handeln gezwungen. De la Rúa kündigte einen Fonds zur Bekämpfung der Armut an. Doch soziale Hilfsmaßnahmen scheiterten bisher stets an einem ungeschriebenen Gesetz der armen Regionen: der Korruption. Die Ressourcen teilten die LokalpolitikerInnen unter sich selbst auf, die Gelder landeten entweder in ihren eigenen Taschen oder in denen der SympathisantInnen.
Die Offensive der argentinischen Regierung, den Schmuggel an der argentinisch-paraguayischen Grenze zu stoppen, hat zudem nur dazu geführt, vielen GrenzgängerInnen am Río Paraná die Lebensgrundlage zu rauben. Denn eine Alternative für die tägliche Reise über den Fluss haben die Menschen dort noch nicht gefunden.

Ein Institut sucht nach seinem Profil

Vor wenigen Jahren ging noch eine Meldung durch die Presse, dass das Iberoamerikanische Institut wahrscheinlich geschlossen oder ohne eigenen Forschungs- und Bibliotheksbereich der Staatsbibliothek Berlin angegliedert werden müsste. Mittlerweile kann das Ibero seinen 70. Geburtstag feiern, und es geht ihm wohl besser als je zuvor, soweit man das von außen erkennen kann. Was ist passiert in der Zwischenzeit?

Die Gefahr ist nicht überstanden. Wir befinden uns jetzt in einer Moratoriumsphase. Der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat entschieden, dem Iberoamerikanischen Institut einen Zeitraum von fünf Jahren einzuräumen, um seine Aufgaben und Funktionen sowie seine inneren Strukturen neu zu definieren. Der formale Grund dafür war die Übernahme von Hauptstadtfunktionen in Berlin. In diesen fünf Jahren befinden wir uns jetzt. Mein Vertrag ist auch auf diese Phase beschränkt, und ich gehe davon aus, dass wir irgendwann im Jahre 2004 zu einer definitiven Entscheidung über die Zukunft dieses Hauses kommen werden.

Wie sind die Aussichten?

Ich bin Berufsoptimist. Wir unternehmen alles, um ein Profil anzubieten, das dem Niveau des Hauses und seinem internationalen Ruf entspricht. Als außeruniversitäre Einrichtung wollen wir zeigen, dass wir im Forschungsbereich einen konzeptionellen Ansatz haben, der geeignet ist, sich selbst zu tragen – und dass das auch hinreichend interessant ist für ganz Deutschland, für West- wie Osteuropa sowie für Lateinamerika, Spanien und Portugal.

Welche Schwerpunkte beinhaltet dieser Ansatz?

Es hat hier eine interdisziplinäre Expertenkommission gearbeitet, die gemeinsam mit den Mitarbeitern des Institutes ein Forschungsprofil definiert hat. Sie hat auch eine Empfehlung zur Gestaltung des Veröffentlichungsprofils vorgelegt, das Erwerbungs- und Erschließungskonzept des Hauses überprüft, das heißt, uns auf Herz und Nieren abgetastet. Innerhalb des Forschungskonzeptes ist festgelegt, dass wir an zwei Forschungsdächern arbeiten. Das eine sind die Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika in Vergangenheit und Gegenwart, das zweite geht über kulturelle Globalisierungstendenzen und Identitäten in Lateinamerika. Unter diesen Forschungsdächern befinden sich jeweils einzelne Forschungsprojekte. Beim ersten geht es zum Beispiel um das Verhältnis einzelner europäischer Staaten zu Lateinamerika, das ja oft stark von den klassischen Bindungen der Migration und der revolutionären Solidarität geprägt ist. Unter dem anderen Forschungsdach versuchen wir einzugehen auf die Rolle der Medien in Lateinamerika, die Rolle von Technokraten in Entwicklungsprozessen, auf die Frage, wie sich territoriale Globalisierungsprozesse zum Beispiel im Bereich der mexikanischen Nordgrenze, im Bereich der Karibik niederschlagen … Eine Fülle von Themen ist da angedacht, so dass das Institut für die nächsten Jahre gut zu tun hat.

Das Verhältnis zwischen Europa und Lateinamerika betrifft ja das Iberoamerikanische Institut selbst, derzeit beschäftigt man sich intensiv mit der Vergangenheit des Ibero im Nationalsozialismus. Was sind die Ergebnisse, worauf ist man gestoßen, was lässt sich als Generallinie erkennen?

Es gibt ja eine Fülle von Veröffentlichungen, die sich auf die Rolle des Institutes bezogen haben, die letzte von Víctor Farías über Chile und den Nationalsozialismus, wo dem Institut eine starke Koordinationsrolle für die Beziehungen mit Lateinamerika über die Person des damaligen Direktors Faupel zugewiesen wird. In der Tat hat ein breites Netzwerk von Beziehungen bestanden, oftmals stellte es sich aber nach außen als mehr dar, als eigentlich da war. Es wurden eine Fülle von Vereinigungen der deutsch-lateinamerikanischen Ärzte oder sonstwas gegründet, die haben sich gegenseitig irgendwelche Orden um den Hals gehängt, irgendwelche Titel verliehen.
Aber es hat in der Tat eine Fülle von Versuchen gegeben, die Realitäten Lateinamerikas in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen; typisches Beispiel sind die Feiern zum “Día de la Raza”. Dabei wird allerdings auch erkennbar, dass der Faupel oft dynamischer war, als es den Machthabern des Nationalsozialismus recht war, und er dann teilweise wieder zurückgepfiffen wurde. Für uns ist diese Auseinandersetzung noch nicht abgeschlossen.

Die Forschungsergebnisse sind im Oktober mit einer kleinen Ausstellung im Lesesaal des Instituts präsentiert worden, die aber nicht allzu viele Interessierte erreicht haben dürfte. Wie kann man sich in der Folge darüber informieren?

Wir haben vor, die drei laufenden Studien zur Nazivergangenheit im Rahmen einer Veranstaltung offen zu legen und mit Interessierten zu diskutieren. Die Auseinandersetzung mit der Rolle des Institutes ist darüber hinaus Ausgangspunkt für ein eigenes Forschungsprojekt, nämlich über Lateinamerika im Nationalsozialismus und über den Nationalsozialismus in Lateinamerika. Das ist auch in Lateinamerika kein abgeschlossenes Kapitel. Es enthält eine Fülle von Dimensionen, die wir demnächst angehen wollen.
Dem Kapitel Spanien kommt noch eine besondere Bedeutung zu, da ja Faupel eine Zeit lang Botschafter des Nationalsozialismus in Spanien war, von Franco aber wegen zu großer Einmischung in innere Angelegenheiten nach Hause geschickt wurde, um hier als Direktor weiterzumachen. Es ist ein sehr komplexes Themenfeld, aber ich halte es auch deshalb für sehr spannend, weil es in Lateinamerika bisher öffentlich noch nicht ausgetragen worden ist, wenn man sich so einige Länder wie Chile, Uruguay, Paraguay, Argentinien ansieht.

Wie hat sich das Iberoamerikanische Institut zur Solidaritätsbewegung in den siebziger und achtziger Jahren verhalten?

Das Institut hat, nicht zuletzt infolge dieser nationalsozialistischen Erfahrung, sich durch eine relativ starke politische Abstinenz ausgezeichnet. Das hat auch institutionelle Gründe, weil nach 1945 das Institut ja erst einmal wieder nur als Bibliothek existierte, da die Alliierten unsere gesamten Akten abtransportiert haben und in die National Archives nach Washington verlegt haben. Insofern war man zunächst – weil man der Auffassung war, dass es sich hier um eine Zentralstelle der nationalsozialistischen Propaganda handelte – darauf aus, sich nicht in politische Sachen einzumischen, sondern das Institut eher im akademisch-kulturellen Bereich anzusiedeln.
Das Institut hat wohl von der Konjunktur der revolutionären Utopien und Solidaritäten gelebt, aber sich nicht in einer sehr dynamischen Weise da mit hineinziehen lassen. Andererseits findet man diese Zeit in den Beständen des Hauses doch in vielfacher Weise ausgeprägt. Wer in die Phonothek geht und unter Guatemala, Nicaragua und El Salvador nachsucht, findet eine Fülle von Revolutions-, Protest- und sonstigen Liedern, die quasi das gesamte Angebot dieser Länder enthalten. Erst heute streben wir wieder eine stärkere politische Funktion des Hauses an, indem wir auf die Hauptstadtfunktionen in Berlin verweisen. Heute muss es eine Aufgabe des Hauses sein, mit Entscheidungsträgern, die sich mit Lateinamerika befassen, einen Dialog zu führen über das, was dort passiert – und wie es einzuschätzen ist.

Gab es denn von der anderen Seite her Versuche – gerade zur Zeit der Diktaturen, etwa von Pinochet-freundlichen Kreisen aus –, das Ibero politisch zu instrumentalisieren?

Berlin war immer eingebettet in ein eher linksorientiertes Umfeld. Aber Versuche, das Institut auf die eine oder andere Weise – auch von rechts – für eine bestimmte Position einzunehmen, hat es immer wieder gegeben. Mir ist das selber aus dem zentralamerikanischen Fall bekannt, wo hier im Institut in der Abgrenzung von den Sandinisten über die Rolle der Kirche stärkere Positionen durchgesetzt werden sollten. Das Institut hat sich da stets sehr reserviert und distanziert verhalten.

Das Image des Iberoamerikanischen Instituts hat sich in den vergangenen Jahren stark verbessert, die Bibliothek ist benutzerfreundlicher geworden, das Auftreten nach außen wirkt moderner und, was die Veranstaltungen anbelangt, von der Programmatik her auch interessanter. Welche Impulse gab es dafür, und welches inhaltliche Interesse steckt dahinter?

Ich habe bei meiner Bewerbung dem Präsidenten und dem Stiftungsrat ein gewisses Konzept vorgetragen, wie ich einschätzen würde und wie ich meine, dass das Institut zu agieren hätte. Im Rahmen des Auswahlverfahrens ist dieses Konzept in meiner Person so gebilligt worden. Auf dieser Grundlage haben wir jetzt zu arbeiten begonnen. Das bedarf in vielfacher Hinsicht noch erheblich der konzeptionellen Konturen und auch einer Vernetzung mit den verschiedenen Institutionen, die in ähnlichen Bereichen arbeiten, europäisch und auch international. Für meinen Geschmack ist das Institut immer noch zu sehr ein Stand-Alone-Akteur. Es muss sich stärker in internationale Vernetzungen einbringen.
Das war die Arbeitsgrundlage. Ich habe entsprechend dem Präsidenten und dem Stiftungsrat im vergangenen Jahr ein Konzept vorgelegt, das auch in die Beratungen der Expertenkommission eingegangen ist, die ich schon erwähnte. Ich glaube, dass das, was die Expertenkommission den Gremien der Stiftung vorgelegt hat, ein Konzept ist, was diesen Weg im Wesentlichen so nachzeichnet. Damit haben wir da eine ganz gute Arbeitsgrundlage.

Wo liegen zurzeit die größten Schwierigkeiten des Instituts?

Die größten Schwierigkeiten des Instituts liegen in der deutschen Öffentlichkeit, darin, dass Lateinamerika einfach kein Thema auf der Agenda ist! Wir tun uns, und das wird Ihnen [den LN] nicht anders gehen, ungemein schwer, über die oberflächliche kulturelle Identifikation mit Buena Vista Social Club und Son hinaus die alten Identifikationen, die wir jedenfalls in den sechziger und siebziger Jahren kannten, wo man sich einmal tiefer auf ein Land oder eine Region eingelassen hat, wieder herzustellen. Wir müssen uns heute Terraingewinne in dem Bereich sehr viel härter erarbeiten.
Nach meiner Auffassung besitzt das Institut dafür eine hervorragende Konstellation durch diesen Hybridcharakter, Kulturelles, Akademisches und Wissenschaftlich-Politisches miteinander verbinden zu können. Da kann man in der Bibliothek Bücher, Zeitschriften, Landkarten, Musik und Videos anbieten und im Veranstaltungsbereich dies entsprechend nachvollziehen. Aber die Bedeutung Lateinamerikas für Deutschland und Europa herauszuarbeiten, ist eine der wichtigsten Herausforderungen auf der Makroebene.
Auf der Mikroebene der eigenen Institution ist für uns ganz wichtig, dass es uns gelingt, die Koordinaion zwischen Bibliothek, Veranstaltungen und Forschung stärker zu entwickeln. Wir haben da schon ein paar Schritte nach vorne gemacht, aber es gilt deutlich zu machen, dass wir nur so arbeiten können, weil wir die Bibliothek im Kreuz haben, und dass auch die Bibliothek versteht, dass die Tatsache, dass wir Forschungskontakte knüpfen und dass wir internationale Symposien und Kulturaustausch betreiben, für sie ein wichtiges Projektionsfeld darstellt. Das muss im Hause noch erheblich weiter gedeihen, damit wir zu einer homogenen Einheit kommen.

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